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Bd. 1: Der deutsche Landkrieg, Erster Teil:
Vom Kriegsbeginn bis zum Frühjahr 1915

Kapitel 7: Der Krieg im Herbst und Winter im Osten   (Forts.)
Oberst Friedrich Immanuel

3. Der zweite Feldzug in Polen im Herbst 1914.   (Forts.)

Der Durchbruch nach Brzeziny.

In der Nacht zum 23. November trat starker Frost bis zu -10 Grad ein. Die deutschen Truppen litten an Verpflegungsmangel. Die Unterkunft war dürftig. Das Wasser in den Maschinengewehren gefror. Die Lage beim XXV. Reservekorps und den ihm zugeteilten Truppen begann bedenklich zu werden.

Auch die Russen empfanden die Unbilden der Witterung. Sie wurden unaufmerksam und drängten nicht nach. Hätten sie rücksichtslos zugegriffen, so wäre der Untergang der dem General v. Scheffer unterstellten Truppen sicher gewesen. So aber war es möglich, daß die Truppen sich unbemerkt vom Feinde loslösen konnten, und daß der erste, höchst anstrengende Nachtmarsch ungestört verlief. Selbst alle Verwundeten konnten verladen und mitgeführt werden - bei den beiden Divisionen des XXV. Reservekorps allein 1400, eine glänzende Leistung.

Der sonnenhelle, frostklare Morgen des 23. November enthüllte den Russen die Lage. Sie eröffneten Artillerie-Streufeuer auf die weitesten Entfernungen, [497] um das geordnete Abfahren der Wagenkolonnen zu stören. Nicht ohne Mühe gelang es, durch Abdrehen der Fahrzeuge über die gefrorenen Felder der Gefahr zu entgehen.

Die 5. Garde-Infanterie-Brigade deckte bei Wardzyn am westlichen Ufer der Miazga die Südflanke, hielt den Feind in Schach und folgte ungestört bei Karpin über die Miazga. Die 6. Garde-Infanterie-Brigade löste sich bei Feliksin vom Feinde ab, machte sich im Walde bei Gora Zielona den Weg frei und überschritt nördlich Karpin auf einer Furt, deren Eis brach, mit großer Mühe die Miazga.

Brzeziny war das gemeinsame Ziel für die dem General v. Scheffer unterstellten Truppen. Dieser Führer gab ein überragendes Beispiel der Ruhe und Zuversicht, das sich auf Unterführer und Mannschaften übertrug und sie veranlaßte, in der an sich verzweiflungsvollen Lage den Mut nicht zu verlieren. Vor allem kam es darauf an, jeder Unordnung vorzubeugen und die zum Teil stark durcheinander geratenen Verbände, Bagagen, Fuhrkolonnen zu entwirren.

Die Truppen wurden in folgender Weise angesetzt:

  1. Die 6. Kavallerie-Division deckt den Rückzug nach Süden, die 9. Kavallerie-Division nach Osten hin;
  2. die 50. Reserve-Division geht längs der Eisenbahn nordwärts,
  3. die 49. Reserve-Division über Borowo,
  4. die 3. Garde-Infanterie-Division durch die Wälder westlich Borowo auf Galkow zurück;
  5. die ½ 41. Infanterie-Division, noch 4 Bataillone und 5 Batterien stark, folgt der 50. Reserve-Division als Reserve des Generalkommandos, nachdem sie aus den Beständen des XXV. Reservekorps die Munition ergänzt hat.

Die Russen folgten sehr behutsam und beschränkten sich darauf, die abziehenden deutschen Kolonnen durch Artilleriefeuer zu belästigen, während die deutschen Nachhuten das Nachdrängen des Feindes wirksam aufhielten. Bereits gegen 9,30 Uhr morgens hatten alle Teile des verstärkten XXV. Reservekorps die Miazga überschritten und die Marschrichtung nach Norden hin gedreht.

Die Vorhut der 49. Reserve-Division, die durch das 6 Kilometer lange, beiderseits von Wäldern eingefaßte Dorf Borowo ging, bestand aus 6 Kompagnien Reserve-Regiments 227, 2 Feldbatterien und 1 schwere Feldhaubitz-Batterie unter General v. Saucken. Kaum hatte die Vorhut, die sehr weit über die Höhe der Nachbarkolonnen hinausgekommen war, den hohen Damm der Nebenbahn Koluszki - Lodz überschritten, als sie von großen Massen angegriffen wurde. Der Feind entfesselte ein gewaltiges Artilleriefeuer, mehrere Schwadronen Dragoner und Kosaken ritten zur Attacke gegen Flanken und Rücken der Vorhut an. Zwar brach sich der Reitersturm unter den schwersten Verlusten am [498] Schnellfeuer der Deutschen, allein einige Schwärme durchjagten die deutschen Batterien, während die russische Artillerie ein verheerendes Massenfeuer in das Dorf Borowo sandte, wo auf der schnurgeraden, breiten Straße die Gefechtsbagagen gedrängt standen. Es entstand deutscherseits eine gefährliche Verwirrung. Der Divisionskommandeur, General v. Waenker, fiel. Da ließ General v. Thiessenhausen, der den Befehl übernahm, drei Bataillone des Gros, die soeben eingetroffen waren (I. Bataillon Infanterie-Regiments 228, III. Bataillon Infanterie-Regiments 225, II. Bataillon Infanterie-Regiments 227) unter Major Donalies westlich des Dorfes bis zur Spitze der Vorhut vorstoßen. Östlich des Dorfes drang Oberst v. Kamptz, der bis dahin die Nachhut der 49. Reserve-Division geführt hatte, mit zwei Bataillonen Reserve-Regiments 228 nach dem gleichen Ziele vor. Inzwischen war jedoch die bisherige Vorhut dem Angriff einer russischen Division zum Opfer gefallen. Die Russen hatten die schwache Vorhut der 49. Reserve-Division mit einer vollen Division angegriffen. Nach zehnstündigem Widerstande ging den Deutschen die Munition aus. Geschütz nach Geschütz mußte schweigen. Nach Einbruch der Dunkelheit stürmten die Russen den Bahndamm und setzten sich in den Besitz der kampfunfähigen deutschen Geschütze, neben welchen die letzten Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften gefallen waren. Nur wenige Reste der Vorhut entkamen der Vernichtung. Hiermit schien dem XXV. Reservekorps und den ihm zugeteilten Verbänden der Weg nach Brzeziny, hiermit die Wiedergewinnung des Anschlusses an die Kameraden der 9. Armee, endgültig verlegt zu sein.

Glücklicher focht inzwischen die nur aus 8 schwachen Bataillonen bestehende 50. Reserve-Division. Sie erreichte, dem Korpsbefehl gemäß den Bahndamm der Strecke Piotrkow - Skierniewice entlang gehend, gegen Einbruch der Dunkelheit des 23. November unter fortwährenden Kämpfen gegen russische Truppen, die von Osten her vordrängten, den Bahndamm der Linie Koluszki - Lodz und konnte sich an dieser Stelle für die Nacht behaupten, womit ein entscheidender Schutz für das Korps Scheffer in der rechten Flanke gewonnen war.

Die Lage des Korps Scheffer war trotzdem eine überaus gefährdete. Nach einem Funkspruch de Armeeoberkommandos, der am frühen Nachmittag des 23. November eingelaufen war, hatte das Korps noch am 23. Brzeziny zu erreichen, während das XX. Armeekorps gleichfalls dorthin vorstoßen sollte. Inmitten der scheinbar hoffnungslosen Lage hielt General v. Scheffer das Vertrauen aufrecht, daß der Durchbruch auf Brzeziny trotz des Munitionsmangels und der hochgradigen Erschöpfung der Truppen unter Rettung aller Trains und der Verwundeten gelingen werde, freilich nicht schon am 23. November, was an sich ja nebensächlich war. Daher gab Scheffer gegen 9 Uhr abends im Hauptquartier zu Chrusty Stare folgenden Befehl für den 24. November aus:

       "Angriff wird fortgesetzt. Eisenbahn Koluszki - Lodz ist 6 Uhr vormittags zu überschreiten. Es greifen an:
[499]  1.   50. Reserve-Division scharf rechts umfassend, Richtung östlich Brzeziny;
       2.   49. Reserve-Division geradewegs auf Brzeziny;
       3.   3. Garde-Infanterie-Division Richtung westlich Brzeziny."

Dieser Befehl konnte bei den außerordentlichen Schwierigkeiten der Verbindungen nicht an die 3. Garde-Infanterie-Division kommen. Sie war sich daher selbst überlassen und handelte im Sinne der Lage. Bei ihr fiel die Entscheidung und hiermit zugleich die Rettung des eingeschlossenen Korps Scheffer.

General Litzmann hatte am 23. November vormittags, nachdem der Übergang über die Miazga in der Gegend von Bukowiec glücklich ausgeführt worden war, den Weitermarsch durch den Wald von Galkow in Richtung auf das gleichnamige Dorf angesetzt, das geradenwegs auf Brzeziny nördlich der Eisenbahn liegt. Als Nachhut und zugleich als Deckung der offenen linken Flanke wurden die 3 Abteilungen der 3. Garde-Feldartillerie-Brigade und 2½ Kompagnien des Garde-Grenadier-Regiments 5 bestimmt. Außerdem befanden sich bei der Nachhut die 6000 Gefangenen der Armeegruppe, von einer einzigen schwachen Kompagnie bewacht - die russischen Gefangenen machten keinerlei Befreiungsversuche, obwohl angesichts der hochbedrängten Lage der Deutschen tausendfache Gelegenheit hierzu gewesen wäre, ein Beweis für die Stumpfheit der russischen Volksseele. General Graf Schweinitz, Kommandeur der 3. Garde-Feldartillerie-Brigade, führte die Nachhut.

Um die Mittagsstunde traten die beiden Garde-Brigaden durch den Wald von Galkow an: rechts die 6., links die 5. Die Russen leisteten im verschneiten Gestrüpp den heftigsten Widerstand, wurden aber von den mit vollster Entschlossenheit vordringenden Gardetruppen Schritt um Schritt zurückgeworfen. General Litzmann entschloß sich, nicht auf den Ausgang der Kämpfe bei der 49. und 50. Reserve-Division zu warten, sondern selbständig auf Brzeziny durchzubrechen, geleitet von dem Gedanken, daß durch einen solchen Durchbruch die beiden genannten Divisionen ebenfalls gerettet würden, freilich vielleicht unter Aufopferung der Trains und der Verwundeten. Es war ein aufs äußerste gehender, verantwortungsfroher Entschluß, der ganze Tatkraft und ungemessenes Vertrauen auf die Truppen enthielt, deren Infanterie höchstens noch 4000 Gewehre stark war.

Nachdem durch das Feuer der Artillerieabteilung Ruhstrat ein sehr gefährlicher Angriff der Sibirier gegen die linke Flanke abgewehrt und hiermit einer vorübergehenden Verwirrung unter den Trains vorgebeugt worden war, erstürmte unter persönlicher Führung Litzmanns die Garde-Infanterie und eine Kompagnie Pionier-Bataillons 28, unterstützt durch die auf kürzeste Entfernung feuernde Vorhutbatterie, den Bahndamm und gelangte in das Dorf Galkow. Trotz starker Erschöpfung der Truppen gingen die zur Hand befindlichen Bataillone auf Galkowek weiter und erreichten 3 Uhr morgens die Höhen südlich der Stadt Brzeziny - die Russen hatten, durch die vorangegangenen Kämpfe ebenfalls ermattet und jedenfalls nicht von entschlußkräftiger Hand geführt, den [500] Angriff gegen die zwar langsam sich dahinschleppende, aber sehr willensstarke deutsche Truppe aufgegeben.

Die russische Besatzung von Brzeziny war im höchsten Grade unaufmerksam und offenbar keines Überfalles gewärtig. Die deutsche Garde warf mit der blanken Waffe die schwachen russischen Außenwachen über den Haufen und öffnete den Zugang zur Stadt. Die Russen - Sibirier vom IV. Armeekorps - setzten sich in den Gassen der Stadt zwar zur Wehr, wurden aber im Handgemenge überwältigt und aus dem Orte geworfen. Allein die Sibirier gaben sich mit dieser Niederlage nicht zufrieden, sondern griffen vor Tagesgrauen die Süd- und Ostseite der Stadt im Gegenstoß an und drangen nach Niedermachung der deutschen Außenwachen ein. Ein neuer entscheidungsloser Straßenkampf entbrannte, ein Teil der Stadt ging in Flammen auf. Da nahte deutscherseits im gefährlichsten Augenblick eine rettende Hilfe. Die Kolonne Friedeburg der 3. Garde-Infanterie-Division, die im Waldgefecht den Anschluß an die Masse der Division verloren, hatte sich gerade zur rechten Stunde herangefunden. Sie brachte auch die Batterie mit, die am Abend zuvor am Westrande des Waldes von Galkow zeitweise in der Hand der Sibirier gewesen war. Durch das Eingreifen der Kolonne Friedeburg war mit Ausnahme der an andere Verbände abgegebenen Gardetruppen die ganze, allerdings an Gewehren sehr schwache Infanterie der Division bei Brzeziny vereinigt. Die Stadt wurde behauptet, die Russen zogen sich auf einen Halbkreis zurück, der sie von allen Seiten auf eine außerhalb der wirksamen Infanterieschußweite liegende Entfernung umspannte.

Mit dem Durchbruch der Garde-Infanterie nach Brzeziny war die Lage zwar gebessert, aber noch nicht entspannt. Die Nachhut der 3. Garde-Infanterie-Division unter General Graf Schweinitz, welche fast nur aus Artillerie, Munitionskolonnen, Trains, Verwundeten, Gefangenen bestand und auch nur über sehr schwache Infanterie verfügte, war von ihrer Division getrennt worden, da die Russen nach dem Durchbruch der Garde-Infanterie durch den Bahndamm südlich Galkow die Lücke geschlossen hatten und entschlossen waren, den Durchzug weiterer deutscher Truppen zu verhindern. General Graf Schweinitz konnte es überhaupt nicht wagen, den Weg durch den von Russen wimmelnden Wald einzuschlagen, sondern entschloß sich, nach rechts hin an die 49. Reserve-Division bei Borowo sich heranzuziehen, um mit ihr zusammen den Durchbruch nach Norden zu versuchen, indem er ihr durch seine Artillerie einen gewaltigen Zuschuß an Feuerkraft gewährte.

Bei Tagesanbruch des 24. November war die Lage beim Korps Scheffer in großen Zügen folgende. Am linken Flügel standen 2½ Kompagnien des Garde-Grenadier-Regiments 5 beim Gehöfte "zu Galkow", die südlich der Eisenbahn die linke Flanke gegen den Wald von Galkow deckten. Die 3. Garde-Feldartillerie-Brigade hatte sechs Batterien nördlich Borowo beiderseits der Straße in Stellung gebracht, während die 2. Batterie am Südausgang des [501] Dorfes mit der Schußrichtung gegen Süden stand. Ein Zug der Garde-Füsiliere sperrte bei Bukowiec den Übergang über die Miazga mit der Front nach Westen. Die Infanterie der 49. Reserve-Division lag eingegraben, so gut es in dem hart gefrorenen Boden überhaupt gehen mochte, nördlich Borowo quer über die Straße nach Brzeziny. Die Artillerie der 49. Reserve-Division befand sich nördlich Chrusty Stare in Feuerstellung mit Schußrichtung nach Norden. Die 50. Reserve-Division war im Vorgehen dicht westlich der Hauptbahn Piotrkow - Skierniewice begriffen. Östlich dieser Bahn bewegte sich die der 50. Reserve-Division unterstellte, aus Teilen der 72. Infanterie-Brigade des XX. Armeekorps bestehende Abteilung v. Kunowski nach Norden. Die Verbindung zwischen der 49. und 50. Reserve-Division übernahm II. Bataillon Garde-Grenadier-Regiments 5. Die Rückendeckung des Korps Scheffer war, wie bisher, dem Kavalleriekorps Richthofen übertragen, das mit der 6. Kavallerie-Division bei Karpin, mit der 9. bei Bahnhof Rokiciny stand, beide Divisionen freilich sehr schwach an Karabinern und mit erschöpften Pferden.

Die Russen waren sich der außerordentlichen Vorteile nicht bewußt, welche ihnen die verzweifelte Lage des Korps Scheffer bot. Wohl hatten sie richtig erkannt, daß es sich darum handelte, die Eingeschlossenen zu erdrücken, allein sie ließen es an Entschlußkraft fehlen, nunmehr mit äußerster Tatkraft alle verfügbaren Kräfte zur engsten Einkesselung heranzuführen und so schnell als möglich zu handeln. Sie durften den Deutschen nicht die geringste Bewegungsfreiheit lassen. Mag nun die Kälte auf die Russen lähmend gewirkt, mag die gemeinsame Führung versagt haben, jedenfalls erwiesen sich die Russen nicht als fähig, der kleinen durch die Unbill der Lage aufs äußerste angestrengten deutschen Schar den Rest zu geben. Der Gegensatz zwischen deutscher Führung und Truppenleistung sollte gerade hier mit vollster Deutlichkeit in Erscheinung treten.

Am 24. November 8 Uhr vormittags gab General Graf Schweinitz den Befehl zum Angriff gegen den Bahndamm nördlich Borowo. Die schwache Infanterie der 3. Garde-Feldartillerie-Brigade hatte einen harten Stand und kam der russischen Überlegenheit gegenüber in eine sehr bedrohliche Lage, da die Russen in der Front das Gehöft "zu Galkow" zähe festhielten und von Westen her aus dem Walde Vorstoß über Vorstoß machten. Der Kampf mußte vorwiegend von der deutschen Artillerie geführt werden, die bis auf 1200 Meter sprungweise an den Feind heranging.

Inzwischen hatte auch die 49. Reserve-Division den Angriff begonnen und war, ebenfalls von ihrer Artillerie durch Wirkung auf kürzeste Entfernungen unterstützt, bis nahe an den Bahndamm und die am Wege nach Brzeziny nördlich der Bahn gelegene Höhe 229 herangekommen. Da brachte gerade in der gefährlichsten Lage eine mit außerordentlicher Kühnheit geführte Radfahrerpatrouille des Lehr-Infanterie-Regiments von Brzeziny die Nachricht, daß General Litzmann über den Bahn durchgebrochen sei und Brzeziny erreicht habe. [502] Diese Meldung hob natürlich die Stimmung beim XXV. Reservekorps bis zur Siegesgewißheit, obwohl die Gesamtlage noch immer eine hochgefährdete war.

Mittlerweile hatte die 50. Reserve-Division an der Hauptbahn mit großem Glück gefochten und war in der Lage, auf vorteilhaftester Weise in den Kampf bei Borowo einzugreifen. Die Russen hatten viel zu wenig Wert darauf gelegt, die Deutschen auch von Osten her zu fassen, namentlich ließ sich das starke Reiterkorps Nowikow durch das deutsche Kavalleriekorps Richthofen im Süden bis zur Bewegungslosigkeit binden. Daher konnte die 50. Reserve-Division, die an sich kaum mehr als 1000 Gewehre zählte, mit Hilfe der Abteilung Kunowski auf dem rechten, des II. Bataillons Garde-Grenadier-Regiments 5 auf dem linken Flügel beiderseits des Bahnhofes Koluszki ungestört nach Westen hin einschwenken und sich zum Angriff gegen den linken Flügel der Russen wenden, welche an der Eisenbahn nach Lodz mit der Front nach Süden der 49. Reserve-Division gegenüberstanden. Da die 50. Reserve-Division über volle Artilleriestärke und über ein Bataillon schwerer Feldhaubitzen verfügte, übten diese Artilleriemassen eine gewaltige Wirkung aus und erregten bei den Russen ohne Zweifel die Ansicht, daß hier sehr erhebliche deutsche Kräfte im Anzuge seien. Der Erfolg der deutschen Artillerie war ein durchschlagender: im Süden von der Artillerie der 3. Garde-Infanterie-Division und der 49. Reserve-Division, im Osten von der Artillerie der 50. Reserve-Division, im Rücken von den Batterien der gemischten Abteilung Kunowski gefaßt, wurde die an Zahl wie an Wirkung weit unterlegene russische Artillerie geradezu zerschmettert.

Durch diese vernichtende Artilleriewirkung bekam der Angriff der 49. Reserve-Division Luft. Die Infanterie dieser Division, durch die von Stellung zu Stellung vorgehende Artillerie bestens unterstützt, stürmte die Höhe 229, während von Osten her die 50. Infanterie-Division im Vorgehen war. Um die Mittagsstunde des 24. November war die russische Stellung in deutscher Hand: 8 Geschütze wurden genommen, namentlich aber auch die am Abend zuvor von den Russen erbeuteten deutschen Geschütze wiedergewonnen, da sie noch auf dem alten Flecke standen. Die Russen wichen, von schwerstem Verfolgungsfeuer hart mitgenommen, in Unordnung auf Brzeziny zurück. Das V. sibirische Korps war vollständig geschlagen. Der deutschen Artillerie gebührt der Hauptanteil an diesem Siege. Dem XXV. Reservekorps aber stand der Weg nach Norden hin frei, die Lage war gerettet.

Am 24. November kurz nach Einbruch der Dunkelheit zog das Korps Scheffer in Brzeziny ein, wo sich nunmehr alle dem General v. Scheffer unterstellten Verbände vereinigten. Nur das Kavalleriekorps Richthofen fehlte noch, denn es war mit dem russischen Reiterkorps Nowikow in Fühlung geblieben und langsam vor ihm bis an die Mroga südlich Brzeziny ausgewichen. Nowikow hatte es nicht vermocht, den Durchbruch des Korps Scheffer durch Nachdrängen von Süden her zu stören.

[503] Die dem General v. Scheffer unterstellten Truppen hatten sich durch die sie rings umgebenden russischen Massen durchgeschlagen, kein Geschütz in ihrer Hand gelassen, fast alle Verwundeten geborgen, dafür aber die erstaunlich hohe Zahl von 16 000 Gefangenen und 64 erbeutete Geschütze mitgebracht. Dabei war die deutsche Infanterie nicht mehr als 8000 Gewehre in der Front stark gewesen. Die kleine Schar hatte alle Unbilden des Winters, dem Verpflegungsmangel und der Munitionsknappheit, namentlich aber einer Überzahl von Feinden getrotzt, die bei halbwegs geschickter Führung und besserer Haltung der russischen und sibirischen Truppen dem Gegner den völligen Untergang hätten bereiten müssen.

Der Sieg war dem Führergeschick der Generale v. Scheffer und Litzmann, der verständnisvollen Mitwirkung der Unterführer, dem Vertrauen und der Tapferkeit, der Ausdauer und der Hingebung der Truppen zu verdanken. Der Durchbruch auf Brzeziny gehörte, so große Leistungen der weitere Verlauf des Weltkrieges auch gebracht haben mag, zu den glänzendsten Taten des ganzen Krieges.


Der Abzug der Russen aus Lodz.

General v. Mackensen war entschlossen, den Kampf um Lodz trotz der Wendung, die das Ringen durch die Zurücknahme des Korps Scheffer genommen hatte, zu Ende zu führen. Das Eintreffen erheblicher Verstärkungen stand bevor. Das II. Armeekorps wurde bei Ostrowo - Kalisz, die 1. Infanterie-Division bei Thorn ausgeladen.

Während sich das Korps Scheffer auf Brzeziny durchschlug, war die Lage auf den übrigen Kampffronten folgende.

Auf der deutschen Westfront führten, wie bisher, die Korps Breslau und Posen sowie das Kavalleriekorps Frommel einen hinhaltenden Kampf, welcher die gegenüberstehenden Russen festhielt, wennschon nur an vereinzelten Stellen Gelände gewonnen werden konnte.

Beim XI. und XVII. Armeekorps war die Lage im wesentlichen unverändert geblieben. Russische Vorstöße wurden abgewiesen, deutsche Angriffe gegen die sehr stark ausgebauten Fronten westlich und nördlich Lodz nicht unternommen. Das XX. Armeekorps konnte, selbst in der Front und in der rechten Flanke durch russische Angriffe gebunden, den Armeebefehl nicht ausführen, auch dem Gesuch des XXV. Reservekorps nicht nachkommen, zur Entlastung des letzteren auf Brzeziny vorzustoßen. Somit lag die Front der Deutschen bei Lodz fest.

Sehr ernste Kämpfe hatte das von der 9. Armee weit getrennte I. Reservekorps zu bestehen. Es hatte die 70. Reserve-Brigade über Sobota nach dem linken Flügel des XX. Armeekorps entsandt, um dieses Korps zu entlasten und die Verbindungen der 9. Armee gegen Bedrohungen von Osten her zu decken. [504] Die Masse des I. Reservekorps focht mit der 69. Reserve-Brigade frontal vor Lowicz, mit der 1. Reserve-Division und der Brigade Gregory des Korps Dickhuth nordöstlich Lowicz, Front gegen die Bzura. Die Russen gingen sowohl von Lowicz wie auch, weit nach Norden hin ausholend, in Richtung auf Osmolin gegen den linken Flügel der 1. Reserve-Division zum Angriff vor. Daher wich das I. Reservekorps unter Aufgabe des Angriffs gegen Lowicz am 24. hinter den Abschnitt bei und südlich Klernozia (4 Kilometer südöstlich Osmolin) zurück, um vor der am folgenden Tage von beiden Seiten drohenden Umfassung hinter den Abschnitt der Przyzowa zurückzugehen. Es stand am 25. mittags teils mit der Front nach Nordosten, teils mit der Front nach Südosten und Süden. Es sah sich durch starke russische Überlegenheiten in die Abwehr gedrängt und konnte weder in Richtung auf Lowicz noch auf Lodz hin einen Einfluß ausüben. Daher vermochten die Russen bei Lowicz erhebliche Kräfte zu häufen. Die zur Verstärkung des I. Reservekorps in Aussicht genommene 1. Infanterie-Division war noch nicht eingetroffen, sondern konnte erst am 26. die Gegend von Gostynin erreichen.

Nachdem sich das XXV. Reservekorps und die 3. Garde-Infanterie-Division bei Brzeziny etwas erholt, die Verwundeten und Gefangenen abgeschoben hatten, erhielten sie neue Aufgaben und wurden dazu eingesetzt, die vor der Front des XX. Armeekorps befindlichen russischen Kräfte durch Angriff im Rücken zu vertreiben. Dies wurde am 25. November dadurch ausgeführt, daß die 3. Garde-Infanterie-Division von Brzeziny nach Norden auf Niesulkow, das XXV. Reservekorps auf Glowno an der Mroga vorging. Die Russen folgten über Brzeziny hinaus nur zögernd. Vom 26. November ab wurde endlich die große Lücke zwischen der Masse der 9. Armee vor Lodz und dem I. Reservekorps, die sich durch die letzten Ereignisse sehr störend fühlbar gemacht hatte, ausgefüllt und eine geschlossene, wennschon recht dünne Verbindung hergestellt. Im Anschluß an den linken Flügel des XX. Armeekorps sicherte die 3. Garde-Infanterie-Division den Abschnitt der Mrozyca, das XXV. Reservekorps den der Mroga, woran sich weiter abwärts an diesem Wasserlaufe das Kavalleriekorps Richthofen anschloß. Längs des Nordufers der Bzura von Sobota bis vor Lowicz übernahm das I. Reservekorps den Abschluß gegen Lowicz und mit der Front nach Osten gegen die untere Bzura, von wo her neue russische Vorstöße zu drohen schienen.

Die nächsten Tage brachten auf den Fronten um Lodz keine wesentlichen Vorgänge. Dagegen machte sich das bereits erwartete Auftreten neuer russischer Kräfte gegen den deutschen Ostflügel an der unteren Bzura deutlich bemerkbar. Eine starke russische Abteilung aller Waffen drang im Raume zwischen dem Kavalleriekorps Richthofen und dem rechten Flügel des I. Reservekorps nördlich Sobota über die Bzura vor und kam bis in die Gegend von Orlow, wodurch die Verbindungen der 9. Armee wiederum bedroht wurden. Meldungen be- [505] sagten, daß die Russen von Warschau und Nowogeorgiewsk beträchtliche Massen in Richtung auf Lowicz und gegen die Bzura unterhalb dieser Stadt heranführten. Es gewann den Anschein, als ob der Großfürst das Spiel um Lodz noch lange nicht aufgegeben habe, sondern den Versuch machen wollte, beiderseits von Lowicz an der Bzura aufwärts die Front der deutschen 9. Armee in Richtung von Osten nach Westen hin aufzurollen und ihre Verbindungen mit Thorn - Gnesen zu durchschneiden. Demgegenüber hatte die deutsche Heeresleitung im Osten zwei Abwehrmöglichkeiten:

  1. den Angriff gegen den Südwestflügel der russischen Stellung bei Lodz, um den Feind zur Räumung dieser Stellung zu zwingen;
  2. die Heranführung der jetzt eintreffenden Verstärkungen in die Gegend zwischen Lowicz und Weichsel, um die Russen durch das Vorgehen über die untere Bzura von Warschau abzudrängen.

Der Entschluß des Oberbefehlshabers Ost nutzte beide Möglichkeiten aus. Die eintreffenden Verstärkungen wurden mit folgenden Zielen und Aufgaben in Bewegung gesetzt:

  • das II. Armeekorps von Kalisz auf Lask - Pabianice gegen die Südwestecke der russischen Stellungsfront bei Lodz,
  • das Generalkommando XXIV. Reservekorps und die 48. Reserve-Division von Kreuzburg rechts neben dem II. Armeekorps auf das gleiche Ziel, während die andere Division des XXIV. Reservekorps schon auf dem Bahnwege nach Krakau hin abgedreht wurde, um dem k. u. k. Heere zur Verfügung gestellt zu werden,
  • die 26. Infanterie-Division des XIII. Armeekorps von Wreschen nach Gostynin zur Verwendung in der Gegend nordöstlich Lowicz,
  • die 1. Infanterie-Division des I. Armeekorps von Thorn über Gostynin auf Sobota, um die dort eingedrungenen russischen Kräfte zurückzuwerfen,
  • die 4. Kavallerie-Division einstweilen bei Wloclawek, da die Verwendung weiterer Reitermassen wegen des in Polen herrschenden Futtermangels bis zur Herstellung besserer Nachschubverbindungen unterbleiben mußte.

Das Eintreffen der anderen Division des XIII. Armeekorps und des III. Reservekorps stand erst nach einiger Zeit bevor.

Die russischen Truppen bei Sobota gingen vor dem Anmarsch der 1. Infanterie-Division wieder auf das Südufer der Bzura zurück.

Der große Angriff gegen die Südwestecke der Lodzer Russenstellung wurde vom Oberbefehlshaber Ost auf den 1. Dezember festgesetzt. Hierzu sollten von der 9. Armee mitwirken: die Korps Posen und Breslau, das II. Armeekorps, das Generalkommando des XXIV. Armeekorps mit der 48. Reserve-Division, [506] das Korps Frommel. Außerdem wurde das k. u. k. Oberkommando aufgefordert, die Armeegruppe Woyrsch bei diesem Angriff eingreifen zu lassen. Da die Armeegruppe zur Zeit selbst in sehr heftige Kämpfe durch groß angelegte russische Angriffe verwickelt war, konnte sie nicht in voller Stärke in Richtung auf Lowicz eingreifen, sondern mußte sich darauf beschränken, die k. u. k. 2. Armee, welcher die 1. Garde-Reserve-Brigade überwiesen wurde, in Richtung von Nowo-Radomsk auf Piotrkow gegen die Südfront, also gegen den Rücken der Russen, anzusetzen.

Am 1. Dezember griff das II. Armeekorps mit ganzer Wucht die Russen beiderseits der Straße Lask - Pabianice an und warf sie aus ihren Stellungen. Rechte neben ihm drang die 48. Reserve-Division im Verein mit den drei Divisionen des Kavalleriekorps Frommel in die Gegend südlich Pabianice vor. Links des II. Armeekorps setzte sich das Korps Posen mit Teilen des Korps Breslau gegen den Raum zwischen Pabianice und dem Ner in Bewegung, während der rechte Flügel des XI. Armeekorps mit Teilen der 38. Infanterie-Division den Ner überschritt, um am Südufer des Flusses aufwärts zu stoßen. Der Angriff aller dieser Kräfte traf auf einen sehr hartnäckigen Widerstand der Russen, die nur schrittweise wichen und immer wieder zu Gegenstößen angriffen. Am schwersten hatte der rechte Flügel der 38. Infanterie-Division, insonderheit das Infanterie-Regiment 94, um die Höhe 181 östlich Lutomiersk zu kämpfen, da die Sibirier diesen Bruchpunkt der Gesamtstellung mit höchster Erbitterung verteidigten. Alle Gegenstöße der Russen scheiterten unter furchtbaren Verlusten. Am Abend war die heißumstrittene Kirchhofshöhe im unbestrittenen Besitz der Thüringer.

Beim II. Armeekorps, in dessen Verband die verstärkte Brigade Schmiedecke des Korps Breslau focht, ging der Angriff auf Pabianice unter heftigen Kämpfen langsam, aber unaufhaltsam vorwärts, rechts daneben rückte die 48. Reserve-Division, noch weiter rechts der Flügel der Armeegruppe Woyrsch vor.

Beim I. Reservekorps fanden vor Lowicz sehr ernste Kämpfe statt. Das Korps kam nicht vorwärts, da die Russen auf den Höhen nördlich der Stadt und an der Bzura oberhalb Lowicz in fester Stellung standen, auch über den Fluß unterhalb dieses wichtigen Punktes zu Stößen in die linke Flanke des I. Reservekorps sich anschickten. Daher erhielt das XIII. Armeekorps den Auftrag, mit der 26. Infanterie-Division sowie mit der demnächst eintreffenden 25. Reserve-Division an der Bzura unterhalb Lowicz in die Schlacht einzugreifen. Ebendahin wurde das über Thorn herankommende III. Reservekorps geleitet.

Das Oberkommando der deutschen 9. Armee sah davon ab, die russische Stellung bei Lodz in der Front anzugreifen, da deren Befestigungen von Tag zu Tag an Stärke des Ausbaus weiter zunahmen, auch die Wirkung der feindlichen Steilfeuerartillerie außerordentlich groß war. Die Russen zogen auf der ihnen wieder zur Verfügung stehenden zweigleisigen Eisenbahn Warschau [507] - Lodz ungeheure Massen an Geschützen und Munition heran, während deutscherseits damals ein Haushalten mit der schweren Munition geboten war. Mackensen hoffte, durch eine vollkommene Abschnürung der Lodzer Stellung im Süden und durch die Unterbindung der Eisenbahnlinie von Warschau her den Widerstand des Gegners zu brechen. Zu diesem Zweck sollte General v. Linsingen mit den südlich Lodz befindlichen Truppen eine Rechtsschiebung vornehmen. Allein die Erkundungen ergaben, daß sich die Russen weit nach Süden hin stark eingegraben hatten, daß also eine Umfassung nur auf die stärksten, noch unverbrauchten Feindesfronten stoßen würde. In Würdigung dieser Verhältnisse entschloß sich General v. Linsingen, nach kräftigster Artillerievorbereitung den Durchbruch am 7. Dezember bei Pabianice zu versuchen. Rechts vom II. Armeekorps sollten das Korps Breslau, verstärkt durch die 48. Reserve-Division, und das Korps Frommel vorgehen, während links neben dem II. Armeekorps das Korps Posen und die 38. Infanterie-Division anzugreifen hatten.

In der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember entfalteten die Russen auf allen Fronten um Lodz, namentlich gegen das XI., XVII., XX. Armeekorps, eine außerordentlich lebhafte Artillerietätigkeit, auch ging auf diesen Fronten ihre Infanterie zu heftigen Angriffen vor. Schon rechnete man deutscherseits mit einem allgemeinen Durchstoßversuch von russischer Seite - da brachte der anbrechende Morgen des 6. Dezember die große Überraschung. Die Russen waren in der Nacht vorher nach gründlicher Vorbereitung und unter allen Vorsichtsmaßnahmen - z. B. mit umwickelten Rädern der Geschütze und Fahrzeuge - sowie unter Fortführung des gesamten Geräts und der Vorräte aus der befestigten Stellung von Lodz abgezogen. Sie hatten sich auch hier wiederum als vollendete "Rückzugskünstler" bewiesen. Die machtvolle Artillerieentfaltung in der Nacht zum 6. Dezember und die Infanterievorstöße hatten dazu gedient, die Rückzugsbewegungen zu verschleiern und die Deutschen zu täuschen. Nacht und Nebel waren den Russen zu Hilfe gekommen.

Um die Mittagsstunde des 6. zogen die letzten Nachhuten der Russen ab. Das deutsche XI. Armeekorps rückte gegen Abend in Lodz kampflos ein. Man fand alle Stellungen und die Stadt verlassen. Die Schlachtfelder der vergangenen Wochen lagen voller Leichen und bezeugten die verheerende Wirkung der deutschen Artillerie auf den meisten Abschnitten der russischen Befestigungen.

Der Grund, weshalb der Großfürst das so zäh verteidigte Lodz schließlich doch räumen ließ, lag darin, daß er keine frischen Truppen mehr zur Hand hatte, um den Stoß der Deutschen gegen die Südfront bei Pabianice und den Anmarsch der k. u. k. Armee Boehm-Ermolli auf Tomaszow aufzuhalten. Daher zog er es vor, lieber auf Lodz zu verzichten, als die bei Lodz stehenden Kräfte einer Einkreisung auszusetzen. Man muß es der russischen Führung zugestehen, daß sie den Rückzug mit größter Geschicklichkeit ausgeführt hat und tatsächlich aus der Schlinge entkommen ist.

[508] Mit Unrecht hat man der Führung der deutschen 9. Armee den Vorwurf gemacht, daß sie die Russen aus Lodz entweichen ließ und hiermit einen bereits sicheren Erfolg aus der Hand gegeben hat. Das traf nicht zu. Der Erfolg war keineswegs sicher, denn die Russen standen in sehr festen Stellungen, so daß es fraglich war, ob es den an Zahl schwachen, durch die langen Winterkämpfe ermatteten Truppen gelungen wäre, die russische Linie in absehbarer Zeit zu nehmen. Wenn der Großfürst sich ungestört aus Lodz zurückziehen konnte, so lag hierin höchstens ein äußerer Erfolg. Die Tatsachen bestätigten den Sieg der Deutschen. Die Russen hatten in den Kämpfen vom 12. November bis zum 5. Dezember 1914 allein an Gefangenen 78 500 Mann verloren. Sie gaben die Einbuße an Toten während dieser Zeit auf 35 000 Mann an, so daß ihr Gesamtverlust mindestens 250 000 Mann betragen haben dürfte. 160 Geschütze waren den Deutschen als Beute in die Hände gefallen.

Die Einnahme von Lodz war ein strategischer Erfolg der Deutschen im ganzen Sinne. Zwar hatte der deutsche Operationsplan, das russische 2½ Millionenheer im Weichsel-Bogen zwischen Lodz und Warschau einzuklammern und zu vernichten, nicht durchgeführt werden können, weil trotz der vom westlichen Kriegsschauplatz und aus Ostpreußen herangezogenen Verstärkungen die Kräfte hierzu nicht ausreichten. Gleichwohl war der deutsche Erfolg ein außerordentlicher. Der mit weitgehenden Hoffnungen eingeleitete Vormarsch der Russen auf Posen und Breslau war durch den deutschen Vorstoß auf Lodz ins Stocken geraten und dann unter der Wucht der deutschen Schläge rettungslos zusammengebrochen. Die Entschlußkraft der deutschen Führung, die taktische Sicherheit der Unterführung, die Tapferkeit und die Ausdauer der Truppen hatten über die russische Schwerfälligkeit und Unbeholfenheit gesiegt, wenngleich manche russische Truppen, namentlich die Sibirier, wacker zu kämpfen und brav zu sterben verstanden. Die Lage der Deutschen war am 24. November, als das Korps Scheffer südlich Brzeziny eingeschlossen schien und die gewaltige Lücke zwischen der deutschen Front Lodz - Lowicz klaffte, eine sehr gefährliche geworden. Allein die Russen wußten die ihnen günstigen Umstände nicht auszunützen und ließen dem weit besser geführten und geschickteren Feinde die Vorhand. So kam es, daß das russische Heer trotz seiner mehr als doppelten Überlegenheit in seinem inneren Halt erschüttert wurde und von Lodz zurückgenommen werden mußte. Damit wurde die russische Führung aus dem Angriff in die Verteidigung gezwungen. In Paris und London, wo man in der Behauptung von Lodz den Stützpunkt für den großen Angriff auf Berlin zu sehen glaubte, herrschte die bitterste Enttäuschung, denn nun war der Siegeslauf der "Dampfwalze" gebrochen. Der Großfürst hatte sich allerdings gerühmt, die Armee rechtzeitig von Lodz zurückgeführt und hiermit gerettet zu haben. Die Preisgabe des Angriffsgedankens bedeutete aber den Umschwung der Lage auf dem östlichen Kriegsschauplatz, neben der strategischen auch die moralische Niederlage - mit ihm war der russische Angriffsgeist erschüttert.

[509] Hindenburg11 urteilt über die Wendung bei Lodz:

      "In dem Wechsel zwischen Angriff und Verteidigung, Umfassung und Umfaßtsein, Durchbrechen und Durchbrochenwerden, zeigt dieses Ringen auf beiden Seiten ein geradezu verwirrendes Bild. Ein Bild, das in seiner erregenden Wildheit all die Schlachten übertrifft, die bisher an der Ostfront getobt hatten! Es war uns im Verein mit Österreich-Ungarn gelungen, die Fluten halb Asiens abzudämmen."


Der Kampf um Lowicz.

Aus der Räumung der Lodzer Stellung durch die Russen entwickelte sich um Lowicz ein neuer Kampf. Der Großfürst war nicht gewillt, das Ringen aufzugeben, sondern beabsichtigte, es mit verkürzter Front weiterzuführen, bis sich die Kräfte der Mittelmächte erschöpft hätten, und er selbst zu neuem Angriff schreiten könnte. Er zog daher aus Ostpreußen, Innerrußland, Kaukasien und Turkestan frische Armeekorps heran. Seine nächste Absicht war, über die Bzura bei und unterhalb Lowicz gegen den linken Flügel der Deutschen vorzubrechen. Die Warschau ging so stark mit Eis, daß sein Plan nicht ausführbar war, oberhalb Plock vom rechten auf das linke Stromufer mit starken Kräften zum Stoß gegen den deutschen Ostflügel zu schreiten.

Auch deutscherseits kamen Verstärkungen heran. Hindenburg12 beurteilte ihren Kampfwert mit folgenden Worten:

      "Neue Kräfte kamen zu uns vom Westen heran, doch nur wenig frische, meist solche mit gutem Willen, aber mit halbverbrauchter Kraft. Sie waren zum Teil herausgezogen aus einem ähnlich schweren, ja vielleicht noch schwereren Ringen, als wir es hinter uns hatten, nämlich aus der Schlacht bei Ypern. Wir versuchten trotzdem, mit ihnen die abgedämmte russische Flut zum Zurückweichen zu bringen. Und wirklich schien es eine Zeitlang, als ob uns dies gelingen würde. Unsere Kräfte zeigten sich jedoch schließlich auch jetzt ähnlich wie in den Kämpfen von Lodz als nicht ausreichend genug für dieses Ringen gegen die ungeheuerste Überlegenheit, die uns jemals auf dem Schlachtfelde gegenüberstand. Wir hätten mehr leisten können, wenn die Verstärkungen nicht so tropfenweise eingetroffen wären, wir also vermocht hätten, sie gleichzeitig einzusetzen. So aber bewegte sich der ungeheure slawische Block, den wir nach Osten rollen wollten, nur noch eine Strecke weit, dann lag er wieder still und unbeweglich. Unsere Kraft ermattete, sie ermattete aber nicht nur im Kampfe, sondern auch - im Sumpfe."

Diese vortreffliche Kennzeichnung Hindenburgs entrollt ein klares Bild über die Verhältnisse zur Zeit der Kämpfe um Lowicz.

Mit den Vorgängen bei Lowicz standen die Kämpfe am rechten Weichsel-Ufer in unmittelbarem Zusammenhang. Hier hatte Ende November das Korps [510] Zastrow, dem das Kavalleriekorps Hollen unterstellt blieb, die Linie Plock - Ziechanow - Przasnysz erreicht. Allein die Kräfte für diese breite Linie waren zu gering, als daß die Front gegen einen ernsten russischen Angriff gehalten werden konnte, um so weniger als die Verwendung der Reiterei im Sumpfgelände und bald darauf an den spiegelglatt gefrorenen Wegen sich nahezu verbot. Anfang Dezember mußte daher das Korps Zastrow bis nahe an die deutsche Grenze auf Mlawa - rechtes Weichsel-Ufer gegenüber Wloclawek zurückgenommen werden, als die Russen mit starken Kräften aus der Linie Nowogeorgiewsk - Pultusk - Rozan zum Angriff vorgingen. Sie besetzten Plock und drangen bis auf die Höhe von Wloclawek vor, konnten aber den Strom nicht überschreiten, der, wie bereits erwähnt, mit Eis ging.

Die Russen nahmen nach der Räumung von Lodz der deutschen 9. Armee gegenüber folgende Aufstellung: linker Flügel bei Tomaszow an die Pilica gelehnt, von dort nordwärts nach der Gegend von Brzeziny, dann längs der sumpfigen Mroga, von deren Einmündung in die Bzura an dieser entlang bis an die Weichsel. Diese Stellung, die fast überall durch Sümpfe geschützt war, wurde vortrefflich ausgebaut und schien dazu bestimmt zu sein, über den Winter gehalten zu werden.

Deutscherseits war jede Möglichkeit ausgeschlossen, eine Weiterführung des Kampfes zu erzwingen. Eine Umfassungsmöglichkeit bestand nicht, der reine Frontalangriff unter den schwierigsten Bedingungen war unvermeidlich. Hieraus ergab sich eine Reihe von Einzelkämpfen frontaler Art, von denen Ludendorff13 mit Recht meinte, daß sie besser unterblieben wären. Sie führten zu vielfachen Verlusten. "Wir kannten den Schützengrabenkrieg noch zu wenig. Es wurde zuviel herumbatailliert. Ich hätte gleich schärfer eingreifen sollen, wie ich es später tat. Die Gefahr lag nahe, daß die Verluste nicht mit dem Gewinn in Einklang ständen." Wer damals bei Lowicz mitgefochten hat, wird die Richtigkeit dieser Auffassung anerkennen.

Das Oberkommando der deutschen 9. Armee nahm eine Umgruppierung der Verbände vor, woraus sich vom 10. Dezember ab etwa folgende Verteilung der Kräfte ergab. Gegen die russische Westfront standen das II. Armeekorps, Kavalleriekorps Frommel, die Korps Breslau und Posen, XI. und XX. Armeekorps, XXV. Reservekorps, 3. Garde-Infanterie-Division. Im Süden war Anlehnung an die Armeegruppe Woyrsch. An der Bzura wurden in der Richtung von Westen nach Osten eingesetzt: 1. Infanterie-Division, Kavalleriekorps Richthofen, I. Reservekorps, XVII. Armeekorps, III. Reservekorps, XIII. Armeekorps, somit sehr zahlreiche Verbände, wobei aber bedacht werden muß, daß die in den Schlachten bei Lodz beteiligt gewesenen Armeekorps nur noch einen schwachen Gefechtsstand hatten. Die eingetretene Ruhepause der Kämpfe und [511] die allmählich eintretende Ordnung der rückwärtigen Verbindungen gestatteten es, daß bei vielen Truppen Nachersatz eingestellt werden konnte.

Die Kämpfe wurden auf der ganzen Front unter heftigen Stößen und Gegenstößen geführt. Die Hauptbrennpunkte waren bei Sobota, vor Lowicz selbst, bei Sochaczew unterhalb Lowicz. Gegen Lowicz wurden beim I. Reservekorps k. u. k. 30,5-cm-Motormörser eingesetzt, um die betonierten, mit dicken Eisenbahnschienenanlagen verstärkten russischen Stützpunkte zu brechen. Auch bei Sochaczew kamen einzelne dieser Geschütze zur Verwendung, wo das XVII. Armeekorps mit großer Erbitterung um den Bzura-Übergang rang, ohne ihn den Russen entreißen zu können.

Nachdem die Schlacht einige Tage entscheidungslos hin- und hergegangen war, von einzelnen deutschen Fortschritten örtlicher Art abgesehen, räumten die Russen in der Nacht zum 15. Dezember auch die Stellung von Lowicz. Weniger die Erfolge der Deutschen an einzelnen Punkten dürften die russische Heeresleitung zu diesem Entschluß bestimmt haben, als die allgemeine Lage. Vor Krakau hatte das k. u. k. Heer am 12. Dezember siegreich bei Limanowa gefochten und die Russen über den Dunajec geworfen, ein schöner Erfolg der Verbündeten nach so vielem Unglück! Das Zurückweichen der Russen vor Krakau hatte die Zurücknahme ihrer Front in Südpolen hinter die Nida zur Folge, woraus sich ergab, daß die Pilica-Linie bei Tomaszow, folglich auch der Abschnitt der Mroga, nicht mehr gehalten werden konnte. Im Zusammenhang mit dem Druck, den die Deutschen auf die Bzura-Front bei Lowicz ausübten, schien dem Großfürsten der längere Verbleib bei und südlich Lowicz nicht mehr tunlich. Die Loslösung vom Feinde geschah unter dem Schutz von Nachhuten nicht minder geschickt wie bei Lodz. Am 15. Dezember nachmittags rückte das I. Reservekorps in Lowicz ein.

Die Russen bezogen hierauf folgende Stellungen: südlich Tomaszow, dem k. u. k. Heere gegenüber längs der Pilica, von dort nordwärts nach Rawa, weiterhin an der Rawka abwärts bis zu deren Einmündung in die Bzura, endlich an der Bzura entlang bis zu deren Vereinigung mit der Weichsel. Die ganze Stellung war aufs sorgfältigste befestigt, meistens in mehreren Abschnitten hintereinander, die nach allen Regeln der Kunst ausgebaut waren. Nur zwischen Tomaszow bis Rawa entbehrten sie natürlicher Hindernisse. Die Rawka erwies sich als ein tiefer, von nassen Wiesen eingefaßter Sumpfabschnitt. Das rechte Ufer ist überdies von Höhen
Rückkehr von der Front
Rückkehr von der Front
[480a]      Phot. R. Sennecke, Berlin
begleitet, welche die Niederung auf das wirksamste beherrschten - kurzum eine Dauerstellung von außerordentlicher Widerstandsfähigkeit. Die Russen hatten überdies ihre große Nachschubstelle Warschau nahe hinter sich, die durch zwei Bahnlinien mit der Front verbunden war.

Die deutsche 9. Armee drängte auf der ganzen Front lebhaft nach und kämpfte mit den russischen Nachhuten westlich Tomaszow, westlich Rawa, bei Skierniewice, bei Bolimow. Es gelang den Deutschen nicht, trotz heftiger Nachstöße [512] über die sumpfigen Abschnitte vorzudringen, obwohl sie starke Kräfte einsetzten. Sie mußten sich dazu verstehen, sich vor den russischen Linien ebenfalls in Befestigungen einzubauen. So endete der polnische Feldzug 1914 damit, daß er in den Stellungskrieg ausklang. Die Deutschen schoben sich unter einigen Umgruppierungen der Kräfte bis unmittelbar an die russische Front heran. Sie fesselten den Feind in dauernden, zum Teil sehr verlustreichen Gefechten mit der Absicht, zu verhindern, daß er Kräfte nach dem galizischen und ostpreußischen Frontabschnitt entsenden konnte.

"Erst der eingetretene Winter", sagt Hindenburg,14 "legte seine lähmenden Fesseln um die Tätigkeit von Freund und Feind. Die im Kampfe erstarrten Linien deckte Eis und Schnee. Die Frage war: Wer wird diese Linien in den kommenden Monaten zuerst aus ihrer Erstarrung lösen?" In der Tat hat es bis in den Juli 1915 hinein gedauert, bis die Fesseln des Stellungskampfes an der Pilica, Rawka und Bzura sprangen. Während dieser langen Zeit wurde erbittert um Abschnitte und Schützengräben, Stützpunkte und Geländestücke gerungen. Der Stellungskrieg mit allen seinen Nöten setzte auch hier ein.

Das abschließende Urteil über den geschilderten Kriegsabschnitt hat Ludendorff15 in den Sätzen zusammengefaßt: "Ein gewaltiger Kampf war zu Ende. Neues war im Werden! Deutschland und Österreich-Ungarn waren von der Russengefahr gerettet. Alle Pläne des Großfürsten waren gescheitert. Sein Angriff auf die Ostgrenze Preußens, der Vormarsch auf dem westlichen Weichsel-Ufer und damit alle Hoffnungen der Entente auf eine siegreiche Beendigung des Krieges im Jahre 1914 waren zusammengebrochen. Die Preisgabe der östlichen Teile Ostpreußens und eines großen Teiles von Galizien, so hart sie war, fällt demgegenüber nicht ins Gewicht. Auch der zweite Teil des Feldzuges in Polen war eine Tat. Die Kriegsgeschichte kennt nur wenig Ähnliches. Unsere Truppen, die seit Anfang August dauernd im Kampf oder in Bewegung waren, hatten sich über alles Lob erhaben gezeigt. Sie hatten auch jetzt wieder eine beinahe doppelte Überlegenheit besiegt. Nur mit solchen Führern und Truppen war es uns möglich gewesen, kühne Absichten auch gegen Übermacht in die Tat umzusetzen. Ehre und ewiges Andenken der deutschen Armee des Jahres 1914!"


11 [1/509]Hindenburg, Aus meinem Leben, Seite 115. ...zurück...

12 [2/509]Hindenburg, Aus meinem Leben, Seite 115/116. ...zurück...

13 [1/510]Ludendorff, Kriegserinnerungen, Seite 85/86. ...zurück...

14 [1/512]Hindenburg, Aus meinem Leben, Seite 116. ...zurück...

15 [2/512]Ludendorff, Kriegserinnerungen, Seite 87. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte