Bd. 5: Der österreichisch-ungarische
Krieg
Kapitel 25: Der Zusammenbruch
(Forts.)
Staatsarchivar Oberstleutnant Edmund
Glaise-Horstenau
9. Der Waffenstillstand von Villa
Giusti.
Der Zustand der Armee machte es der Heeresleitung zur Pflicht, mit allen Mitteln
einen Waffenstillstand anzustreben. Am 28. Oktober trat die schon vor drei
Wochen zum erstenmal berufene Waffenstillstandskommission unter der Leitung
des Generals v. Weber wieder in Trient zusammen. General v. Arz
hatte Hindenburg
loyal verständigt. Der der Kommission
angehörende Generalstabshauptmann Ruggiera gelangte am 29. Oktober
nicht ohne Fährnisse glücklich zu dem im Etschtal stehenden
italienischen Divisionskommando. Er wurde aber vom feindlichen Hauptquartier
unter nichtigen Vorwänden zurückgewiesen, wobei dieses
gleichzeitig mitteilen ließ, daß das italienische Heer nicht daran
denke, sich durch Verhandlungen in seinen Operationen irgendwie stören
zu lassen. Erst am 30. Oktober abends konnte General v. Weber die
italienische Feldwachenlinie überschreiten, 24 Stunden später
erreichte er Villa Giusti bei Padua, um endlich am Allerheiligentage früh
mit einem durch die Italiener absichtlich herbeigeführten Zeitverlust von 72
Stunden die "Waffenstillstandsbedingungen" in Empfang zu nehmen. Der
Kommission wurde bedeutet, daß vorläufig nur der
Bürstenabzug vorliege, von dem aber der endgültige Text
höchstens in Worten, nicht jedoch dem Sinne nach abweichen werde. Die
Bedingungen, die am 1. November spät abends von Trient aus durch den
der Waffenstillstandskommission angehörenden Obersten Schneller nach
Baden telegraphiert wurden, waren niederschmetternd genug:
"Sofortige" Einstellung der Feindseligkeiten, völlige Abrüstung
Österreich-Ungarns mit Ausnahme von 20 auf dem Friedensstand zu
haltenden Divisionen, Ablieferung des halben Artilleriegerätes; Freigabe
aller seit Kriegsbeginn besetzten feindlichen Gebiete und Räumung eigenen
Bodens bis zum Brenner, des Pustertales bis Toblach, des Tarviser Beckens, des
Isonzogebietes, Istriens samt Triest, Westkrains, Norddalmatiens und der
dazugehörenden Inseln; freie Bewegung der verbündeten Truppen im
Bereiche der ganzen Monarchie und Besatzungsrecht überall dort, wo es
strategische oder politische Interessen der Alliierten erfordern; Abzug der
Deutschen, Heimsendung aller Kriegsgefangenen der feindlichen Staaten ohne
Gegenleistung u. a. m.
Die Bedingungen zur See standen denen zu Land an Härte nichts nach; sie
betrafen im wesentlichen freilich schon das assoziierte Jugoslawien.
[640] Man war in
Schönbrunn und Baden auf Böses gefaßt; aber die grausame
Wirklichkeit übertraf alle Befürchtungen. Was die Italiener
verlangten, war nicht ein Waffenstillstand, sondern bedingungslose
Kapitulation!
Besonders bitter wurde neben der Besetzung Deutsch-Südtirols durch die
Italiener die Bedingung freien Durchmarsches für die Alliierten empfunden,
die gegen Deutschland gerichtet war.
Am 29. Oktober hatte Kaiser Karl mit einer sicherlich gut gemeinten, jedoch
rührende Hilflosigkeit verratenden Geste seinem kaiserlichen
Bundesgenossen telegraphiert, er werde für den Fall einer Bedrohung
Bayerns durch Tirol an der Spitze seiner Deutschösterreicher dem Feinde
den Weg verlegen; Truppen anderer Nationalität seien nicht mehr zur
Verfügung. Aber noch war das Dankwort aus Potsdam nicht eingelangt, da
mußte die österreichische Heeresleitung der deutschen mitteilen,
daß auch die Widerstandskraft der
deutsch-österreichischen Regimenter bedenklich gelitten habe. Und nun
jagte von der Front her eine Hiobspost die andere. Am 2. vormittags bezeichneten
sowohl der noch in Trient weilende Oberst Schneller wie das
Heeresgruppen-Kommando Bozen die bedingungslose Annahme der italienischen
Forderungen als die einzige Rettung vor einer in ihren Folgen unabsehbaren
Anarchie. Ähnlich hatte sich schon tags zuvor der Nationalrat des durch
den militärischen Zusammenbruch am unmittelbarsten bedrohten Landes
Tirol geäußert. War da noch Zeit zum Verhandeln?
Wenn es noch eines besonderen Anstoßes bedurft hätte, die
Bedingungen, wie sie waren, anzunehmen - so war ein solcher aus Ungarn
gekommen. Mit einer geradezu ungestümen Hast schritt dort Karolyi an die
Verwirklichung der seit Wochen gefaßten Absicht, dem neuen
demokratischen Ungarn durch die Waffenstreckung seiner Armee bei der ganzen
Welt Nachsicht und Gnade zu erwirken! Daß zudem durch eine solche
Entwaffnung der Feldtruppen die Errungenschaften der Revolution weniger
gefährdet wurden, bestärkte ihn noch in seinem herostratischen
Plane, zu dessen Ausführung er in dem neuen Kriegsminister Bela Linder
ein willfähriges Werkzeug fand. Dieser längst in die Karolyische
Verschwörung eingeweihte Artillerieoffizier trat sein Amt als Chef der
Heeresverwaltung mit der Erklärung an, er wolle "keine Soldaten mehr
sehen".
Noch am 1. November spät abends erließ Linder, ohne daß er
dazu irgendwie gesetzmäßig befugt gewesen wäre, an alle
hohen Befehlsstellen der Feldarmee die unmittelbare Weisung, daß die
ungarischen Truppen dort, wo sie sich eben befänden, die Waffen
niederzulegen hätten. Der Fernspruch Linders wurde zum Teil durch die
Station des Badener Oberkommandos weitergegeben. General v. Arz, der
beim Kaiser in Schönbrunn weilte, erhielt von dem Befehl an die
ungarischen Truppen am 2. morgens Kenntnis. Bald darauf trafen auch die
geharnischten Verwahrungen der Heeresgruppenkommandos ein. Kurz [641] nach Mittag, aber zu
spät, um noch verhindern zu können, daß Linders Auftrag von
den Fernsprechstellen unter der Hand weitergegeben wurde, depeschierte der
Generalstabschef an den ungarischen Kriegsminister, daß das Niederlegen
der Waffen angesichts der laufenden Waffenstillstandsverhandlungen
vorläufig unterbleiben werde. Oberst Linder ließ nicht locker. Er
beschwor den General v. Arz telephonisch, drohte mit den schwersten
Folgen, verlangte mit der Königin zu sprechen, gebürdete sich wie
ein Tollhäusler.
Der Kaiser und seine obersten Berater sagten sich nach alldem, daß kein
anderer Ausweg mehr blieb als die bedingungslose Annahme der italienischen
Forderungen. Doch sollten vorerst noch die Vertreter des durch den
bevorstehenden Waffenstillstand am meisten betroffenen Nationalstaates, des
deutschösterreichischen, gehört werden. Diese erschienen am
Nachmittag in Schönbrunn, erklärten aber durch den Mund Viktor
Adlers, daß den Krieg nicht sie begonnen hätten und es daher auch
nicht ihre Sache sei, ihn zu beenden. Hinter ihrer Erklärung barg sich der
gewiß verständliche Gedanke, daß sich das neue
Deutschösterreich ähnlich wie die anderen Nationalstaaten bei der
bevorstehenden Friedenskonferenz nicht von Haus aus mit den
Verantwortlichkeiten des alten Reiches belasten wollte. Leider wurde dieser
Gedanke offenbar nicht deutlich genug ausgesprochen. Sonst hätte der
Kaiser spätere zeitraubende Versuche, doch noch die Zustimmung des
deutschösterreichischen Staatsrates - so hieß der
Hauptausschuß der Nationalversammlung - zu erlangen, aller
Wahrscheinlichkeit nach unterlassen.
Auch der Agramer Nationalrat wurde aufgefordert, sich zu äußern.
Eine Antwort scheint nicht eingelangt zu sein.
Unterdessen beschworen die Kommanden und die führenden
Generalstabsoffiziere an der Front immer wieder die Heeresleitung, dem
qualvollen Spiel doch endlich durch die volle Annahme der Bedingungen ein
Ende zu bereiten. Besonders nachdrücklich tat dies Oberst Schneller, der in
wiederholten Telegrammen von Trient aus die Lage bei der Armee in den
düstersten Farben schilderte und mit den schwersten Besorgnissen nicht
zurückhielt: "Die noch immer zögernden Faktoren mögen
bedenken, was es heißt, eine Masse von hunderttausend Bewaffneten, denen
der feste Halt der Disziplin größtenteils schon fehlt, durch das
Etschtal durchzupressen, und mögen dem nüchternen
militärischen Urteil vertrauen, das hierin die größten Gefahren
erblickt..."
In dem Ministerrat, der abends in Schönbrunn unter dem Vorsitz des
Kaisers zusammentrat - anwesend waren Graf Andrassy, Freiherr
v. Spitzmüller, die Generaloberste
v. Stöger-Steiner und v. Arz und der österreichische
Ministerpräsident Lammasch - gab es über die
grundsätzliche Annahme der Waffenstillstandsforderungen keine
Meinungsverschiedenheit mehr. Angesichts dieser Entwicklung erteilte knapp vor
10 Uhr General Arz der Operationsabteilung [642] in Baden die Weisung,
nunmehr auch den Befehl Linders an die ungarischen Truppen freizugeben. Es
war eben nichts mehr zu retten!
Der Kronrat bemühte sich noch, eine Formel für den Protest zu
finden, der gegen einen Durchmarsch der Ententetruppen in den Rücken
Deutschlands eingelegt werden sollte. Die Formel fand sich, ohne daß
freilich ein Mitglied der Versammlung an eine günstige Wirkung zu
glauben wagte.
Um Mitternacht sandte der Kaiser Arz und Lammasch ins Parlament; sie sollten
nochmals versuchen, den deutschösterreichischen Staatsrat zu einer
bestimmten Äußerung zu gewinnen. Es glückte ihnen nicht.
Des andern Vormittags erklärten die Vertreter Deutschösterreichs
lediglich, den Abschluß des Waffenstillstandes zur Kenntnis zu
nehmen.
Der theoretisch naheliegende und auch von der deutschen Heeresleitung
vorübergehend aufgeworfene Gedanke, daß Deutschösterreich
nunmehr aus Eigenem die Verteidigung der Südflanke Deutschlands
übernehmen solle, mußte im deutschösterreichischen Staatsrat
unerwogen bleiben. Der Staatsrat befand sich bei aller bündnisfreundlichen
Gesinnung in der gleichen Lage wie der Kaiser: "Deutschösterreich hat
keine eigene Armee; seine Truppenkörper sind Verbänden zugeteilt,
deren slawisch-magyarische Mehrheit nicht mehr kämpfen will. Daher ist
Deutschösterreich nicht imstande, den Kampf allein fortzuführen."
Diese vom Staatsrat am 3. November erlassene Kundgebung sagte genug. Sie
blieb hinter den Tatsachen noch stark zurück. Denn auch ohne die
Vermengung mit den Slawen und Magyaren hätte die
deutschösterreichische Nationalversammlung nach der ganzen Stimmung,
von der sie beherrscht war, die Idee, den Krieg auch nur um eine Stunde
länger fortzuführen und zu allem Überfluß noch ins
eigene Land zu tragen, weit von sich gewiesen. Daß dem so und nicht
anders war, zeigten die Verwahrungen, die die Landräte einlegten, als
General Krafft v. Delmensingen seine Bataillone über Salzburg und
Innsbruck in das Gebirge warf. Die Sehnsucht, aus dem furchtbaren Abenteuer
mit heiler Haut herauszukommen, drängte alle anderen Gefühle in
den Hintergrund.24
Während um Mitternacht zum 3. November General v. Arz von
Schönbrunn in das Parlament fuhr, diktierte der Chef der kaiserlichen
Militärkanzlei Freiherr v. Zeidler-Sterneck dem in Baden die
Geschäfte der Heeresleitung führenden General
v. Waldstätten durch den Fernsprecher den die Annahme aller
Bedingungen enthaltenden Befehl an die Waffenstillstandskommission ein.
Angesichts der furchtbaren Lage des Heeres, in der sich auch nicht ein
Menschenopfer mehr rechtfertigen ließ, und angesichts der für die
Ungarn bereits angeordneten Waffenstreckung schlug Waldstätten dem
Generalstabschef durch den Fernsprecher vor, der Front sofort das Einstellen der
Feindseligkeiten zu befehlen. General v. Arz vermochte sich den
Gründen seines Stellvertreters [643] nicht zu
verschließen und stimmte zu. Auch der Kaiser willigte ein. Der
Waffenstillstandsbefehl wurde an die Armeen ausgegeben. Als dann aber Arz
unverrichteter Dinge vom Staatsrat ins Kaiserschloß zurückkam,
stiegen dem Herrscher erneut Bedenken auf, den furchtbaren Vertrag ohne
bestimmtes Einverständnis der deutschösterreichischen Vertreter
anzunehmen. Doch der Versuch, den bereits an die Front hinausgegangenen
Befehl zu widerrufen, mußte als undurchführbar aufgegeben werden.
In kaum mehr als zwölf Stunden hatte die ganze Front vom Stilfserjoch bis
zum Meere die Kunde erhalten, daß die Zeit des Kampfes nun
vorüber sei.
Der Kaiser legte noch in dieser Nacht den Oberbefehl über seine in
Trümmer geschlagene Wehrmacht nieder. Auf Vorschlag des Generals
v. Arz wurde der Feldmarschall v. Köveß als rangältester Führer mit dem
Armee-Oberkommando betraut. Bis zu
seiner Ankunft aus dem Südosten hatte Arz die Geschäfte
wahrzunehmen.
So zog grau und trüb der Morgen nach Allerseelen herauf. Immerhin schien
nun von der Armee das Ärgste abgewendet zu
sein - da traf um die Mittagsstunde aus Villa Giusti über Trient die
Meldung ein, die italienische Heeresleitung habe dem General v. Weber
mitgeteilt, daß die Einstellung der Feindseligkeiten 24 Stunden nach
Annahme der Bedingungen erfolgen werde. Dieser im Hinblick auf die schon
erlassenen Befehle überaus schwerwiegenden Nachricht folgte spät
abends eine zweite des Inhalts, das feindliche Oberkommando habe um
3 Uhr nachmittags den Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet, die
Waffenruhe beginne sonach am 4. November in der dritten Nachmittagsstunde.
Das war genau 36 Stunden später, als an die k. u. k. Truppen
der Befehl zum Einstellen der Feindseligkeiten erteilt worden war!
Die k. u. k. Heeresleitung hatte schon nach dem Einlangen der ersten Meldung
Webers diesem aufgetragen, gegen jede Gefangennahme
österreichisch-ungarischer Soldaten nach dem 3. morgens Verwahrung
einzulegen und ihre Freigabe zu fordern. Dieser und weitere Proteste stießen
bei den "sieges"trunkenen Italienern auf taube Ohren. Das italienische
Oberkommando war der Form nach im Recht. Ein Vertrag wird erst bindend,
wenn er von beiden Teilen unterzeichnet ist. Der erste Entwurf wurde als
Bürstenabzug übersendet, Weber noch ausdrücklich
verständigt, daß die Stunde der Einstellung der Feindseligkeiten erst
"studiert" werde. Die italienische Armeeleitung konnte überdies darauf
verweisen, daß selbst der Begriff "sofortige Einstellung der
Feindseligkeiten" aus rein technischen Gründen bei einer Frontausdehnung
von 300 km die Verabredung einer bestimmten Stunde voraussetze.
Dessenungeachtet kam den italienischen Führern die Verwirrung, die das
Mißverständnis in die Reihen ihrer Gegner trug, in ihrem
Siegesrausch höchst gelegen und die rücksichtslose Art, mit der sie
diese Verwirrung zur Vergrößerung ihres "Sieges" ausnutzten, hatte
mit den herkömmlichen Begriffen von Ritterlichkeit und
Soldatengroßmut [644] nur mehr wenig
gemein. Die italienische Heeresleitung erteilte an alle zur Verfolgung angesetzten
Truppen den strikten Befehl, sich weder durch die verdutzten Gesichter der
Österreicher noch durch ihre Proteste in der Vorrückung aufhalten zu
lassen. Wer von gegnerischen Heersäulen am 4. November 3 Uhr
nachmittags durch eine italienische Truppe überholt war, sollte
erbarmungslos als kriegsgefangen betrachtet werden.
Wo die Divisionen, wie bei der Isonzoarmee des Generalobersten v. Wurm, die
sich weder durch den völligen Niederbruch der Etappe noch durch die
feindselige Haltung des Laibacher Nationalrates aus der Fassung hatten bringen
lassen, geschlossen beisammen blieben, hatte der Feind mit seiner Taktik wenig
Erfolg. Dagegen fand er namentlich im Gebirge reichlich Gelegenheit,
österreichische Truppen durch Umgehung mit Kavallerie und Panzerautos
zu überholen und dann triumphierend für gefangen zu
erklären. So ging es der 34. und der 44. Division im Gebirge von Friaul.
Wohl schlugen sich auch bei solchen Anlässen genug Abteilungen durch
den nach wie vor behutsamen Gegner hindurch - wie sich denn
überhaupt selbst jetzt noch immer wieder Bataillone, Regimenter, ja sogar
Divisionen fanden, die ihr soldatisches Ehrenschild inmitten des allgemeinen
Niederbruches rein zu erhalten bedacht waren. Sehr oft freilich waren
Führer und Truppen infolge völliger Unkenntnis der Lage und
seelischer Abspannung durch das Auftreten der Italiener so überrascht,
daß sie sich willenlos in ihr Schicksal ergaben. Auch war es nicht Sache
jedes Kommandanten, von seinen Leuten jetzt noch Blutopfer zu verlangen,
da - nach allgemeiner Auffassung - selbst eine etwaige
Kriegsgefangenschaft nur mehr einige Tage dauern konnte.
Am 3. November nachmittags, zur selben Stunde, als am Ostflügel der
Schlachtfront, im Hafen von Triest, italienische Bersaglieri ohne Schwertstreich
ans Land gehen konnten, zog der Feind auch in Trient ein. Als auf dem trotzig in
die Lande blickenden Doß di Trento die italienische Trikolore aufgezogen
wurde, steckte das Gebirge südöstlich und südwestlich der
Stadt noch voll von k. u. k. Truppen. In besonders reicher Zahl
waren Deutschösterreicher darunter. Der größte Teil von ihnen
wurde in den unglückseligen 36 Stunden des
Mißverständnisses gefangen abgeführt.
Unter den auf diese leichte Art eingebrachten Kriegsgefangenen befanden sich 3
Korpskommandanten, 10 Divisions- und 21 Brigadestäbe. 24 Generale,
unter ihnen ein Generaloberst (Martiny), teilten das Schicksal der Truppe
über den bitteren Augenblick der Gefangennahme hinaus.25 Die Gesamtzahl der nach Allerseelen
von den Italienern eingebrachten Gefangenen ist auf 300 000 zu
schätzen, etwa gleichviel, wie die Welschen in der 12. Isonzoschlacht
ver- [645] loren
hatten - aber viel, viel mehr, als fürs erste das ganz unvorbereitete
Land aufzunehmen vermochte. Das Schicksal, das der
österreichisch-ungarischen Offiziere und Soldaten in zahlreichen,
bloß von ungefähr eingerichteten Lagern harrte, war mitunter
außerordentlich bitter. Hunger, Frost und Krankheiten forderten Tausende
von Opfern, wofür die Heimat alsbald die Persönlichkeiten des
inzwischen längst aufgelösten Armee-Oberkommandos
verantwortlich machte. Ein von der deutschösterreichischen
Nationalversammlung gleich nach dem Umsturz eingesetzter Ausschuß
unterzog das Handeln dieser Männer einer eingehenden, gründlichen
Untersuchung. Er mußte nach dem Abschluß seiner Erhebungen
kundtun, daß "ein schwerer Verstoß gegen die Dienstpflichten" nicht
feststellbar gewesen sei. Besonders die Aussagen des Generals
v. Waldstätten, der dem größtenteils aus Laien
zusammengesetzten Ausschuß eine beredte Schilderung seiner Erlebnisse
und Empfindungen in der denkwürdigen Allerseelennacht bot, blieben nicht
ohne tiefgehende Wirkung. Die unselige Episode des Waffenstillstandes von Villa
Giusti bildete den richtigen Ausklang für die große, tief
erschütternde Tragödie eines Heeres, dessen Überlieferungen
bis in die Zeit des Friedländers, ja des letzten Ritters zurückreichten
und dessen Fahnen Jahrhunderte hindurch und im Weltkrieg aufs neue in Ehren
auf allen Schlachtfeldern Europas geweht hatten.
Wahrlich - diese Armee hätte bei allen Unvollkommenheiten, die ihr
zeitweilig und zum wenigsten durch ihr Verschulden anhafteten, ein besseres
Schicksal verdient.
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