Bd. 2: Der deutsche Landkrieg, Zweiter Teil:
Vom Frühjahr 1915 bis zum Winter 1916/1917
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Kapitel 2: Die militärischen Grundlagen
für die Entschlüsse der Obersten Heeresleitung
vom Frühjahr 1915 bis zum Herbst 1916
Oberst Gustav v. Bartenwerffer
1. Der Durchbruch und die Operationen im Osten
bis zum 16. August 1915.
Die militärische Lage im Osten sah im Frühjahr 1915 für die
Mittelmächte sehr trübe aus. Wenn auch die 10. russische Armee
geschlagen war, so standen die Russen doch noch kräftig genug da, den
durch die Winterkämpfe hart mitgenommenen Österreichern und
Ungarn die Lust am Kriegshandwerk gänzlich zu nehmen. Die Zersetzung
in den fremdvölkischen Heeresteilen des k. u. k. Heeres hatte
weiter um sich gegriffen, die Bedrohung Ungarns durch die Russen, die mit
Sicherheit in kurzem zu erwartende Kriegserklärung Italiens, die
Möglichkeit eines Übertritts Rumäniens zur Entente
ließen im
österreichisch-ungarischen Hauptquartier keine rechte Zuversicht
aufkommen. Die konzentrische Unternehmung der Franzosen und
Engländer gegen die Halbinsel Gallipoli einerseits, der Russen von Odessa
her gegen Konstantinopel andererseits, stimmten auch das Große
Hauptquartier in Mézières recht bedenklich, zumal die
Türkei infolge ihrer isolierten Lage fast ausschließlich auf sich allein
und auf ihre spärliche eigene Kriegsindustrie angewiesen war.
Die Wahl, wo sie ihre neugeschaffenen Reserven zu einem vernichtenden Schlage
einsetzen sollte, war für die deutsche Oberste Heeresleitung
außerordentlich schwer. Die Engländer hatten erheblich gelitten; ein
Fangstoß dem angehöhlten Kern der englischen Armee, bevor ihre
Neuformationen sich fühlbar machten, war verlockend und sicherlich von
großer Bedeutung für den Westen. Die mißliche Lage der
Bundesgenossen aber gab den Ausschlag. Freie Hand mußte Deutschland
erst für entscheidende Unternehmungen im Westen haben, die
Österreicher und Ungarn mußten erst wieder besseren Mutes werden:
ein gemeinsamer Schlag gegen die bedrohliche Übermacht der Russen
konnte die Stimmung heben und die k. u. k. Heeresmacht wieder so
weit festigen, daß auch sie für die Entscheidung
widerstandsfähig war.
Eine von der österreichisch-ungarischen Heeresleitung vorgeschlagene
beiderseitige Umfassung des russischen Heeres hielt General v. Falkenhayn
nicht für aussichtsreich. Dem k. u. k. Oberkommando
schwebte bei diesem Plan wohl der Eindruck vor, den eine glückliche
Offensive gegen den russischen Südflügel auf die [51] Haltung Rumäniens machen würde.
General v. Falkenhayn glaubte nicht an eine augenblickliche
rumänische Gefahr und war der Ansicht, daß bei der großen
Anzahl russischer Reserven und dem gut ausgebauten russischen Eisenbahnnetz
die Umfassungsversuche der deutschen und der k. u. k. Truppen sich
bald festlaufen würden, ohne irgendeine Einwirkung auf die russische Mitte
zu erzielen. Dieser letzteren gegenüber würden die
zahlenmäßig weit schwächeren Mittelmächte nur
verhältnismäßig geringe Kräfte stehen lassen
können, so daß den Russen vollkommene Bewegungsfreiheit
für die Verschiebungen dort entbehrlicher Truppen nach gefährdeten
Stellen geblieben wäre.
Größeren Erfolg versprach ein Durchstoß durch die russische
Front, und da der
österreichisch-ungarischen Heeresmacht unmittelbar geholfen werden
mußte, so war es gegeben, die Durchbruchsstelle im Bereich ihrer Linien zu
wählen. Reiche Ernteaussichten eröffnete ein Zerreißen der
russischen Front zwischen Beskiden und Weichsel. Je weiter die Russen durch die
Karpathen nach Süden vorgedrungen waren, um so größer
mußte der Erfolg werden. General v. Falkenhayn entschloß
sich zu dieser Operation, benachrichtigte am 13. April den General
v. Conrad von seinem Plan und legte ihm nahe, während des
Aufmarsches der Stoßtruppe einem russischen Druck in den Karpathen
nachzugeben, um den Feind noch tiefer in die Engpässe der Karpathen zu
locken. Mit dem Vorschlage, in Gegend Gorlice durchzubrechen, war General
v. Conrad voll einverstanden; zu einem Nachgeben der
Karpathen-Front aber konnte er sich angesichts der zweifelhaften Verfassung der
österreichisch-ungarischen Truppen nicht entschließen, so erfolgreich
diese Maßnahme auch unter anderen Verhältnissen hätte sein
müssen.
Nach der grundsätzlichen Zustimmung der
österreichisch-ungarischen Heeresleitung zu dieser ersten gemeinsamen
Operation wurde auch der Oberbefehlshaber Ost, der schon vorher bei der
deutschen Obersten Heeresleitung mit Rücksicht auf die bedenkliche Lage
bei den Bundesgenossen einen entscheidenden Schlag auf dem östlichen
Kriegsschauplatz angeregt hatte, ins Bild gesetzt. Ihm ging am 16. April die
Weisung zu, während des Durchbruchsstoßes die nördlich der
Pilica stehenden russischen Kräfte zu binden und Maßnahmen zur
Täuschung des Feindes zu treffen.
Da mit dem in Aussicht stehenden Eingreifen der Italiener auf der Feindseite
gleichzeitig eine Offensive der Serben zu erwarten stand, warf die deutsche
Oberste Heeresleitung drei im Osten soeben neu zusammengestellte Divisionen an
die
Save-Donau-Front, um den infolge starker Abgaben an die italienische Front dort
sehr geschwächten
österreichisch-ungarischen Grenzschutz zu verstärken. Von dieser
Maßnahme, die ein Gegengewicht gegen die Erregung der
südslawischen Landesteile bei der Kriegserklärung Italiens gab,
versprach sie sich auch einen heilsamen Einfluß auf die Haltung
Rumäniens, dem ein Zusammenziehen deutscher Divisionen in
unmittelbarer Nähe seiner Grenzen zu denken geben mußte.
[52] Die Aufgabe, die die Oberste Heeresleitung dem
Oberbefehlshaber Ost erteilte, war keine leichte. Ganz abgesehen davon,
daß der Oberbefehlshaber Ost die von ihm für unbedingt nötig
gehaltene Nebenoperation - den Angriff nördlich des
Bobr-Sumpfbeckens zur Anbahnung der Vernichtung des russischen
Heeres - zurückstellen mußte, waren bei der starken
Überlegenheit der Russen an Infanterie mehrfache
Offensivunternehmungen zu Täuschungszwecken nicht einfach; die Infanterie
des Oberbefehlshabers Ost reichte gerade hin, russische Angriffe zum
Mißlingen zu bringen. Schon Ende April wurden seine Kräfte zur
Abwehr eines in Aussicht stehenden abermaligen russischen Einfalls in Richtung
Memel - Tilsit erheblich in Anspruch genommen, wo nach dem im
März schnell erledigten russischen Einfall nach Memel hinein nur
schwache deutsche Kräfte den Grenzschutz ausübten.
Der Oberbefehlshaber Ost entschloß sich dazu, einen Offensivstoß
gegen den rechten Flügel der Russen zu führen und diesen mit der
von der Obersten Heeresleitung schon im März zwecks Zerschneidung der
russischen Eisenbahnverbindungen gewünschten weitausgreifenden
Kavallerieunternehmungen in Flanke und Rücken der Russen zu verbinden.
Dieser Entschluß wurde zunächst von dem Gedanken
veranlaßt, daß die Oberste Heeresleitung im Laufe des Sommers
vielleicht doch Gelegenheit finden könnte, zur Ausbeutung des Sieges in
Galizien die Umfassung über Wilna selbst zu fordern, und daß somit
die Ausgangsstellung für diese Operation am besten gleich geschaffen
würde. An die Spitze dieser Unternehmung hätte ein energischer,
entschlußfähiger und wagemutiger Kavallerieführer gestellt
werden müssen; sie hatte anfangs allerdings unerwartet guten Erfolg, die
Russen wurden zu umfangreichen Gegenmaßnahmen veranlaßt, was
indirekt der großen Durchbruchsoperation in Westgalizien zugute kam.
Der Durchbruch der verbündeten Truppen, der, wie erwähnt,
zunächst zur Entlastung des
österreichisch-ungarischen Heeres unternommen worden war, sollte zur
Wiedergewinnung Westgaliziens bis zum San führen, sowohl die russische
Gefahr von Ungarn abwenden, als auch die feindliche Front nördlich der
Weichsel ins Wanken bringen und den Russen einen so empfindlichen Schlag
versetzen, daß eine Lähmung ihrer Angriffskraft erreicht
würde.
Ein weiteres Ziel als die Gewinnung der San-Linie setzte sich die Oberste
Heeresleitung zunächst nicht. War diese Linie erreicht, so hatte die
österreichisch-ungarische Heeresleitung, abgesehen von dem großen
Erfolge, der einen guten Einfluß auch auf die innere Kraft, den Geist der
Truppe ausüben mußte, auch die Möglichkeit, Kräfte
für die anderen Kriegsschauplätze frei zu bekommen. Wollte die
Oberste Heeresleitung ein weiteres Ziel erreichen, so hätten für die
Offensive von vornherein gleich starke Kräfte zweiter Linie angesetzt
werden müssen, die sie aber angesichts der immerhin gespannten Westlage
und des zu erwartenden Einsatzes der ersten fertiggestellten
Kitchener-Divisionen Englands nicht sofort zur Verfügung stellen zu
können glaubte.
[53] Die Operation nahm unter der unmittelbaren
Führung des Generalobersten v. Mackensen, Chef Oberst v. Seeckt, und der Oberleitung der
österreichisch-ungarischen Heeresleitung, die sich in allen wichtigen
Fragen aber mit der nach Pleß übergesiedelten deutschen Obersten
Heeresleitung ins Benehmen zu setzen hatte, den gewollten Verlauf. Die russische
Front zwischen Beskiden und Weichsel brach zusammen, die 11. deutsche Armee
riß rechts die k. u. k. 3., links die k. u. k. 4.
Armee in prachtvollem Siegeslauf mit; die russische
Karpathen-Front gab bis zur Front vor der deutschen Südarmee nach; auch
die weiter westlich sich anschließende k. u. k. 1. Armee und
die Armee-Abteilung Woyrsch konnten sich hinter den weichenden Russen über die Nida hinweg gegen die Weichsel in Bewegung setzen.
Erfolge der Russen in einer Entlastungsgegenoffensive gegen die Armee
Pflanzer-Baltin in der Bukowina veranlaßten den General v. Conrad,
eine Verstärkung dieser Armee bei der deutschen Obersten Heeresleitung
nachzusuchen. General v. Falkenhayn sprach sich ganz entschieden gegen
diesen Wunsch aus; in Westgalizien läge die Entscheidung; im Falle des
Gelingens der großen Durchbruchsoperation würde sich auch die Lage
auf der
Bukowina-Front einrenken.
Nach Erzwingen des Wislok-Überganges - schon am 4. Mai war trotz
drohender Ententeoffensive der Antransport einer weiteren Division aus dem
Westen zur Durchbruchsstelle angeordnet
worden - einigten sich die beiden Obersten Heeresleitungen über die
Fortsetzung der Operation gegen den San. Während die
k. u. k. 3. Armee gegen die
West- und Südfront von Przemysl, die beiden nördlichen
Armeen - 11. deutsche und 4.
österreichisch-ungarische - geradeswegs gegen den San
nachstießen, sollten die k. u. k. 2. Armee, die Gruppe Szurmay
und die deutsche Südarmee durch Vorgehen auf dem rechten
Dnjestr-Ufer die russische Offensive gegen Pflanzer-Baltin zum Stillstand bringen und die
Dnjestr-Wiznia-San-Linie im allgemeinen so schnell als möglich erreicht
werden. Die Entlastungsoffensive setzte auch wirklich im Westen am 9. Mai bei
Loos und der
Loretto-Höhe ein und wurde außerordentlich heftig bis Mitte Juni
geführt, brachte aber der Entente keine Erfolge, nur starke Verluste, die
allerdings auch auf deutscher Seite nicht unerheblich waren.
Näher und näher kam der Augenblick, in dem der treulose
Bundesgenosse südlich der Alpen offen auf Seite der Feinde treten sollte.
Die Sehnsucht der
österreichisch-ungarischen Heeresleitung, ihm im frischen Draufgehen von
vornherein einen kräftigen Denkzettel zu geben, war zu verstehen; sie
paßte nur nicht in die augenblickliche Lage. Die deutsche Oberste
Heeresleitung hatte Mühe, das k. u. k. Oberkommando davon
abzubringen, schon vor der Kriegserklärung Kräfte in den Becken
von
Villach - Klagenfurt und von Laibach mit der Absicht zu
versammeln, den aus dem Gebirge zum Vormarsch gegen die Donau sich
mühsam entfaltenden Feind überraschend beim Austritt in die
Becken zu fassen. Selbst wenn noch vor Ende Mai die Kriegserklärung
Italiens erfolgen sollte, so war [54] nach Falkenhayns Ansicht bis zur Beendigung
des Aufmarsches und dem Vordringen durchs Gebirge noch lange Zeit hin; es war
noch dazu unwahrscheinlich, ob die Italiener in diese Falle gehen würden.
Unnötig starke Kräfte wären vorzeitig festgelegt worden, die
für die Mittelmächte bei ihrer zahlenmäßigen
Unterlegenheit einen Kräfteausfall an wichtiger Stelle bedeuteten, den sie
nicht ertragen konnten. Kam der Feind aber nicht, so hätten diese
österreichisch-ungarischen Kräfte selbst aus ihrer Lauerstellung
heraus und Gefahr laufen müssen, daß die Italiener über sie
herfielen, wenn sie aus dem Gebirge in die Provinz Udine hinabstiegen.
Die deutsche Oberste Heeresleitung schlug daher vor, da eine ernstliche
Bedrohung seitens der Italiener nicht vor Juli zu erwarten war, vorerst einen
starken Schlag gegen Serbien und Montenegro zu führen, um den Weg
nach der Türkei zu öffnen und dadurch auch in wirtschaftlicher
Beziehung Vorteile zu erzielen. Sie wollte die Rückenfreiheit für die
später einsetzende Operation gegen Italien zweckmäßig in der
Zwischenzeit gewinnen. Dieser Plan zerschlug sich aber, da er auf der Mitwirkung
der Bulgaren aufgebaut war und diese sich noch nicht zum Mitgehen
entschließen konnten.
Die k. u. k. Heeresleitung kam darauf wieder auf ihren Plan zurück, eine
entscheidende, aber mit den Deutschen gemeinsame Offensive gegen Oberitalien
zu unternehmen. Diesem Vorschlag hielt die deutsche Oberste Heeresleitung
entgegen, daß die 20 Divisionen, die nach dem Urteil der
k. u. k. Heeresleitung höchstens in Galizien und Syrmien
für eine Offensive verfügbar gemacht werden konnten, nicht
ausreichten, um in dem schwierigen Gebirgsgelände an der
österreichisch-italienischen Grenze mit Sicherheit einen Sieg zu erringen,
und daß deutsche Westdivisionen nicht verfügbar wären. Sie
empfahl, sich gegen Italien unmittelbar an der italienischen Grenze auf reine
Abwehr einzustellen, wozu nur verhältnismäßig schwache
Kräfte nötig seien, und die Offensive gegen die Italiener auf
später zu verschieben.
Am 22. Mai, also 2 Tage vor der italienischen Kriegserklärung,
erklärte sich die k. u. k. Heeresleitung mit Rücksicht
auf die noch nicht abgeschlossene Operation in Galizien damit einverstanden,
gegen Italien vorerst in der Defensive zu bleiben und diese am Isonzo
durchzuführen, wünschte aber die Entsendung auch einer deutschen
Division an die
Isonzo-Front, da sie sich von einem Auftreten deutscher Truppen an der
italienischen Grenze einen günstigen Einfluß auf Freund und Feind
versprach. - Die Italiener erklärten am 24. Mai nur der
Doppelmonarchie den Krieg; der deutschen Obersten Heeresleitung tauchten nun
doch Bedenken auf, deutsche Truppen am Isonzo in Erscheinung treten zu lassen,
da ihr bekannt war, daß Rumänien nur für den Fall, daß
Italien von Deutschland angegriffen würde, vertragsmäßig auf
italienischer Seite eingreifen müsse. Auch hatte der Zustand ohne
Kriegserklärung zwischen Deutschland und Italien insofern seine Vorteile,
als der Verbindungsweg für Einfuhr von Italien nach [55] Deutschland - und somit auch für
Österreich-Ungarn - zunächst noch offen blieb; angesichts der
von der Entente rücksichtslos durchgeführten Blockade ein nicht zu
unterschätzender Faktor! Die Oberste Heeresleitung begnügte sich
daher mit der Entsendung des Alpenkorps nach Tirol und einiger schwerer
Batterien an die
Isonzo-Front, also an Stellen, wo sie der Lage nach nicht so bald mit den
italienischen Truppen in unmittelbare Fühlung kommen konnten.
Inzwischen erforderte die Lage an der Durchbruchsfront in Galizien neue
Entschlüsse. Der russische Widerstand hatte sich durch die
Heranführung von Divisionen nicht angegriffener Fronten zusehends
verstärkt, die Operation schien ins Stocken zu geraten. Unabgeschlossen
konnte die Lage nicht bleiben. Sollte die Bewegung wieder in Fluß
kommen, so mußten frische Kräfte herangeführt werden. Das
bedeutete, da
österreichisch-ungarische Truppen nicht verfügbar waren, für
den deutschen Westen zwar eine starke Herabsetzung der Heeresreserven, die
nach Abweisung der feindlichen Angriffe aber allenfalls entbehrlich schienen. Nur
die 11. Armee und der rechte Flügel der k. u. k. 4. Armee
hatten den San erreicht; der nördliche Teil der k. u. k. 4.
Armee lag fest, nördlich der Weichsel wurden die verbündeten
Armeen sogar durch russische Gegenangriffe in Schach gehalten; die
k. u. k. 3. Armee, ebenso wie ihre rechten
Karpathen-Nachbarn, kamen nicht mehr vorwärts, so daß
Generaloberst v. Mackensen Befehl erhielt, durch Vorstoß in
südöstlicher Richtung den Nachbararmeen rechts das Vorkommen zu
erleichtern. Am 24. Mai, dem Tage der italienischen Kriegserklärung,
gelang ihm bei Radymno der Durchbruch, der aber den erhofften Erfolg auch
noch nicht brachte. Kostbare Zeit war schon verstrichen, der Mangel an Reserven
machte sich fühlbar; die tapferen Durchbruchsdivisionen konnten nicht
dauernd gegen frische russische Divisionen aufkommen. Der Oberbefehlshaber Ost
erklärte sich nicht imstande, die
Armee-Abteilung Woyrsch mit drei bis vier Divisionen der Ostfront zu
verstärken, um den Gegner zu werfen, zur Weichsel durchzudringen, mit
dem Feinde zusammen das rechte
Weichsel-Ufer zu gewinnen und damit die Russen zum Aufgeben der
San-Linie zu zwingen. Er meldete, daß er für diese an sich
aussichtsreiche Operation keine Kräfte verfügbar habe, da erhebliche
Abgaben nach dem eigenen linken Flügel notwendig geworden
wären.
So schwierig die Lage im Westen war, wo sich bei Loos und der
Loretto-Höhe ernste Kämpfe entwickelt hatten, sah sich nun die
Oberste Heeresleitung doch gezwungen, weitere Heeresreserven des
Westkriegsschauplatzes heranzuziehen, um die
Gorlice-Operation zum Abschluß zu bringen. Przemysl war mit
Unterstützung der 11. Armee von Verbänden der 3.
k. u. k. Armee zum Teil genommen; die Nachrichten über
auffallenden Munitionsmangel bei den Russen, der ihre an sich schon
geschwächte Widerstandskraft weiter heruntersetzte, veranlaßte die
Oberste Heeresleitung, die Fortsetzung der Operation über die
Dnjestr-Wiznia-San-Linie bis zur Einnahme von Lemberg zu befehlen.
Zweieinhalb Divisionen [56] des Westens, zwei Divisionen des
Oberbefehlshabers Ost und zwei der in Syrmien gehaltenen Divisionen bildeten
den Zuwachs, mit dem General v. Mackensen in schweren, von Abschnitt
zu Abschnitt vorschreitenden Kämpfen bis über Rawa Ruska
durchbrach. Die Nachbararmeen kamen dadurch auch in Fluß; die
Südarmee und Teile der k. u. k. 2. Armee erzwangen die
Dnjestr-Linie, die nunmehr auch die 7. Armee in der Bukowina erreichen konnte.
Vor der, die linke Flanke der Durchbruchsgruppe deckenden k. u. k.
4. Armee wich der Feind vom San hinter den Tanew.
Am 22. Juni fiel Lemberg in österreichisch-ungarische Hände
zurück. Die Russenfront war durchbrochen, ein großer leerer Raum
klaffte auf russischer Seite in Wolhynien. Ein gewisser Abschluß war somit
erreicht, und General v. Falkenhayn befahl den Abtransport von vier
Divisionen nach dem Westen, da er den Truppen des Westheeres eine Entlastung
durch diese dort entnommenen und jetzt dringend notwendig gewordenen
Kräfte nicht länger vorenthalten zu dürfen glaubte. Ein
für seine Zwecke ausreichender Erfolg war erzielt; für den
italienischen Kriegsschauplatz waren
österreichisch-ungarische Truppen verfügbar geworden; die Russen
hatten stark gelitten und waren zunächst zu größeren
Unternehmungen nicht mehr fähig.
General v. Conrad
und General v. Mackensen konnten sich mit diesem
Abschluß aber nicht abfinden; die Russen waren nur
auseinandergesprengt - jetzt mußte die Frucht des Sieges erst reifen,
die russische Niederlage besiegelt werden. Durch Fortsetzung der Operation
zwischen Bug und Weichsel sollte die ganze Westfront der Russen ins Wanken
gebracht werden, während der abgerissene Südostheeresteil weiter
abgedrängt wurde. General v. Falkenhayn gab nach. Über den
Grundgedanken für die Fortführung der Operation einigten sich die
beiden Heeresleitungen rasch. Meinungsverschiedenheiten bestanden nur
über die Art und Weise der Sicherung der rechten Flanke der nach Norden
abschwenkenden Heeresteile. Das k. u. k.
Armee-Oberkommando schlug gestaffeltes Folgen der k. u. k. 2. Armee hinter dem
rechten Flügel der neuen Mackensenschen Heeresfront zum
Schutz gegen etwa neu auftretende Kräfte aus der Gegend
Kowel - Brest-Litowsk vor; die deutsche Oberste Heeresleitung hielt
die Zuteilung der k. u. k. 2. Armee zur Verfolgungsgruppe
Südosten für notwendiger und glaubte, genügend
Flankenschutz dadurch erreichen zu können, daß die
k. u. k. 1. Armee nach Überschreiten der Weichsel mit Bahn
in die Gegend
Radziechow - Sokal gebracht und demnächst gestaffelt am
Bug entlang hinter dem rechten Flügel der 11. Armee folgen würde.
General v. Falkenhayn war über die Gangbarkeit des Gebiets
östlich des Bug nicht richtig informiert; die Karten ließen das
Pripjet-Quellgebiet als schwer passierbar erscheinen. Der Grundwasserstand war
dort aber infolge umfangreicher Abwässerungsanlagen in den letzten Jahren
bedeutend gesenkt worden, so daß das Gelände im
Sommer - besonders im trockenen, heißen Sommer
1915 - fast überall gangbar war.
[57] Von den zum Abtransport nach dem Westen
befohlenen vier Divisionen wurden zwei festgehalten und dem General
v. Mackensen wieder zur Verfügung gestellt, der mit ihnen bis in die
Linie
Grubieszow - Josefow vordrang, wo sich schon recht erheblicher
Widerstand frischer russischer Kräfte fühlbar machte. So glatt also,
wie sich die Oberkommandos Conrad und
Mackensen-Seeckt den Fortgang der großen Ostoperation gedacht hatten,
schien er sich nicht zu vollziehen. Es bedurfte erst einer sicheren Grundlage, auf
der aufgebaut werden konnte, und General v. Falkenhayn entschloß
sich nunmehr, den bis
dahin - vielleicht zum Nachteil für die
Gesamtwirkung - nur für Nebenaufgaben herangezogenen
Oberbefehlshaber Ost in die Hauptoperation einzubeziehen. Der
Oberbefehlshaber Ost hatte sich von Beginn des
Gorlice-Durchbruchs an mit dem Gedanken einer großen Umklammerung
der russischen Kräfte beschäftigt, bei der er seinerseits von Norden
her über
Kowno - Wilna vorbrechen und die russische Front nach
Süden aufrollen wollte. Der Mangel an Kräften hatte ihm bisher
Schranken auferlegt; doch hatte er immerhin die Grundlagen für eine
derartig große Operation mit den ihm zur Verfügung stehenden
geringen Mitteln bereits geschaffen, indem er seinen linken
Flügel - Njemen-Armee - bis Ende Juni trotz fortdauernd
wachsenden russischen Widerstandes über die Dubissa vorgeschoben und
die Gegend bei und südöstlich Libau besetzt hatte.
Eine Mitwirkung des Oberbefehlshabers Ost auf dem polnischen Kriegsschauplatz
erschien der Obersten Heeresleitung als die einzige Möglichkeit, um die
Operation des Feldmarschalls v. Mackensen zu einem günstigen
Abschluß zu bringen. Sie befahl ihm daher am 29. Juni, zum Zweck eines
Durchbruchs entweder längs der Pilica oder bei und unterhalb Ossowiec
seine dortigen Fronten unter Schwächung der Warschauer Front zu
verstärken. Der Oberbefehlshaber Ost sträubte sich hiergegen und
hob hervor, daß ihm fast auf seiner ganzen Front überlegene
feindliche Kräfte gegenüber ständen; ein Durchbruch bei der
9. Armee würde auf mehrere stark ausgebaute russische Stellungen
stoßen; unterhalb Ossowiec sei ein Durchbruch wohl möglich,
würde aber nur bis in die Linie
Plonsk - Pultusk führen und die Fortnahme der Festung
Nowo-Georgiewsk notwendig machen, wozu schwerste Artillerie erforderlich
wäre. Ein solcher Angriff würde wohl an sich wirksam, aber nicht
ausschlaggebend für die
Mackensen-Operation sein. Bei Ossowiec böte das Gelände zu
große Schwierigkeiten, um in Richtung Bilaystok durchzukommen;
ebensowenig ratsam sei ein Durchbruch südlich Kowno. Ein
durchschlagender Erfolg könne nur mit einer verstärkten 10.
(Njemen-) Armee errungen werden, besonders wenn auch noch die Festung
Kowno bei dieser Gelegenheit genommen würde. Trotz der großen
Entfernung vom Schauplatz der Hauptentscheidung würde diese doch durch
den Einsatz von starken Kräften bei der 10. Armee mehr beeinflußt
werden als durch unmittelbare Zuführung von Verstärkungen auf
polnischem Boden.
So standen Ansicht und Ansicht schroff gegeneinander. Die Oberste
Heeres- [58] leitung war bei der Ausdehnung des russischen
Kriegsschauplatzes mehr für ein engeres
Zusammenwirken - für eine Operation mit beschränktem
Ziel; der Oberbefehlshaber Ost dagegen faßte die Entscheidung im
Osten und die Vernichtung der Russen durch ein Aufrollen der russischen
Kräfte von ihrem rechten Flügel aus ins Auge. Ob sich dieses Ziel
mit den immerhin doch nur geringen verfügbaren Kräften wirklich
hätte erreichen lassen, muß dahingestellt bleiben. Die Energie, mit
der der Oberbefehlshaber Ost den einmal gefaßten Entschluß noch vor
dem Winter zum Austrag bringen wollte, ließ einen vollen Erfolg wohl
erwarten. Die Oberste Heeresleitung konnte sich jedoch zu diesem gewagten
Unternehmen nicht entschließen; da auch der Oberbefehlshaber Ost von
seinem Standpunkt nicht abgehen wollte, mußte Seine Majestät der
Kaiser am 2. Juni in Posen die Entscheidung treffen und wählte Falkenhayns Vorschlag.
Aber auch dieses Unternehmen verlangte Zeit und Vorbereitung. Diese Zeit war
für die Russen Gewinn; in die Bresche in Wolhynien schoben sie frische
Divisionen von anderen Fronten und legten zwischen Weichsel und Bug unter
äußerster Anspannung aller Kräfte, auch der
Bevölkerung, Aufnahmestellung hinter Aufnahmestellung an. Die
Gefährdung des rechten Flügels der Gruppe Mackensen durch die
Russen bei Wladimir Wolynsk erforderte für die Fortführung der
Operation nach Norden, die nach einem
österreichisch-ungarischen Rückschlag bei Hrzedow auch noch
besondere Vorbereitungen nötig machte, den weitestgehenden Ausbau des
Flankenschutzes. Für ihn reichte die Kraft der k. u. k. 1. Armee
nicht aus. Eine aus acht deutschen
Infanterie- und zwei deutschen Kavallerie-Divisionen zusammengesetzte
neugebildete
Bug-Armee unter Befehl des Generals v. Linsingen wurde am 6. Juli mit dieser Aufgabe betraut, konnte aber erst Mitte Juli verwendungsbereit sein. Die
Führung der Südarmee, der neben den
österreichisch-ungarischen noch zwei deutsche
Infanterie-Divisionen verblieben, übernahm der bayerische General Graf
Bothmer. Die in die Gegend von Sokal übergeführten Kräfte
der k. u. k. 1. Armee, die noch durch deutsche Truppen
verstärkt wurden, erhielten den Auftrag, über den Bug auf
Wladimir-Wolynski vorzustoßen und nebenbei die
Bug-Linie bis Mosty Wielki zu decken, während die k. u. k. 2.
und die Südarmee sich zum Angriff nach Osten bereit hielten.
Die so angesetzte Zange begann am 13. Juli sich zu schließen. Entsprechend
dem Befehl des Oberbefehlshabers Ost brach General v. Gallwitz mit
seiner Armee über Prasnysz gegen die Linie
Nowo-Georgiewsk - Skwa-Mündung in breiter Front durch
und stand am 20. Juli noch etwa 10 km vom Narew ab, als sich der
Widerstand der Russen zu festigen begann. Der Oberbefehlshaber Ost hielt eine
Zuführung von zwei weiteren Divisionen der 9. Armee für
ausreichend zur Fortführung der
Narew-Operation. Das Hauptgewicht legte er unverrückbar nur auf seinen
linken Flügel. Von seiner Absicht, daß die Umfassung des russischen
Nordflügels doch dereinst die Entscheidung bringen müsse, ging er
nicht ab und [59] ließ am 14. Juli den linken Flügel
der
Njemen-Armee über Windau auf Mitau angreifen, der am 18. Juli vor dem
zum Schutze Mitaus angelegten Befestigungen stand. Am 20. Juli griffen die
Hauptkräfte der
Njemen-Armee beiderseits Szawle an; die Russen wurden arg zerzaust und gegen
die Düna auf
Jakobstadt - Friedrichstadt zurückgedrängt. Dieser
gelungene Seitenhieb gab dem Oberbefehlshaber Ost Bewegungsfreiheit, mit den
Hauptkräften der
Njemen-Armee unter Abschluß von Kowno im Nordwesten über
Kiejdany auf Janow abzuschwenken und die Masse ihrer Kavallerie über
die Bahn
Kowno - Wilna hinweg auf Wilna anzusetzen.
Wieder stießen die beiden entgegengesetzten Auffassungen der Obersten
Heeresleitung und des Oberbefehlshabers Ost heftig aufeinander. Der starke
russische Widerstand an der
Narew-Front konnte die für die Mackensen-Offensive erhoffte Entlastung
vereiteln, und doch bedurfte seine Heeresgruppe dringend der Hilfe, da die
Russen gerade vor der Front der k. u. k. 4. Armee und der deutschen
11. Armee ihre Hauptkräfte zusammengezogen hatten. Alle Kräfte,
auch die der k. u. k. 1. Armee wurden von Mackensen schon auf
dem linken
Bug-Ufer zur Durchführung der Operation zusammengezogen. Nur mit
einem Durchbruch der
Narew-Armee glaubte die Oberste Heeresleitung der Heeresgruppe Mackensen
unmittelbar eine Entlastung bringen zu können. Mit zwei weiteren aus der
Front der 9. Armee herausgezogenen Divisionen (die dort verfügbar
wurden, da die Russen infolge des Durchbruchs der
Armee-Abteilung Woyrsch auf Iwangorod an der Warschauer Front
nachließen) meinte der Oberbefehlshaber Ost, die
Narew-Armee genügend stark zu machen, um die
Narew-Linie zu erzwingen. Die von der Obersten Heeresleitung aber aus dem
Westen herangeführten zwei weiteren Divisionen wollte der
Oberbefehlshaber Ost unbedingt bei der
Njemen-Armee eingesetzt wissen, um die von ihm erfolgreich begonnene
Operation in Fluß zu halten. Die Oberste Heeresleitung erkannte die
Wichtigkeit des Einsatzes der beiden Divisionen bei der
Njemen-Armee wohl an, mußte aber auf der Ansicht beharren, daß
zur Herbeiführung einer schnellen Entscheidung auf dem polnischen
Kriegsschauplatz ihr Einsatz bei Gallwitz dringender wäre, zumal bald
Kräfte von dieser Front zur Durchführung der auf dem Balkan noch
vor dem Herbst in Aussicht genommenen Operation gegen Serbien gebraucht
würden.
Die Oberste Heeresleitung drang nicht durch. Die Armee Gallwitz erzwang sich,
wie die Oberste Heeresleitung vermutet hatte, zwar mit drei Divisionen am 24.
Juli den Übergang über den Narew, kam dann aber nur Schritt vor
Schritt vorwärts und brachte somit der schwer ringenden Heeresgruppe
Mackensen noch keine Erleichterung. Ihr kam von anderer Seite Hilfe. Dem
bewunderungswürdigen Zufassen der verhältnismäßig
schwachen, auf großen Raum ausgedehnten
Armee-Abteilung Woyrsch war der Abbau der Russen vor Warschau zu
verdanken. Sie, die nach dem Wunsche des k. u. k. Oberkommandos
durch [60] Weichsel-Übergang oberhalb Iwangorod
der k. u. k. 4. Armee unmittelbar helfen sollte, war mit Zustimmung
des Oberkommandos Mackensen schließlich auf Befehl der Obersten
Heeresleitung auf den Übergang über die Weichsel an der
Radomka-Mündung - also weit unterhalb Iwangorod und im
Rücken der russischen Armee - angesetzt und erzwang den
Weichsel-Übergang am 29. Juli angesichts des Feindes.
Nun zog sich der Halbkreis um die Russen in Polen immer enger; im Süden
und Nordwesten aber hielten sie ihre Fronten noch hartnäckig; daß
sie nicht dauernd in dieser Lage stehen bleiben konnten, war klar. Es handelte sich
aber für sie darum, die am weitesten nach Westen geschobenen
Kräfte möglichst ungeschädigt aus dem Bogen herauszuziehen
und dann mit der
Nordwest- und der Südfront in Polen nach Osten
zurückzuschwenken. Die
Weichsel-Linie gab der russischen Mittelgruppe die Möglichkeit, sich
loszulösen, die sie auch geschickt benutzte. Der Oberbefehlshaber Ost
ließ sich in einem Schreiben vom 26. Juli an die Oberste Heeresleitung
über die Ostlage aus, beurteilte die Stoßkraft der Heeresgruppe
Mackensen als erschöpft, hielt einen Übergang über die
Weichsel angesichts des Gegners für ausgeschlossen, glaubte, daß die
Armee
Gallwitz - auch wenn sie verstärkt würde - niemals die
Niederwerfung der feindlichen Heeresmacht erzwingen könne; nur ein
Vorgehen der verstärkten 10. Armee und
Njemen-Armee gegen die russischen Verbindungen verspräche jetzt Erfolg.
Die Verstärkungen müßten der Heeresgruppe Mackensen, der
Armee-Abtelung Woyrsch und der 9.
Armee - letzterer nach Durchführung ihres Angriffs auf
Warschau - entnommen werden.
Die Oberste Heeresleitung aber ließ sich auch jetzt noch nicht zu einem
Abgehen von dem einmal gefaßten Entschluß bringen. Sie befahl am
30. Juli unter Widerlegung der von Oberbefehlshaber Ost angeführten
Gründe die Fortführung der im Gange befindlichen Operation, wobei
die Stoßgruppe Gallwitz auf dem rechten
Bug-Ufer möglichst schnell vordringen und auch Teile der
Njemen-Armee auf dem östlichen Njemen-Ufer vorgeschoben werden
sollten. Die Armee Gallwitz erhielt für diese Aufgabe Unterstützung
durch den rechten Flügel der 8. Armee, dem es gelungen war, den Narew zu
überschreiten und dem der Oberbefehlshaber Ost nun sofort
Verstärkungen zukommen ließ.
Den Wunsch der Obersten Heeresleitung, diese Verstärkung durch
Heranführung von zwei Divisionen der 9. Armee zu verdoppeln, lehnte der
Oberbefehlshaber Ost mit der Begründung ab, daß diese Kräfte
für den Fall, daß die Russen vor Warschau räumen sollten,
besser zum Einsatz bei der 10. Armee gegen die Festung Kowno zu verwenden
seien, deren Fortnahme sowieso schon angeordnet wäre. Die
Njemen-Armee kam zu dem ihr befohlenen Stoß auf Janow nicht, da die
Russen unterdes ganz erhebliche Verstärkungen von der Düna her in
Richtung Poniewice in die wankende Front hineingeworfen hatten und dem
Vormarsch der
Njemen-Armee starken Widerstand entgegensetzten.
[61] Die Heeresgruppe Mackensen hatte sich
inzwischen bei fortdauernder Umgruppierung ihrer Kräfte mit der
Zurückdrängung des hinter starken Aufnahmestellungen Schutz
suchenden und Kilometer für Kilometer langsam weichenden Feindes
abgequält; ihre Stoßkraft war in der Tat nur noch gering, und
trotzdem gelang es ihr, am 29. Juli mit der 11. Armee die feindliche Front in
einer Breite von 15 km zu durchbrechen. Dieser Erfolg, verbunden mit dem
glänzenden
Weichsel-Übergang der Armee-Abteilung Woyrsch, veranlaßte die
Russen zum Rückzug bis in die Linie
Wlodawa - Iwangorod, die sie zunächst unter Schutz gegen
den von Woyrsch geschaffenen Brückenkopf noch halten zu wollen
schienen. Der Angriff auf diese Stellung, mit der Absicht, sich möglichst
rasch in Besitz der Bahnlinie
Warschau - Brest-Litowsk zu setzen, kam nicht mehr zur
Ausführung, da die Russen in der Nacht vom 8. zum 9. August die Stellung
räumten und in nordöstlicher Richtung unter Nachhutkämpfen
abzogen. Während die k. u. k. 1. Armee in Gegend Dubienka,
die
Bug-Armee bei Wlodawa am Bug die Flanke schützten, folgten die
deutsche 11. und die k. u. k. 4. Armee dem weichenden Feinde bis in
Richtung
Brest-Litowsk und gewannen östlich Lukow Anschluß an die
ebenfalls in nordöstlicher Richtung verfolgende
Armee-Abteilung Woyrsch; mit dieser hatte die bei Warschau am 9. August
über die Weichsel gegangene 9. Armee Fühlung bekommen, deren
linker Flügel sich östlich Sokolow dem Bug näherte. Eine
unter Befehl des Generals v. Beseler neu zusammengestellte
Armee-Abteilung schloß Nowo-Georgiewsk ein, während die
Armeegruppe Gallwitz (12. Armee) nördlich des Bug in Richtung Bielsk
dem ebenfalls vor ihr abbauenden Feinde folgte.
Der Bogen war fast ausgebeult; in meisterhafter Weise hatten die Russen wieder
eine Rückzugsoperation durchgeführt, wenngleich sie auch
beträchtliche Abgänge zu verzeichnen hatten.
Die Absicht des k. u. k. Armee-Oberkommandos vom 9. August, die
Russen vor der 11. und der k. u. k. 4. Armee am Entkommen nach
Osten zu hindern und mit starkem rechtem Flügel über
Brest-Litowsk nach Nordosten nachzustoßen, während die 8. und 12.
Armee auf Siedlce und östlich angriffen, um die Russen noch westlich der
Pripjet-Sümpfe vernichtend zu schlagen, war gut, wurde aber durch
schleunigen Abzug der Russen zunichte gemacht. Auch der Plan der Obersten
Heeresleitung, den Feind nun noch zwischen mittlerem Bug und Narew zu stellen
und dazu die Heeresgruppen Mackensen und Prinz Leopold
(Armee-Abteilung Woyrsch und 9. Armee) in nördlicher Richtung, die 12.
Armee auf Bielsk durchbrechen zu lassen, führten infolge geschickten
Ausweichens des Feindes unter zähem Widerstand gegen die
Heeresgruppen Prinz Leopold und Mackensen zu keinem vernichtenden Schlage
mehr. Die 12. Armee erreichte bis zum 13. August die Gegend von Ciechanow am
Nurez, die 8. Armee den
Sline-Abschnitt in frontalem Nachdrängen, und so sah sich der
Oberbefehlshaber Ost am selben Tage zu einem [62] erneuten Antrage an die Oberste Heeresleitung
veranlaßt, eine Verstärkung seines linken Flügels
vorzunehmen, in dessen Offensive gegen Flanke und Rücken des Feindes
er, wie immer bisher, die einzige Möglichkeit zu dessen Vernichtung
erblickte.
Die Oberste Heeresleitung antwortete am 14. August:
"Eine Vernichtung des Feindes ist von
den laufenden Operationen im Osten nie erhofft worden, sondern lediglich ein den
Zwecken der Obersten Heeresleitung entsprechender entscheidender Sieg. Die
Vernichtung im ganzen durfte im vorliegenden Falle auch nicht angestrebt werden;
es fehlten einfach die Grundbedingungen dafür, denn man kann einen der
Zahl nach weit überlegenen, frontal gegenüberstehenden Gegner
nicht zu vernichten streben, der über vorzügliche Verbindungen,
beliebige Zahl und unbeschränkten Raum verfügt, während
man selbst im eisenbahnlosen, wegearmen Gelände mit enger
Zeitbegrenzung zu operieren gezwungen ist. Daß der Feind aber jetzt schon
für unsere Zwecke entscheidend geschlagen ist, wird niemand bezweifeln,
der sich vergegenwärtigt, daß die Russen in drei Monaten etwa
750 000 Mann allein als Gefangene, ungezähltes Material, neben
Galizien das Königreich Polen und das Herzogtum Kurland, endlich die
Möglichkeit verloren haben,
Österreich-Ungarn während der Einleitung des italienischen Krieges
oder überhaupt in absehbarer Zeit ernstlich zu bedrohen, sowie die andere,
ihre
Odessa-Armee im kritischen Moment am Balkan einzusetzen. Es besteht ferner
einige Aussicht, daß sich die Ergebnisse der Operation noch erhöhen,
da es gelungen ist, in den Raum zwischen Bialystok und
Brest-Litowsk nicht weniger wie fünf gründlich geschlagene
feindliche Armeen zu drängen.
Freilich wäre die Operation vermutlich noch
entscheidender verlaufen, wenn es möglich gewesen wäre,
gleichzeitig mit ihr einen Stoß über den Njemen zu führen. Die
Oberste Heeresleitung verfügte aber über keine Kräfte
hierfür, und Eure Exzellenz hielten die Verwendung der
Njemen-Armee in Kurland für notwendiger..."
Kräfte aus dem Westen konnte die Oberste Heeresleitung nicht
verfügbar machen und lehnte auch vor Abschluß der Operation
Verstärkungen aus den Heeresgruppen Mackensen und Prinz Leopold ab,
obwohl die 10. Armee schon in schnell vorschreitendem Angriff auf Kowno
stand.
Die Verfolgung zwischen Bug und Narew nahm unter erheblichem feindlichen
Widerstand ihren Fortgang. Am 16. August teilte die Oberste Heeresleitung der
Heeresgruppe Mackensen mit, daß die Verfolgung des Gegners über
die allgemeine Linie
Brest-Litowsk - Grodno zur Zeit nicht beabsichtigt sei, es sei denn,
daß begründete Hoffnung bestände, durch einen kurzen
Nachstoß über die genannte Linie dem Feind noch erheblichen
Nachteil zuzufügen. Maßnahmen größeren Stils oberhalb
Brest-Litowsk über den Bug hinweg würden aus dem Rahmen der
Gesamtoperation fallen.
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