Bd. 1: Der deutsche Landkrieg, Erster Teil:
Vom Kriegsbeginn bis zum Frühjahr 1915
Kapitel 7: Der Krieg im Herbst und Winter im
Osten (Forts.)
Oberst Friedrich Immanuel
3. Der zweite Feldzug in Polen im Herbst
1914. (Forts.)
Der Durchbruch nach Brzeziny.
In der Nacht zum 23. November trat starker Frost bis zu -10 Grad ein.
Die deutschen Truppen litten an Verpflegungsmangel. Die Unterkunft war
dürftig. Das Wasser in den Maschinengewehren gefror. Die Lage beim
XXV. Reservekorps und den ihm zugeteilten Truppen begann bedenklich zu
werden.
Auch die Russen empfanden die Unbilden der Witterung. Sie wurden
unaufmerksam und drängten nicht nach. Hätten sie
rücksichtslos zugegriffen, so wäre der Untergang der dem
General v. Scheffer unterstellten Truppen sicher gewesen. So aber war es
möglich, daß die Truppen sich unbemerkt vom Feinde
loslösen konnten, und daß der erste, höchst anstrengende
Nachtmarsch ungestört verlief. Selbst alle Verwundeten konnten
verladen und mitgeführt
werden - bei den beiden Divisionen des XXV. Reservekorps allein 1400,
eine glänzende Leistung.
Der sonnenhelle, frostklare Morgen des 23. November enthüllte den
Russen die Lage. Sie eröffneten
Artillerie-Streufeuer auf die weitesten Entfernungen, [497] um das geordnete Abfahren der
Wagenkolonnen zu stören. Nicht ohne Mühe gelang es, durch
Abdrehen der Fahrzeuge über die gefrorenen Felder der Gefahr zu
entgehen.
Die 5. Garde-Infanterie-Brigade deckte bei Wardzyn am westlichen Ufer der
Miazga die Südflanke, hielt den Feind in Schach und folgte
ungestört bei Karpin über die Miazga. Die 6.
Garde-Infanterie-Brigade löste sich bei Feliksin vom Feinde ab,
machte sich im Walde bei Gora Zielona den Weg frei und überschritt
nördlich Karpin auf einer Furt, deren Eis brach, mit großer
Mühe die Miazga.
Brzeziny war das gemeinsame Ziel für die dem General v. Scheffer
unterstellten Truppen. Dieser Führer gab ein überragendes
Beispiel der Ruhe und Zuversicht, das sich auf Unterführer und
Mannschaften übertrug und sie veranlaßte, in der an sich
verzweiflungsvollen Lage den Mut nicht zu verlieren. Vor allem kam es
darauf an, jeder Unordnung vorzubeugen und die zum Teil stark
durcheinander geratenen Verbände, Bagagen, Fuhrkolonnen zu
entwirren.
Die Truppen wurden in folgender Weise angesetzt:
- Die 6. Kavallerie-Division deckt den Rückzug nach Süden, die
9. Kavallerie-Division nach Osten hin;
- die 50. Reserve-Division geht längs der Eisenbahn
nordwärts,
- die 49. Reserve-Division über Borowo,
- die 3. Garde-Infanterie-Division durch die Wälder westlich Borowo
auf Galkow zurück;
- die ½ 41. Infanterie-Division, noch 4 Bataillone und 5 Batterien
stark, folgt der 50.
Reserve-Division als Reserve des Generalkommandos, nachdem sie aus den
Beständen des XXV. Reservekorps die Munition ergänzt hat.
Die Russen folgten sehr behutsam und beschränkten sich darauf, die
abziehenden deutschen Kolonnen durch Artilleriefeuer zu belästigen,
während die deutschen Nachhuten das Nachdrängen des
Feindes wirksam aufhielten. Bereits gegen 9,30 Uhr morgens hatten alle Teile
des verstärkten XXV. Reservekorps die Miazga überschritten
und die Marschrichtung nach Norden hin gedreht.
Die Vorhut der 49. Reserve-Division, die durch das 6 Kilometer lange,
beiderseits von Wäldern eingefaßte Dorf Borowo ging, bestand
aus 6 Kompagnien
Reserve-Regiments 227, 2 Feldbatterien und 1 schwere
Feldhaubitz-Batterie unter General v. Saucken. Kaum hatte die Vorhut, die
sehr weit über die Höhe der Nachbarkolonnen
hinausgekommen war, den hohen Damm der Nebenbahn
Koluszki - Lodz überschritten, als sie von großen
Massen angegriffen wurde. Der Feind entfesselte ein gewaltiges
Artilleriefeuer, mehrere Schwadronen Dragoner und Kosaken ritten zur
Attacke gegen Flanken und Rücken der Vorhut an. Zwar brach sich
der Reitersturm unter den schwersten Verlusten am [498] Schnellfeuer der Deutschen, allein einige
Schwärme durchjagten die deutschen Batterien, während die
russische Artillerie ein verheerendes Massenfeuer in das Dorf Borowo
sandte, wo auf der schnurgeraden, breiten Straße die Gefechtsbagagen
gedrängt standen. Es entstand deutscherseits eine gefährliche
Verwirrung. Der Divisionskommandeur, General v. Waenker, fiel. Da
ließ General v. Thiessenhausen, der den Befehl übernahm, drei
Bataillone des Gros, die soeben eingetroffen waren (I. Bataillon
Infanterie-Regiments 228, III. Bataillon
Infanterie-Regiments 225, II. Bataillon Infanterie-Regiments 227) unter Major
Donalies westlich des Dorfes bis zur Spitze der Vorhut vorstoßen.
Östlich des Dorfes drang Oberst v. Kamptz, der bis dahin die Nachhut
der 49.
Reserve-Division geführt hatte, mit zwei Bataillonen
Reserve-Regiments 228 nach dem gleichen Ziele vor. Inzwischen war jedoch
die bisherige Vorhut dem Angriff einer russischen Division zum Opfer
gefallen. Die Russen hatten die schwache Vorhut der 49.
Reserve-Division mit einer vollen Division angegriffen. Nach
zehnstündigem Widerstande ging den Deutschen die Munition aus.
Geschütz nach Geschütz mußte schweigen. Nach
Einbruch der Dunkelheit stürmten die Russen den Bahndamm und
setzten sich in den Besitz der kampfunfähigen deutschen
Geschütze, neben welchen die letzten Offiziere, Unteroffiziere und
Mannschaften gefallen waren. Nur wenige Reste der Vorhut entkamen der
Vernichtung. Hiermit schien dem XXV. Reservekorps und den ihm
zugeteilten Verbänden der Weg nach Brzeziny, hiermit die
Wiedergewinnung des Anschlusses an die Kameraden der 9. Armee,
endgültig verlegt zu sein.
Glücklicher focht inzwischen die nur aus 8 schwachen Bataillonen
bestehende 50.
Reserve-Division. Sie erreichte, dem Korpsbefehl gemäß den
Bahndamm der Strecke
Piotrkow - Skierniewice entlang gehend, gegen Einbruch der
Dunkelheit des 23. November unter fortwährenden Kämpfen
gegen russische Truppen, die von Osten her vordrängten, den
Bahndamm der Linie
Koluszki - Lodz und konnte sich an dieser Stelle für die
Nacht behaupten, womit ein entscheidender Schutz für das Korps
Scheffer in der rechten Flanke gewonnen war.
Die Lage des Korps Scheffer war trotzdem eine überaus
gefährdete. Nach einem Funkspruch de Armeeoberkommandos, der
am frühen Nachmittag des 23. November eingelaufen war, hatte das
Korps noch am 23. Brzeziny zu erreichen, während das XX.
Armeekorps gleichfalls dorthin vorstoßen sollte. Inmitten der scheinbar
hoffnungslosen Lage hielt General v. Scheffer das Vertrauen aufrecht,
daß der Durchbruch auf Brzeziny trotz des Munitionsmangels und der
hochgradigen Erschöpfung der Truppen unter Rettung aller Trains
und der Verwundeten gelingen werde, freilich nicht schon am 23. November,
was an sich ja nebensächlich war. Daher gab Scheffer gegen 9 Uhr
abends im Hauptquartier zu Chrusty Stare folgenden Befehl für den
24. November aus:
"Angriff wird fortgesetzt. Eisenbahn
Koluszki - Lodz ist 6 Uhr vormittags zu überschreiten.
Es greifen an:
[499] 1. 50. Reserve-Division
scharf rechts umfassend, Richtung östlich Brzeziny;
2. 49. Reserve-Division geradewegs auf Brzeziny;
3. 3. Garde-Infanterie-Division Richtung westlich
Brzeziny."
Dieser Befehl konnte bei den außerordentlichen Schwierigkeiten der
Verbindungen nicht an die 3.
Garde-Infanterie-Division kommen. Sie war sich daher selbst
überlassen und handelte im Sinne der Lage. Bei ihr fiel die
Entscheidung und hiermit zugleich die Rettung des eingeschlossenen Korps
Scheffer.
General Litzmann hatte am 23. November vormittags, nachdem der
Übergang über die Miazga in der Gegend von Bukowiec
glücklich ausgeführt worden war, den Weitermarsch durch den
Wald von Galkow in Richtung auf das gleichnamige Dorf angesetzt, das
geradenwegs auf Brzeziny nördlich der Eisenbahn liegt. Als Nachhut
und zugleich als Deckung der offenen linken Flanke wurden die 3
Abteilungen der 3.
Garde-Feldartillerie-Brigade und 2½ Kompagnien des
Garde-Grenadier-Regiments 5 bestimmt. Außerdem befanden sich bei
der Nachhut die 6000 Gefangenen der Armeegruppe, von einer einzigen
schwachen Kompagnie
bewacht - die russischen Gefangenen machten keinerlei
Befreiungsversuche, obwohl angesichts der hochbedrängten Lage der
Deutschen tausendfache Gelegenheit hierzu gewesen wäre, ein Beweis
für die Stumpfheit der russischen Volksseele. General Graf
Schweinitz, Kommandeur der 3.
Garde-Feldartillerie-Brigade, führte die Nachhut.
Um die Mittagsstunde traten die beiden Garde-Brigaden durch den Wald
von Galkow an: rechts die 6., links die 5. Die Russen leisteten im verschneiten
Gestrüpp den heftigsten Widerstand, wurden aber von den mit
vollster Entschlossenheit vordringenden Gardetruppen Schritt um Schritt
zurückgeworfen. General Litzmann entschloß sich, nicht auf den
Ausgang der Kämpfe bei der 49. und 50.
Reserve-Division zu warten, sondern selbständig auf Brzeziny
durchzubrechen, geleitet von dem Gedanken, daß durch einen solchen
Durchbruch die beiden genannten Divisionen ebenfalls gerettet
würden, freilich vielleicht unter Aufopferung der Trains und der
Verwundeten. Es war ein aufs äußerste gehender,
verantwortungsfroher Entschluß, der ganze Tatkraft und
ungemessenes Vertrauen auf die Truppen enthielt, deren Infanterie
höchstens noch 4000 Gewehre stark war.
Nachdem durch das Feuer der Artillerieabteilung Ruhstrat ein sehr
gefährlicher Angriff der Sibirier gegen die linke Flanke abgewehrt
und hiermit einer vorübergehenden Verwirrung unter den Trains
vorgebeugt worden war, erstürmte unter persönlicher
Führung Litzmanns die
Garde-Infanterie und eine Kompagnie
Pionier-Bataillons 28, unterstützt durch die auf kürzeste
Entfernung feuernde Vorhutbatterie, den Bahndamm und gelangte in das
Dorf Galkow. Trotz starker Erschöpfung der Truppen gingen die zur
Hand befindlichen Bataillone auf Galkowek weiter und erreichten 3 Uhr
morgens die Höhen südlich der Stadt
Brzeziny - die Russen hatten, durch die vorangegangenen
Kämpfe ebenfalls ermattet und jedenfalls nicht von
entschlußkräftiger Hand geführt, den [500] Angriff gegen die zwar langsam sich
dahinschleppende, aber sehr willensstarke deutsche Truppe aufgegeben.
Die russische Besatzung von Brzeziny war im höchsten Grade
unaufmerksam und offenbar keines Überfalles gewärtig. Die
deutsche Garde warf mit der blanken Waffe die schwachen russischen
Außenwachen über den Haufen und öffnete den Zugang
zur Stadt. Die
Russen - Sibirier vom IV. Armeekorps - setzten sich in den
Gassen der Stadt zwar zur Wehr, wurden aber im Handgemenge
überwältigt und aus dem Orte geworfen. Allein die Sibirier
gaben sich mit dieser Niederlage nicht zufrieden, sondern griffen vor
Tagesgrauen die
Süd- und Ostseite der Stadt im Gegenstoß an und drangen nach
Niedermachung der deutschen Außenwachen ein. Ein neuer
entscheidungsloser Straßenkampf entbrannte, ein Teil der Stadt ging
in Flammen auf. Da nahte deutscherseits im gefährlichsten Augenblick
eine rettende Hilfe. Die Kolonne Friedeburg der 3.
Garde-Infanterie-Division, die im Waldgefecht den Anschluß an die
Masse der Division verloren, hatte sich gerade zur rechten Stunde
herangefunden. Sie brachte auch die Batterie mit, die am Abend zuvor am
Westrande des Waldes von Galkow zeitweise in der Hand der Sibirier
gewesen war. Durch das Eingreifen der Kolonne Friedeburg war mit
Ausnahme der an andere Verbände abgegebenen Gardetruppen die
ganze, allerdings an Gewehren sehr schwache Infanterie der Division bei
Brzeziny vereinigt. Die Stadt wurde behauptet, die Russen zogen sich auf
einen Halbkreis zurück, der sie von allen Seiten auf eine
außerhalb der wirksamen Infanterieschußweite liegende
Entfernung umspannte.
Mit dem Durchbruch der Garde-Infanterie nach Brzeziny war die Lage zwar
gebessert, aber noch nicht entspannt. Die Nachhut der 3.
Garde-Infanterie-Division unter General Graf Schweinitz, welche fast nur aus
Artillerie, Munitionskolonnen, Trains, Verwundeten, Gefangenen bestand
und auch nur über sehr schwache Infanterie verfügte, war von
ihrer Division getrennt worden, da die Russen nach dem Durchbruch der
Garde-Infanterie durch den Bahndamm südlich Galkow die
Lücke geschlossen hatten und entschlossen waren, den Durchzug
weiterer deutscher Truppen zu verhindern. General Graf Schweinitz konnte
es überhaupt nicht wagen, den Weg durch den von Russen
wimmelnden Wald einzuschlagen, sondern entschloß sich, nach rechts
hin an die 49.
Reserve-Division bei Borowo sich heranzuziehen, um mit ihr zusammen den
Durchbruch nach Norden zu versuchen, indem er ihr durch seine Artillerie
einen gewaltigen Zuschuß an Feuerkraft gewährte.
Bei Tagesanbruch des 24. November war die Lage beim Korps Scheffer in
großen Zügen folgende. Am linken Flügel standen
2½ Kompagnien des
Garde-Grenadier-Regiments 5 beim Gehöfte "zu Galkow", die
südlich der Eisenbahn die linke Flanke gegen den Wald von Galkow
deckten. Die 3.
Garde-Feldartillerie-Brigade hatte sechs Batterien nördlich Borowo
beiderseits der Straße in Stellung gebracht, während die 2.
Batterie am Südausgang des [501] Dorfes mit der Schußrichtung gegen
Süden stand. Ein Zug der
Garde-Füsiliere sperrte bei Bukowiec den Übergang über
die Miazga mit der Front nach Westen. Die Infanterie der 49.
Reserve-Division lag eingegraben, so gut es in dem hart gefrorenen Boden
überhaupt gehen mochte, nördlich Borowo quer über die
Straße nach Brzeziny. Die Artillerie der 49.
Reserve-Division befand sich nördlich Chrusty Stare in Feuerstellung
mit Schußrichtung nach Norden. Die 50.
Reserve-Division war im Vorgehen dicht westlich der Hauptbahn
Piotrkow - Skierniewice begriffen. Östlich dieser Bahn
bewegte sich die der 50.
Reserve-Division unterstellte, aus Teilen der 72.
Infanterie-Brigade des XX. Armeekorps bestehende Abteilung v. Kunowski
nach Norden. Die Verbindung zwischen der 49. und 50.
Reserve-Division übernahm II. Bataillon
Garde-Grenadier-Regiments 5. Die Rückendeckung des Korps
Scheffer war, wie bisher, dem Kavalleriekorps Richthofen übertragen,
das mit der 6.
Kavallerie-Division bei Karpin, mit der 9. bei Bahnhof Rokiciny stand, beide
Divisionen freilich sehr schwach an Karabinern und mit erschöpften
Pferden.
Die Russen waren sich der außerordentlichen Vorteile nicht
bewußt, welche ihnen die verzweifelte Lage des Korps Scheffer bot.
Wohl hatten sie richtig erkannt, daß es sich darum handelte, die
Eingeschlossenen zu erdrücken, allein sie ließen es an
Entschlußkraft fehlen, nunmehr mit äußerster Tatkraft
alle verfügbaren Kräfte zur engsten Einkesselung
heranzuführen und so schnell als möglich zu handeln. Sie
durften den Deutschen nicht die geringste Bewegungsfreiheit lassen. Mag
nun die Kälte auf die Russen lähmend gewirkt, mag die
gemeinsame Führung versagt haben, jedenfalls erwiesen sich die
Russen nicht als fähig, der kleinen durch die Unbill der Lage aufs
äußerste angestrengten deutschen Schar den Rest zu geben. Der
Gegensatz zwischen deutscher Führung und Truppenleistung sollte
gerade hier mit vollster Deutlichkeit in Erscheinung treten.
Am 24. November 8 Uhr vormittags gab General Graf Schweinitz den Befehl
zum Angriff gegen den Bahndamm nördlich Borowo. Die schwache
Infanterie der 3.
Garde-Feldartillerie-Brigade hatte einen harten Stand und kam der
russischen Überlegenheit gegenüber in eine sehr bedrohliche
Lage, da die Russen in der Front das Gehöft "zu Galkow" zähe
festhielten und von Westen her aus dem Walde Vorstoß über
Vorstoß machten. Der Kampf mußte vorwiegend von der
deutschen Artillerie geführt werden, die bis auf 1200 Meter
sprungweise an den Feind heranging.
Inzwischen hatte auch die 49. Reserve-Division den Angriff begonnen und
war, ebenfalls von ihrer Artillerie durch Wirkung auf kürzeste
Entfernungen unterstützt, bis nahe an den Bahndamm und die am
Wege nach Brzeziny nördlich der Bahn gelegene Höhe 229
herangekommen. Da brachte gerade in der gefährlichsten Lage eine
mit außerordentlicher Kühnheit geführte
Radfahrerpatrouille des
Lehr-Infanterie-Regiments von Brzeziny die Nachricht, daß General
Litzmann über den Bahn durchgebrochen sei und Brzeziny erreicht
habe. [502] Diese Meldung hob natürlich die
Stimmung beim XXV. Reservekorps bis zur Siegesgewißheit, obwohl die
Gesamtlage noch immer eine hochgefährdete war.
Mittlerweile hatte die 50. Reserve-Division an der Hauptbahn mit
großem Glück gefochten und war in der Lage, auf
vorteilhaftester Weise in den Kampf bei Borowo einzugreifen. Die Russen
hatten viel zu wenig Wert darauf gelegt, die Deutschen auch von Osten her
zu fassen, namentlich ließ sich das starke Reiterkorps Nowikow durch
das deutsche Kavalleriekorps Richthofen im Süden bis zur
Bewegungslosigkeit binden. Daher konnte die 50.
Reserve-Division, die an sich kaum mehr als 1000 Gewehre zählte, mit
Hilfe der Abteilung Kunowski auf dem rechten, des II. Bataillons
Garde-Grenadier-Regiments 5 auf dem linken Flügel beiderseits des
Bahnhofes Koluszki ungestört nach Westen hin einschwenken und
sich zum Angriff gegen den linken Flügel der Russen wenden, welche
an der Eisenbahn nach Lodz mit der Front nach Süden der 49.
Reserve-Division gegenüberstanden. Da die 50.
Reserve-Division über volle Artilleriestärke und über ein
Bataillon schwerer Feldhaubitzen verfügte, übten diese
Artilleriemassen eine gewaltige Wirkung aus und erregten bei den Russen
ohne Zweifel die Ansicht, daß hier sehr erhebliche deutsche
Kräfte im Anzuge seien. Der Erfolg der deutschen Artillerie war ein
durchschlagender: im Süden von der Artillerie der 3.
Garde-Infanterie-Division und der 49.
Reserve-Division, im Osten von der Artillerie der 50.
Reserve-Division, im Rücken von den Batterien der gemischten
Abteilung Kunowski gefaßt, wurde die an Zahl wie an Wirkung weit
unterlegene russische Artillerie geradezu zerschmettert.
Durch diese vernichtende Artilleriewirkung bekam der Angriff der 49.
Reserve-Division Luft. Die Infanterie dieser Division, durch die von Stellung
zu Stellung vorgehende Artillerie bestens unterstützt, stürmte
die Höhe 229, während von Osten her die 50.
Infanterie-Division im Vorgehen war. Um die Mittagsstunde des 24. November
war die russische Stellung in deutscher Hand: 8 Geschütze wurden
genommen, namentlich aber auch die am Abend zuvor von den Russen
erbeuteten deutschen Geschütze wiedergewonnen, da sie noch auf dem
alten Flecke standen. Die Russen wichen, von schwerstem Verfolgungsfeuer
hart mitgenommen, in Unordnung auf Brzeziny zurück. Das V.
sibirische Korps war vollständig geschlagen. Der deutschen Artillerie
gebührt der Hauptanteil an diesem Siege. Dem XXV. Reservekorps
aber stand der Weg nach Norden hin frei, die Lage war gerettet.
Am 24. November kurz nach Einbruch der Dunkelheit zog das Korps
Scheffer in Brzeziny ein, wo sich nunmehr alle dem General v. Scheffer
unterstellten Verbände vereinigten. Nur das Kavalleriekorps Richthofen
fehlte noch, denn es war mit dem russischen Reiterkorps Nowikow in
Fühlung geblieben und langsam vor ihm bis an die Mroga
südlich Brzeziny ausgewichen. Nowikow hatte es nicht vermocht, den
Durchbruch des Korps Scheffer durch Nachdrängen von Süden
her zu stören.
[503] Die dem General v. Scheffer unterstellten
Truppen hatten sich durch die sie rings umgebenden russischen Massen
durchgeschlagen, kein Geschütz in ihrer Hand gelassen, fast alle
Verwundeten geborgen, dafür aber die erstaunlich hohe Zahl von
16 000 Gefangenen und 64 erbeutete Geschütze mitgebracht.
Dabei war die deutsche Infanterie nicht mehr als 8000 Gewehre in der Front
stark gewesen. Die kleine Schar hatte alle Unbilden des Winters, dem
Verpflegungsmangel und der Munitionsknappheit, namentlich aber einer
Überzahl von Feinden getrotzt, die bei halbwegs geschickter
Führung und besserer Haltung der russischen und sibirischen
Truppen dem Gegner den völligen Untergang hätten bereiten
müssen.
Der Sieg war dem Führergeschick der Generale v. Scheffer und
Litzmann, der verständnisvollen Mitwirkung der Unterführer,
dem Vertrauen und der Tapferkeit, der Ausdauer und der Hingebung der
Truppen zu verdanken. Der Durchbruch auf Brzeziny gehörte, so
große Leistungen der weitere Verlauf des Weltkrieges auch gebracht
haben mag, zu den glänzendsten Taten des ganzen Krieges.
Der Abzug der Russen aus Lodz.
General v. Mackensen war entschlossen, den Kampf um Lodz trotz der
Wendung, die das Ringen durch die Zurücknahme des Korps Scheffer
genommen hatte, zu Ende zu führen. Das Eintreffen erheblicher
Verstärkungen stand bevor. Das II. Armeekorps wurde bei
Ostrowo - Kalisz, die 1.
Infanterie-Division bei Thorn ausgeladen.
Während sich das Korps Scheffer auf Brzeziny durchschlug, war die
Lage auf den übrigen Kampffronten folgende.
Auf der deutschen Westfront führten, wie bisher, die Korps Breslau
und Posen sowie das Kavalleriekorps Frommel einen hinhaltenden Kampf,
welcher die gegenüberstehenden Russen festhielt, wennschon nur an
vereinzelten Stellen Gelände gewonnen werden konnte.
Beim XI. und XVII. Armeekorps war die Lage im wesentlichen
unverändert geblieben. Russische Vorstöße wurden
abgewiesen, deutsche Angriffe gegen die sehr stark ausgebauten Fronten
westlich und nördlich Lodz nicht unternommen. Das XX. Armeekorps
konnte, selbst in der Front und in der rechten Flanke durch russische
Angriffe gebunden, den Armeebefehl nicht ausführen, auch dem
Gesuch des XXV. Reservekorps nicht nachkommen, zur Entlastung des
letzteren auf Brzeziny vorzustoßen. Somit lag die Front der Deutschen
bei Lodz fest.
Sehr ernste Kämpfe hatte das von der 9. Armee weit getrennte I.
Reservekorps zu bestehen. Es hatte die 70.
Reserve-Brigade über Sobota nach dem linken Flügel des XX.
Armeekorps entsandt, um dieses Korps zu entlasten und die Verbindungen
der 9. Armee gegen Bedrohungen von Osten her zu decken. [504] Die Masse des I. Reservekorps focht mit der
69.
Reserve-Brigade frontal vor Lowicz, mit der 1.
Reserve-Division und der Brigade Gregory des Korps Dickhuth
nordöstlich Lowicz, Front gegen die Bzura. Die Russen gingen sowohl
von Lowicz wie auch, weit nach Norden hin ausholend, in Richtung auf
Osmolin gegen den linken Flügel der 1.
Reserve-Division zum Angriff vor. Daher wich das I. Reservekorps unter
Aufgabe des Angriffs gegen Lowicz am 24. hinter den Abschnitt bei und
südlich Klernozia (4 Kilometer südöstlich Osmolin)
zurück, um vor der am folgenden Tage von beiden Seiten drohenden
Umfassung hinter den Abschnitt der Przyzowa zurückzugehen. Es
stand am 25. mittags teils mit der Front nach Nordosten, teils mit der Front
nach Südosten und Süden. Es sah sich durch starke russische
Überlegenheiten in die Abwehr gedrängt und konnte weder in
Richtung auf Lowicz noch auf Lodz hin einen Einfluß ausüben.
Daher vermochten die Russen bei Lowicz erhebliche Kräfte zu
häufen. Die zur Verstärkung des I. Reservekorps in Aussicht
genommene 1.
Infanterie-Division war noch nicht eingetroffen, sondern konnte erst am 26.
die Gegend von Gostynin erreichen.
Nachdem sich das XXV. Reservekorps und die 3.
Garde-Infanterie-Division bei Brzeziny etwas erholt, die Verwundeten und
Gefangenen abgeschoben hatten, erhielten sie neue Aufgaben und wurden
dazu eingesetzt, die vor der Front des XX. Armeekorps befindlichen
russischen Kräfte durch Angriff im Rücken zu vertreiben. Dies
wurde am 25. November dadurch ausgeführt, daß die 3.
Garde-Infanterie-Division von Brzeziny nach Norden auf Niesulkow, das XXV.
Reservekorps auf Glowno an der Mroga vorging. Die Russen folgten
über Brzeziny hinaus nur zögernd. Vom 26. November ab
wurde endlich die große Lücke zwischen der Masse der 9. Armee vor
Lodz und dem I. Reservekorps, die sich durch die letzten Ereignisse sehr
störend fühlbar gemacht hatte, ausgefüllt und eine
geschlossene, wennschon recht dünne Verbindung hergestellt. Im
Anschluß an den linken Flügel des XX. Armeekorps sicherte die
3. Garde-Infanterie-Division den Abschnitt der Mrozyca, das XXV. Reservekorps
den der Mroga, woran sich weiter abwärts an diesem Wasserlaufe das
Kavalleriekorps Richthofen anschloß. Längs des Nordufers der
Bzura von Sobota bis vor Lowicz übernahm das I. Reservekorps den
Abschluß gegen Lowicz und mit der Front nach Osten gegen die untere
Bzura, von wo her neue russische Vorstöße zu drohen
schienen.
Die nächsten Tage brachten auf den Fronten um Lodz keine
wesentlichen Vorgänge. Dagegen machte sich das bereits erwartete
Auftreten neuer russischer Kräfte gegen den deutschen Ostflügel
an der unteren Bzura deutlich bemerkbar. Eine starke russische Abteilung
aller Waffen drang im Raume zwischen dem Kavalleriekorps Richthofen und
dem rechten Flügel des I. Reservekorps nördlich Sobota
über die Bzura vor und kam bis in die Gegend von Orlow, wodurch
die Verbindungen der 9. Armee wiederum bedroht wurden. Meldungen
be- [505] sagten, daß die Russen von
Warschau und Nowogeorgiewsk beträchtliche Massen in Richtung auf
Lowicz und gegen die Bzura unterhalb dieser Stadt heranführten. Es
gewann den Anschein, als ob der Großfürst das Spiel um Lodz
noch lange nicht aufgegeben habe, sondern den Versuch machen wollte,
beiderseits von Lowicz an der Bzura aufwärts die Front der deutschen
9. Armee in Richtung von Osten nach Westen hin aufzurollen und ihre
Verbindungen mit
Thorn - Gnesen zu durchschneiden. Demgegenüber
hatte die deutsche Heeresleitung im Osten zwei
Abwehrmöglichkeiten:
- den Angriff gegen den Südwestflügel der russischen Stellung
bei Lodz, um den Feind zur Räumung dieser Stellung zu zwingen;
- die Heranführung der jetzt eintreffenden Verstärkungen in die
Gegend zwischen Lowicz und Weichsel, um die Russen durch das Vorgehen
über die untere Bzura von Warschau abzudrängen.
Der Entschluß des Oberbefehlshabers Ost nutzte beide
Möglichkeiten aus. Die eintreffenden Verstärkungen wurden mit
folgenden Zielen und Aufgaben in Bewegung gesetzt:
- das II. Armeekorps von Kalisz auf
Lask - Pabianice gegen die Südwestecke der russischen
Stellungsfront bei Lodz,
- das Generalkommando XXIV. Reservekorps und die 48.
Reserve-Division von Kreuzburg rechts neben dem II. Armeekorps auf das gleiche
Ziel, während die andere Division des XXIV. Reservekorps schon auf dem
Bahnwege nach Krakau hin abgedreht wurde, um dem k. u. k. Heere
zur Verfügung gestellt zu werden,
- die 26. Infanterie-Division des XIII. Armeekorps von Wreschen nach Gostynin
zur Verwendung in der Gegend nordöstlich Lowicz,
- die 1. Infanterie-Division des I. Armeekorps von Thorn über Gostynin
auf Sobota, um die dort eingedrungenen russischen Kräfte
zurückzuwerfen,
- die 4. Kavallerie-Division einstweilen bei Wloclawek, da die Verwendung
weiterer Reitermassen wegen des in Polen herrschenden Futtermangels bis zur
Herstellung besserer Nachschubverbindungen unterbleiben mußte.
Das Eintreffen der anderen Division des XIII. Armeekorps und des III.
Reservekorps stand erst nach einiger Zeit bevor.
Die russischen Truppen bei Sobota gingen vor dem Anmarsch der 1.
Infanterie-Division wieder auf das Südufer der Bzura
zurück.
Der große Angriff gegen die Südwestecke der Lodzer
Russenstellung wurde vom Oberbefehlshaber Ost auf den 1. Dezember
festgesetzt. Hierzu sollten von der 9. Armee mitwirken: die Korps Posen und
Breslau, das II. Armeekorps, das Generalkommando des XXIV. Armeekorps
mit der 48. Reserve-Division, [506] das Korps Frommel. Außerdem
wurde das k. u. k. Oberkommando aufgefordert, die
Armeegruppe Woyrsch
bei diesem Angriff eingreifen zu lassen. Da die
Armeegruppe zur Zeit selbst in sehr heftige Kämpfe durch groß
angelegte russische Angriffe verwickelt war, konnte sie nicht in voller
Stärke in Richtung auf Lowicz eingreifen, sondern mußte sich
darauf beschränken, die k. u. k. 2. Armee, welcher die 1.
Garde-Reserve-Brigade überwiesen wurde, in Richtung von
Nowo-Radomsk auf Piotrkow gegen die Südfront, also gegen den
Rücken der Russen, anzusetzen.
Am 1. Dezember griff das II. Armeekorps mit ganzer Wucht die Russen
beiderseits der Straße
Lask - Pabianice an und warf sie aus ihren Stellungen. Rechte
neben ihm drang die 48.
Reserve-Division im Verein mit den drei Divisionen des Kavalleriekorps
Frommel in die Gegend südlich Pabianice vor. Links des II.
Armeekorps setzte sich das Korps Posen mit Teilen des Korps Breslau gegen
den Raum zwischen Pabianice und dem Ner in Bewegung, während
der rechte Flügel des XI. Armeekorps mit Teilen der 38.
Infanterie-Division den Ner überschritt, um am Südufer des
Flusses aufwärts zu stoßen. Der Angriff aller dieser Kräfte
traf auf einen sehr hartnäckigen Widerstand der Russen, die nur
schrittweise wichen und immer wieder zu Gegenstößen
angriffen. Am schwersten hatte der rechte Flügel der 38.
Infanterie-Division, insonderheit das Infanterie-Regiment 94, um die
Höhe 181 östlich Lutomiersk zu kämpfen, da die Sibirier
diesen Bruchpunkt der Gesamtstellung mit höchster Erbitterung
verteidigten. Alle Gegenstöße der Russen scheiterten unter
furchtbaren Verlusten. Am Abend war die heißumstrittene
Kirchhofshöhe im unbestrittenen Besitz der Thüringer.
Beim II. Armeekorps, in dessen Verband die verstärkte Brigade
Schmiedecke des Korps Breslau focht, ging der Angriff auf Pabianice unter
heftigen Kämpfen langsam, aber unaufhaltsam vorwärts, rechts
daneben rückte die 48.
Reserve-Division, noch weiter rechts der Flügel der Armeegruppe
Woyrsch vor.
Beim I. Reservekorps fanden vor Lowicz sehr ernste Kämpfe statt. Das
Korps kam nicht vorwärts, da die Russen auf den Höhen
nördlich der Stadt und an der Bzura oberhalb Lowicz in fester
Stellung standen, auch über den Fluß unterhalb dieses wichtigen
Punktes zu Stößen in die linke Flanke des I. Reservekorps sich
anschickten. Daher erhielt das XIII. Armeekorps den Auftrag, mit der 26.
Infanterie-Division sowie mit der demnächst eintreffenden 25.
Reserve-Division an der Bzura unterhalb Lowicz in die Schlacht einzugreifen.
Ebendahin wurde das über Thorn herankommende III. Reservekorps
geleitet.
Das Oberkommando der deutschen 9. Armee sah davon ab, die russische
Stellung bei Lodz in der Front anzugreifen, da deren Befestigungen von Tag
zu Tag an Stärke des Ausbaus weiter zunahmen, auch die Wirkung der
feindlichen Steilfeuerartillerie außerordentlich groß war. Die
Russen zogen auf der ihnen wieder zur Verfügung stehenden
zweigleisigen Eisenbahn
Warschau [507] - Lodz ungeheure Massen an
Geschützen und Munition heran, während deutscherseits
damals ein Haushalten mit der schweren Munition geboten war. Mackensen
hoffte, durch eine vollkommene Abschnürung der Lodzer Stellung im
Süden und durch die Unterbindung der Eisenbahnlinie von Warschau
her den Widerstand des Gegners zu brechen. Zu diesem Zweck sollte General v. Linsingen mit den südlich Lodz befindlichen Truppen eine
Rechtsschiebung vornehmen. Allein die Erkundungen ergaben, daß
sich die Russen weit nach Süden hin stark eingegraben hatten,
daß also eine Umfassung nur auf die stärksten, noch
unverbrauchten Feindesfronten stoßen würde. In
Würdigung dieser Verhältnisse entschloß sich General v.
Linsingen, nach kräftigster Artillerievorbereitung den Durchbruch
am 7. Dezember bei Pabianice zu versuchen. Rechts vom II. Armeekorps
sollten das Korps Breslau, verstärkt durch die 48.
Reserve-Division, und das Korps Frommel vorgehen, während links
neben dem II. Armeekorps das Korps Posen und die 38.
Infanterie-Division anzugreifen hatten.
In der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember entfalteten die Russen auf allen Fronten um
Lodz, namentlich gegen das XI., XVII., XX. Armeekorps, eine
außerordentlich lebhafte Artillerietätigkeit, auch ging auf diesen
Fronten ihre Infanterie zu heftigen Angriffen vor. Schon rechnete man
deutscherseits mit einem allgemeinen Durchstoßversuch von russischer
Seite - da brachte der anbrechende Morgen des 6. Dezember die
große Überraschung. Die Russen waren in der Nacht vorher
nach gründlicher Vorbereitung und unter allen
Vorsichtsmaßnahmen - z. B. mit umwickelten
Rädern der Geschütze und
Fahrzeuge - sowie unter Fortführung des gesamten
Geräts und der Vorräte aus der befestigten Stellung von Lodz
abgezogen. Sie hatten sich auch hier wiederum als vollendete
"Rückzugskünstler" bewiesen. Die machtvolle
Artillerieentfaltung in der Nacht zum 6. Dezember und die
Infanterievorstöße hatten dazu gedient, die
Rückzugsbewegungen zu verschleiern und die Deutschen zu
täuschen. Nacht und Nebel waren den Russen zu Hilfe gekommen.
Um die Mittagsstunde des 6. zogen die letzten Nachhuten der Russen ab. Das
deutsche XI. Armeekorps rückte gegen Abend in Lodz kampflos ein.
Man fand alle Stellungen und die Stadt verlassen. Die Schlachtfelder der
vergangenen Wochen lagen voller Leichen und bezeugten die verheerende
Wirkung der deutschen Artillerie auf den meisten Abschnitten der russischen
Befestigungen.
Der Grund, weshalb der Großfürst das so zäh verteidigte
Lodz schließlich doch räumen ließ, lag darin, daß er
keine frischen Truppen mehr zur Hand hatte, um den Stoß der
Deutschen gegen die Südfront bei Pabianice und den Anmarsch der
k. u. k. Armee
Boehm-Ermolli auf Tomaszow aufzuhalten. Daher zog er es vor, lieber auf
Lodz zu verzichten, als die bei Lodz stehenden Kräfte einer Einkreisung
auszusetzen. Man muß es der russischen Führung zugestehen,
daß sie den Rückzug mit größter Geschicklichkeit
ausgeführt hat und tatsächlich aus der Schlinge entkommen
ist.
[508] Mit Unrecht hat man der Führung
der deutschen 9. Armee den Vorwurf gemacht, daß sie die Russen aus
Lodz entweichen ließ und hiermit einen bereits sicheren Erfolg aus der
Hand gegeben hat. Das traf nicht zu. Der Erfolg war keineswegs sicher, denn
die Russen standen in sehr festen Stellungen, so daß es fraglich war, ob
es den an Zahl schwachen, durch die langen Winterkämpfe ermatteten
Truppen gelungen wäre, die russische Linie in absehbarer Zeit zu
nehmen. Wenn der Großfürst sich ungestört aus Lodz
zurückziehen konnte, so lag hierin höchstens ein
äußerer Erfolg. Die Tatsachen bestätigten den Sieg der
Deutschen. Die Russen hatten in den Kämpfen vom 12. November bis
zum 5. Dezember 1914 allein an Gefangenen 78 500 Mann verloren.
Sie gaben die Einbuße an Toten während dieser Zeit auf
35 000 Mann an, so daß ihr Gesamtverlust mindestens
250 000 Mann betragen haben dürfte. 160 Geschütze
waren den Deutschen als Beute in die Hände gefallen.
Die Einnahme von Lodz war ein strategischer Erfolg der Deutschen im
ganzen Sinne. Zwar hatte der deutsche Operationsplan, das russische
2½ Millionenheer im
Weichsel-Bogen zwischen Lodz und Warschau einzuklammern und zu
vernichten, nicht durchgeführt werden können, weil
trotz der vom westlichen Kriegsschauplatz und aus Ostpreußen
herangezogenen Verstärkungen die Kräfte hierzu nicht
ausreichten. Gleichwohl war der deutsche Erfolg ein außerordentlicher.
Der mit weitgehenden Hoffnungen eingeleitete Vormarsch der Russen auf
Posen und Breslau war durch den deutschen Vorstoß auf Lodz ins
Stocken geraten und dann unter der Wucht der deutschen Schläge
rettungslos zusammengebrochen. Die Entschlußkraft der deutschen
Führung, die taktische Sicherheit der Unterführung, die
Tapferkeit und die Ausdauer der Truppen hatten über die russische
Schwerfälligkeit und Unbeholfenheit gesiegt, wenngleich manche
russische Truppen, namentlich die Sibirier, wacker zu kämpfen und
brav zu sterben verstanden. Die Lage der Deutschen war am 24. November,
als das Korps Scheffer südlich Brzeziny eingeschlossen schien und die
gewaltige Lücke zwischen der deutschen Front
Lodz - Lowicz klaffte, eine sehr gefährliche geworden.
Allein die Russen wußten die ihnen günstigen Umstände
nicht auszunützen und ließen dem weit besser geführten
und geschickteren Feinde die Vorhand. So kam es, daß das russische
Heer trotz seiner mehr als doppelten Überlegenheit in seinem inneren
Halt erschüttert wurde und von Lodz zurückgenommen werden
mußte. Damit wurde die russische Führung aus dem Angriff in
die Verteidigung gezwungen. In Paris und London, wo man in der
Behauptung von Lodz den Stützpunkt für den großen
Angriff auf Berlin zu sehen glaubte, herrschte die bitterste
Enttäuschung, denn nun war der Siegeslauf der "Dampfwalze"
gebrochen. Der Großfürst hatte sich allerdings gerühmt,
die Armee rechtzeitig von Lodz zurückgeführt und hiermit
gerettet zu haben. Die Preisgabe des Angriffsgedankens bedeutete aber den
Umschwung der Lage auf dem östlichen Kriegsschauplatz, neben der
strategischen auch die moralische
Niederlage - mit ihm war der russische Angriffsgeist
erschüttert.
[509] Hindenburg11 urteilt über die Wendung
bei Lodz:
"In dem Wechsel zwischen
Angriff und Verteidigung, Umfassung und Umfaßtsein, Durchbrechen
und Durchbrochenwerden, zeigt dieses Ringen auf beiden Seiten ein
geradezu verwirrendes Bild. Ein Bild, das in seiner erregenden Wildheit all
die Schlachten übertrifft, die bisher an der Ostfront getobt hatten! Es
war uns im Verein mit
Österreich-Ungarn gelungen, die Fluten halb Asiens
abzudämmen."
Der Kampf um Lowicz.
Aus der Räumung der Lodzer Stellung durch die Russen entwickelte
sich um Lowicz ein neuer Kampf. Der Großfürst war nicht
gewillt, das Ringen aufzugeben, sondern beabsichtigte, es mit
verkürzter Front weiterzuführen, bis sich die Kräfte der
Mittelmächte erschöpft hätten, und er selbst zu neuem
Angriff schreiten könnte. Er zog daher aus Ostpreußen,
Innerrußland, Kaukasien und Turkestan frische Armeekorps heran.
Seine nächste Absicht war, über die Bzura bei und unterhalb
Lowicz gegen den linken Flügel der Deutschen vorzubrechen. Die
Warschau ging so stark mit Eis, daß sein Plan nicht ausführbar
war, oberhalb Plock vom rechten auf das linke Stromufer mit starken
Kräften zum Stoß gegen den deutschen Ostflügel zu
schreiten.
Auch deutscherseits kamen Verstärkungen heran. Hindenburg12 beurteilte ihren Kampfwert mit
folgenden Worten:
"Neue Kräfte kamen zu
uns vom Westen heran, doch nur wenig frische, meist solche mit gutem
Willen, aber mit halbverbrauchter Kraft. Sie waren zum Teil herausgezogen
aus einem ähnlich schweren, ja vielleicht noch schwereren Ringen, als
wir es hinter uns hatten, nämlich aus der Schlacht bei Ypern. Wir
versuchten trotzdem, mit ihnen die abgedämmte russische Flut zum
Zurückweichen zu bringen. Und wirklich schien es eine Zeitlang, als ob
uns dies gelingen würde. Unsere Kräfte zeigten sich jedoch
schließlich auch jetzt ähnlich wie in den Kämpfen von
Lodz als nicht ausreichend genug für dieses Ringen gegen die
ungeheuerste Überlegenheit, die uns jemals auf dem Schlachtfelde
gegenüberstand. Wir hätten mehr leisten können, wenn
die Verstärkungen nicht so tropfenweise eingetroffen wären,
wir also vermocht hätten, sie gleichzeitig einzusetzen. So aber bewegte
sich der ungeheure slawische Block, den wir nach Osten rollen wollten, nur
noch eine Strecke weit, dann lag er wieder still und unbeweglich. Unsere
Kraft ermattete, sie ermattete aber nicht nur im Kampfe, sondern
auch - im Sumpfe."
Diese vortreffliche Kennzeichnung Hindenburgs entrollt ein klares Bild
über die Verhältnisse zur Zeit der Kämpfe um
Lowicz.
Mit den Vorgängen bei Lowicz standen die Kämpfe am rechten
Weichsel-Ufer in unmittelbarem Zusammenhang. Hier hatte Ende November
das Korps [510] Zastrow, dem das Kavalleriekorps Hollen
unterstellt blieb, die Linie
Plock - Ziechanow - Przasnysz erreicht. Allein die
Kräfte für diese breite Linie waren zu gering, als daß die
Front gegen einen ernsten russischen Angriff gehalten werden konnte, um so
weniger als die Verwendung der Reiterei im Sumpfgelände und bald
darauf an den spiegelglatt gefrorenen Wegen sich nahezu verbot. Anfang
Dezember mußte daher das Korps Zastrow bis nahe an die deutsche
Grenze auf
Mlawa - rechtes Weichsel-Ufer gegenüber Wloclawek
zurückgenommen werden, als die Russen mit starken Kräften
aus der Linie
Nowogeorgiewsk - Pultusk - Rozan zum Angriff
vorgingen. Sie besetzten Plock und drangen bis auf die Höhe von
Wloclawek vor, konnten aber den Strom nicht überschreiten, der, wie
bereits erwähnt, mit Eis ging.
Die Russen nahmen nach der Räumung von Lodz der deutschen 9.
Armee gegenüber folgende Aufstellung: linker Flügel bei
Tomaszow an die Pilica gelehnt, von dort nordwärts nach der Gegend
von Brzeziny, dann längs der sumpfigen Mroga, von deren
Einmündung in die Bzura an dieser entlang bis an die Weichsel. Diese
Stellung, die fast überall durch Sümpfe geschützt war,
wurde vortrefflich ausgebaut und schien dazu bestimmt zu sein, über
den Winter gehalten zu werden.
Deutscherseits war jede Möglichkeit ausgeschlossen, eine
Weiterführung des Kampfes zu erzwingen. Eine
Umfassungsmöglichkeit bestand nicht, der reine Frontalangriff unter
den schwierigsten Bedingungen war unvermeidlich. Hieraus ergab sich eine
Reihe von Einzelkämpfen frontaler Art, von denen Ludendorff13 mit Recht meinte, daß sie
besser unterblieben wären. Sie führten zu vielfachen Verlusten.
"Wir kannten den Schützengrabenkrieg noch zu wenig. Es wurde zuviel
herumbatailliert. Ich hätte gleich schärfer eingreifen sollen, wie
ich es später tat. Die Gefahr lag nahe, daß die Verluste nicht mit
dem Gewinn in Einklang ständen." Wer damals bei Lowicz
mitgefochten hat, wird die Richtigkeit dieser Auffassung anerkennen.
Das Oberkommando der deutschen 9. Armee nahm eine Umgruppierung der
Verbände vor, woraus sich vom 10. Dezember ab etwa folgende
Verteilung der Kräfte ergab. Gegen die russische Westfront standen
das II. Armeekorps, Kavalleriekorps Frommel, die Korps Breslau und Posen,
XI. und XX. Armeekorps, XXV. Reservekorps, 3.
Garde-Infanterie-Division. Im Süden war Anlehnung an die Armeegruppe
Woyrsch. An der Bzura wurden in der Richtung von Westen nach Osten
eingesetzt: 1.
Infanterie-Division, Kavalleriekorps Richthofen, I. Reservekorps, XVII.
Armeekorps, III. Reservekorps, XIII. Armeekorps, somit sehr zahlreiche
Verbände, wobei aber bedacht werden muß, daß die in
den Schlachten bei Lodz beteiligt gewesenen Armeekorps nur noch einen
schwachen Gefechtsstand hatten. Die eingetretene Ruhepause der
Kämpfe und [511] die allmählich eintretende Ordnung
der rückwärtigen Verbindungen gestatteten es, daß bei
vielen Truppen Nachersatz eingestellt werden konnte.
Die Kämpfe wurden auf der ganzen Front unter heftigen
Stößen und Gegenstößen geführt. Die
Hauptbrennpunkte waren bei Sobota, vor Lowicz selbst, bei Sochaczew
unterhalb Lowicz. Gegen Lowicz wurden beim I. Reservekorps
k. u. k.
30,5-cm-Motormörser eingesetzt, um die betonierten, mit dicken
Eisenbahnschienenanlagen verstärkten russischen Stützpunkte
zu brechen. Auch bei Sochaczew kamen einzelne dieser Geschütze zur
Verwendung, wo das XVII. Armeekorps mit großer Erbitterung um
den
Bzura-Übergang rang, ohne ihn den Russen entreißen zu
können.
Nachdem die Schlacht einige Tage entscheidungslos
hin- und hergegangen war, von einzelnen deutschen Fortschritten
örtlicher Art abgesehen, räumten die Russen in der Nacht zum
15. Dezember auch die Stellung von Lowicz. Weniger die Erfolge der
Deutschen an einzelnen Punkten dürften die russische Heeresleitung
zu diesem Entschluß bestimmt haben, als die allgemeine Lage. Vor
Krakau hatte das k. u. k. Heer am 12. Dezember siegreich bei
Limanowa gefochten und die Russen über den Dunajec geworfen, ein
schöner Erfolg der Verbündeten nach so vielem Unglück!
Das Zurückweichen der Russen vor Krakau hatte die
Zurücknahme ihrer Front in Südpolen hinter die Nida zur
Folge, woraus sich ergab, daß die Pilica-Linie bei Tomaszow, folglich
auch der Abschnitt der Mroga, nicht mehr gehalten werden konnte. Im
Zusammenhang mit dem Druck, den die Deutschen auf die
Bzura-Front bei Lowicz ausübten, schien dem
Großfürsten der längere Verbleib bei und südlich
Lowicz nicht mehr tunlich. Die Loslösung vom Feinde geschah unter
dem Schutz von Nachhuten nicht minder geschickt wie bei Lodz. Am 15.
Dezember nachmittags rückte das I. Reservekorps in Lowicz ein.
Die Russen bezogen hierauf folgende Stellungen: südlich Tomaszow,
dem k. u. k. Heere gegenüber längs der Pilica, von
dort nordwärts nach Rawa, weiterhin an der Rawka abwärts
bis zu deren Einmündung in die Bzura, endlich an der Bzura entlang
bis zu deren Vereinigung mit der Weichsel. Die ganze Stellung war aufs
sorgfältigste befestigt, meistens in mehreren Abschnitten
hintereinander, die nach allen Regeln der Kunst ausgebaut waren. Nur
zwischen Tomaszow bis Rawa entbehrten sie natürlicher Hindernisse.
Die Rawka erwies sich als ein tiefer, von nassen Wiesen eingefaßter
Sumpfabschnitt. Das rechte Ufer ist überdies von Höhen
Rückkehr von der Front
[480a] Phot. R. Sennecke,
Berlin
|
begleitet, welche die Niederung auf das wirksamste
beherrschten - kurzum eine Dauerstellung von
außerordentlicher Widerstandsfähigkeit. Die Russen hatten
überdies ihre große Nachschubstelle Warschau nahe hinter sich,
die durch zwei Bahnlinien mit der Front verbunden war.
Die deutsche 9. Armee drängte auf der ganzen Front lebhaft nach und
kämpfte mit den russischen Nachhuten westlich Tomaszow, westlich
Rawa, bei Skierniewice, bei Bolimow. Es gelang den Deutschen nicht, trotz
heftiger Nachstöße [512] über die sumpfigen Abschnitte
vorzudringen, obwohl sie starke Kräfte einsetzten. Sie mußten
sich dazu verstehen, sich vor den russischen Linien ebenfalls in
Befestigungen einzubauen. So endete der polnische Feldzug 1914 damit,
daß er in den Stellungskrieg ausklang. Die Deutschen schoben sich
unter einigen Umgruppierungen der Kräfte bis unmittelbar an die
russische Front heran. Sie fesselten den Feind in dauernden, zum Teil sehr
verlustreichen Gefechten mit der Absicht, zu verhindern, daß er
Kräfte nach dem galizischen und ostpreußischen Frontabschnitt
entsenden konnte.
"Erst der eingetretene Winter", sagt Hindenburg,14 "legte seine lähmenden
Fesseln um die Tätigkeit von Freund und Feind. Die im Kampfe
erstarrten Linien deckte Eis und Schnee. Die Frage war: Wer wird diese
Linien in den kommenden Monaten zuerst aus ihrer Erstarrung
lösen?" In der Tat hat es bis in den Juli 1915 hinein gedauert, bis die
Fesseln des Stellungskampfes an der Pilica, Rawka und Bzura sprangen.
Während dieser langen Zeit wurde erbittert um Abschnitte und
Schützengräben, Stützpunkte und
Geländestücke gerungen. Der Stellungskrieg mit allen seinen
Nöten setzte auch hier ein.
Das abschließende Urteil über den geschilderten Kriegsabschnitt
hat Ludendorff15 in den Sätzen
zusammengefaßt: "Ein gewaltiger Kampf war zu Ende. Neues war im
Werden! Deutschland und
Österreich-Ungarn waren von der Russengefahr gerettet. Alle
Pläne des Großfürsten waren gescheitert. Sein Angriff auf
die Ostgrenze Preußens, der Vormarsch auf dem westlichen
Weichsel-Ufer und damit alle Hoffnungen der Entente auf eine siegreiche
Beendigung des Krieges im Jahre 1914 waren zusammengebrochen. Die
Preisgabe der östlichen Teile Ostpreußens und eines
großen Teiles von Galizien, so hart sie war, fällt
demgegenüber nicht ins Gewicht. Auch der zweite Teil des Feldzuges
in Polen war eine Tat. Die Kriegsgeschichte kennt nur wenig
Ähnliches. Unsere Truppen, die seit Anfang August dauernd im
Kampf oder in Bewegung waren, hatten sich über alles Lob erhaben
gezeigt. Sie hatten auch jetzt wieder eine beinahe doppelte
Überlegenheit besiegt. Nur mit solchen Führern und Truppen
war es uns möglich gewesen, kühne Absichten auch gegen
Übermacht in die Tat umzusetzen. Ehre und ewiges Andenken der
deutschen Armee des Jahres 1914!"
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