Bd. 3: Der deutsche Landkrieg, Dritter Teil:
Vom Winter 1916/17 bis zum Kriegsende
Kapitel 1: Die Grundlagen
für die
Entschlüsse der Obersten Heeresleitung
vom Herbst 1916 bis zum
Kriegsende (Forts.)
Generalleutnant Max Schwarte
9. Die letzten Tage der Obersten
Heeresleitung.
Auch Feldmarschall v. Hindenburg
hatte seinen Abschied erbeten; er wurde ihm
aber nicht bewilligt. Zum Nachfolger Ludendorffs wurde unter Zustimmung des
Kriegskabinetts Generalleutnant Groener ernannt, der als Chef des
Feldeisenbahnwesens und als Leiter des Kriegsamts sich große Verdienste
erworben hatte, aber die außerordentlich schweren Kampfverhältnisse
an der Westfront nicht kannte und nicht die kraftvolle Persönlichkeit war,
um die sich jetzt überstürzenden ungeheuren Ereignisse zu
meistern.
An der Westfront waren allerdings große Entschlüsse operativer
Natur nicht zu fassen oder zu verwirklichen. Das Ringen dauerte an allen
Kampfstellen in gleicher Heftigkeit weiter an und zehrte aufs schwerste an den
Kampfstärken. Zu den bisherigen Kampfgebieten entwickelte sich noch ein
weiteres nordöstlich von Verdun; ein starker Angriff aus dem Vorfeld der
Festung in der allgemeinen Richtung auf Luxemburg sollte das ganze deutsche
Heer von der Heimat abschneiden.
Aber diesen großen Erfolg konnte Foch, trotz seiner ununterbrochen
wachsenden Überlegenheit, nicht erzwingen. Die erst nach längeren
Vorbereitungen am 31. Oktober wirksam werdenden Angriffe der Ententeheere
gegen die Hermann-Hunding-Stellung waren zunächst erfolglos gewesen;
trotz schwerster Artillerie, Tanks, Gas und Flugzeugen war auch die Kampfkraft
der Gegner so geschwächt, daß sie mit ihren Angriffen
anfänglich keinen Erfolg gegen die mit der Energie der Verzweiflung sich
wehrenden deutschen Truppen erzielen konnten, die stellenweise sogar jetzt noch
zu erfolgreichen Gegenangriffen schritten. Un- [71] verkennbar nahm aber
allgemein das Ruhebedürfnis der deutschen Truppen zu; das
Waffenstillstandsangebot hatte zweifellos schwächend gewirkt.
Erst am 5. November mittags sah sich die Oberste Heeresleitung gezwungen, den
Rückzug in die Antwerpen-Maas-Stellung anzuordnen; der Rückzug
wurde besonders deshalb nötig, weil der Angriff in Richtung
Montmédy bei seinem etwaigen Gelingen den Rückmarsch der
noch weit westlich Brüssel stehenden deutschen Kräfte
außerordentlich gefährdet hätte. Der erschöpfte Gegner
vermochte die Bewegung nicht erheblich zu stören, nur an der Maas
drängten die amerikanischen Truppen schärfer nach. In voller
Ordnung erreichten die deutschen Armeen die Abschnitte in der allerdings nur
unvollkommen ausgebauten Stellung. Die dadurch erreichte Verkürzung
der Front war dringend nötig im Hinblick auf die gering gewordenen
Kopfstärken, die auch durch die Auflösung von zwölf
weiteren Divisionen nicht behoben wurde; aber die in der Front stehenden
Truppen waren zu weiterer Abwehr durchaus in der Lage.
Um auch ein Urteil aus der Front zu hören, wurden die Generale
v. Gallwitz und v. Mudra nach Berlin berufen und erstatteten am 27.
Oktober Bericht. Das am 28. Oktober tagende Kriegskabinett war
anfänglich für starkes Durchhalten gestimmt, fiel aber in tiefe
seelische Depression, als Staatssekretär Solf in die Sitzung die Nachricht
vom Zusammenbruch Österreich-Ungarns brachte.
Sehr viel schlimmer als das allmähliche Zurückweichen der
deutschen Westfront und auch für diese direkt verhängnisvoll war in
der Tat die Niederlage und Auflösung des k. u. k. Heeres. Bei
ihm hatten die von Wilson geforderten Vorbedingungen für den erbetenen
Waffenstillstand katastrophal gewirkt. Er verlangte die sofortige Anerkennung der
Tschechoslowakei und Jugoslawiens als selbständige Staatengebilde.
Unmittelbar nach dem Bekanntwerden dieser Forderung erklärte Ungarn
die Lösung des politischen Bundesverhältnisses mit
Österreich. Eine Anerkennung warteten die neuen Staaten nicht ab, sondern
verlangten die ungesäumte Entlassung der aus ihren Staaten stammenden
Soldaten aus dem Heere, und brachten diese Forderung auch zur Kenntnis der
Truppen selbst. Sofort einsetzende Gehorsamsverweigerungen und Meutereien
waren die Folge. Gegen das nunmehr der Auflösung verfallende Heer hatte
sich vom 24. Oktober an der Angriff der von englischen und französischen
Divisionen unterstützten Italiener auf der ganzen Front gerichtet. Zum
großen Teil kämpften die Truppen auch jetzt noch tapfer. Aber der
Mißerfolg der Italiener an der Nordfront wurde ausgeglichen, als
Engländer die Piave-Front durchbrachen. Das völlig zermürbte
und durch die Forderung der neuen Regierungen auseinandergerissene Heer
leistete stellenweise noch Tage hindurch Widerstand; dann flutete es haltlos der
Heimat zu. Das k. u. k. Oberkommando mußte jede
Bedingung des Gegners annehmen; am 4. November trat der Waffenstillstand in
Kraft. Als sich die bevorstehende Niederlage erkennen ließ, tauchte vor der
Obersten Heeresleitung die Sorge eines italienischen
Vor- [72] marsches nach Bayern
auf. Jetzt mußten ausreichende Kräfte auch an die bayerische
Südgrenze geschoben werden; die erforderlichen Anordnungen, schon seit
längerer Zeit vorbereitet, wurden in den letzten Oktobertage
ausgegeben.
Alle Entschlüsse der Obersten Heeresleitung konzentrierten sich in dieser
Zeit für die Westfront auf die Frage, unter geringster Einbuße an
Truppen und Gerät dem nachdrängenden Gegner Aufenthalt zu
bereiten, um ihm in der neuen Stellung ausgeruht entgegentreten zu
können. Aus dem Verlangen, den feindlichen Vormarsch zu hemmen, ging
auch die Absicht der Seekriegsleitung hervor, noch einmal die Flotte zum Kampf
einzusetzen und durch einen Vorstoß gegen die englische Küste die
Flotte zu zwingen, zu dieser Schlacht ihren Schlupfwinkel von Scapa Flow zu
verlassen.
Aber das feige Widerstreben, in den Kampf zu gehen, das 1917 auf einzelnen
Schiffen, seit dem August 1918 auch vereinzelt in Frontdivisionen und
stärker im Einsatz sich gezeigt hatte, artete bei den Schiffsbesatzungen der
Hochseeflotte jetzt zur offenen Meuterei aus. Das Auslaufen der Flotte zur
Schlacht wurde dadurch unmöglich; die Versuche, der Meuterer Herr zu
werden, versagten. Am 4. November war Kiel in ihrer Gewalt.
Von den sich sofort über das Land verbreitenden Matrosen wurde die
Revolution auf das ganze Volk und auf die in der Heimat stehenden Truppen
übertragen. Alle Organe des Staates in der Heimat versagten durch
Entschlußlosigkeit und Schwäche.
Zu Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Revolution im Innern hatte die
Oberste Heeresleitung kein Recht; es hätten ihr auch die zur sofortigen
Unterdrückung erforderlichen Kräfte gefehlt. Sie erkannte aber klar
die furchtbare Gefahr, daß ein Halten der Westfront unmöglich
wurde, wenn die Bewegung auch das im Felde stehende Heer ergriff. Um dies zu
verhindern, wurden zwei anfänglich zum Einsatz gegen die meuternden
Teile des Heimatheeres bestimmte Divisionen am Rhein festgehalten, um
zwischen Heimat und Feldheer eine scharfe Sperre durchzuführen. Aber
nach wenigen Tagen schlossen sich die Truppen den Revolutionären
an.
Schon am 9. November verkündete Prinz Max von Baden, ohne die
Entschließung des auf das äußerste dazu gedrängten
Kaisers abzuwarten, aus eigener Machtvollkommenheit, daß Kaiser
Wilhelm abgedankt und der Kronprinz auf den Thron verzichtet habe; am
gleichen Tage mittags rief der kaiserliche Staatssekretär Scheidemann vor
dem Reichstagsgebäude die Republik aus. Das Kriegskabinett und Prinz
Max von Baden hatten nicht die Energie gefunden und auch nicht den Willen
gehabt, den anfänglich nur örtlichen und leicht zu
unterdrückenden Unruhen die militärische Gewalt entgegenzustellen;
und auch diese, seit dem Einsetzen der parlamentarischen Regierungsform der
Zivilgewalt unterstellt, fand nicht die Kraft zum selbständigen
Einschreiten.
Die Oberste Heeresleitung war sich jetzt der Unmöglichkeit eines
weiteren [73] Widerstandes
bewußt. Selbst wenn die Truppenteile fest in der Hand der Führer und
kampfwillig blieben, so mußten sie, da jeglicher Nachschub aus der Heimat
unterbunden war, in kurzer Zeit kampfunfähig werden. Aber sie erkannte
anderseits auch die furchtbare Gefahr, wenn sie die Befehlsgewalt niederlegen
und die Millionen des Feldheeres sich selbst überlassen würde.
Die Feststellung, daß schon jetzt Teile des Heeres sich selbst der Person des
Kaisers gegenüber als unzuverlässig erwiesen, und die Erwartung,
daß er durch seine freiwillige Verbannung einen Bürgerkrieg
vermeiden und nach den Wilsonschen Bedingungen, für Deutschland
günstigere Friedensbedingungen erwirken werde, waren für den
Kaiser der Grund zum Entschluß, den Oberbefehl niederzulegen und sich
nach Holland zu begeben. Um den Kaiser über die Stimmung und die
mangelnde Widerstandskraft des Heeres zu unterrichten, hatte die Oberste
Heeresleitung eine Anzahl von Führern aus der Front ins Große
Hauptquartier berufen, und der Kaiser aus den sich außerordentlich
widersprechenden Berichten jenen Entschluß gezogen. Um die Ordnung im
Heere aufrecht zu erhalten, übergab Kaiser Wilhelm vor seiner Abreise den
Oberbefehl über das Heer an Generalfeldmarschall
v. Hindenburg.
Daß der gefeierte Heerführer, der Sieger in zahllosen Schlachten,
diese Aufgabe im Zusammenbruch des Reiches auf sich nahm, entsprang der
klaren Erkenntnis, daß nur ihm sie gelingen könne; daß es seine
Pflicht sei, sich ihr zu unterziehen. Was sie an ungeheuren Opfern von ihm
fordern sollte, offenbarte erst der Inhalt des Waffenstillstandsabkommens, bei
dessen Abfassung die Oberste Heeresleitung durch Verfügung der
Regierung ausgeschaltet wurde, die den Staatssekretär Erzberger mit der
Weisung: "Unterschreiben um jeden Preis" zum Führer der
Waffenstillstandskommission ernannt hatte. Die geradezu unerträglichen
und in raffinierter Absicht technisch fast unmöglich gestalteten
Bedingungen auszuführen, war - abgesehen von allen seelischen
Qualen - eine Aufgabe, deren Lösung nur der vorzüglich
geschulten deutschen Oberste Heeresleitung möglich war.
Der am 10. November unterschriebene Waffenstillstand machte das deutsche
Heer, so wie es Wilson als Bedingung vorhergesagt hatte, völlig wehrlos
durch die Auslieferung nahezu des ganzen Kriegsgeräts. Er legte der
Obersten Heeresleitung die Verpflichtung auf, in 15 Tagen
Elsaß-Lothringen und die besetzten Gebiete, in weiteren 15 Tagen die
deutschen Lande links des Rheins und Brückenköpfe auf dem
rechten Ufer zu räumen; die feindlichen Kriegsgefangenen waren ohne
Gegenleistung sofort in die Heimat abzutransportieren, die Hochseeflotte
abzurüsten und alle U-Boote auszuliefern.
An Stelle der großen operativen Entschlüsse forderten diese
Waffenstillstandsbedingungen von ihr fahrt- und marschtechnische Aufgaben, die
um so schwerer wurden, je mehr sich in den nicht unmittelbar am Feind stehenden
Truppen alle Bande der Ordnung und Mannszucht auflösten.
[74] Aber auch diese ihr so
völlig ungewohnte Aufgabe wurde in einer Weise bewältigt, durch
die alle daran geknüpften Erwartungen der Gegner vereitelt wurden. Die
zunächst nach Kassel zurückverlegte Oberste Heeresleitung ging,
nachdem sie im Westen ihr Opfer erfüllt hatte, nach Kolberg, als die
Verhältnisse im deutschen Osten zu einer schweren Gefahr für das
deutsche Volk zu werden drohten. Ein deutsches Heer führte sie allerdings
nicht mehr. Nach Weisung des Rates der sechs "Volksbeauftragten" waren die
Truppen, nachdem sie fast durchweg in fester Ordnung ihre Standorte oder ihre
Marschziele erreicht hatten, aufgelöst und die Mannschaften in die Heimat
entlassen worden.
Am Abschluß des "Friedensvertrages" nahm die Oberste Heeresleitung
keinen Anteil; das alte stolze Heer wurde aus der Gegenwart ausgemerzt und mit
ihm auch die Oberste Heeresleitung, die es von Sieg zu Sieg, von Abwehr zu
Abwehr in einem Ringen geführt hatte, wie es in diesen gewaltigen
Ausmaßen noch nie in der Weltgeschichte erlebt worden war.
Über die dritte Oberste Heeresleitung ein Urteil zu fällen, wäre
Überhebung. Sie übernahm die operative Führung des Heeres
zu einer Zeit, als - wenn auch nicht
erkennbar - alle Vorbedingungen für einen Sieg in den zwei
vorhergehenden Jahren schon vertan waren. An dem Gewinnen eines
Verständigungsfriedens, der aber auch nur möglich war, wenn die
Feinde gezwungen werden konnten, die Unmöglichkeit ihres Sieges
anzuerkennen, scheiterte sie nicht nur durch die Begrenzung der ihnen zur
Verfügung gestellen personellen und materiellen Kampfmittel und durch
das Versagen der Bundesgenossen, sondern vor allem durch das moralische
Versagen des Volkes und die unfähige Leitung der Politik durch eine
Regierung, die in ihrer absoluten Verständnislosigkeit das Wesen des
Krieges nicht zu erfassen imstande war und darum die Kräfte des Volkes zu
der aus der Natur des Krieges geforderten höchsten Anspannung nicht
emporzureißen vermochte.
Dank bringt das heutige deutsche Volk seinen Kriegshelden nicht entgegen;
niedrigster Undank und dem Haß entsprungene Anklagen sind das Los der
Obersten Heeresleitung, vor der Jahre hindurch die Welt zitterte. Die
früheren Gegner erkennen ihre gewaltigen Leistungen an; die Geschichte
wird das Ungeheure ihrer Leistungen richtig
bewerten. — — Vielleicht wird ihr auch einmal das deutsche
Volk in seiner Gesamtheit gerecht!
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