Bd. 3: Der deutsche Landkrieg, Dritter Teil:
Vom Winter 1916/17 bis zum Kriegsende
Kapitel 1: Die Grundlagen
für die
Entschlüsse der Obersten Heeresleitung
vom Herbst 1916 bis zum
Kriegsende (Forts.)
Generalleutnant Max Schwarte
4. Das erste Halbjahr 1917.
Die Erleichterung der Lage im Osten machte das nahe Zusammensein mit dem
k. u. k. Armee-Oberkommando nicht mehr erforderlich. Der
Wunsch, der entscheidenden Westfront räumlich nahe zu sein, fand jetzt
seine Erfüllung. Kaiser Karl, der die Leitung der Operationen in
größerer Nähe haben wollte, verlegte sie nach Baden bei
Wien. - Die Oberste Heeresleitung entschied sich für die Verlegung
des Großen Hauptquartiers nach Kreuznach, Münster am Stein und
Bingen. Für alle Fälle blieb aber Pleß für eine zeitweise
Aufnahme eingerichtet. Daß man mit Rußlands Kampfkraft auch jetzt
noch rechnen mußte, zeigte ein unerwartet starker, aber erfolgloser
Durchbruchsversuch überlegener Kräfte am
Narocz-See.
Der uneingeschränkte U-Bootkrieg begann mit größeren
Erfolgen, als sie die Marineleitung ihrer Berechnung zugrunde gelegt hatte. Die
Wirkung der zweifellos großen Verluste an Schiffsraum bei der Entente
blieb allerdings unbekannt. - Holland und Dänemark fanden sich mit
dem U-Bootkrieg ab, so daß die Oberste Heeresleitung die dort
bereitgestellten Kräfte hinter die Westfront ziehen konnte. Die Vereinigten
Staaten aber protestierten gegen diese Art der Kriegführung als nicht dem
Völkerrecht und den internationalen Abkommen entsprechend und brachen
am 3. Februar den diplomatischen Verkehr ab.
Daß diesem Schritt die Kriegserklärung folgen würde, hatte die
Oberste Heeresleitung mit Wirkung für 1918 in ihre Erwägungen
eingestellt.
Was hatte sie von den anderen Feinden 1917 zu erwarten? Auf allen bisherigen
Fronten neue Angriffe, aber auch noch Angriffe im Osten, vor allem [19] gegen den unter
österreichischem Oberbefehl stehenden Frontteil; in Oberitalien erneute
Angriffe an der Isonzo-Front. An welchen Stellen man die französischen
und englischen Angriffe zu erwarten habe, war schwer erkennbar. Das ganze
feindliche Stellungssystem war fast überall so intensiv ausgebaut, daß
in kürzester Frist bestimmte Frontteile zu Ausgangsstellen von Angriffen
ausgerüstet werden konnten. Auch das
Eisenbahn- und Wegenetz und die Verteilung der Reserven hinter der Front
ließen kein Urteil zu.
Dafür konnten die Nachteile der eigenen Stellung eine gewisse Unterlage
bieten. Die weit vorspringenden, leicht zu umfassenden Strecken der deutschen
Stellung forderten zum Angriff heraus. Die darin liegende Gefahr und die aus dem
starren Festhalten zusammengeschossener Stellungen erwachsenen hohen
Verluste waren schon die Ursache gewesen, durch gut ausgebaute, taktisch
günstige, weit abgesetzte Stellungen jene Vorsprünge zu
begradigen.
Beabsichtigte man bisher, sie als starke rückwärtige Stellungen erst
beim Verlust der vordersten auszunutzen, so gewann jetzt bei den
Erwägungen über die Führung des Abwehrkampfes der
Gedanke Raum, sie auch für einen freiwilligen, nicht erst durch Kampf
erzwungenen Rückzug zu verwenden. Dadurch konnte man auch den
feindlichen Angriff hinausschieben, die Wirkung des
U-Bootkrieges auf den feindlichen Nachschub und des
Hindenburg-Programms auf die eigene Ausrüstung abwarten und
schließlich auch die taktische Schulung für die Abwehrschlacht zu
Ende führen. Dazu gestattete die Verkürzung der Front, die
große feindliche Überlegenheit abzuschwächen; das war
dringend erwünscht. Die Oberste Heeresleitung konnte nur 154 deutsche
gegen 190 erheblich stärkere feindliche Divisionen für den Westen
bereitstellen.
Unter diesen Gesichtspunkten hatte die Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht die
Stellungen gewählt und ausgebaut als ein neuartiges System, einmal als
Rückhalt für die eigene Abwehr feindlicher Durchbrüche, aber
auch als Grundlage für eigene Operationen. Die von ihr vorgeschlagenen
Linien: Wotan-Stellung (Armentières - Westrand
Lille - Hénin-Liétard -
Quéant - Sailly-Saillisel); Siegfried-Stellung
(Arras - Quéant - Havrincourt - St.
Quentini - la Fère - Condé sur Aisne
oder la Fère - Vauxaillon - Cerny en
Laonnois); Hunding-Stellung (Péronne - Ham - la
Fère - Crecy an der
Serre - Chivres - Château
Porcien - Rethel) und Aisne-Stellung (Nordufer der Aisne zwischen
Berry au Bac und Château-Porcien) überschnitten sich bei
Quéant, la Fère und Château Porcien und
hätten je nach Wahl der aneinanderschließenden Stücke einen
wechselnden Verlauf der Kampffront gestattet, die eigene Entschlußfreiheit
und die Schwierigkeiten feindlicher Angriffe gesteigert. Der Mangel an
Arbeitskräften und Rohstoffen verhinderte, sie gleichzeitig
auszuführen. Als die wichtigste mußte im Anschluß an die
Somme-Schlacht die Siegfried-Stellung angesehen werden. Die Oberste
Heeresleitung hatte deshalb schon während der Kämpfe die
Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht mit der Erkundung ihres
Ver- [20] laufs im einzelnen und
mit der obersten Leitung und Beaufsichtigung des Ausbaus beauftragt, die sie den
Armeen für die innerhalb ihres Gebiets liegenden Stücke zuwies. Die
Oberste Heeresleitung trug Sorge um die Beachtung der von ihr
herauszugebenden Vorschriften für die Abwehrschlacht und um die
Sicherstellung der schnellen Verschiebung der Kampfmittel, der Reserven und
Eingreif-Divisionen.
Infolge der Verhandlungen der Obersten Heeresleitung mit den heimatlichen
Behörden waren die zur Verstärkung des Landsturms und der
Armierungstruppen von deutschen Unternehmern angeworbenen Arbeiter schon
im Oktober und November 1916 an den Arbeitsstellen eingetroffen. Ihre
Gesamtzahl belief sich für die Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht auf etwa
65 000. Die Arbeit war im Winter gut vorangeschritten.
Der Gedanke, freiwillig, ohne unmittelbaren Zwang in die neuen, vorteilhafteren
und stärker ausgebauten Stellungen zurückzugehen, wurde, vor allem
bei der Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht, mit dem Fortschreiten der Arbeiten
immer stärker. Eine besondere Veranlassung gab dazu der
außerordentlich schlechte Zustand der vordersten Stellung infolge
zerstörender Witterungseinflüsse; in der Verzögerung und
Erschwerung des feindlichen Angriffs und dem Einsparen von Reserven wurden
weitere Vorteile ersichtlich; weiter die sichere Rückführung des im
Zwischengelände befindlichen Kriegsgeräts und der Vorräte,
und vor allem die Möglichkeit, durch planmäßige
Zerstörung der für den Gegner wichtigen Objekte im
Zwischengelände seinen späteren Angriff aufs höchste zu
erschweren. Dazu aber gehörte Zeit, die zwischen dem Entschluß
zum freiwilligen Rückzug und dem Beginn der Ausführung zur
Verfügung stehen mußte.
Die vielfachen Erwägungen und die Beratungen der Obersten Heeresleitung
mit den Heeresgruppen führten zu dem Entschluß, die jetzige
Stellung zwischen Arras und Soissons, wenn sich dorthin der feindliche Angriff
zu richten schien, zu räumen und in die Siegfriedstellung
zurückzugehen. Die Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht erhielt den Befehl,
die als "Alberich" bezeichnete Bewegung bis in alle Einzelheiten vorzubereiten
und ihre Ausführung sicherzustellen.
Ein solch neuartiger Entschluß war nicht ohne schwere Bedenken für
die Oberste Heeresleitung. Sie lagen vor allem auf moralischem Gebiet. Der
kampflose Rückzug mußte in der eigenen Truppe, der Heimat, bei
den Bundesgenossen und erst recht bei den Ententemächten wie ein
Eingeständnis der Schwäche wirken. Es war eine ihrer Hauptsorgen,
diesem Eindruck vorzubeugen durch vorherige begründete Unterrichtung
des Reichskanzlers, der obersten Führer der Bundesgenossen und, kurz vor
der Ausführung, der deutschen Öffentlichkeit. Gegenüber dem
Zwang der taktischen Notwendigkeit mußten alle anderen
Rücksichten zurücktreten. Daß mit der Räumung eines
verhältnismäßig umfangreichen Gebiets auch wirtschaftliche
Nachteile eintraten, ließ sich nicht vermeiden.
[21] Der Ausbau der
Siegfriedstellung bis zur Kampffähigkeit war bis Mitte März zu
erwarten. Zur Ausführung der Arbeiten im Zwischengebiet (Bergen der
Vorräte, Zurückführen usw. der Einwohner, Zerstören
der Wege, Unterkünfte, Brunnen usw.) hatte die Heeresgruppe eine Spanne
von fünf Wochen gefordert. Dementsprechend erließ am 4. Februar
die Oberste Heeresleitung den Befehl, den Rückzug in die Siegfriedstellung
durchzuführen. Die Heeresgruppe setzte daraufhin den Beginn der
Alberich-Bewegung auf den 9. Februar, den Abschluß auf den 15.
März fest.
Besondere Sorge verursachte die Behandlung der Bevölkerung des zu
räumenden Gebiets. Die Oberste Heeresleitung entschloß sich, sie
zum Teil (vor allem die Wehrfähiggewordenen) nach Deutschland
zurückzuführen, die übrigen an bestimmten Orten (Noyon,
Ham, Nesle) zu sammeln, wo sie die Gegner beim Vormarsch vorfinden sollten.
Sie war sich darüber klar, daß diese Lösung von der
feindlichen Propaganda zu weiterer Verleumdung und Verhetzung benutzt werden
würde.
Während dieser Vorbereitungen gewann sie auch Klarheit über die
neuen Angriffe, vor allem, daß die Engländer wieder bei Arras
angreifen würden. Auch die Franzosen schienen den vorjährigen
Angriff weiterführen zu wollen, wenn auch Angriffsvorbereitungen an der
Aisne erkennbar wurden. Sie gab beiden Heeresgruppen Weisung, sich auf den
Beginn der Angriffe einzurichten, und wies ihnen Verstärkungen aus den
Divisionen der Reserve zu.
Um während des Rückzugs größere Kampfhandlungen
zu vermeiden, ordnete sie angesichts unmittelbar bevorstehender englischer
Angriffe die Räumung einzelner Stücke am 13. März, also vor
Beginn der allgemeinen Bewegung, an. Am 16. März vollzog sich dann das
Loslösen vom Gegner und die Einleitung des Rückzugs
ungestört. Gegenangriffe gegen den nachfolgenden Feind hatte die Oberste
Heeresleitung untersagt, damit die Truppen unter allen Umständen
ungestört die Siegfriedstellung gewinnen und sich in ihr einrichten konnten.
Nur an einer besonders günstigen Stelle bei St. Quentin sollte der
Gegner nach Überschreiten von Somme und
Crozat-Kanal angefallen werden. Der Gegenstoß brachte wenig Erfolg; die
Armeen erreichten ohne Störungen und Verluste die neue Stellung.
Der Feind wußte von dem Bau der rückwärtigen Stellung;
daß die Deutschen dorthin ohne Kampf zurückgehen würden,
hatte er nicht erwartet. Seine bis dicht zum Angriffsbeginn gediehenen Arbeiten
waren hinfällig geworden. Nur in ihrem nördlichsten Teil, bei den
Engländern, erstreckten sie sich auch auf ein nicht geräumtes
Stück der bisherigen Stellung. Ein sofortiges Vorverlegen der
Angriffsarbeiten vor die neue Stellung erwies sich infolge der
planmäßigen Zerstörung des verlassenen Gebiets als
unmöglich.
Dabei drängten die ganzen Verhältnisse, vor allem die politische
Lage in Rußland, auf beschleunigten Angriff. Die Oberste Heeresleitung
schloß daraus, [22] daß sie mit einer
schnellen Umstellung des feindlichen Angriffs rechnen müsse, besonders
dort, wo wenigstens ein Teil der bisherigen Vorbereitungen ausgenutzt werden
konnte. Eine Verschiebung der englischen Angriffsfront nach Norden bot diese
Möglichkeit; hier erwartete die Oberste Heeresleitung den Angriff sehr
bald. - Dagegen schien die französische Heeresleitung auf den
Angriff in der Gegend von St. Quentin zu verzichten. Da überdies
an der Aisne-Front die Tätigkeit dauernd wuchs, nahm sie diese als den
wahrscheinlichsten Ausgangsort des französischen Ansturms an.
Dementsprechend ergingen ihre Weisungen. Infolge der starken
Verkürzung der Front der Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht zog sie das
Oberkommando der 1. Armee heraus und schob es an die
Aisne-Front beiderseits Reims, zwischen 7. und 3. Armee, ein. Noch vor seinem
Eintreffen brach der gewaltige Ansturm los.
Der Auftakt zur Entscheidung in Frankreich bildeten die auf allen Fronten
einsetzenden Kämpfe, um die dort stehenden deutschen Kräfte zu
binden. Wohl hatte die Oberste Heeresleitung mit diesen Angriffen gerechnet,
helfen konnte sie nicht; sie hatte keine Verstärkungen für die
bedrohten Fronten übrig. Die Nervenanspannung im Großen
Hauptquartier steigerte sich deshalb vor allem dann in den nächsten
Wochen, wenn die Nachrichten aus dem Osten und Südosten
ungünstig klangen und die Führer der angegriffenen Frontstrecken
um Unterstützung baten.
Von der türkischen Armee wurden die Angriffe an der
Palästina-Front (Gaza-Schlachten) mit Unterstützung der deutschen
Führer und Truppen siegreich abgewiesen; eine Ausnutzung des Erfolges
war, da die Kräfte fehlten, nicht
möglich. - Ungünstiger entwickelten sich die
Verhältnisse in Mesopotamien. Die dortigen türkischen Divisionen
waren durch Zersplitterung stark geschwächt, so daß sogar Bagdad
am 11. März verlorenging. Enver Pascha bat die Oberste Heeresleitung um
Unterstützung, die sie ihm zusagte. Das
Asien-Korps sollte (später unter Befehl des Generals v. Falkenhayn)
zur Wiedereroberung von Bagdad eingesetzt werden. Aber bevor sein Vormarsch
beginnen konnte, mußten die für europäische Truppen
notwendigen Einrichtungen, vor allem die unvollständigen
Bahn- und sonstigen rückwärtigen Verbindungen ergänzt, die
Etappenanlagen usw. völlig neu geschaffen werden.
An der Saloniki-Front griff Sarrail erneut an, ohne Erfolg; aber was an deutschen
Kräften dort eingesetzt war, blieb gebunden.
Auch Cadorna setzte an der Isonzo-Front erneut zum Stoß an;
entscheidende Erfolge blieben ihm versagt.
Nur an der russischen Front schien sich eine Entlastung anzubahnen. Das Volk
stürzte durch eine Revolution die Regierung des Zaren, darin
unterstützt von der Entente, die in der wachsenden Friedensgeneigtheit des
letzteren eine schwere Gefahr erkannte und von dem Führer der Revolution,
Kerenski, die Fortdauer des Krieges erwartete. Wie stark sich die
Erschütterung im russischen [23] Heere
äußern würde, war nicht vorherzusehen, wohl aber, daß
eine Schwächung eintreten mußte. Daraus erwuchs der Obersten
Heeresleitung die Möglichkeit, den Nachschub an Truppen und Munition in
stärkerem Maße der Westfront zuzuleiten und den Austausch dort
abgekämpfter Divisionen mit kampfkräftigen Divisionen des Ostens
in gesteigertem Umfange durchzuführen.
Dafür schlossen sich die Vereinigten Staaten jetzt an die Entente an. Aus der
versteckten Unterstützung der Jahre
1914 - 1916 wurde am 5. April 1917 die offene
Kriegserklärung. Einen Ausgleich zwischen den deutschen
Kriegsnotwendigkeiten des U-Bootkrieges und den amerikanischen Forderungen
hatte das Auswärtige Amt nicht zu erreichen vermocht; die durch
Unvorsichtigkeit zur Kenntnis der amerikanischen Regierung gelangte
Aufforderung an Mexiko, sich gegen die Vereinigten Staaten den
Mittelmächten anzuschließen, hatte naturgemäß die
Krise erheblich verschärft.
Österreich-Ungarn und die Türkei erklärten gleichfalls den
Kriegszustand mit den Vereinigten Staaten, nicht aber Bulgarien. Der
amerikanische Generalkonsul blieb unbehelligt in
Sofia - um später eine Ausgangsstelle für die zersetzende
Propaganda im bulgarischen Volk und Heere zu werden.
Zu den Sorgen militärischer Art steigerte sich bei der Obersten
Heeresleitung die Sorge um die Gefährdung des Kriegswillens im Volke
und die Besorgnis vor den Sonderinteressen des Kaisers Karl.
Sie konnte sich der Erkenntnis nicht verschließen,
daß - vor allem durch den entbehrungsreichen Winter
1916/17 - der Wille zum Durchhalten und die Hoffnung auf den Enderfolg
bei der Regierung und im Volke schweren Schaden erlitten hatte. Diese Sorge
wuchs, als die Vorgänge in Rußland einen starken Widerhall in den
oppositionellen Linksparteien fanden. Der Reichskanzler konnte keine klare
Stellung gewinnen. Daß die Revolution eine starke Erleichterung der
militärischen Lage bedeutete, sah er ein. Auch hoffte er, daß
Rußland sich infolge der Zertrümmerung der ganzen
Staatsorganisation bald einem Frieden geneigt zeigen werde. Aber anderseits
fürchteten er und Graf Czernin das Übergreifen der
Revolutionsbewegung auf die Mittelmächte, ohne daß sie sich die
Kraft zutrauten, dies zu verhindern. Aus dieser Furcht heraus und in der Idee, die
Revolution werde das Russische Reich um so schneller zerbrechen, wenn man sie
ungestört sich auswirken ließe, forderte der Reichskanzler von der
Obersten Heeresleitung nicht nur das Unterlassen jeder militärischen
Handlung, sondern auch die Begünstigung eines regen Verkehrs zwischen
den beiderseitigen Stellungen, in der Erwartung, daß dann die Russen die
Wiederaufnahme des Kampfes als unzweckmäßig erkennen
würden.
Eine Verständigung mit der neuen Regierung hoffte er dadurch zu
beschleunigen, daß er sich auf den Standpunkt des status quo ante,
also eines "Verständigungsfriedens", stellte. Diese Idee vertrat er auch im
Reichstag, ohne zu bedenken, daß der darin sich aussprechende Mangel an
Zuversicht die an sich schon brüchig werdende Energie der Volksvertreter
ganz lähmen müsse. Die [24] gleiche Schwäche
offenbarte sich auch, als auf seine Veranlassung Kaiser Wilhelm am 7. April die
Veränderung des Wahlrechts in Preußen in Aussicht stellte. Dieses
Versprechen in diesem Augenblick konnte nur als ein Ausfluß der Furcht,
als eine Konzession an die oppositionellen Parteien wirken. Anstatt der erhofften
Beruhigung im Volke bewirkte sie eine Verschärfung der parteipolitischen
Forderungen und führte zu Streiks in der zweiten Hälfte des
April - also zu einer Zeit, wo an der Westfront eine schwere Krisis durch
den Doppelangriff der Entente herrschte. Die durch die Streiks verursachte
Verminderung der Fertigung von Munition mußte die Lage an der Front
verschlimmern. Immer mehr offenbarte sich der Obersten Heeresleitung,
daß die Regierung nicht die Energie besaß, um das Volk auf das
Endziel des Krieges mit der erforderlichen Kraft
und - wenn es nicht anders ging - mit rücksichtsloser Gewalt
zusammenzuhalten. Ihre Schwäche mußte aber auch den Feinden
erkennbar werden: die Kaiserliche Botschaft mußte sie direkt dazu
auffordern, die innere Unzufriedenheit bis zum Zerbrechen der schwachen
Regierungsgewalt zu steigern.
Auf die Mannschaften an der Front übte die Kaiserliche Botschaft
zunächst keinen Einfluß aus; die Kampftätigkeit beanspruchte
deren Gedanken ganz; war der Krieg erfolgreich zu Ende, dann würde die
bessernde Hand auch an die innere Gestaltung des Volkes gelegt werden. Immer
stärker aber wirkten die Klagen und die Unzufriedenheit der
Angehörigen in der Heimat über die mangelhafte Ernährung,
die steigenden Preise und die ungleichartige Entlohnung. Dazu kam, daß die
zur Arbeit in die Heimat Entlassenen, wenn sie wieder zur Front sollten, dem
Befehl nur unwillig folgten und ihren Groll und die Unzufriedenheit dorthin
übertrugen. Noch überwand die Truppe diese schädlichen
Einflüsse, aber der Wunsch, endlich wieder aus diesem anscheinend
unentschiedenen Ringen in das geordnete Arbeitsleben zurückzugehen,
nahm zu.
Diese Sorgen wurden von der Obersten Heeresleitung um so tiefer empfunden, als
das Heer die Folgen der Schwäche der Regierung tragen mußte.
Noch schwerer lasteten auf ihr außenpolitische Geschehnisse, zu deren
Lösung sie überdies selbst herangezogen wurde. Anfang April,
während sie dem Ansturm der Entente stündlich entgegensah, traf
Kaiser Karl mit seinen Beratern zur Aussprache in Homburg ein. Er stellte zur
Erörterung, ob sich jetzt ein Versuch, zum Frieden zu kommen, empfehle.
Angesichts des Beginns der großen feindlichen Offensive sah die Oberste
Heeresleitung diesen Zeitpunkt für gänzlich ungeeignet an.
Zweifellos erwarteten die Gegner von ihrer gewaltigen Überlegenheit eine
entscheidende Wendung des Krieges; vorher würden sie sicherlich jeden
Friedensschritt ablehnen.
Auch der militärische Laie mußte die Ungeeignetheit des
Augenblicks erkennen. Daß trotzdem eine Erörterung verlangt wurde,
entsprang vorhergegangenen Besprechungen der leitenden Staatsmänner,
die ohne Wissen der [25] Obersten Heeresleitung
stattgefunden hatten und in denen die Friedensmöglichkeiten erörtert
und zu einem Kompromiß geführt worden waren, das, als "Wiener
Dokument" bezeichnet, den status quo ante als Mindestforderung der
Mittelmächte für einen Friedensschluß festlegte, für den
Fall eines glücklichen Kriegsausganges aber weitergehende Bedingungen
vorsah.4 Kennzeichnend für die
österreichische Denkart war, daß Graf Czernin die Abtretung
Elsaß-Lothringens an Frankreich als Grundlage des Friedensschlusses
anschneiden und als Entschädigung Polen unter Anschluß des aus
Österreich-Ungarn ausscheidenden Galiziens anbieten konnte.
Selbstverständlich lehnte die Oberste Heeresleitung und mit ihr die
deutsche Regierung einen solchen Gedanken schroff ab, der durch die Lage nicht
gerechtfertigt war, auch vom Reichstag verworfen worden wäre. Die
Gegner hätten in ihm nur ein weiteres Eingeständnis der
Erschöpfung gesehen. Der Vorschlag Czernins war nur dadurch zu
erklären, daß er die inneren Verhältnisse im Deutschen Reiche
sehr viel ernster als die deutschen Staatslenker und Heerführer beurteilte.
Immerhin endigte die Aussprache mit dem Ergebnis, daß auch Kaiser Karl
und seine Ratgeber, trotz des Wunsches nach Frieden, die Zuversicht auf einen
guten Kriegsausgang nicht verloren hatten.
Weniger beteiligt war die Oberste Heeresleitung an der wiederholt
erörterten Regelung der späteren Einflußsphären im
Osten, die Deutschland in Polen,
Österreich-Ungarn in Rumänien suchen sollte. Bei diesem
Anlaß zeigte sich erneut die Unaufrichtigkeit der österreichischen
Regierung: Czernin forderte nun die Lösung der polnischen Frage (im
Gegensatz zu der vorher erörterten Lösung) im Sinne des
Anschlusses an die Donaumonarchie als das einzige Mittel, um die
niedergedrückte Stimmung Kaiser Karls und sein Prestige bei den
Nationalitäten seines Reiches zu festigen. Aus politischen, wirtschaftlichen
und nicht zuletzt militärischen Gründen widersprach die Oberste
Heeresleitung auf das nachdrücklichste einer solchen Lösung, die
aber nur zeitweise aus den Erörterungen verschwand.
Als auch dieser Weg ausschied, versuchte Kaiser Karl, von Czernin beraten, durch
persönliche Einwirkung auf Kaiser Wilhelm die Friedensfrage
vorwärts zu treiben, indem er nochmals in einem persönlichen Brief
die Friedensmöglichkeit, wenn auch unter großen Opfern, und unter
besonderer Betonung der Gefahren der von Rußland ausgehenden
internationalen Revolution, erörterte. Diese Mitte April, also zu einer Zeit
der stärksten Beanspruchung an der Westfront, eintreffende erneute
Anregung lehnte, im Einverständnis mit der Obersten Heeresleitung, der
Reichskanzler als augenblicklich aussichtslos ab, besonders da er aus den
Zersetzungserscheinungen in Rußland eine Geneigtheit des Volkes zum
Frieden zu erkennen glaubte. - Aus den Schritten des Kaisers [26] Karl mußte die
Oberste Heeresleitung den wenig erfreulichen Schluß ziehen, daß die
Zuverlässigkeit des Bundesgenossen zweifelhaft werde, um so mehr, als
Graf Czernin ihre Anregung zu schärferer Zusammenfassung und strafferer
Führung der nationalistischen Parteien in
Österreich-Ungarn ablehnte.
Als die Oberste Heeresleitung Anfang April den Angriff der Engländer bei
Arras für unmittelbar bevorstehend ansah, ordnete sie, besonders bei der am
stärksten bedrohten 6. Armee, das Heranziehen der Reserven dicht hinter
die Kampffront an. Der am 9. April losbrechende Ansturm durchstieß die
deutsche Stellung. Die Lage erschien kritisch; die Reserven waren nicht so nahe
herangezogen worden, daß sie sofort zum Gegenstoß angesetzt
werden konnten; das entstandene breite Loch konnte nicht leicht und schnell
gestopft werden. Anscheinend hatten aber auch die Engländer schwere
Verluste gehabt, sie unterließen die sofortige Ausnutzung; die
Kämpfe der nächsten Tage brachten ihnen nur noch örtliche
Erfolge. Dem Eingreifen der Heeresgruppe und der Obersten Heeresleitung gelang
es, allerdings unter starker Beanspruchung der Reserven, das weitere Vordringen
zu verhindern. Aber die Verluste an Mannschaften, Geschützen, Munition
und Kriegsgerät waren groß.
Diese Beanspruchung wurde besonders gefährlich, als am 16. April auch
die Franzosen an der Aisne zum Angriff losbrachen. Er sollte, nordwärts
vordringend, dem nach Osten gerichteten Angriff der Engländer die Hand
reichen, um so die Mitte der deutschen Front zu zertrümmern. Auf
70 km Breite stieß General Nivelle westlich und östlich Reims
an mehreren Punkten durch die deutschen Stellungen durch. Die deutsche
Kampflinie mußte an den Durchbruchstellen zurückgenommen
werden; aber schon am 17. und 18. April konnten die wütenden Angriffe
keine Erfolge mehr erringen. Ebenso wurden die am 7. und 20. Mai erneuerten
Stürme abgewiesen. Das bei Verdun im Vorjahre erfolgreiche
Angriffsverfahren Nivelles scheiterte gegen die ausgeruhten Truppen und das
neue Abwehrverfahren unter ungeheuren Verlusten. So furchtbar waren sie,
daß sie geradezu zu einer Zerrüttung des französischen Heeres
führten. Nivelle wurde als Oberbefehlshaber durch Petain ersetzt, dessen
ganze Sorge in den nächsten Monaten ausschließlich beansprucht
wurde durch die Notwendigkeit, das Heer wieder zu festigen und
kampffähig zu machen. Für neue Angriffe fiel es zunächst
ganz aus. Mit äußerster Energie und Strenge und mit brutalen
Strafmaßnahmen, in denen die Staatsmänner, vor allem Clemenceau,
den Generälen sich überlegen zeigten, wurde die Festigung des
Heeres wiedergewonnen.
Von dem Zustand des französischen Heeres erhielt die Oberste
Heeresleitung zwar Nachricht, aber verspätet und unvollkommen. Wie tief
die Zersetzung des Gegners gediehen war, erfuhr sie nicht, so daß eine
Erörterung, ob man diese Gunst der Lage durch rücksichtslose
Offensive ausnutzen sollte, nicht stattfinden konnte.
[27] Für die
Kräftigung des französischen mußte sich das englische Heer
opfern. Trotz aller Aussichtslosigkeit weiterer Angriffe setzte Feldmarschall Haig
seine Angriffe bei Arras fort und band damit deutsche Kräfte. Mit ihnen
verfolgte er auch den weiteren Zweck, die Aufmerksamkeit der deutschen
Heerführer abzulenken von den Vorbereitungen zu einem Angriff an
anderer Stelle.
Die Oberste Heeresleitung rechnete mit neuen Angriffen noch im laufenden Jahre.
Bei ihren Erwägungen, wo diese zu erwarten seien, mußte sie die
Wirkung des U-Bootkrieges bei der Entente in Rechnung stellen. Daß diese
Wirkung empfindlich sein mußte, war nach den erzielten
Versenkungszahlen sicher. Dazu kam, daß spätestens Anfang 1918
die Überführung des amerikanischen Heeres und seines ungeheuren
Nachschubs nach Frankreich stattfinden sollte. Mit diesen Erwägungen
stimmten auch die Anzeichen überein, nach denen der nächste
Angriff der Entente zum Zweck des Zurückdrückens der die
Kanalhäfen bedrohenden deutschen Linien und gegen die für
England außerordentlich empfindliche
U-Bootbasis in Belgisch-Flandern zu erwarten war.
An der französischen Front war eine fast völlige Ruhe eingetreten;
zunächst auch bei den Engländern. Dann griffen sie aber am 7. Juni
überraschend den weit vorspringenden
Wytschaete-Bogen südlich Ypern nach vorhergegangenen ungeheuren
Minensprengungen umfassend an und warfen die hier stehenden deutschen
Truppen unter erheblichen Verlusten zurück. Sie setzten den Angriff gegen
die zweite deutsche Stellung nicht fort, erneuerten aber ihre Angriffe bei Arras, La
Bassée und Lens.
Die schweren Kämpfe hatten auf deutscher Seite große Verluste
verursacht. Aber schon nach kurzer Zeit der Erholung drängten deutsche
Energie und Angriffslust zur Betätigung, vor allem dort, wo durch die
Kämpfe sich ihre Kampfstellungen verschlechtert hatten. Durch
örtliche Vorstöße der 7. und 1. Armee wurden wesentliche
Verbesserungen am Chemin des Dames erzielt; Vorteile der 5. Armee westlich
Verdun mußten allerdings wieder aufgegeben werden. Dafür
stürmte die 4. Armee einen auf dem Ostufer der Yser von den
Engländern zäh festgehaltenen Brückenkopf.
Unterdes vollzog sich aber eine wesentliche Änderung im Osten, wo seit
etwa einem halben Jahre die Kriegstätigkeit ruhte. Die starke
Unterstützung der Entente hatte die Stellung Kerenskis in Rußland
schnell gefestigt gegen die Verpflichtung, das russische Heer wieder am Kriege
teilnehmen zu lassen. Zahlreiche Offiziere der Entente halfen die Disziplin im
Heere zu festigen, große Nachschübe von Kriegsgerät hoben
seine Kampfkraft; Kerenski setzte seine Volkstümlichkeit erfolgreich
für den Gedanken ein, daß der Kampf gegen Deutschland
Vorbedingung für die Sicherung der eben gewonnenen Freiheit sei. Die
vereinten Anstrengungen hatten schließlich das Ergebnis, die russischen
Armeen wieder angriffsfähig und angriffslustig zu machen.
Ob es möglich gewesen wäre, das bei Ausbruch der Revolution sich
auf- [28] lösende russische
Heer durch rücksichtslosen Angriff auseinander zu sprengen,
läßt sich nicht beantworten; der Versuch war auf Verlangen des
Reichskanzlers unterblieben. Jetzt konnte Kerenski sogar zum Angriff schreiten.
Aus den Nachrichten ließ sich erkennen, daß Angriffe auf der ganzen
Front, vom Rigaer Brückenkopf bis zur Moldau, zu erwarten seien, der
Hauptstoß gegen die
österreichisch-ungarische Front in Galizien und der Bukowina. Als Prinz
Leopold jetzt den Antrag stellte, diese Gelegenheit auszunutzen, um durch einen
energischen Gegenstoß endgültig die russische Kampfkraft
niederzuwerfen, ging die Oberste Heeresleitung darauf ein. Aus eigenen Mitteln
konnte die zugunsten des Westens stark geschwächte Ostfront die
erforderlichen Kräfte nicht aufbringen. Die Oberste Heeresleitung
stellte - trotz der darin liegenden
Gefährdung - sechs Divisionen aus dem Westen zur
Verfügung. Noch bevor sie zum Gegenstoß aufmarschiert waren,
brach südwestlich Tarnopol der russische Angriff nördlich des
Dnjestr am 1. Juli gegen die k. u. k. Truppen los und warf diese
zurück; teilweise gingen diese sogar in Massen zum Feind über. Ein
starker Einsatz deutscher Divisionen mußte zuerst die Lage
wiederherstellen. Der am 4. Juli erfolgende russische Angriff gegen die deutsche
Südarmee scheiterte; er hatte aber am 6. und 7. Juli wieder große
Erfolge gegen die k. u. k. 3. Armee südlich des Dnjestr.
Trotzdem hielt der Oberbefehlshaber an dem Gegenstoß fest. Er begann am
19. Juli mit durchschlagendem Erfolg, wurde energisch weitergeführt und
erst am 3. August abgebrochen, als bei Czernowitz und Kimpolung das letzte
Stück österreichischen Gebiets vom Gegner befreit war.
Erschöpfung der Truppen und die Unmöglichkeit weiteren
Nachschubs, da Eisenbahnen fehlten, setzten ihm ein Ziel. Ein
russisch-rumänischer Entlastungsstoß hatte nur örtliche
Erfolge, die durch deutsche Gegenangriffe ausgeglichen wurden.
Erwägungen der Obersten Heeresleitung, anschließend gegen die
rumänische Armee in der Moldau vorzugehen und gleichzeitig v. Mackensens Armee von Süden gegen sie anzusetzen,
mußten wegen des Fehlens von Kräften und
rückwärtigen Verbindungen zurückgestellt werden. Das
Ergebnis dieser Kämpfe aber war, daß Rußland als Angreifer
aus dem Kriege endgültig ausschied; allerdings mußten auch
weiterhin erhebliche Kräfte im Osten verbleiben.
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