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Bd. 6: Die Organisationen der Kriegführung, Erster Teil:
Die für den Kampf unmittelbar arbeitenden Organisationen

[443] Kapitel 9: Das Kartenwesen
Oberstleutnant Siegfried Boelcke

1. Mobilmachungsvorbereitungen.

Daß zum Kriegführen gute Karten gehören, war längst eine Binsenwahrheit, und doch zeigte sich im Weltkriege bei allen Heeren, daß die vorbereiteten Kriegskarten nicht ausreichten. Das Neuartige dieses Ringens forderte Karten und Pläne, die ihm gemäß, und nicht solche, die in langsamer geschichtlicher Entwicklung gebildet waren.

Die friderizianischen und napoleonischen Schlachten wurden auf Grund persönlicher Erkundung des Geländes, der feindlichen Linien und Bewegungen geschlagen. Bekannt sind die Bilder vom Alten Fritz, wie er durch die Lücke eines Hausdachs hindurch die schwache Stelle des Gegners erspäht. Auch 1870/71 noch konnte der Führer meist draußen nach eigenen Eindrücken seine taktischen Befehle geben. So haben König Wilhelm und Moltke die Entscheidungsschlachten von Königgrätz, Gravelotte-St. Privat und Sedan selbst von "Feldherrnhügeln" aus geleitet. Da man das Gelände überschaute, genügte die Generalstabskarte 1 : 100 000 für die Würdigung der taktischen Zusammenhänge, für die Befehlserteilung in den Geschäftszimmern und Quartieren, zum Zurechtfinden auf den Märschen und in den Unterkunftsbezirken. Ein größerer Maßstab hätte nur Ungelegenheiten verursacht und nichts genützt; denn da Märsche von 30 und mehr Kilometern und ein steter Wechsel von Gefecht, Verfolgung und Rückzug bei den Friedensübungen die Regel bildeten, wären z. B. in der Verjüngung 1 : 50 000 unhandliche Riesenblätter entstanden, die einen Feldgebrauch bei Wind und Regen nicht vertrugen.

In den 43 Friedensjahren des Kaiserreichs war daher die Ausgestaltung der deutschen Generalstabskarte das Hauptwerk der Landesaufnahmen. Sie wurde etwas Vollkommenes; denn mit Einfachheit im Gebrauch und Anschaulichkeit vereinigt sie Einzelangaben, die nur der geschulte Fachmann ganz auszuwerten versteht. Die Bergstrichzeichnung in Verbindung mit Höhenzahlen gibt ein deutliches Bild der Bodenunebenheiten. Fußwege, Bäche, Sumpflöcher, Einzelgehöfte und ähnliche fördernde und hemmende Erscheinungen beim Marschieren, Fechten oder Unterziehen findet man noch angegeben. Entfernungen lassen sich ohne Zirkel, Maßstab und Kopfrechnen rasch ermitteln, da [444] 1 cm auf der Karte gleich einem Kilometer in der Natur ist. Der Finger hat etwa 2, die Hand 10 cm Breite. Jeder Mensch führt daher einen Entfernungsmesser für die Generalstabskarte mit sich.

Im Frieden zeigten sich nur diese Lichtseiten, jedoch beim Überschreiten der Westgrenze gab es eine Enttäuschung. Von Belgien und Frankreich hatte man nämlich für den Kriegsgebrauch die fremden Kartenwerke nachgedruckt. So galt für belgisches Gebiet eine schlecht ausgeführte Karte 1 : 60 000 und für französisches eine alte, aber an Leserlichkeit und Ausdruck der deutschen ebenbürtige Karte 1 : 80 000. Dieser Wechsel der Maßstäbe bewirkte, daß sich an den langen Grenzlinien benachbarte Kartenblätter nicht aneinander passen ließen. Die bei der Mobilmachung ausgegebenen Karten umfaßten Belgien und einen kleinen Teil Frankreichs, reichten aber bei der reißenden Geschwindigkeit, mit der der rechte Heeresflügel vorwärts eilte, nur für kurze Zeit aus. An einen Kartennachschub war nicht zu denken, und so entstanden die ärgsten Unzuträglichkeiten. Alles, was man an Karten in Schulen, auf Bahnhöfen, in Wohnungen usw. fand, wurde ausgenutzt. Und nicht allein die Stäbe, sondern jeder Soldat fahndete nach Karten, denn unsere Friedensausbildung fußte auf dem Vorhandensein der deutschen Generalstabskarte. Sich ohne diesen Behelf zurechtzufinden, hatten weder Mannschaften noch Offiziere gelernt. Auch schon an die abweichenden Zeichen der belgischen und französischen Karten waren sie meist nicht gewöhnt.

Für den östlichen Kriegsschauplatz war kartographisch besser vorgesorgt, vermutlich deshalb, weil die russischen Urkarten ihrer fremdartigen Schrift halber doch hatten umgearbeitet werden müssen. Bis jenseits des Bug, bis Wilna und Libau galt eine der deutschen gleichwertige Generalstabskarte 1 : 100 000. Daran schloß sich im Osten bis etwa Minsk und im Norden bis zum Finnischen Meerbusen die russische Generalstabskarte 1 : 126 000 mit deutscher Schrift an. Sie war in sich durchaus ungleichartig; denn die einzelnen Blätter hatten sehr verschiedenes Alter, einige von über 60 Jahren, ohne daß Nachträge eingefügt worden wären.

Die erste Kriegskartenausrüstung reichte also technisch und räumlich nur im Osten leidlich aus. Im Westen fehlte sofort viel, und auf den entlegeneren Kriegsschauplätzen, so auf dem Balkan, in der Ukraine und in Asien, noch mehr.

Ähnlich mangelhaft war die planmäßige Kartenverteilung. Jeder Truppenteil erhielt seine Kartenbündel im Aufstellungsorte, also schon zu einer Zeit, in welcher nicht zu übersehen war, wo er den Eisenbahnzug verlassen würde. So kam es, daß einzelne Stäbe und Truppen mit voller West- und Ostausrüstung versehen wurden. Das waren etwa 600 Kartenblätter. Papier ist schwer, und so kamen gewichtige Pakete heraus. Das hatte dann weiter die verhängnisvolle Wirkung, daß für jede Kompagnie, Eskadron, Batterie nur je eine Generalstabskartenausrüstung bereitlag. Für wesentlich mehr fehlte [445] eben auf den Feldfahrzeugen der Platz. Und doch mußte man sich sagen, daß nicht alle Leutnants, Unteroffiziere und Gemeinen ohne Karten bleiben durften. Auf der Generalstabskarte beruhte nun einmal die Friedensausbildung des Heeres. Bei den Friedensübungen kaufte sich jeder Soldat für wenige Pfennige seine Karte und verfolgte auf ihr voll Aufmerksamkeit den Krieg im Frieden. "Die Karte im Stiefelschaft" war ein sprichwörtlich gewordenes Zeichen der hohen Ausbildungsstufe, auf der der deutsche Soldat stand. Und nun, im wirklichen Kriege, sollte nur noch der Hauptmann und Rittmeister eine Generalstabskarte haben? Wenn sie naß regnete, im Winde zerriß oder verlorenging, tappte die ganze Kompagnie, Eskadron, Batterie im Ungewissen.

Wäre die planmäßige Kartenverteilung im Frieden nur einmal erprobt worden, so hätte sich ihre handgreifliche Unzweckmäßigkeit sofort gezeigt. Leider aber galt sie als streng geheim, da sie sich an die Mobilmachungsentwürfe anschloß, und so erbte sich ihre weltfremde Einseitigkeit bis in den Krieg hinein fort. Freilich war es unmöglich, auch nur 30 Kartenausrüstungen zu mehreren hundert Blättern für eine Kompagnie bereitzuhalten. Aber es war doch auch unnötig, beispielsweise einer in Aachen antretenden Kompagnie der 1. Armee die Karten von Luxemburg bis Montbéliard auszuhändigen. Wenn man die Kartenausgabe an die letzten Verpflegungsstationen der Mobilmachungstransporte verlegte, dann war der überhaupt in Betracht kommende Geländestreifen bereits stark eingeengt. Nur von ihm hätte man eine Anzahl großer, aber doch noch handlicher Zusammendrucke, ausreichend etwa für die ersten 10 Marschtage, an alle Offiziere und Unteroffiziere, sowie einige weiter weisende Blätter an die Kompagnien usw. verteilen sollen.

Der Heißhunger nach Karten wuchs gleich nach dem Überschreiten der belgischen Grenze gewaltig an. Das war nun endlich der Krieg, den man nur aus den Erzählungen der Väter und aus Büchern kannte. Da wollte man doch sehen, in welchem Winkel des überraschend reichen Landes man steckte. Und siehe: da kam unverhoffte Hilfe, nämlich von seiten des Feindes. Vorzügliche englische Generalstabskarten von Belgien wurden erbeutet. Die Leute rissen sich darum und hätten allein deshalb die rasch enteilenden Belgier und Engländer noch fassen mögen, um ihnen die schönen Karten abzunehmen. Diese erläuterten nicht nur die Gegend, sondern kennzeichneten durch ihr Vorhandensein klar Entstehung und Sinn des Krieges: die Deutschen, die angeblich nur auf einen Anlaß gelauert hatten, um Belgien in Besitz zu nehmen, brachten keine bessere, als die in fremden Zungen sprechende belgische Urkarte mit. Der angeblich unschuldige Gegner aber besaß schon seit 1912 Karten von ganz Belgien, deren Eindrucke "for official use only" und "War Office" keinen Zweifel am Ziel der britischen Kriegsvorbereitungen zuließen.1

[446] Übrigens werfen auch russische Kartenvorbereitungen ein Licht auf großzügige Überfallsabsichten. Bekanntlich sollte eine englische Flotte russische Truppen in Pommern landen, die zusammen mit den aus Ostpreußen vordringenden beiden Armeen auf Berlin angesetzt waren. Die Absicht wurde durch die Schlacht von Tannenberg vereitelt. Unter der Beute, die in jenen Tagen in Ostpreußen gemacht wurde, befanden sich Massen von Karten Pommerns. Es waren Abdrucke der deutschen Generalsstabskarte, welche in Petersburg hergestellt waren. Dieser Fund bestätigt einwandfrei die Richtigkeit der aus englischen und amerikanischen Quellen stammenden Nachrichten von dem erwähnten Landungsplane. Nur wenn ein solcher bestand, hatte es Sinn, daß sich die Niemen- und Narew-Armee gerade nach Pommern wandten. So werden die militärischen Karten zu Kronzeugen in der Frage der Kriegsschuld. [Betonung vom Scriptorium hinzugefügt.]

An Karten großen Maßstabes hatte der preußische Generalstab nur Festungspläne 1 : 25 000 vorbereitet. Der Gedanke war gut, leider aber krankte die Ausführung an zwei Gebrechen, die sich im Grabenkriege schwer rächen sollten: die Umkreise der Festungen waren viel zu eng gezogen, und jede einzelne hatte ihr besonderes "Gitternetz" erhalten. Die Franzosen besaßen nicht, wie die deutsche Heeresverwaltung, gedruckte Meßtischblätter ihres ganzen Landes, sondern solche nur von den Zonen, die befestigt waren. Diese sogenannten plans directeurs wurden geheimgehalten. Lange vor Kriegsausbruch war ein Abdruck davon vorübergehend in deutsche Hand geraten; und da zu jener Zeit die Schußweiten noch klein, die Reichweiten der Festungen also begrenzt waren, entnahm der deutsche Generalstab dem Kartenwerke nur das nach damaligen Begriffen notwendige. Auf dieser Grundlage ward von jeder Festung ein Sonderplan geschaffen, der nach allerhand Mitteilungen über Neuanlagen laufend erhalten wurde. Man dachte bei der ganzen Arbeit lediglich an einen Festungskrieg, wie Deutschland ihn schon 1870/71 verschiedentlich hatte führen müssen. Solcher Auffassung vom Kriege entsprach es dann auch, daß dem Plane einer jeden Festung sein besonderes Gitter gegeben wurde. Die Gitter bestehen aus Maschen von 1 km Höhe und Breite, die das Kartenbild durchsetzen. Was wollten nun diese kleinen Fleckchen des alten Festungsgeländes in dem großen Raume des besetzten Nordfrankreich bedeuten? Wie sehr mußte es aber stören, daß nicht ein einziges Gitternetz das Land bedeckte, sondern die erweiterten Festungsgitter von Lille, Paris, Laon, Reims, Verdun usw., zu denen in der Champagne noch das Gitter der 3. Armee mit dem Nullpunkte Pont Faverger trat, unvermittelt aneinander stießen!

Außer den Generalstabs- und wenigen Festungskarten gab's noch die weit nach Frankreich hineinreichende "topographische Übersichtskarte des deutschen Reiches" (1 : 200 000), die sich im Flugzeuge trefflich bewährte, die "topographische Übersichtskarte von Mitteleuropa" (1 : 300 000) und die "Operationskarte" (1 : 800 000). Diese letzte erlangte durch die gewaltige räumliche Ausdehnung [447] des Krieges für strategische Zwecke Bedeutung, denn sie umfaßte Europa bis nach Ägypten hin. Die vielen Blätter, welche diese erhebliche Fläche in einheitlichem Maßstabe und gleichartiger Ausführung wiedergaben, verkörperten ein beachtenswertes Stück deutscher Militärkartenarbeit der Friedenszeit.

Ungleich schwerwiegender, als die vorhin erwähnten Mängel kartentechnischer Kriegsvorbereitung, wurde bald eine Mobilmachungsmaßnahme organisatorischer Art: die Auflösung der preußischen Landesaufnahme. Diese Behörde hatte nicht nur die Kartenherstellung besorgt, sondern auch die wichtigen Neuerungen auf den Gebieten des Lichtbild- und artilleristischen Vermessungswesens verfolgt und die Ausbildung des Personals und Geräts für diese Dienstzweige betrieben. Mit Kriegsausbruch gingen ihre Offiziere und wehrfähigen Beamten in Generalstabs- und Frontstellungen über, und es blieben von ihr beim Stellvertretenden Generalstabe in Berlin lediglich zwei Abteilungen übrig, die kartographische, die den Kartendruck, nunmehr in großem Umfange, bewirkte, und die als Verwalterin der daheimgebliebenen Bestände gedachte Vermessungsabteilung. Sie darf nicht mit den mobilen Vermessungsabteilungen verwechselt werden, die von vornherein mit den Armeen ins Feld rückten.

Diese waren dazu bestimmt, die artilleristischen Einmessungen, die Herstellung von Batterieplänen und ähnliche Arbeiten für die schwere Artillerie zu übernehmen. Die geringe Stärke und Ausrüstung der wenigen, anfangs aufgestellten Vermessungsabteilungen und ihre ungenügende Beweglichkeit waren derselben irrigen Anschauung vom Wesen des Krieges entsprungen wie die Auflösung der Landesaufnahme. An einen Stellungskrieg hatte man kaum anders als in Verbindung mit Festungen gedacht, und für die zum großen Teil überlebten Festungswerke, um die es sich in den ersten Wochen handelte, hätten in der Tat einige schwache Vermessungsabteilungen genügt. Der Aufgabe, Karten im Felde neu herzustellen, waren die Vermessungsabteilungen nicht gewachsen. Es fehlte ihnen die Vorbildung, das Personal und Gerät dafür.

Auch die Vermessungsabteilung des Stellvertretenden Generalstabes war in ihrer Zusammensetzung außerstande, den Anforderungen des Feldheeres zu entsprechen, die angesichts der mangelhaften Kartenausstattung bei einem unerwarteten Kampfverfahren und im Zeichen der Lichtbildnerei aus Flugzeugen bald in dringendster Form gestellt wurden.


1 [1/445]Näheres darüber sowie über andere Einzelheiten, die hier nur gestreift werden können, enthält der vortreffliche Aufsatz von Max Eckert "Die Kartographie im Kriege" in der Geographischen Zeitschrift Band 26 Heft 9/10 und 11/12 sowie Band 27 Heft 1/2. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte