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Bd. 5: Der österreichisch-ungarische Krieg

  Kapitel 15: Österreich-Ungarns Politik
in den Kriegsjahren 1914 bis 1917
  (Forts.)

Staatsarchivar Oberstleutnant Edmund Glaise-Horstenau

5. Der neue Kurs im Innern und in der Wehrmacht.

Noch mehr als in national einheitlichen Staatsgebilden hingen in einem Völkerreich, wie Österreich-Ungarn war, äußere und innere Politik aufs engste zusammen. Der Friedenskurs, den Kaiser Karl und sein Minister nach außen eingeschlagen hatten, mußte auch auf das Innere tiefe Wirkung ausüben.

Wohl hatte das Ministerium Clam noch das Erbe des früheren Systems, den Gedanken des "Octroys", voll übernommen. Die Pläne Stürgkhs wurden aus der Schublade geholt, gründlichen Änderungen unterzogen und sollten alsbald an das Tageslicht gebracht werden. Inzwischen war aber die russische [354] Revolution ausgebrochen, und im April erschien Czernin beim österreichischen Premier, um ihm mitzuteilen, daß die Richtung der auswärtigen Politik ein "Octroy" nicht mehr ertrage. Auch die nach Stockholm reisenden Sozialdemokraten hätten die schleunigste Einberufung des österreichischen Parlaments verlangt, um gegenüber ihren Ententegenossen auf eine bessere Position hinweisen zu können. Ebenso war in den Hofkreisen inzwischen ein Stimmungswechsel eingetreten, der die maßgebenden Persönlichkeiten, ihnen voran den jungen Kaiser, immer mehr von den Plänen einer gewaltsamen Regelung der Verhältnisse abdrängte. Der Gedanke des Versöhnungsfriedens regte auch zur Versöhnung im Innern an, zur Versöhnung mit jenen Völkern des Reiches, die sich in den ersten zwei Kriegsjahren im Herzen mehr oder minder von Österreich abgewendet hatten. Die Behauptung, daß es in der Donaumonarchie zweierlei Völker gäbe, bevorrechtete und unterdrückte, kehrte in allen Kundgebungen aus feindlichem Lager wieder. Sie war natürlich tendenziös, denn selbst in Ungarn, wo die Magyaren immerhin den Anspruch erhoben, das Staatsvolk schlechtweg zu sein, besaßen die Slowaken, Serben, Deutschen und Rumänen weit mehr Rechte als etwa das irische Volk im britischen Imperium. Trotzdem sollten jetzt nach dem Wunsche der erwähnten Wiener Kreise auch die nationalen Fragen in einer den Völkerwünschen besser entsprechenden Weise gelöst werden. Dies um so mehr, als das von der russischen Revolution hervorgeholte Schlagwort vom Selbstbestimmungsrecht der Völker dem vielsprachigen Habsburgerreich außerordentlich gefährlich werden konnte.

Der Kabinettsdirektor v. Polzer riet dem Kaiser nichts Geringeres, als das ganze österreichische Problem innerpolitisch aufzurollen und auch herzhaft nach Ungarn hinüberzugreifen, ohne dessen Umbau nach seiner und der Ansicht vieler anderer Politiker an eine wirkliche Gesundung des Reiches nicht zu denken war. Er wies besonders auf die südslawische Frage hin, deren glückliche Lösung auch der Fortführung des Krieges noch wertvolle Kräfte einbringen, aber ohne Heranziehen Ungarns nicht bewerkstelligt werden konnte. Kaiser Karl gab ihm akademisch recht, aber weder er noch irgendeiner der verantwortlichen Männer Österreichs hätten ernstlich den Versuch gewagt, den Kampf mit den Magyaren aufzunehmen. Auch Czernin warnte bei all seiner großösterreichischen Vergangenheit davor, an Ungarn zu rühren. So war es denn bald klar, daß die Politik der auf die innere Völkerversöhnung hinarbeitenden Reformen vorerst nur in Österreich Entfaltungsmöglichkeit fand.

Am 25. April 1917 berief Graf Clam - nach drei Jahren Unterbrechung - für Ende Mai den österreichischen Reichsrat zusammen. Die Deutschen hatten wohl Verwahrung dagegen eingelegt, daß die Erfüllung der "Belange" zurückgestellt werde; aber sie beließen ihre Vertreter in der Regierung.

Gleichzeitig ging man daran, verschiedene Ausnahmsmaßregeln, die unter Berufung auf das Kriegsrecht verfügt worden waren, abzubauen; dies galt [355] vor allem hinsichtlich der Konfinierungen und Internierungen, an denen in den ersten Kriegsjahren wirklich des Guten zuviel getan worden war. Auch zeigten sich Ansätze, die Verwaltung zugunsten der darbenden, unter dem Krieg am schwersten leidenden Massen schärfer durchgreifen zu lassen. Verschiedene Verfügungen des Kaisers verrieten das ehrliche Bestreben, nun auch jene Kreise, die sich bisher mehr oder minder geschickt der Erfüllung ihrer vaterländischen Pflichten entzogen hatten, persönlich und wirtschaftlich stärker in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen. Ganz besonders bemerkenswerte Beispiele sollten dartun, daß man sogar willens war, vor den Großen des Kapitals nicht haltzumachen. Leider blieb es meist nur bei schüchternen Versuchen, es fehlte an der Kraft, den einmal beschrittenen Weg folgerichtig weiterzugehen.

Am 31. Mai 1917 trat der Kaiser zum erstenmal vor die Vertreter der österreichischen Völker hin. In der Thronrede sagte er, von der ihm erwachsenden Pflicht des Gelöbnisses auf die Verfassung ausgehend, u. a.:

      "...Ich bin aber auch überzeugt, daß das segensvolle Aufblühen des Verfassungslebens nach der Unfruchtbarkeit früherer Jahre und nach den politischen Ausnahmsverhältnissen des Krieges, abgesehen von der Lösung jener galizischen Frage, für welche Mein erhabener Vorgänger bereits einen Weg gewiesen hat, nicht möglich ist ohne eine Ausgestaltung der verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Grundlagen des gesamten öffentlichen Lebens, sowohl im Staate als auch in den einzelnen Königreichen und Ländern, insbesondere in Böhmen. Und ich vertraue darauf, daß die Erkenntnis Ihrer ernsten Verantwortung für die Gestaltung der politischen Verhältnisse, der Glaube an die glückliche Zukunft des in diesem furchtbaren Kriege so herrlich erstarkten Reiches Ihnen, meine geehrten Herren, die Kraft verleihen wird, vereint mit mir in Bälde die Vorbedingungen zu schaffen, um im Rahmen der Einheit des Staates und unter verläßlicher Sicherung seiner Funktionen auch der freien nationalen und kulturellen Entwicklung gleichberechtigter Völker Raum zu geben. Aus diesen Erwägungen habe ich mich entschlossen, die Ablegung des Verfassungsgelöbnisses dem hoffentlich nicht fernen Zeitpunkte vorzubehalten, wo die Fundamente des neuen, starken glücklichen Österreich für Generationen wiederum fest ausgebaut sein werden nach innen und außen. Schon heute aber erkläre ich, daß ich meinen teuren Völkern immerdar ein gerechter, liebevoller und gewissenhafter Herrscher sein will im Sinne der konstitutionellen Ideen, die wir als ein Erbe der Väter übernommen haben, und im Geiste jener wahren Demokratie, die gerade während der Stürme des Weltkrieges in den Leistungen des gesamten Volkes an der Front und daheim die Feuerprobe wunderbar bestanden hat..."

Strenggenommen hatten die Volksvertreter in ihrer Mehrheit schon tags zuvor diesen gut gemeinten Absichten und Plänen mit aller Deutlichkeit den Abschied erteilt. In der ersten Sitzung des Abgeordnetenhauses, [356] am 30. Mai, erhoben sich der Reihe nach die Vertreter der slawischen Völker Österreichs, um wohl nicht der Dynastie, aber dem Staate als solchem ihre Gunst aufzusagen. Der Tscheche Stanjek forderte für die habsburgische Monarchie die Umgestaltung in eine Förderation von "freien und gleichberechtigten Staaten" und für den tschechoslawischen Staat nicht nur das von den historischen Grenzen umfaßte Gebiet Böhmens, Mährens und Österreichisch-Schlesiens sondern auch die Slowaken, jenen "tschechoslawischen Stamm, welcher zusammenhängend an den historischen Grenzen" des tschechischen Vaterlandes lebt. Der Geistliche Koroschetz meldete als südslawische Forderung die Vereinigung aller in der Monarchie wohnenden Slowenen, Kroaten und Serben zu einem demokratischen Staatskörper unter Habsburg Zepter an. Der Vertreter der Ukrainer verwahrte sich aufs heftigste gegen die Absicht, Ostgalizien an den künftigen polnischen Staat auszuliefern, und verlangte für dieses Land gleichfalls bundesstaatliche Selbständigkeit. Die Polen traten für eine Vereinigung aller Volksgenossen zu einem geeinten, unabhängigen Staate ein. Der Ministerpräsident antwortete diesen von der Thronrede weit abweichenden Kundgebungen am 12. Juni mit der Gegenerklärung, daß "sein Programm Österreich" sei, jenes "Österreich, wie es in einer ruhmvollen, geschichtlichen Entwicklung geworden und gewachsen ist, wie es in diesem Kriege das Bewußtsein seiner unzerstörbaren Kräfte neu gefunden hat... wie es sich im Vollgefühle verjüngter Lebensenergien anschickt, ein mächtiger Faktor in der wirtschaftlichen und sozialen Neuentwicklung der Zukunft zu werden - das Österreich, als ehrwürdige, stolze, feste und ewige Burg seiner Völker..." Graf Clam glaubte an sein Vaterland mit der gleichen Inbrunst wie ungezählte der besten alten Österreicher.

Aber dieser Glaube sollte keinen Lohn finden. Schon in den ersten Wochen nach der Reichsratseröffnung scheiterte das Bemühen des Ministerpräsidenten, auf seinem Programm, das man am kürzesten als eine durch die deutschen "Belange" beschränkte nationale Autonomie bezeichnen könnte, ein aus Vertretern aller Nationen gebildetes Kabinett aufzubauen. Tschechen und Südslaven kamen nach den Deklarationen vom 30. Mai überhaupt nicht in Frage. Die Polen waren in hohem Maße verstimmt durch das Militärregiment in Galizien und durch die Verzögerungen, die der Ausbau der polnischen Staatlichkeit erlitten hatte und derentwegen Czernin in der Wilhelmstraße und in Kreuznach vergeblich mündlich und schriftlich Protest erhob; auch ahnten sie, daß der augenblickliche Kurs der Wiener Außenpolitik bedingungsweise auf eine Übergabe Polens an Deutschland hinauslief. So hatten denn die Besprechungen, die schon im Mai zwischen den galizisch-polnischen Politikern aller Richtungen stattfanden, zu einer vollen Niederlage der streng österreichisch gesinnten, konservativeren Elemente geführt. Die Einladung Clams wurde überall zurückgewiesen. Die deutschen Sozialdemokraten lehnten grund- [357] sätzlich eine Beteiligung an einem Kriegskabinett ab. Da solcherart eine Mehrheitsbildung unmöglich ward, legten Clam und seine Minister am 23. Juni 1917 ihre Portefeuilles nieder.25 Der Kaiser berief seinen ehemaligen Lehrer Dr. Ernst v. Seidler, einen tüchtigen Volkswirtschaftslehrer, der jedoch dem politischen Leben bisher völlig fern gestanden hatte, an die Spitze eines provisorischen Kabinetts, dessen Aufgabe es zunächst war, die Staatsnotwendigkeiten, vor allem das Budget, unter Dach zu bringen.

Ernst v. Seidler leitete seine Ministerpräsidentschaft durch den viel berufenen Staatsakt der "Amnestie" ein. Der Ursprung dieses Aktes liegt heute ziemlich offen. Dem Kaiser wurden von allen Seiten Klagen über die Willkür der Militärjustiz zugebracht. Auch im Parlament bereitete sich ein großer Sturm gegen zahlreiche Urteilssprechungen vor. Im Mittelpunkt aller Beschwerden stand der große Kramarsch-Prozeß. Man konnte den Monarchen sagen hören, daß Kramarsch auf Befehl des Armee-Oberkommandos Teschen verurteilt worden sei. Kabinettsdirektor v. Polzer begrüßte alle auf eine Amnestie abzielenden Bestrebungen von Herzen, da die Versöhnung des Kaisers mit abtrünnig gewordenen Volksschichten zu seinen Umformungsplänen gehörte. Auch der neue Ministerpräsident v. Seidler war gerne einverstanden, denn er betrachtete eine etwaige Debatte über die Militärjustiz als eine wenig zuträgliche Einleitung zu den Budgetsitzungen des Abgeordnetenhauses. Dagegen hatte sich Czernin bei früheren Anlässen stets gegen eine Amnestie ausgesprochen; er wurde daher, als man daran ging, diese zu verwirklichen, über alle konstitutionellen Bedenken hinweg nicht ins Vertrauen gezogen.

Am 30. Juni machten der Kaiser und die Kaiserin ihren Antrittsbesuch in München. Tags darauf folgte jener in Stuttgart. Während der Reise entstand der Amnestieerlaß in seinem politischen Teil, die Einleitung und der Schluß. Polzer mußte auf kaiserlichen Befehl einen Entwurf verfassen. Seidler drängte von Wien aus durch den Fernsprecher auf Fertigstellung. Der Justizminister Ritter v. Schauer fügte nach der Rückkunft in Baden in den Entwurf Polzers den juristischen Teil ein. Der Generalstabschef v. Arz fand gerade noch die Möglichkeit, zu erwirken, daß rein militärische Delikte von der Begnadigung ausgeschlossen blieben. Czernin erfuhr, obgleich er an der Reise nach München und Stuttgart teilgenommen hatte, von der Amnestie erst am Abend des 2. Juli, just zur Stunde, als im Hetzendorfer Schloß Hindenburg und Ludendorff bei ihm zu Tafel saßen, und übertrug die Bestürzung, die ihn erfaßt hatte, sofort auf seine illustren Gäste. Am 3. Juli verlas v. Seidler im Parlament das an ihn gerichtete, die Amnestie betreffende kaiserliche Handschreiben, das in die [358] für das neue Regime höchst bezeichnenden Worte ausklang: "Ich wähle... den heutigen Tag, an welchem Mein innigstgeliebter ältester, durch Gottes Gnade mir geschenkter Sohn die Feier seines heiligen Namenspatrons begeht. So führt die Hand eines Kindes, welches berufen ist, dereinst die Geschicke Meiner Völker zu leiten, Verirrte ins Vaterhaus zurück."

Auf Grund des Amnestieerlasses erlangten sechs tschechische, ein slowenischer und zwei ukrainische Abgeordnete ihre Freiheit. Unter den ersteren befanden sich Kramarsch und Raschin. Auch ein gegen den Nationalsozialisten Klofatsch schwebendes Verfahren wurde eingestellt. Karl Kramarsch zog wie ein König in die hunderttürmige Hauptstadt Prag ein.

Die deutschen Abgeordneten antworteten auf die kaiserliche Kundgebung mit einer Verwahrung. Sie wiesen nicht mit Unrecht auf den ungünstigen Eindruck hin, den der ganz unvermittelt und scheinbar unmotiviert erfolgte Akt kaiserlicher Milde gegen Vaterlandsverräter bei den bis zum Weißbluten hergenommenen deutschen Stämmen des Reiches machen mußte. Noch nachhaltiger war freilich das Echo, das der Amnestieerlaß bei der Armee, besonders bei dem politischen Erwägungen fernstehenden, zum großen Teil deutschen Offizierskorps fand.

Fast noch mehr als im Volke war zu Beginn der Regierung der Kaiser in der Armee populär gewesen. Er hatte die glückliche Gabe, dem gewöhnlichen Mann nahezukommen. Eine Reihe von Verfügungen, mit denen er sich einführte, zeigte, daß er Herz für die Truppe besaß, und steigerte die Zuneigung, deren er sich erfreuen durfte. Freilich sollte sich nach nicht allzu langer Zeit erweisen, daß seine Friedens- und Versöhnungspolitik den Kaiser naturgemäß nicht selten in Widerspruch zu den moralischen Bedürfnissen eines Heeres stellen mußte, für das der Glaube an den Sieg und an die Überlegenheit über den Feind, sowie straffe, eiserne Manneszucht zu den Grundbedingungen ausreichender Widerstandsfähigkeit gehörten. Es war eben nicht leicht, gleichzeitig Friedenskaiser und oberster Feldherr zu sein.

Eine der ersten hierher gehörenden Maßnahmen war die Abschaffung der Strafe des Anbindens; diese Verfügung war vom Kaiser sicherlich gut gemeint. Aber die Truppe, die schließlich auch vereinzelte Verbrechernaturen in ihren Reihen hatte, forderte gebieterisch die Wiedereinführung dieser Strafe, die dann auch unter der Hand angeordnet werden mußte.

Zur Friedenspolitik des Kaisers gehörte es zweifellos, daß er das Abwerfen von Fliegerbomben auch auf knapp hinter der Kampffront liegende offene Städte und die Verwendung von Brandgeschossen im Fliegerkampfe verbot. Die Armee aber empfand beide Verbote als schwere Benachteiligung gegenüber dem Feinde; es fiel auf, daß der oberste Kriegsherr bei der ohnehin äußerst geringen Entwicklung der k. u. k. Fliegerwaffe die Verwendung von Kampf- [359] mitteln untersagte, von denen der Feind bei jeder Gelegenheit mit Erfolg Gebrauch zu machen wußte. Alle möglichen Gerüchte hatten bereits Fuß gefaßt, als auch diese Befehle zurückgenommen wurden. Noch manches Beispiel ähnlicher Art ließe sich anführen.

Der Amnestieerlaß stieß daher beim Heere nicht mehr auf jene kritiklose Ergebenheit, die es zu Anfang dem kaiserlichen Oberbefehlshaber gegenüber erfüllt hatte. Zahlreiche Truppenkörper und Führer der Wehrmacht hatten während der langen Dauer des Krieges wiederholt infolge des Versagens unverläßlicher Verbände Unbill erlitten oder doch erlitten zu haben geglaubt. All diese empfanden den kaiserlichen Gnadenakt wie einen Schlag, wobei es schwer ist, zu beweisen, ob schon damals auch eine antidynastische Stimmungsmache ihre Hand im Spiele hatte. Wie zum Hohn geschah es noch, daß sich just in den Tagen der Amnestie tschechische Regimenter bei Zborow in Ostgalizien schwerster Pflichtverletzungen verdächtig machten und daß zehn Wochen später - im September 1917 - bei Carzano in Südtirol slawische Reserveoffiziere, die zum Feind desertiert waren, diesen bei Nacht und Nebel in die österreichischen Schützengräben führten. Als kurz nach diesem zweiten Fall der Kaiser die Tiroler Front besuchte und dabei fragte, wie sich die Verräter wohl die Rückkehr in die Heimat dächten, da antwortete der Oberbefehlshaber Feldmarschall v. Conrad in seiner kurzen, mürrischen Art: "Daß man sie amnestieren wird, werden sie sich denken, Majestät!"

Nun muß wohl erwähnt werden, daß nach Mitteilungen aus der Umgebung des Kaisers dieser sich für seinen Gnadenakt keinen Dank erwartete, sondern der Armee die Unannehmlichkeit des Aufrollens verschiedener Monstreprozesse ersparen wollte. Auch fiel die Amnestie in jene Wochen des Jahres 1917 hinein, in denen der Kaiser dem Gedanken der von Polzer propagierten nationalen Autonomie besonders nachhing. Unmittelbar nach der Rückkehr von den süddeutschen Fürstenhöfen erwog er, den großösterreichisch und pazifistisch denkenden Professor Dr. Josef Redlich mit der Bildung eines Völkerkabinetts zu betrauen; der Redlich gesinnungsverwandte Pazifist und Völkerrechtslehrer Lammasch sollte Justizminister werden. Einige Zeit später wurde Lammasch selbst, dann auch Mai Vladimir Freiherr v. Beck, der schon 1906 - 1908 das Ministerpräsidium innegehabt hatte, zur Kabinettsbildung ausersehen. Aber dann ging es so wie im alten Österreich sehr oft. Aus dem Provisorium Seidler wurde Ende August ein Definitivum, das von Staatsvoranschlag zu Staatsvoranschlag sein Dasein fristete, mit dem Bleistift in der Hand Mehrheiten errechnete und erst nach einem Jahre, ohne der Lösung der großen Probleme irgendwie nahegekommen zu sein, von der Bildfläche verschwand.26

[360] Auch in Ungarn war in dieser Zeit das politische Leben schon von einem unbestimmten Drange nach Reformen erfüllt gewesen. Die Nationalitäten, die im ungarischen Klassenparlament nur eine sehr unzureichende, mundtote Vertretung hatten, drängten nach Stimme und Geltung. Gleiche Ziele verfolgte die breite Schicht der Arbeiter in Stadt und Land. Obwohl das Elend der Massen nicht im entferntesten so groß war wie in Österreich, wo in den Industriegegenden Deutschböhmens und in den Alpen stellenweise und zeitweilig schreckliche Hungersnot herrschte27 - standen doch eine Reihe sozialer Fragen in Diskussion, ihnen voran die brennenden Probleme einer Bodenreform und einer entsprechenden Fürsorge für die Kriegsopfer. In breiten Kreisen war die Anschauung vertreten, daß das Parlament, mit dem Tisza regierte, in keiner Weise mehr die Stimmungen und Kräfteverhältnisse des Volkes widerspiegle und daher die Lösung der großen Aufgaben einem neuen, aus wesentlich gerechteren, womöglich streng demokratischen Wahlen hervorgehenden Reichstag zu übertragen wäre. Damit trat - auch von den föderalistisch denkenden Österreichern mit brennendem Interesse verfolgt - die Frage der Wahlreform in den Mittelpunkt des politischen Kampfes. Die ganze feudale Gegnerschaft Tiszas, mit Apponyi und Andrassy an der Spitze vereinigte sich, auch mit Michael Karolyi, auf dieser Plattform. Der König, vielleicht beeinflußt durch die Überlieferungen seines Oheims Franz Ferdinand, jedenfalls aber durch maßgebende österreichische Ratgeber, neigte scharf zu den Anhängern der Wahlreform, nicht bloß aus sozialem Empfinden, sondern weil er sich daraus gewisse Erleichterungen für die innere Lage der Gesamtmonarchie versprach. Tisza aber wehrte sich wie ein Löwe. Er besorgte aus einem allzu liberalen Wahlrecht ein zu starkes Hervortreten der Nationalitäten zum Nachteil des magyarischen Stammes und auch soziale Erschütterungen. Nur ungern ließ er sich dazu herbei, den mit Tapferkeitsmedaillen ausgezeichneten Kämpfern das Wahlrecht ohne Rücksicht auf Zensus und sonstige Bedingungen zuzuerkennen. Dagegen verwahrte er sich aufs heftigste, daß auch die Besitzer des Karl-Truppenkreuzes, also Leute, die immerhin mindestens zwölf Wochen am Feinde gestanden hatten oder verwundet worden waren, wahlberechtigt wurden.

Ein erbitterter Kampf entbrannte. Strenggenommen dachten ja auch die Gegner Tiszas nicht ernstlich daran, in der Wahlrechtsfrage allzu großes [361] Entgegenkommen zu zeigen. Aber ihnen war jeder Anlaß willkommen, den Gehaßten zu stürzen, und sie fühlten heraus, daß auch der König mit dem Herzen an ihrer Seite stand. Schon im Februar konnte man diesen in vertrauten Kreisen sagen hören: "Tisza wird nicht lange bleiben." Im April empfing er die Führer der Opposition in aufsehenerregenden Audienzen. Ein Handschreiben versicherte den Minister dann wieder förmlich vollen Vertrauens, zeigte aber unzweideutig, daß es König Karl in der Sache mit den Gegnern hielt. Da selbst Männer von der unerschütterlichen Beharrlichkeit Burians ein liberales Wahlrecht für unvermeidlich hielten und zu der sachlichen Meinungsverschiedenheit zwischen König und Tisza noch aus der Verschiedenheit der Charaktere sich ergebende persönliche Verstimmungen hinzutraten, mußte es zum Bruche kommen. Am 23. Mai gab Graf Stephan Tisza seine Demission, um - ein ganzer Mann, wie er war - mit seinen 56 Jahren und halb blind bei den Honvedhusaren ein Frontkommando zu übernehmen. Vielfach konnte man später hören, daß der Tag der Entlassung Tiszas der eigentliche Unglückstag der Regierung Kaiser Karls gewesen sei. Dieser Anschauung sei das Urteil, das General v. Cramon über den großen Staatsmann fällt, entgegengestellt:

      "Tisza war sicherlich die stärkste politische Persönlichkeit, welche die Donaumonarchie im Weltkriege aufwies. Er hat wiederholt und nicht am wenigsten, als ihm seine Mörder entgegentraten, einen starken Zug ins Heroische gezeigt. Er war auch technisch das, was man einen guten Politiker nennt; er beherrschte das Handwerk und war ein glänzender Redner. Aber er unterschied sich in dem, was man in Österreich »Globuspolitik« nannte, in nichts von allen Grafen und Baronen, in deren Händen damals und seit undenklichen Zeiten das Schicksal des magyarischen Bauernvolkes lag. Er betrieb rein magyarische Kirchturmpolitik und beurteilte die Welt vor allem von dem Standpunkt aus, daß den Magyaren ihre Hegemonie in Ungarn, ihre Stellung in der Monarchie erhalten bleiben müsse. Er gehörte dadurch, darüber kann leider kein Zweifel bestehen, zu den Totengräbern des Habsburgerreiches."

Tiszas Nachfolger wurde - offenkundig auf Vorschlag Hunyadys - der erst in der Mitte der Dreißiger stehende Graf Moritz Eszterhazy. Prinz Ludwig Windischgrätz sagt von ihm, daß er ein "sympathischer, geistvoller, sehr begabter Mensch sei; liebenswürdig, dabei von starker kritischer Einsicht, ein absolut gütiger Charakter, der aber vor jeder Verantwortung zurückschreckt und leicht zu beeinflussen gewesen ist".28 Eszterhazys Ministerium nahm eine stark demokratische Färbung an, was am deutlichsten durch die Zugehörigkeit eines ungetauften Juden, des klugen und ehrlichen Vazsonyi, dargetan wurde. In seinem Programm hielt sich der neue Kabinettschef durchwegs an die Forderungen der bisherigen Opposition und des ganz links gerichteten "Wahlrechts- [362] blockes", dem auch Karolyi angehörte und der eine stark pazifistische Note in sich trug. Große, soziale Reformen wurden angekündigt, darunter leider - um die Bauern zu ködern - ein starker Abbau der staatlichen Getreidebewirtschaftung, der sich später namentlich für die Ernährung der Wehrmacht außerordentlich schädlich erweisen sollte. Im Mittelpunkt aller Ziele der Regierung stand selbstverständlich das - mit gewissen Abschwächungen - allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht. Eszterhazy erklärte, er sei, wenn es nicht gelänge, die Wahlreform mit dem noch in Wirksamkeit befindlichen Parlament durchzubringen, fest entschlossen, auch mitten im Kriege, allen namentlich militärischen Bedenken zum Trotz, Neuwahlen einzuleiten.

Das Ministerium Eszterhazy ließ in den drei Monaten seines Bestandes die Zügel stark am Boden schleifen. Dem wenig energischen Kabinettschef war es angesichts der von Tisza geführten oppositionellen Mehrheit um so weniger möglich, sich entsprechend durchzusetzen, als sich bei den Parteien, die die Regierung stützten, zeigte, daß ihnen die Forderung nach einem demokratischen Wahlrecht gut genug war als Kampfmittel gegen den verhaßten Tisza, daß nun aber die Begeisterung für die Wahlreform vielfach stark nachließ. Dafür traten die sogenannten achtundvierziger Ideen mehr in den Vordergrund, vor allem der Wunsch nach der Teilung des bisher Österreich und Ungarn gemeinsamen Heeres. Diese Frage war für die magyarischen Politiker nicht bloß eine ideelle, sondern auch eine eminent praktische. Wenn sie sich schon genötigt sahen, den Nationalitäten in der Wahlreform entgegenzukommen, so sollte auf der anderen Seite durch eine streng nationale Armee ein überaus wertvolles, längst gewünschtes Magyarisierungswerkzeug geschaffen werden. Daß die Selbständigkeit des ungarischen Heeres den Lohn für die sicherlich hervorragenden Leistungen der Magyaren im Felde zu bilden hätte, galt schon nach dem ersten Kriegsjahre dem jüngsten magyarischen Infanteristen als unumstößliche Gewißheit. Nunmehr - im Sommer 1917 - lautete die Frage nur mehr so, ob die ungarische Armee noch während des Krieges kommen werde oder erst nach seinem Schluß. Als am 20. August 1917 dem auch körperlich stark mitgenommenen Eszterhazy Alexander Wekerle als Kabinettschef folgte, da durfte dieser der Nation die grundsätzliche Zustimmung des Königs zur Trennung der gemeinsamen Armee als Morgengabe mitbringen! Damit war die Axt an das letzte Bollwerk der österreichisch-ungarischen Gemeinsamkeit, zugleich an das mächtigste Bollwerk der Großmachtstellung des Reiches gelegt. Die Nationalitäten in den Ländern der Stephanskrone aber - vor allem die Kroaten - erblickten in dem Zugeständnis des Königs an die Magyaren eine neue Bedrohung ihres Volkstums, für das sie eine Verbesserung des Wahlrechtes nur notdürftig zu entschädigen vermochte.

Als Kaiser Karl den Thron seiner Väter bestieg, hatte die Armee zwei Jahre des schwersten Krieges hinter sich. Gerade der letzte Sommer, der von [363] 1916, hatte die Kämpfer in Ost und Südwest wieder vor harte Proben gestellt, und es durfte bei den schwankenden Fundamenten, die der Staat der Wehrmacht bot, nicht wundernehmen, wenn sich mancher Riß und mancher Sprung in dem mächtigen Gebäude der Armee zeigte. Dessenungeachtet bildete diese um die Jahreswende 1916/17 noch immer eine achtunggebietende, machtvolle Organisation, auf deren Kraft sich der junge Kaiser, als die Ententemächte für seine Friedenswünsche nur Hohn und Spott hatten, mit Recht wieder berufen durfte.

Die österreichisch-ungarische Feldarmee zählte im Frühjahr 1917 einen Verpflegungsstand von dreieinhalb Millionen Mann (gegen anderthalb zu Kriegsbeginn) und eine Million Pferde und Tragtiere. Hiervon standen 780 000 Mann als Kämpfer in der Front, es entfielen demnach, was sich aus der Ausdehnung der Etappenräume erklärt, auf neun Soldaten zwei Frontkämpfer. In der Front waren 26 000 Offiziere eingeteilt. Der Gesamtstand an Offizieren und Gleichgestellten betrug 100 000. Bei den Kampftruppen kam auf 30 Mann ein Offizier.

Die Armee war mit 48 Infanteriedivisionen und 19 Landsturm-Infanteriebrigaden ins Feld gerückt. Aus den 48 Infanteriedivisionen waren 71 geworden, zu denen noch unterschiedliche Grenz- und Küstenschutzverbände hinzukamen. Die Zahl der Kavalleriedivisionen, 11, war unverändert geblieben. Gesamtzahl der Abteilungen: 938¼ Bataillone, 242 Eskadronen, 1246 Batterien.

Aus den 16 mobilisierten Korps zu 3 Divisionen waren 26 zu 2 oder 3 Divisionen geworden, die insgesamt 8 Armeen bildeten.

Von den verschiedenen Waffengattungen hatte die Artillerie den stärksten Ausbau erfahren. Sie zählte im März 1917 1246 Batterien - mehr als doppelt soviel als bei der Mobilmachung - mit 5700 Feld- und Gebirgsgeschützen und 1550 schweren. Außerdem standen bei der Infanterie 664 Infanterie- und 320 Grabengeschütze in Verwendung. Bedenkt man noch, wieviel altes Geschützmaterial durch neues ersetzt werden mußte, so kann man den Leistungen der Organisatoren, wie auch der unter großen Schwierigkeiten arbeitenden Industrie die größte Anerkennung nicht versagen.

Auch an sonstigen Kampfmitteln wies die k. u. k. Armee, so sehr sie darin der deutschen nachstand, für ihre Verhältnisse ganz beachtenswerte Zahlen aus: 7000 Maschinengewehre - dreimal soviel als bei der Mobilmachung -, 2100 Minenwerfer, 1100 Granatwerfer u. a. m.

Auffallend gering im Vergleich zum Anwachsen der Artillerie war jenes der Infanterie. Die Ursache hierfür reichte schon in die Friedenszeit zurück. Die von den Parlamenten bewilligte jährliche Ersatzgestellung war so gering bemessen, daß man zu den erdenklichsten Aushilfen greifen mußte, um die nötigen Mannschaften für die Spezialtruppen zu gewinnen. So konnte in den letzten Jahren vor dem Kriege die in sehr engen Grenzen gehaltene Ausgestaltung [364] der Artillerie und die Aufstellung der Maschinengewehrzüge nur auf Kosten der vierten Bataillone der Infanterieregimenter erfolgen, die auf den Stand einer Friedenskompagnie zusammenschrumpften. Folgerichtig hatte man auch bei der Mobilmachung zur Auffüllung der Infanterieverbände nur verhältnismäßig wenig voll ausgebildete Leute zur Verfügung. Schon in den ausmarschierenden Kompagnien machten die bloß durch acht Wochen ausgebildeten "Ersatzreservisten" einen beträchtlichen Teil aus. Reserveformationen, wie sie der Generalstab seit Jahren vergeblich angestrebt hatte, konnten keinesfalls aufgestellt werden. Auch die Landsturmbrigaden, die man zu Kriegsbeginn und später zur Karpathenverteidigung - zum Teil noch in Zivil, mit schwarzgelben Armbinden und mit alten Einzelladern - in die erste Linie stellte, kamen als dauernde Verstärkung des Heeres nur bedingt in Betracht, wenn aus keinem anderen Grunde, schon deshalb, weil sie über keine systemisierten Ersätze verfügten. Einige dieser Verbände, die sich - wie die k. k. 106. Landsturm-Infanteriedivision - besonders bewährt hatten, ließ man fortbestehen, die meisten aber wurden, stark zusammengeschmolzen, aufgelöst.

Auch sonst machte sich das Fehlen ausgebildeter Ersätze schon sehr bald empfindlich fühlbar. Der Feldzug 1914 hatte überaus viel Blut gekostet, der Karpathenwinter gleichfalls außerordentlich tiefe Lücken gerissen. Schon um Weihnachten 1914 standen in der Heimat ausgebildete Mannschaften nicht mehr zur Verfügung. Die Infanterieregimenter brauchten damals in jedem Monat mindestens ein Bataillon Ersatz. Es wurde bis in die Tage von Gorlice zur Regel, Leute mit kaum vier Wochen Ausbildung in die Front zu senden, wo sie natürlich, ungeübt, nicht genügend abgehärtet und auch moralisch nicht ausreichend gefestigt, rascher ausschieden als sie gekommen waren. Später wurde es dann wohl besser, besonders im Winter 1915/16, während dessen weit mehr Ersatz zufloß, als aufgebraucht wurde.

Im Februar 1917 zählte man - von Kriegsbeginn her - mehr als eine halbe Million Tote, darunter 15 000 Offiziere. Außerdem waren von anderthalb Millionen Verwundeten und fast zwei Millionen Kranken 200 000 gestorben. Mehr als zwei Millionen Verwundete und Kranke waren nach ihrer Genesung wieder ins Feld gezogen, indessen eine Million dauernd kriegsdienstunfähig blieb. Eineindrittel Millionen befanden sich in Kriegsgefangenschaft oder waren vermißt. Drei Millionen (Tote, Invalide, Vermißte und Gefangene) mußten demnach für die Fortführung des Krieges als dauernder Verlust gebucht werden. Schon in den ersten zwei Kriegsjahren hatte Österreich-Ungarn, um diese riesigen Einbußen einigermaßen zu ersetzen, 14% seiner Bewohner unter die Fahnen rufen müssen, sieben Millionen Mann. Das war nur möglich, indem man nicht bloß die 20- bis 42jährigen so stark als möglich ausschöpfte, sondern im April 1915 die Kriegsdienstpflicht auf die 18- und 50jährigen, im Januar 1916 sogar auf die 55jährigen ausdehnte!

[365] Da von den genannten sieben Millionen drei als "dauernder Abgang" abzustreichen waren und die Feldarmee dreieinhalb Millionen Verpflegungszustand zählte, blieben Anfang 1917 500 000 Ausgehobene als Ersatz in der Heimat übrig. Obgleich die Verluste bei der Feldarmee mit zunehmender Kriegsdauer wesentlich abgenommen hatten, bedurfte diese monatlich doch noch mehr als 100 000 Mann an Ersatz für Kranke und Verwundete. Sonach reichte die vorhandene Reserve von einer halben Million Mann nur mehr für fünf Monate. Da hieß es, dazu sehen!

Zur Vereinheitlichung des Ersatzgeschäftes schuf der Kaiser eine eigene Dienststelle, an deren Spitze er im März 1917 den bisherigen ungarischen Landesverteidigungsminister Samuel Baron Hazai berief. Die Schaffung dieses mit einem die gesamte bewaffnete Macht betreffenden Wirkungskreis ausgestatteten Funktionärs stieß - so empfindlich man alle ähnlichen Versuche auf dem Gebiete des Ernährungsdienstes zurückwies - bei den Ungarn nicht nur auf keinen Widerstand, sondern sie wurde von Tisza sogar - noch gegen den Willen Conrads - gewünscht, da er in dem ihm treu ergebenen Generaloberst Hazai mit Recht ein ungarisches Überwachungsorgan über die personellen Kriegsleistungen Österreichs erblicken durfte. Der "Chef des Ersatzwesens" griff gleich in den ersten Monaten stark durch. Unter den "Enthobenen" wurde strenge Nachmusterung gehalten. Weit ausholende "Austauschaktionen" hatten den Zweck, volltaugliche Mannschaften aus der Etappe und aus der Heimat in die Front zu schieben, indessen die weniger tauglichen und älteren leichteren Dienst außerhalb des Kampffeldes zu übernehmen hatten. In die Bureaus der Heimat und in die Feldkanzleien zogen allgemach die "weiblichen Hilfskräfte" ein - was bekanntlich nicht ohne bedenkliche moralische und gesundheitliche Nachteile blieb.

Zu den Pflichten der neuen Dienststelle gehörte auch die Leitung und Organisation des Pferdeersatzes. Auch auf diesem Gebiete hatte der Krieg in den ersten Jahren wahren Raubbau getrieben. Bei Artillerie und Troß gebrach es bedenklich an Zugtieren. Von der Reiterei war schon seit vielen Monaten ein beträchtlicher Teil "zu Fuß formiert". Nun ereilte, weil der Ausbau der Artillerie neue Pferdemengen forderte und auch die Landwirtschaft der Zugtiere bedurfte, dieses Geschick die ganze Kavallerie. Nur schwer vermochte sich der Kaiser zu entschließen, seiner Lieblingswaffe diesen Schlag zu versetzen. Aber es ging nicht anders. Auch bei den Stäben wurde der Stand an Pferden auf ein Mindestmaß herabgesetzt.

Der Gesundheitszustand der Armee durfte durchwegs günstig genannt werden. Kriegsseuchen gab es fast gar nicht; wo sie vereinzelt auftraten, wurden sie rasch und erfolgreich bekämpft. Eine schmerzliche Ausnahme bildeten die Malariaerkrankungen, die in Albanien erschreckend um sich griffen und Tausende von Opfern kosteten. Es war schlechterdings unmöglich, dieser Seuche Herr [366] zu werden, die nach der 12. Isonzoschlacht auch auf die in Venetien stehenden Truppen übergriff.

Mit der Verpflegung war es nach dem Winter 1916/17 zeitweilig schon recht schlecht bestellt. Im darauffolgenden Frühjahr trat an der Front wiederholt empfindlicher Brotmangel ein. Man lebte bereits von der Hand in den Mund. Im April und Mai blieben die Tiroler Truppen jeweils einige Tage ganz ohne Brot. Auch an Fett fehlte es. Kraftloses Dürrgemüse, im Soldatenmund "Drahtverhau" oder "Karl-Truppenkraut" genannt, begann allmählich in der Ration des Mannes den beherrschenden Platz einzunehmen. Die Verpflegsmengen und auch der Rauchtabak wurden stark vermindert. Das alles ging um so mehr auf Kosten der körperlichen Leistungsfähigkeit der Kämpfer, als auch die aus der Heimat herangeführten Ersatzmannschaften vielfach erschreckend unterernährt waren.

Dabei stellten die Kriegsschauplätze im Südwesten und in Albanien - in Rußland war es seit dem Ausbruche der Revolution naturgemäß wesentlich besser geworden - an die Truppen nach wie vor die höchsten Anforderungen. Am Isonzo fesselte die gegenüberstehende italienische Übermacht soviel Divisionen in der vordersten Linie, daß Ablösungen und Ruhepausen nur zu den seltensten und ersehntesten Glücksfällen gehörten. Im Hochgebirge wieder trat zu Gelände- und Witterungsunbill, wie sie sich dem Kämpfer in der Front fühlbar machten, noch die Pflicht, die Lücken, die sich trotz Straßenbauten und Seilbahnnetz im Nachschub ergaben, durch einen sorgsam eingerichteten Trägerdienst zu ergänzen. Dieser überaus schwierige und kräfteverzehrende Dienst mußte zum großen Teil von den Kampfreserven besorgt werden, die dadurch aber wieder der so unbedingt nötigen Ruhe entbehrten.

Wenn trotz aller dieser großen Schwierigkeiten materieller Natur, zu denen noch die mehrfach angeführten politischen hinzutraten, die österreichisch-ungarische Wehrmacht auch im Jahre 1917 noch ein unter den gegebenen Verhältnissen durchaus vollwertiges Kriegswerkzeug darstellte, so war dies neben den soldatischen Eigenschaften, die die meisten Völker des Reiches auszeichneten, der unverdrossenen Arbeit des Offizierskorps zu danken, dessen Blüte wohl längst unter dem Rasen lag, das sich aber auch so ausgelaugt, wie es schon war, und trotz gewisser politischer Einflüsse, denen sich ein Teil der Reserveoffiziere nicht zu entziehen vermochte, noch immer als das Rückgrat dieses buntscheckigen Völkerheeres erwies.


6. Der Kriegsplan für 1917.

Das nach schweren Krisen doch glückliche Ergebnis des Ostkrieges hatte im Januar 1917 den damals noch an der Spitze der Heeresleitung stehenden, tatkräftigen Feldmarschall v. Conrad ermutigt, neuerlich auf seinen Lieblingsplan, den der Niederwerfung Italiens, zurückzukommen. Deutschland und [367] Österreich-Ungarn sollten sich mit allen irgendwie verfügbaren Kräften auf den verhaßten Erbfeind stürzen und seine Armee vernichten. Conrads Denkschrift sah einen Angriff aus zwei Fronten vor. 19 Divisionen, darunter 6 deutsche, sollten unter dem Oberbefehl des Feldmarschalls v. Mackensen am Isonzo angesetzt werden, 23 - darunter gleichfalls 6 deutsche - unter der Leitung des Erzherzogs Eugen wieder wie im Jahre 1916 auf der Hochfläche der Sieben Gemeinden. Mackensens Vorstoß hätte dem anderen um einige Tage vorauszugehen. Für die Ausführung des groß gedachten Unternehmens käme nach den Erfahrungen, die man das Jahr zuvor gemacht hatte, wohl erst der Ausgang des Monats Mai in Betracht. Doch hätten die Vorbereitungen ehestens einzusetzen.

In der Zweiten Januarhälfte übermittelte Conrad seine Vorschläge der Obersten Heeresleitung; es wurde ihnen keine grundsätzliche Ablehnung, aber auch keine bindende Zustimmung zuteil. Als dann General von Arz die Leitung des österreichisch-ungarischen Generalstabes übernahm, erwies sich freilich, daß große Offensivunternehmen vorläufig nicht in den Absichten des deutschen Hauptquartiers lagen. Hindenburg und Ludendorff waren vielmehr fürs erste vom Gedanken beherrscht, die im Jahre 1916 auf allen Kriegsschauplätzen stark in Anspruch genommene Abwehrkraft der verbündeten Heere neu zu organisieren und so gegen den schweren Generalangriff gewappnet zu sein, der unbedingt zu gewärtigen war. Inzwischen mußte die Wirkung des verschärften Unterseebootkrieges in der einen oder der anderen Form zutage treten. Erübrigte man schließlich Kräfte, dann konnten immer noch Blößen des Feindes zu Gegenschlägen ausgenutzt werden.

Damit war dem Feldzug 1917 der Stempel seiner Eigenart aufgedrückt: er wurde für die Kaisermächte zu einem reinen Abwehrkampf. Auch die großen Offensiven in Ostgalizien und Oberitalien änderten daran im Wesen nichts. Beide waren letzten Endes nicht der eigenen Initiative entsprungen, sondern waren durch den Feind herausgefordert worden.


25 [1/357]Unter den scheidenden Ministern befanden sich Baernreither, Hussarek, Spitzmüller, Schenk und General Höfer, ferner Generaloberst Freiherr v. Georgi, der sich während seines zehnjährigen Wirkens als Landesverteidigungsminister die größten Verdienste um die Wehrmacht erworben hat. ...zurück...

26 [1/359]Unter den bei der Umbildung ins Ministerium genommenen Männern waren der gefeierte Volkswirtschaftslehrer Freiherr v. Wieser und der tschechenfreundliche Feudale Graf Silva-Tarouca. ...zurück...

27 [1/360]Alle Versuche, zwischen den Ernährungsverhältnissen diesseits und jenseits der Leitha einen der Fortführung des Krieges dienenden Ausgleich herbeizuführen, scheiterten sowohl unter Tisza als auch unter seinem Nachfolger an dem heftigen Widerstand der ungarischen Kreise. Vergeblich mühte sich der Kaiser, in der Person eines mit entsprechender Exekutivgewalt ausgestatteten gemeinsamen Ernährungsministers ein Organ zu schaffen, das Ordnung zu machen imstande gewesen wäre. Tisza erklärte, daß eine solche Stelle gegen die Gesetze des Ausgleiches von 1867 verstieße, und gestattete bloß die Aufstellung einer rein referierenden Behörde, des "gemeinsamen Ernährungsausschusses", an dessen Spitze Generalmajor Landwehr v. Pragenau gestellt wurde. ...zurück...

28 [1/361]Vom roten zum schwarzen Prinzen. Von Ludwig Prinz Windischgrätz. Berlin 1920. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte