Bd. 5: Der österreichisch-ungarische
Krieg
Kapitel 15: Österreich-Ungarns Politik
in den Kriegsjahren 1914 bis 1917 (Forts.)
Staatsarchivar Oberstleutnant Edmund Glaise-Horstenau
5. Der neue Kurs im Innern und in der
Wehrmacht.
Noch mehr als in national einheitlichen Staatsgebilden hingen in einem
Völkerreich, wie Österreich-Ungarn war, äußere und
innere Politik aufs engste zusammen. Der Friedenskurs, den Kaiser Karl und sein
Minister nach außen eingeschlagen hatten, mußte auch auf das Innere
tiefe Wirkung ausüben.
Wohl hatte das Ministerium Clam noch das Erbe des früheren Systems, den
Gedanken des "Octroys", voll übernommen. Die Pläne
Stürgkhs wurden aus der Schublade geholt, gründlichen
Änderungen unterzogen und sollten alsbald an das Tageslicht gebracht
werden. Inzwischen war aber die russische [354] Revolution
ausgebrochen, und im April erschien Czernin beim österreichischen
Premier, um ihm mitzuteilen, daß die Richtung der auswärtigen
Politik ein "Octroy" nicht mehr ertrage. Auch die nach Stockholm reisenden
Sozialdemokraten hätten die schleunigste Einberufung des
österreichischen Parlaments verlangt, um gegenüber ihren
Ententegenossen auf eine bessere Position hinweisen zu können. Ebenso
war in den Hofkreisen inzwischen ein Stimmungswechsel eingetreten, der die
maßgebenden Persönlichkeiten, ihnen voran den jungen Kaiser,
immer mehr von den Plänen einer gewaltsamen Regelung der
Verhältnisse abdrängte. Der Gedanke des
Versöhnungsfriedens regte auch zur Versöhnung im Innern an, zur
Versöhnung mit jenen Völkern des Reiches, die sich in den ersten
zwei Kriegsjahren im Herzen mehr oder minder von Österreich abgewendet
hatten. Die Behauptung, daß es in der Donaumonarchie zweierlei
Völker gäbe, bevorrechtete und unterdrückte, kehrte in allen
Kundgebungen aus feindlichem Lager wieder. Sie war natürlich
tendenziös, denn selbst in Ungarn, wo die Magyaren immerhin den
Anspruch erhoben, das Staatsvolk schlechtweg zu sein, besaßen die
Slowaken, Serben, Deutschen und Rumänen weit mehr Rechte als etwa das
irische Volk im britischen Imperium. Trotzdem sollten jetzt nach dem Wunsche
der erwähnten Wiener Kreise auch die nationalen Fragen in einer den
Völkerwünschen besser entsprechenden Weise gelöst werden.
Dies um so mehr, als das von der russischen Revolution hervorgeholte Schlagwort
vom Selbstbestimmungsrecht der Völker dem vielsprachigen
Habsburgerreich außerordentlich gefährlich werden konnte.
Der Kabinettsdirektor v. Polzer riet dem Kaiser nichts Geringeres, als das ganze
österreichische Problem innerpolitisch aufzurollen und auch herzhaft nach
Ungarn hinüberzugreifen, ohne dessen Umbau nach seiner und der Ansicht
vieler anderer Politiker an eine wirkliche Gesundung des Reiches nicht zu denken
war. Er wies besonders auf die südslawische Frage hin, deren
glückliche Lösung auch der Fortführung des Krieges noch
wertvolle Kräfte einbringen, aber ohne Heranziehen Ungarns nicht
bewerkstelligt werden konnte. Kaiser Karl gab ihm akademisch recht, aber weder
er noch irgendeiner der verantwortlichen Männer Österreichs
hätten ernstlich den Versuch gewagt, den Kampf mit den Magyaren
aufzunehmen. Auch Czernin warnte bei all seiner
großösterreichischen Vergangenheit davor, an Ungarn zu
rühren. So war es denn bald klar, daß die Politik der auf die innere
Völkerversöhnung hinarbeitenden Reformen vorerst nur in
Österreich Entfaltungsmöglichkeit fand.
Am 25. April 1917 berief Graf Clam - nach drei Jahren
Unterbrechung - für Ende Mai den österreichischen Reichsrat
zusammen. Die Deutschen hatten wohl Verwahrung dagegen eingelegt, daß
die Erfüllung der "Belange" zurückgestellt werde; aber sie
beließen ihre Vertreter in der Regierung.
Gleichzeitig ging man daran, verschiedene Ausnahmsmaßregeln, die unter
Berufung auf das Kriegsrecht verfügt worden waren, abzubauen; dies galt
[355] vor allem hinsichtlich
der Konfinierungen und Internierungen, an denen in den ersten Kriegsjahren
wirklich des Guten zuviel getan worden war. Auch zeigten sich Ansätze,
die Verwaltung zugunsten der darbenden, unter dem Krieg am schwersten
leidenden Massen schärfer durchgreifen zu lassen. Verschiedene
Verfügungen des Kaisers verrieten das ehrliche Bestreben, nun auch jene
Kreise, die sich bisher mehr oder minder geschickt der Erfüllung ihrer
vaterländischen Pflichten entzogen hatten, persönlich und
wirtschaftlich stärker in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen. Ganz
besonders bemerkenswerte Beispiele sollten dartun, daß man sogar willens
war, vor den Großen des Kapitals nicht haltzumachen. Leider blieb es meist
nur bei schüchternen Versuchen, es fehlte an der Kraft, den einmal
beschrittenen Weg folgerichtig weiterzugehen.
Am 31. Mai 1917 trat der Kaiser zum erstenmal vor die Vertreter der
österreichischen Völker hin. In der Thronrede sagte er, von der ihm
erwachsenden Pflicht des Gelöbnisses auf die Verfassung ausgehend,
u. a.:
"...Ich bin aber auch überzeugt,
daß das segensvolle Aufblühen des Verfassungslebens nach der
Unfruchtbarkeit früherer Jahre und nach den politischen
Ausnahmsverhältnissen des Krieges, abgesehen von der Lösung jener
galizischen Frage, für welche Mein erhabener Vorgänger bereits
einen Weg gewiesen hat, nicht möglich ist ohne eine Ausgestaltung der
verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Grundlagen des gesamten
öffentlichen Lebens, sowohl im Staate als auch in den einzelnen
Königreichen und Ländern, insbesondere in Böhmen. Und ich
vertraue darauf, daß die Erkenntnis Ihrer ernsten Verantwortung für
die Gestaltung der politischen Verhältnisse, der Glaube an die
glückliche Zukunft des in diesem furchtbaren Kriege so herrlich erstarkten
Reiches Ihnen, meine geehrten Herren, die Kraft verleihen wird, vereint mit mir in
Bälde die Vorbedingungen zu schaffen, um im Rahmen der Einheit des
Staates und unter verläßlicher Sicherung seiner Funktionen auch der
freien nationalen und kulturellen Entwicklung gleichberechtigter Völker
Raum zu geben. Aus diesen Erwägungen habe ich mich entschlossen, die
Ablegung des Verfassungsgelöbnisses dem hoffentlich nicht fernen
Zeitpunkte vorzubehalten, wo die Fundamente des neuen, starken
glücklichen Österreich für Generationen wiederum fest
ausgebaut sein werden nach innen und außen. Schon heute aber
erkläre ich, daß ich meinen teuren Völkern immerdar ein
gerechter, liebevoller und gewissenhafter Herrscher sein will im Sinne der
konstitutionellen Ideen, die wir als ein Erbe der Väter übernommen
haben, und im Geiste jener wahren Demokratie, die gerade während der
Stürme des Weltkrieges in den Leistungen des gesamten Volkes an der
Front und daheim die Feuerprobe wunderbar bestanden
hat..."
Strenggenommen hatten die Volksvertreter in ihrer Mehrheit schon tags zuvor
diesen gut gemeinten Absichten und Plänen mit aller Deutlichkeit den
Abschied erteilt. In der ersten Sitzung des Abgeordnetenhauses, [356] am 30. Mai, erhoben
sich der Reihe nach die Vertreter der slawischen Völker Österreichs,
um wohl nicht der Dynastie, aber dem Staate als solchem ihre Gunst aufzusagen.
Der Tscheche Stanjek forderte für die habsburgische Monarchie die
Umgestaltung in eine Förderation von "freien und gleichberechtigten
Staaten" und für den tschechoslawischen Staat nicht nur das von den
historischen Grenzen umfaßte Gebiet Böhmens, Mährens und
Österreichisch-Schlesiens sondern auch die Slowaken, jenen
"tschechoslawischen Stamm, welcher zusammenhängend an den
historischen Grenzen" des tschechischen Vaterlandes lebt. Der Geistliche
Koroschetz meldete als südslawische Forderung die Vereinigung aller in
der Monarchie wohnenden Slowenen, Kroaten und Serben zu einem
demokratischen Staatskörper unter Habsburg Zepter an. Der Vertreter der
Ukrainer verwahrte sich aufs heftigste gegen die Absicht, Ostgalizien an den
künftigen polnischen Staat auszuliefern, und verlangte für dieses
Land gleichfalls bundesstaatliche Selbständigkeit. Die Polen traten
für eine Vereinigung aller Volksgenossen zu einem geeinten,
unabhängigen Staate ein. Der Ministerpräsident antwortete diesen
von der Thronrede weit abweichenden Kundgebungen am 12. Juni mit der
Gegenerklärung, daß "sein Programm Österreich" sei, jenes
"Österreich, wie es in einer ruhmvollen, geschichtlichen Entwicklung
geworden und gewachsen ist, wie es in diesem Kriege das Bewußtsein
seiner unzerstörbaren Kräfte neu gefunden hat... wie es sich im
Vollgefühle verjüngter Lebensenergien anschickt, ein
mächtiger Faktor in der wirtschaftlichen und sozialen Neuentwicklung der
Zukunft zu werden - das Österreich, als ehrwürdige, stolze,
feste und ewige Burg seiner Völker..." Graf Clam glaubte an sein Vaterland
mit der gleichen Inbrunst wie ungezählte der besten alten
Österreicher.
Aber dieser Glaube sollte keinen Lohn finden. Schon in den ersten Wochen nach
der Reichsratseröffnung scheiterte das Bemühen des
Ministerpräsidenten, auf seinem Programm, das man am kürzesten
als eine durch die deutschen "Belange" beschränkte nationale Autonomie
bezeichnen könnte, ein aus Vertretern aller Nationen gebildetes Kabinett
aufzubauen. Tschechen und Südslaven kamen nach den Deklarationen vom
30. Mai überhaupt nicht in Frage. Die Polen waren in hohem Maße
verstimmt durch das Militärregiment in Galizien und durch die
Verzögerungen, die der Ausbau der polnischen Staatlichkeit erlitten hatte
und derentwegen Czernin in der Wilhelmstraße und in Kreuznach
vergeblich mündlich und schriftlich Protest erhob; auch ahnten sie,
daß der augenblickliche Kurs der Wiener Außenpolitik
bedingungsweise auf eine Übergabe Polens an Deutschland hinauslief. So
hatten denn die Besprechungen, die schon im Mai zwischen den
galizisch-polnischen Politikern aller Richtungen stattfanden, zu einer vollen
Niederlage der streng österreichisch gesinnten, konservativeren Elemente
geführt. Die Einladung Clams wurde überall zurückgewiesen.
Die deutschen Sozialdemokraten lehnten grund- [357] sätzlich eine
Beteiligung an einem Kriegskabinett ab. Da solcherart eine Mehrheitsbildung
unmöglich ward, legten Clam und seine Minister am 23. Juni 1917 ihre
Portefeuilles nieder.25 Der Kaiser berief seinen ehemaligen
Lehrer Dr. Ernst v. Seidler, einen tüchtigen Volkswirtschaftslehrer,
der jedoch dem politischen Leben bisher völlig fern gestanden hatte, an die
Spitze eines provisorischen Kabinetts, dessen Aufgabe es zunächst war, die
Staatsnotwendigkeiten, vor allem das Budget, unter Dach zu bringen.
Ernst v. Seidler leitete seine Ministerpräsidentschaft durch den viel
berufenen Staatsakt der "Amnestie" ein. Der Ursprung dieses Aktes liegt heute
ziemlich offen. Dem Kaiser wurden von allen Seiten Klagen über die
Willkür der Militärjustiz zugebracht. Auch im Parlament bereitete
sich ein großer Sturm gegen zahlreiche Urteilssprechungen vor. Im
Mittelpunkt aller Beschwerden stand der große
Kramarsch-Prozeß. Man konnte den Monarchen sagen hören,
daß Kramarsch auf Befehl des Armee-Oberkommandos Teschen verurteilt
worden sei. Kabinettsdirektor v. Polzer begrüßte alle auf eine
Amnestie abzielenden Bestrebungen von Herzen, da die Versöhnung des
Kaisers mit abtrünnig gewordenen Volksschichten zu seinen
Umformungsplänen gehörte. Auch der neue Ministerpräsident
v. Seidler war gerne einverstanden, denn er betrachtete eine etwaige
Debatte über die Militärjustiz als eine wenig zuträgliche
Einleitung zu den Budgetsitzungen des Abgeordnetenhauses. Dagegen hatte sich
Czernin bei früheren Anlässen stets gegen eine Amnestie
ausgesprochen; er wurde daher, als man daran ging, diese zu verwirklichen,
über alle konstitutionellen Bedenken hinweg nicht ins Vertrauen
gezogen.
Am 30. Juni machten der Kaiser und die Kaiserin ihren Antrittsbesuch in
München. Tags darauf folgte jener in Stuttgart. Während der Reise
entstand der Amnestieerlaß in seinem politischen Teil, die Einleitung und
der Schluß. Polzer mußte auf kaiserlichen Befehl einen Entwurf
verfassen. Seidler drängte von Wien aus durch den Fernsprecher auf
Fertigstellung. Der Justizminister Ritter v. Schauer fügte nach der
Rückkunft in Baden in den Entwurf Polzers den juristischen Teil ein. Der
Generalstabschef v. Arz fand gerade noch die Möglichkeit, zu
erwirken, daß rein militärische Delikte von der Begnadigung
ausgeschlossen blieben. Czernin erfuhr, obgleich er an der Reise nach
München und Stuttgart teilgenommen hatte, von der Amnestie erst am
Abend des 2. Juli, just zur Stunde, als im Hetzendorfer Schloß Hindenburg
und Ludendorff bei ihm zu Tafel saßen, und übertrug die
Bestürzung, die ihn erfaßt hatte, sofort auf seine illustren
Gäste. Am 3. Juli verlas v. Seidler im Parlament das an ihn
gerichtete, die Amnestie betreffende kaiserliche Handschreiben, das in die
[358] für das neue
Regime höchst bezeichnenden Worte ausklang: "Ich wähle... den
heutigen Tag, an welchem Mein innigstgeliebter ältester, durch Gottes
Gnade mir geschenkter Sohn die Feier seines heiligen Namenspatrons begeht. So
führt die Hand eines Kindes, welches berufen ist, dereinst die Geschicke
Meiner Völker zu leiten, Verirrte ins Vaterhaus zurück."
Auf Grund des Amnestieerlasses erlangten sechs tschechische, ein slowenischer
und zwei ukrainische Abgeordnete ihre Freiheit. Unter den ersteren befanden sich
Kramarsch und Raschin. Auch ein gegen den Nationalsozialisten Klofatsch
schwebendes Verfahren wurde eingestellt. Karl Kramarsch zog wie ein
König in die hunderttürmige Hauptstadt Prag ein.
Die deutschen Abgeordneten antworteten auf die kaiserliche Kundgebung mit
einer Verwahrung. Sie wiesen nicht mit Unrecht auf den ungünstigen
Eindruck hin, den der ganz unvermittelt und scheinbar unmotiviert erfolgte Akt
kaiserlicher Milde gegen Vaterlandsverräter bei den bis zum
Weißbluten hergenommenen deutschen Stämmen des Reiches
machen mußte. Noch nachhaltiger war freilich das Echo, das der
Amnestieerlaß bei der Armee, besonders bei dem politischen
Erwägungen fernstehenden, zum großen Teil deutschen
Offizierskorps fand.
Fast noch mehr als im Volke war zu Beginn der Regierung der Kaiser in der
Armee populär gewesen. Er hatte die glückliche Gabe, dem
gewöhnlichen Mann nahezukommen. Eine Reihe von Verfügungen,
mit denen er sich einführte, zeigte, daß er Herz für die Truppe
besaß, und steigerte die Zuneigung, deren er sich erfreuen durfte. Freilich
sollte sich nach nicht allzu langer Zeit erweisen, daß seine
Friedens- und Versöhnungspolitik den Kaiser naturgemäß
nicht selten in Widerspruch zu den moralischen Bedürfnissen eines Heeres
stellen mußte, für das der Glaube an den Sieg und an die
Überlegenheit über den Feind, sowie straffe, eiserne Manneszucht zu
den Grundbedingungen ausreichender Widerstandsfähigkeit
gehörten. Es war eben nicht leicht, gleichzeitig Friedenskaiser und oberster
Feldherr zu sein.
Eine der ersten hierher gehörenden Maßnahmen war die Abschaffung
der Strafe des Anbindens; diese Verfügung war vom Kaiser sicherlich gut
gemeint. Aber die Truppe, die schließlich auch vereinzelte
Verbrechernaturen in ihren Reihen hatte, forderte gebieterisch die
Wiedereinführung dieser Strafe, die dann auch unter der Hand angeordnet
werden mußte.
Zur Friedenspolitik des Kaisers gehörte es zweifellos, daß er das
Abwerfen von Fliegerbomben auch auf knapp hinter der Kampffront liegende
offene Städte und die Verwendung von Brandgeschossen im Fliegerkampfe
verbot. Die Armee aber empfand beide Verbote als schwere Benachteiligung
gegenüber dem Feinde; es fiel auf, daß der oberste Kriegsherr bei der
ohnehin äußerst geringen Entwicklung der k. u. k.
Fliegerwaffe die Verwendung von Kampf- [359] mitteln untersagte, von
denen der Feind bei jeder Gelegenheit mit Erfolg Gebrauch zu machen
wußte. Alle möglichen Gerüchte hatten bereits Fuß
gefaßt, als auch diese Befehle zurückgenommen wurden. Noch
manches Beispiel ähnlicher Art ließe sich anführen.
Der Amnestieerlaß stieß daher beim Heere nicht mehr auf jene
kritiklose Ergebenheit, die es zu Anfang dem kaiserlichen Oberbefehlshaber
gegenüber erfüllt hatte. Zahlreiche Truppenkörper und
Führer der Wehrmacht hatten während der langen Dauer des Krieges
wiederholt infolge des Versagens unverläßlicher Verbände
Unbill erlitten oder doch erlitten zu haben geglaubt. All diese empfanden den
kaiserlichen Gnadenakt wie einen Schlag, wobei es schwer ist, zu beweisen, ob
schon damals auch eine antidynastische Stimmungsmache ihre Hand im Spiele
hatte. Wie zum Hohn geschah es noch, daß sich just in den Tagen der
Amnestie tschechische Regimenter bei Zborow in Ostgalizien schwerster
Pflichtverletzungen verdächtig machten und daß zehn Wochen
später - im September 1917 - bei Carzano in Südtirol
slawische Reserveoffiziere, die zum Feind desertiert waren, diesen bei Nacht und
Nebel in die österreichischen Schützengräben führten.
Als kurz nach diesem zweiten Fall der Kaiser die Tiroler Front besuchte und dabei
fragte, wie sich die Verräter wohl die Rückkehr in die Heimat
dächten, da antwortete der Oberbefehlshaber Feldmarschall
v. Conrad in seiner kurzen, mürrischen Art: "Daß man sie
amnestieren wird, werden sie sich denken, Majestät!"
Nun muß wohl erwähnt werden, daß nach Mitteilungen aus der
Umgebung des Kaisers dieser sich für seinen Gnadenakt keinen Dank
erwartete, sondern der Armee die Unannehmlichkeit des Aufrollens verschiedener
Monstreprozesse ersparen wollte. Auch fiel die Amnestie in jene Wochen des
Jahres 1917 hinein, in denen der Kaiser dem Gedanken der von Polzer
propagierten nationalen Autonomie besonders nachhing. Unmittelbar nach der
Rückkehr von den süddeutschen Fürstenhöfen erwog er,
den großösterreichisch und pazifistisch denkenden Professor
Dr. Josef Redlich mit der Bildung eines Völkerkabinetts zu betrauen;
der Redlich gesinnungsverwandte Pazifist und Völkerrechtslehrer
Lammasch sollte Justizminister werden. Einige Zeit später wurde
Lammasch selbst, dann auch Mai Vladimir Freiherr v. Beck, der schon
1906 - 1908 das Ministerpräsidium innegehabt hatte, zur
Kabinettsbildung ausersehen. Aber dann ging es so wie im alten Österreich
sehr oft. Aus dem Provisorium Seidler wurde Ende August ein Definitivum, das
von Staatsvoranschlag zu Staatsvoranschlag sein Dasein fristete, mit dem Bleistift
in der Hand Mehrheiten errechnete und erst nach einem Jahre, ohne der
Lösung der großen Probleme irgendwie nahegekommen zu sein, von
der Bildfläche verschwand.26
[360] Auch in Ungarn war in
dieser Zeit das politische Leben schon von einem unbestimmten Drange nach
Reformen erfüllt gewesen. Die Nationalitäten, die im ungarischen
Klassenparlament nur eine sehr unzureichende, mundtote Vertretung hatten,
drängten nach Stimme und Geltung. Gleiche Ziele verfolgte die breite
Schicht der Arbeiter in Stadt und Land. Obwohl das Elend der Massen nicht im
entferntesten so groß war wie in Österreich, wo in den
Industriegegenden Deutschböhmens und in den Alpen stellenweise und
zeitweilig schreckliche Hungersnot herrschte27 - standen doch eine Reihe
sozialer Fragen in Diskussion, ihnen voran die brennenden Probleme einer
Bodenreform und einer entsprechenden Fürsorge für die Kriegsopfer.
In breiten Kreisen war die Anschauung vertreten, daß das Parlament, mit
dem Tisza regierte, in keiner Weise mehr die Stimmungen und
Kräfteverhältnisse des Volkes widerspiegle und daher die
Lösung der großen Aufgaben einem neuen, aus wesentlich
gerechteren, womöglich streng demokratischen Wahlen hervorgehenden
Reichstag zu übertragen wäre. Damit
trat - auch von den föderalistisch denkenden Österreichern mit
brennendem Interesse verfolgt - die Frage der Wahlreform in den
Mittelpunkt des politischen Kampfes. Die ganze feudale Gegnerschaft Tiszas, mit
Apponyi und Andrassy an der Spitze vereinigte sich, auch mit Michael Karolyi,
auf dieser Plattform. Der König, vielleicht beeinflußt durch die
Überlieferungen seines Oheims Franz Ferdinand, jedenfalls aber durch
maßgebende österreichische Ratgeber, neigte scharf zu den
Anhängern der Wahlreform, nicht bloß aus sozialem Empfinden,
sondern weil er sich daraus gewisse Erleichterungen für die innere Lage der
Gesamtmonarchie versprach. Tisza aber wehrte sich wie ein Löwe. Er
besorgte aus einem allzu liberalen Wahlrecht ein zu starkes Hervortreten der
Nationalitäten zum Nachteil des magyarischen Stammes und auch soziale
Erschütterungen. Nur ungern ließ er sich dazu herbei, den mit
Tapferkeitsmedaillen ausgezeichneten Kämpfern das Wahlrecht ohne
Rücksicht auf Zensus und sonstige Bedingungen zuzuerkennen. Dagegen
verwahrte er sich aufs heftigste, daß auch die Besitzer des
Karl-Truppenkreuzes, also Leute, die immerhin mindestens zwölf Wochen
am Feinde gestanden hatten oder verwundet worden waren, wahlberechtigt
wurden.
Ein erbitterter Kampf entbrannte. Strenggenommen dachten ja auch die Gegner
Tiszas nicht ernstlich daran, in der Wahlrechtsfrage allzu großes [361] Entgegenkommen zu
zeigen. Aber ihnen war jeder Anlaß willkommen, den Gehaßten zu
stürzen, und sie fühlten heraus, daß auch der König mit
dem Herzen an ihrer Seite stand. Schon im Februar konnte man diesen in
vertrauten Kreisen sagen hören: "Tisza wird nicht lange bleiben." Im April
empfing er die Führer der Opposition in aufsehenerregenden Audienzen.
Ein Handschreiben versicherte den Minister dann wieder förmlich vollen
Vertrauens, zeigte aber unzweideutig, daß es König Karl in der Sache
mit den Gegnern hielt. Da selbst Männer von der unerschütterlichen
Beharrlichkeit Burians ein liberales Wahlrecht für unvermeidlich hielten
und zu der sachlichen Meinungsverschiedenheit zwischen König und Tisza
noch aus der Verschiedenheit der Charaktere sich ergebende persönliche
Verstimmungen hinzutraten, mußte es zum Bruche kommen. Am 23. Mai
gab Graf Stephan Tisza seine Demission,
um - ein ganzer Mann, wie er war - mit seinen 56 Jahren und halb
blind bei den Honvedhusaren ein Frontkommando zu übernehmen.
Vielfach konnte man später hören, daß der Tag der Entlassung
Tiszas der eigentliche Unglückstag der Regierung Kaiser Karls gewesen
sei. Dieser Anschauung sei das Urteil, das General v. Cramon über
den großen Staatsmann fällt, entgegengestellt:
"Tisza war sicherlich die
stärkste politische Persönlichkeit, welche die Donaumonarchie im
Weltkriege aufwies. Er hat wiederholt und nicht am wenigsten, als ihm seine
Mörder entgegentraten, einen starken Zug ins Heroische gezeigt. Er war
auch technisch das, was man einen guten Politiker nennt; er beherrschte das
Handwerk und war ein glänzender Redner. Aber er unterschied sich in dem,
was man in Österreich »Globuspolitik« nannte, in nichts von
allen Grafen und Baronen, in deren Händen damals und seit undenklichen
Zeiten das Schicksal des magyarischen Bauernvolkes lag. Er betrieb rein
magyarische Kirchturmpolitik und beurteilte die Welt vor allem von dem
Standpunkt aus, daß den Magyaren ihre Hegemonie in Ungarn, ihre Stellung
in der Monarchie erhalten bleiben müsse. Er gehörte dadurch,
darüber kann leider kein Zweifel bestehen, zu den Totengräbern des
Habsburgerreiches."
Tiszas Nachfolger wurde - offenkundig auf Vorschlag Hunyadys - der erst in der
Mitte der Dreißiger stehende Graf Moritz Eszterhazy. Prinz Ludwig
Windischgrätz sagt von ihm, daß er ein "sympathischer, geistvoller,
sehr begabter Mensch sei; liebenswürdig, dabei von starker kritischer
Einsicht, ein absolut gütiger Charakter, der aber vor jeder Verantwortung
zurückschreckt und leicht zu beeinflussen gewesen ist".28 Eszterhazys Ministerium nahm eine
stark demokratische Färbung an, was am deutlichsten durch die
Zugehörigkeit eines ungetauften Juden, des klugen und ehrlichen Vazsonyi,
dargetan wurde. In seinem Programm hielt sich der neue Kabinettschef durchwegs
an die Forderungen der bisherigen Opposition und des ganz links gerichteten
"Wahlrechts- [362] blockes", dem auch
Karolyi angehörte und der eine stark pazifistische Note in sich trug.
Große, soziale Reformen wurden angekündigt, darunter
leider - um die Bauern zu ködern - ein starker Abbau der
staatlichen Getreidebewirtschaftung, der sich später namentlich für
die Ernährung der Wehrmacht außerordentlich schädlich
erweisen sollte. Im Mittelpunkt aller Ziele der Regierung stand
selbstverständlich das - mit gewissen
Abschwächungen - allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht.
Eszterhazy erklärte, er sei, wenn es nicht gelänge, die Wahlreform
mit dem noch in Wirksamkeit befindlichen Parlament durchzubringen, fest
entschlossen, auch mitten im Kriege, allen namentlich militärischen
Bedenken zum Trotz, Neuwahlen einzuleiten.
Das Ministerium Eszterhazy ließ in den drei Monaten seines Bestandes die
Zügel stark am Boden schleifen. Dem wenig energischen Kabinettschef war
es angesichts der von Tisza geführten oppositionellen Mehrheit um so
weniger möglich, sich entsprechend durchzusetzen, als sich bei den
Parteien, die die Regierung stützten, zeigte, daß ihnen die Forderung
nach einem demokratischen Wahlrecht gut genug war als Kampfmittel gegen den
verhaßten Tisza, daß nun aber die Begeisterung für die
Wahlreform vielfach stark nachließ. Dafür traten die sogenannten
achtundvierziger Ideen mehr in den Vordergrund, vor allem der Wunsch nach der
Teilung des bisher Österreich und Ungarn gemeinsamen Heeres. Diese
Frage war für die magyarischen Politiker nicht bloß eine ideelle,
sondern auch eine eminent praktische. Wenn sie sich schon genötigt sahen,
den Nationalitäten in der Wahlreform entgegenzukommen, so sollte auf der
anderen Seite durch eine streng nationale Armee ein überaus wertvolles,
längst gewünschtes Magyarisierungswerkzeug geschaffen werden.
Daß die Selbständigkeit des ungarischen Heeres den Lohn für
die sicherlich hervorragenden Leistungen der Magyaren im Felde zu bilden
hätte, galt schon nach dem ersten Kriegsjahre dem jüngsten
magyarischen Infanteristen als unumstößliche Gewißheit.
Nunmehr - im Sommer 1917 - lautete die Frage nur mehr so, ob die
ungarische Armee noch während des Krieges kommen werde oder erst nach
seinem Schluß. Als am 20. August 1917 dem auch körperlich stark
mitgenommenen Eszterhazy Alexander Wekerle als Kabinettschef folgte, da
durfte dieser der Nation die grundsätzliche Zustimmung des Königs
zur Trennung der gemeinsamen Armee als Morgengabe mitbringen! Damit war
die Axt an das letzte Bollwerk der
österreichisch-ungarischen Gemeinsamkeit, zugleich an das
mächtigste Bollwerk der Großmachtstellung des Reiches gelegt. Die
Nationalitäten in den Ländern der Stephanskrone
aber - vor allem die Kroaten - erblickten in dem Zugeständnis
des Königs an die Magyaren eine neue Bedrohung ihres Volkstums,
für das sie eine Verbesserung des Wahlrechtes nur notdürftig zu
entschädigen vermochte.
Als Kaiser Karl den Thron seiner Väter bestieg, hatte die Armee zwei Jahre
des schwersten Krieges hinter sich. Gerade der letzte Sommer, der von [363] 1916, hatte die
Kämpfer in Ost und Südwest wieder vor harte Proben gestellt, und es
durfte bei den schwankenden Fundamenten, die der Staat der Wehrmacht bot,
nicht wundernehmen, wenn sich mancher Riß und mancher Sprung in dem
mächtigen Gebäude der Armee zeigte. Dessenungeachtet bildete
diese um die Jahreswende 1916/17 noch immer eine achtunggebietende,
machtvolle Organisation, auf deren Kraft sich der junge Kaiser, als die
Ententemächte für seine Friedenswünsche nur Hohn und Spott
hatten, mit Recht wieder berufen durfte.
Die österreichisch-ungarische Feldarmee zählte im Frühjahr
1917 einen Verpflegungsstand von dreieinhalb Millionen Mann (gegen anderthalb
zu Kriegsbeginn) und eine Million Pferde und Tragtiere. Hiervon standen
780 000 Mann als Kämpfer in der Front, es entfielen demnach, was
sich aus der Ausdehnung der Etappenräume erklärt, auf neun
Soldaten zwei Frontkämpfer. In der Front waren 26 000 Offiziere
eingeteilt. Der Gesamtstand an Offizieren und Gleichgestellten betrug
100 000. Bei den Kampftruppen kam auf 30 Mann ein Offizier.
Die Armee war mit 48 Infanteriedivisionen und 19
Landsturm-Infanteriebrigaden ins Feld gerückt. Aus den 48
Infanteriedivisionen waren 71 geworden, zu denen noch unterschiedliche
Grenz- und Küstenschutzverbände hinzukamen. Die Zahl der
Kavalleriedivisionen, 11, war unverändert geblieben. Gesamtzahl der
Abteilungen: 938¼ Bataillone, 242 Eskadronen, 1246 Batterien.
Aus den 16 mobilisierten Korps zu 3 Divisionen waren 26 zu 2 oder 3 Divisionen
geworden, die insgesamt 8 Armeen bildeten.
Von den verschiedenen Waffengattungen hatte die Artillerie den stärksten
Ausbau erfahren. Sie zählte im März 1917 1246
Batterien - mehr als doppelt soviel als bei der
Mobilmachung - mit 5700 Feld- und Gebirgsgeschützen und 1550
schweren. Außerdem standen bei der Infanterie 664
Infanterie- und 320 Grabengeschütze in Verwendung. Bedenkt man noch,
wieviel altes Geschützmaterial durch neues ersetzt werden mußte, so
kann man den Leistungen der Organisatoren, wie auch der unter großen
Schwierigkeiten arbeitenden Industrie die größte Anerkennung nicht
versagen.
Auch an sonstigen Kampfmitteln wies die k. u. k. Armee, so sehr sie darin der
deutschen nachstand, für ihre Verhältnisse ganz beachtenswerte
Zahlen aus: 7000 Maschinengewehre - dreimal soviel als bei der
Mobilmachung -, 2100 Minenwerfer, 1100 Granatwerfer
u. a. m.
Auffallend gering im Vergleich zum Anwachsen der Artillerie war jenes der
Infanterie. Die Ursache hierfür reichte schon in die Friedenszeit
zurück. Die von den Parlamenten bewilligte jährliche
Ersatzgestellung war so gering bemessen, daß man zu den erdenklichsten
Aushilfen greifen mußte, um die nötigen Mannschaften für die
Spezialtruppen zu gewinnen. So konnte in den letzten Jahren vor dem Kriege die
in sehr engen Grenzen gehaltene Ausgestaltung [364] der Artillerie und die
Aufstellung der Maschinengewehrzüge nur auf Kosten der vierten
Bataillone der Infanterieregimenter erfolgen, die auf den Stand einer
Friedenskompagnie zusammenschrumpften. Folgerichtig hatte man auch bei der
Mobilmachung zur Auffüllung der Infanterieverbände nur
verhältnismäßig wenig voll ausgebildete Leute zur
Verfügung. Schon in den ausmarschierenden Kompagnien machten die
bloß durch acht Wochen ausgebildeten "Ersatzreservisten" einen
beträchtlichen Teil aus. Reserveformationen, wie sie der Generalstab seit
Jahren vergeblich angestrebt hatte, konnten keinesfalls aufgestellt werden. Auch
die Landsturmbrigaden, die man zu Kriegsbeginn und später zur
Karpathenverteidigung - zum Teil noch in Zivil, mit schwarzgelben
Armbinden und mit alten Einzelladern - in die erste Linie stellte, kamen als
dauernde Verstärkung des Heeres nur bedingt in Betracht, wenn aus keinem
anderen Grunde, schon deshalb, weil sie über keine systemisierten
Ersätze verfügten. Einige dieser Verbände, die
sich - wie die k. k. 106.
Landsturm-Infanteriedivision - besonders bewährt hatten, ließ
man fortbestehen, die meisten aber wurden, stark zusammengeschmolzen,
aufgelöst.
Auch sonst machte sich das Fehlen ausgebildeter Ersätze schon sehr bald
empfindlich fühlbar. Der Feldzug 1914 hatte überaus viel Blut
gekostet, der Karpathenwinter gleichfalls außerordentlich tiefe
Lücken gerissen. Schon um Weihnachten 1914 standen in der Heimat
ausgebildete Mannschaften nicht mehr zur Verfügung. Die
Infanterieregimenter brauchten damals in jedem Monat mindestens ein Bataillon
Ersatz. Es wurde bis in die Tage von Gorlice zur Regel, Leute mit kaum vier
Wochen Ausbildung in die Front zu senden, wo sie natürlich,
ungeübt, nicht genügend abgehärtet und auch moralisch nicht
ausreichend gefestigt, rascher ausschieden als sie gekommen waren. Später
wurde es dann wohl besser, besonders im Winter 1915/16, während dessen
weit mehr Ersatz zufloß, als aufgebraucht wurde.
Im Februar 1917 zählte man - von Kriegsbeginn her - mehr als eine halbe
Million Tote, darunter 15 000 Offiziere. Außerdem waren von
anderthalb Millionen Verwundeten und fast zwei Millionen Kranken
200 000 gestorben. Mehr als zwei Millionen Verwundete und Kranke
waren nach ihrer Genesung wieder ins Feld gezogen, indessen eine Million
dauernd kriegsdienstunfähig blieb. Eineindrittel Millionen befanden sich in
Kriegsgefangenschaft oder waren vermißt. Drei Millionen (Tote, Invalide,
Vermißte und Gefangene) mußten demnach für die
Fortführung des Krieges als dauernder Verlust gebucht werden. Schon in
den ersten zwei Kriegsjahren hatte Österreich-Ungarn, um diese riesigen
Einbußen einigermaßen zu ersetzen, 14% seiner Bewohner unter die
Fahnen rufen müssen, sieben Millionen Mann. Das war nur möglich,
indem man nicht bloß die 20- bis 42jährigen so stark als
möglich ausschöpfte, sondern im April 1915 die Kriegsdienstpflicht
auf die 18- und 50jährigen, im Januar 1916 sogar auf die 55jährigen
ausdehnte!
[365] Da von den genannten
sieben Millionen drei als "dauernder Abgang" abzustreichen waren und die
Feldarmee dreieinhalb Millionen Verpflegungszustand zählte, blieben
Anfang 1917 500 000 Ausgehobene als Ersatz in der Heimat übrig.
Obgleich die Verluste bei der Feldarmee mit zunehmender Kriegsdauer
wesentlich abgenommen hatten, bedurfte diese monatlich doch noch mehr als
100 000 Mann an Ersatz für Kranke und Verwundete. Sonach reichte
die vorhandene Reserve von einer halben Million Mann nur mehr für
fünf Monate. Da hieß es, dazu sehen!
Zur Vereinheitlichung des Ersatzgeschäftes schuf der Kaiser eine eigene
Dienststelle, an deren Spitze er im März 1917 den bisherigen ungarischen
Landesverteidigungsminister Samuel Baron Hazai berief. Die Schaffung dieses
mit einem die gesamte bewaffnete Macht betreffenden Wirkungskreis
ausgestatteten Funktionärs stieß - so empfindlich man alle
ähnlichen Versuche auf dem Gebiete des Ernährungsdienstes
zurückwies - bei den Ungarn nicht nur auf keinen Widerstand,
sondern sie wurde von Tisza sogar - noch gegen den Willen
Conrads - gewünscht, da er in dem ihm treu ergebenen Generaloberst
Hazai mit Recht ein ungarisches Überwachungsorgan über die
personellen Kriegsleistungen Österreichs erblicken durfte. Der "Chef des
Ersatzwesens" griff gleich in den ersten Monaten stark durch. Unter den
"Enthobenen" wurde strenge Nachmusterung gehalten. Weit ausholende
"Austauschaktionen" hatten den Zweck, volltaugliche Mannschaften aus der
Etappe und aus der Heimat in die Front zu schieben, indessen die weniger
tauglichen und älteren leichteren Dienst außerhalb des Kampffeldes
zu übernehmen hatten. In die Bureaus der Heimat und in die Feldkanzleien
zogen allgemach die "weiblichen Hilfskräfte"
ein - was bekanntlich nicht ohne bedenkliche moralische und
gesundheitliche Nachteile blieb.
Zu den Pflichten der neuen Dienststelle gehörte auch die Leitung und
Organisation des Pferdeersatzes. Auch auf diesem Gebiete hatte der Krieg in den
ersten Jahren wahren Raubbau getrieben. Bei Artillerie und Troß gebrach es
bedenklich an Zugtieren. Von der Reiterei war schon seit vielen Monaten ein
beträchtlicher Teil "zu Fuß formiert". Nun ereilte, weil der Ausbau
der Artillerie neue Pferdemengen forderte und auch die Landwirtschaft der
Zugtiere bedurfte, dieses Geschick die ganze Kavallerie. Nur schwer vermochte
sich der Kaiser zu entschließen, seiner Lieblingswaffe diesen Schlag zu
versetzen. Aber es ging nicht anders. Auch bei den Stäben wurde der Stand
an Pferden auf ein Mindestmaß herabgesetzt.
Der Gesundheitszustand der Armee durfte durchwegs günstig genannt
werden. Kriegsseuchen gab es fast gar nicht; wo sie vereinzelt auftraten, wurden
sie rasch und erfolgreich bekämpft. Eine schmerzliche Ausnahme bildeten
die Malariaerkrankungen, die in Albanien erschreckend um sich griffen und
Tausende von Opfern kosteten. Es war schlechterdings unmöglich, dieser
Seuche Herr [366] zu werden, die nach der
12. Isonzoschlacht auch auf die in Venetien stehenden Truppen
übergriff.
Mit der Verpflegung war es nach dem Winter 1916/17 zeitweilig schon recht
schlecht bestellt. Im darauffolgenden Frühjahr trat an der Front wiederholt
empfindlicher Brotmangel ein. Man lebte bereits von der Hand in den Mund. Im
April und Mai blieben die Tiroler Truppen jeweils einige Tage ganz ohne Brot.
Auch an Fett fehlte es. Kraftloses Dürrgemüse, im Soldatenmund
"Drahtverhau" oder "Karl-Truppenkraut" genannt, begann allmählich in der
Ration des Mannes den beherrschenden Platz einzunehmen. Die Verpflegsmengen
und auch der Rauchtabak wurden stark vermindert. Das alles ging um so mehr auf
Kosten der körperlichen Leistungsfähigkeit der Kämpfer, als
auch die aus der Heimat herangeführten Ersatzmannschaften vielfach
erschreckend unterernährt waren.
Dabei stellten die Kriegsschauplätze im Südwesten und in
Albanien - in Rußland war es seit dem Ausbruche der Revolution
naturgemäß wesentlich besser
geworden - an die Truppen nach wie vor die höchsten
Anforderungen. Am Isonzo fesselte die gegenüberstehende italienische
Übermacht soviel Divisionen in der vordersten Linie, daß
Ablösungen und Ruhepausen nur zu den seltensten und ersehntesten
Glücksfällen gehörten. Im Hochgebirge wieder trat zu
Gelände- und Witterungsunbill, wie sie sich dem Kämpfer in der
Front fühlbar machten, noch die Pflicht, die Lücken, die sich trotz
Straßenbauten und Seilbahnnetz im Nachschub ergaben, durch einen
sorgsam eingerichteten Trägerdienst zu ergänzen. Dieser
überaus schwierige und kräfteverzehrende Dienst mußte zum
großen Teil von den Kampfreserven besorgt werden, die dadurch aber
wieder der so unbedingt nötigen Ruhe entbehrten.
Wenn trotz aller dieser großen Schwierigkeiten materieller Natur, zu denen
noch die mehrfach angeführten politischen hinzutraten, die
österreichisch-ungarische Wehrmacht auch im Jahre 1917 noch ein unter
den gegebenen Verhältnissen durchaus vollwertiges Kriegswerkzeug
darstellte, so war dies neben den soldatischen Eigenschaften, die die meisten
Völker des Reiches auszeichneten, der unverdrossenen Arbeit des
Offizierskorps zu danken, dessen Blüte wohl längst unter dem Rasen
lag, das sich aber auch so ausgelaugt, wie es schon war, und trotz gewisser
politischer Einflüsse, denen sich ein Teil der Reserveoffiziere nicht zu
entziehen vermochte, noch immer als das Rückgrat dieses buntscheckigen
Völkerheeres erwies.
6. Der Kriegsplan für
1917.
Das nach schweren Krisen doch glückliche Ergebnis des Ostkrieges hatte
im Januar 1917 den damals noch an der Spitze der Heeresleitung stehenden,
tatkräftigen Feldmarschall v. Conrad
ermutigt, neuerlich auf seinen
Lieblingsplan, den der Niederwerfung Italiens, zurückzukommen.
Deutschland und [367]
Österreich-Ungarn sollten sich mit allen irgendwie verfügbaren
Kräften auf den verhaßten Erbfeind stürzen und seine Armee
vernichten. Conrads Denkschrift sah einen Angriff aus zwei Fronten vor. 19
Divisionen, darunter 6 deutsche, sollten unter dem Oberbefehl des Feldmarschalls
v. Mackensen am Isonzo angesetzt werden,
23 - darunter gleichfalls 6 deutsche - unter der Leitung des Erzherzogs Eugen wieder wie im Jahre 1916 auf der Hochfläche der Sieben
Gemeinden. Mackensens Vorstoß hätte dem anderen um einige Tage
vorauszugehen. Für die Ausführung des groß gedachten
Unternehmens käme nach den Erfahrungen, die man das Jahr zuvor
gemacht hatte, wohl erst der Ausgang des Monats Mai in Betracht. Doch
hätten die Vorbereitungen ehestens einzusetzen.
In der Zweiten Januarhälfte übermittelte Conrad seine
Vorschläge der Obersten Heeresleitung; es wurde ihnen keine
grundsätzliche Ablehnung, aber auch keine bindende Zustimmung zuteil.
Als dann General von Arz die Leitung des
österreichisch-ungarischen Generalstabes übernahm, erwies sich
freilich, daß große Offensivunternehmen vorläufig nicht in den
Absichten des deutschen Hauptquartiers lagen. Hindenburg und Ludendorff waren
vielmehr fürs erste vom Gedanken beherrscht, die im Jahre 1916 auf allen
Kriegsschauplätzen stark in Anspruch genommene Abwehrkraft der
verbündeten Heere neu zu organisieren und so gegen den schweren
Generalangriff gewappnet zu sein, der unbedingt zu gewärtigen war.
Inzwischen mußte die Wirkung des verschärften Unterseebootkrieges
in der einen oder der anderen Form zutage treten. Erübrigte man
schließlich Kräfte, dann konnten immer noch Blößen des
Feindes zu Gegenschlägen ausgenutzt werden.
Damit war dem Feldzug 1917 der Stempel seiner Eigenart aufgedrückt: er
wurde für die Kaisermächte zu einem reinen Abwehrkampf. Auch
die großen Offensiven in Ostgalizien und Oberitalien änderten daran
im Wesen nichts. Beide waren letzten Endes nicht der eigenen Initiative
entsprungen, sondern waren durch den Feind herausgefordert worden.
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