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Bd. 4: Der Seekrieg - Der Krieg um die Kolonien
Die Kampfhandlungen in der Türkei
Der Gaskrieg - Der Luftkrieg

Abschnitt: Die Kampfhandlungen in der Türkei   (Forts.)
Major Erich Prigge

8. Der russische Angriff auf Ostanatolien und die türkische Gegenoffensive.

Im Frühsommer 1915 hatten die Russen den rechten türkischen Flügel auf der Kaukasusfront zurückgedrückt und waren nach Einnahme von Tutak und Melasgert bis in die Höhe des Vansee vorgekommen. Ein von den Russen unterstützter Aufstand der Armenier in diesem Gebiet erleichterte ihre Erfolge. Kleine Rückschläge auf dem linken türkischen Flügel waren von geringerer Bedeutung.

Die 3. türkische Armee unter Mahmud Kiamil Pascha hatte allmählich wieder eine achtbare Stärke gewonnen. Die Anzahl der Kombattanten wurde im Herbst auf 58 000 Mann beziffert, und in ihren Ausbildungslagern befanden sich etwa 20 000 Rekruten.

Im Oktober 1915 mußte die Armee die 51. und 52. Division zur 6. Armee nach dem Irak abgeben. Die Armeefront erstreckte sich damals in einer ungefähren Linie, welche von der Mitte des Vansee schräg hinüber zur russisch-türkischen Grenze am Schwarzen Meere führte. Bis auf das am rechten Flügel im Armenierlande verlorene Gebiet war also die Lage nicht ungünstig. Nachdem der Großfürst Nikolai im Herbst hier den Oberbefehl auf russischer Seite übernommen hatte, wurden bald die Vorbereitungen für einen größeren russischen Angriff fühlbar.

Er setzte am 11. Januar 1916 gegen die Mitte der 3. türkischen Armee im Arrastale ein. Deren Zentrum wurde am 14. Januar durchbrochen; verlustreiche Rückzugskämpfe begannen.

Da zur Zeit des Durchbruchs Mahmud Kiamil Pascha nach Konstantinopel berufen war, führte Abdul Kerim Pascha in Stellvertretung den Oberbefehl. Auch der Generalstabschef Major Guse fehlte, da er nach schwerer Typhuserkrankung hatte beurlaubt werden müssen.

Die Türken waren auf die Berge nahe östlich und nordöstlich von Erzerum, welche feldmäßig durch schwache Werke befestigt waren, zurückgegangen. Die durch lange Jahre vernachlässigte Festung Erzerum hatte nur einen sehr beschränken Verteidigungswert, trotzdem General Posseldt und seine Offiziere in der kurzen ihnen zur Verfügung stehenden Zeit alles dafür getan hatten, was [441] menschenmöglich war. Die türkischen Mittel waren aber absolut unzureichend. Diese jahrelange Vernachlässigung von Erzerum ist um so weniger verständlich, weil für die Türkei eine russische Gefahr immer drohte, und weil Erzerum nicht mit Unrecht als das Herz der östlichen Türkei angesehen wurde.

Nach Erzerum führte die große Straße von dem bedeutendsten türkischen Schwarze-Meer-Hafen, von Trapezunt; von Erzerum führten weiter die einzig brauchbaren Verbindungen in dem sonst wegearmen Land über Karakilisse - Bajasid nach Nordpersien, sowie diejenigen über die russische Grenze auf Kars. Erzerum beanspruchte ein erhebliches politisches Interesse in der ganzen mohammedanischen Welt.

Nach einem mißlungenen russischen Vorstoß gegen die Höhen von Erzerum, gelang der zweite, von Kara Göbek her aus nordöstlicher Richtung geführte Angriff; Erzerum fiel am 15. Februar 1916 in russische Hand.

Es ist sicher nicht ohne Interesse, jetzt nach mehreren Jahren die Heeresberichte beider Teile vor Augen zu führen. Das türkische Hauptquartier meldete am 16. Februar 1916: "An der Kaukasusfront verlor der Feind bei heftigen Stellungskämpfen, die trotz des kalten Wetters und des Schnees in den letzten drei Tagen stattfanden, 5000 Tote und 60 Mann an Gefangenen."

Die Russen übertrieben in ihrem Bericht über die Einnahme von Erzerum, der am 18. Februar über Rotterdam nach Deutschland gelangte, geradezu ungeheuerlich. Sie meldeten als ihre Beute 100 000 Mann, ferner 467 Kanonen der Außenforts, 374 Kanonen der Innenforts und 200 Feldgeschütze. Ungefähr der zehnte Teil der genannten Zahlen war zutreffend.

Der türkische Rückzug ging, vom Feinde gefolgt, in westlicher Richtung. Mamachatun fiel in russische Hand. Am 24. Februar überschritten die ersten Truppen der zurückflutenden türkischen Armee in ziemlicher Auflösung die Euphratbrücke bei Kotur. Zugleich trafen der aus Deutschland telegraphisch zurückberufene Generalstabschef Major Guse und bald darauf auch der neu ernannte Oberbefehlshaber Wehib Pascha auf dem Kriegsschauplatze ein. Es gelang, die 3. Armee an der Euphratlinie und auf den Höhen östlich Baiburt zum Stehen und zum Widerstand zu bringen.

Verschiedene russische Angriffe wurden dort abgewiesen. Dagegen erfolgten jetzt mehrere Rückschläge für die Türken im Küstenabschnitt, trotzdem der Mitte März mit anderen Verstärkungen vom 5. Armeekorps eingetroffene Major Hunger zuerst das Vorgehen weit überlegener russischer Kräfte zum Halten gebracht hatte. Die Russen wurden wirksamst von ihrer Flotte unterstützt und eroberten Mitte April Trapezunt!

Die Gesamtaussichten für die Türken wurden hierdurch wesentlich verschlechtert, da die Russen nunmehr ein offenes Tor an der Meeresküste hatten, durch das sie nicht nur Truppen, sondern vor allem auch Kriegsmaterial zum weiteren Vorgehen in Ostanatolien heranbringen konnten.

[442] Enver Pascha erschien die Lage so bedrohlich, daß er sich entschloß, eine weitere Armee, die 2., unter Befehl des früheren Kriegsministers Izzet Pascha, auf diesem Kriegsschauplatze einzusetzen. Sie sollte in einer Flankenstellung zur Front der 3. Armee, ungefähr zwischen Vansee und Kharput, aufmarschieren und dann in nordöstlicher Richtung vorstoßen.

Infolge der beschränkten Leistungsfähigkeit der Anatolischen Bahn, auf der außerdem der gesamte Kriegsverkehr nach Syrien zur 4. Armee und nach Mesopotamien zur 6. Armee lastete, und durch die Entfernung von vielen hunderten Kilometern, die von den Eisenbahn-Endpunkten aus durch die Truppen im Fußmarsch zurückzulegen waren, verzögerte sich die Vollendung des Aufmarsches bis in den Anfang August hinein. Zudem fehlte es dieser Armee, wie überall in der Türkei, an den notwendigen Kolonnen und Trains.

So blieb die bereits erschütterte 3. Armee zunächst auf sich selbst angewiesen. Nachdem sie wieder etwas mehr Halt gewonnen hatte, unternahm sie sogar einige Teilangriffe, die am 31. Mai bei Mamachatun, und Ende Juni bei Surmene, zu vorübergehenden Erfolgen führten. Auch war im Dersim, dem zumeist von räuberischen Kurden bewohnten ziemlich unzugänglichen Abschnitt zwischen Kharput und Ersindjan etwas Ruhe geschaffen worden. Anfang Juli sollte der Angriff im Gelände südlich von Trapezunt weitergeführt werden.

Es bestanden aber erhebliche Gegensätze über die Durchführung der Operationen zwischen den Oberkommandos der 3. und der 2. Armee. Während Wehib Pascha bei der 3. Armee für angezeigt erachtete, daß die 2. Armee mit den bereits eingetroffenen Kräften, insbesondere mit dem III. Armeekorps, alsbald auf Gümgüm - etwa 80 Kilometer südlich Erzerum gelegen - vorging, und so in Vorwärtsstaffelung zur 3. Armee gelangte, glaubte der Oberbefehlshaber der 2. Armee, Izzet Pascha, vor jedem Vorrücken die Vollendung des Aufmarsches seiner Armee abwarten zu sollen.

Die Russen, denen natürlich die Versammlung der 2. Armee nicht verborgen geblieben war, kamen weiteren Entschließungen zuvor und begannen Anfang Juli die Fortsetzung ihrer großen Offensive auf der gesamten Front der 3. Armee.

Ihr Angriff war von Erfolg gekrönt. Die 3. Armee mußte Ersindjan und Baifurt aufgeben, verlor viele Truppen und Kriegsmaterial und kam schließlich Anfang August in einer Linie zum Halten, welche von Kemach am Euphrat über den Chardali-Paß in nördlicher Richtung zur Küste lief. Ein großer Teil der Truppen hatte beim Rückzuge jeden Halt verloren, und viele Tausende von Deserteuren überschwemmten das rückwärtige Land bis nach Siwas und darüber hinaus. Zwei Durchbrüche starker russischer Kavallerie steigerten die Panik hinter der Front und führten zu großem Materialverlust. Aus Furcht vor russischen Gewalttätigkeiten verließen Massen von mohammedanischen Einwohnern das von der Armee aufgegebene Gebiet und flüchteten. Viel fruchtbares, gut bevölkertes Land ging derart verloren.

[443] Anfang August begann die 2. Armee schließlich ihre Vorwärtsbewegungen. Sie gewann auch etwas Gelände, doch kam es zu keinem durchgreifenden Erfolg, da die Russen Zeit gehabt hatten, sich ihr gegenüber zu verstärken, und da auch die Transportmittel der Armee für eine weitgreifende Offensive im Gebirgsland keinesfalls ausreichten.

Zu Ende des Jahres stand die 2. Armee in der ungefähren Linie Kighi - Ognut - Musch - Bitlis - also nur mit ihrem linken Flügel über das ursprüngliche Aufmarschgelände etwas vorwärtsgekommen -, gegenüber einer russischen Front, die den Besitz von Ersindjan und Erzerum sicherte. Das Überwintern in dem rauhen Gebirgsland, in welchem die Truppen nicht ausreichend versorgt werden konnten, brachte der Armee noch außerordentliche Verluste.

Die 3. Armee war im allgemeinen in der beim letzten Rückzuge erreichten Linie, in Höhe von Kemach, verblieben.

Das Endergebnis des zweijährigen türkischen Feldzuges am Kaukasus und in Ostanatolien war seit dem so schwer verlustreichen Vorstoße gegen Kars in den Weihnachtstagen 1914 nicht erfreulicher geworden! Die Russen hatten türkisches Kernland in großer Breite und in einer durchschnittlichen Tiefe von 200 Kilometern gewonnen, und die türkische Einbuße an Offizieren und vor allem anatolischen Mannschaften war außerordentlich hoch gewesen.

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte