Bd. 1: Der deutsche Landkrieg, Erster Teil:
Vom Kriegsbeginn bis zum Frühjahr 1915
[277]
Kapitel 5: Der Sommerfeldzug in Ostpreußen
1914
Oberst Rudolf Frantz
1. Mobilmachung -
Grenzschutz - Aufmarsch.
Die deutschen Streitkräfte im Osten.
Während die Masse des deutschen Heeres an der Westgrenze
aufmarschierte, um zunächst dort die Entscheidung
herbeizuführen, verblieben im Osten
verhältnismäßig schwache Kräfte. Es war in erster
Linie die 8. Armee, bestehend aus dem I., XVII., XX. Armeekorps, dem I.
Reservekorps, der 3.
Reserve-Division, der 1. Kavallerie-Division sowie der 2., 6. und 70.
Landwehr-Brigade. Dazu kamen zwei posensche
Landwehr-Brigaden und zwei schlesische, die später unter einem
Generalkommando, das in Breslau aufgestellt wurde, zu einem
Landwehrkorps zusammengefaßt werden sollten.
Alle diese Truppen waren dem Oberbefehlshaber der 8. Armee,
Generalobersten v. Prittwitz und Gaffron unterstellt, dessen Stab in Posen
mobil gemacht wurde. Diesen deutschen Oststreitkräften war in erster
Linie als Aufgabe zugedacht, die östlichen Provinzen gegen einen
Einfall des Feindes zu schützen, bis mehr Kräfte zum Kampfe
gegen Rußland verfügbar gemacht werden konnten; ferner
sollten sie die von Österreich beabsichtigte Offensive
unterstützen. Zu diesem Zweck hatten Teile des Ostheeres,
nämlich die als Landwehrkorps zusammengefaßten vier
Landwehr-Brigaden im Anschluß an den linken Flügel der
Österreicher vorzugehen, die in Galizien aufmarschierten, um von
dort die Offensive nach Rußland hineinzutragen. So kam es, daß
das
schlesisch-posensche Landwehrkorps völlig getrennt von der 8. Armee
operierte.
Ehe die 8. Armee an die Lösung ihrer eigentlichen Aufgabe
herangehen konnte, hatten ihre einzelnen Teile naturgemäß
auch den unmittelbaren
Grenz-, Bahn- und Küstenschutz zu übernehmen. Die aktiven
Armeekorps versahen diesen Dienst vom ersten Tage ab während der
in ihren Korpsbezirken erfolgenden Mobilmachung. Die
Landwehr-Brigaden, von denen die 2. beim I., die 6. beim II., die 70. beim
XVII. Armeekorps aufgestellt wurden, rückten je nach Fertigwerden
ihrer Truppenteile bei den aufstellenden Armeekorps in den Grenzschutz
ein. Vom I. Reservekorps trat die 1.
Reserve-Division im Bereich des I. Armeekorps aus Ostpreußen zusammen,
die 36.
Reserve-Division im Bereich des XVII. Armeekorps aus Westpreußen.
Die 3.
Reserve-Division bildete sich im [278] Bereich des II. Armeekorps zum
größeren Teil aus Söhnen Pommerns, zum kleineren aus
Westpreußen.
Für den Aufmarsch der 8. Armee waren die Rücksichten
maßgebend gewesen, welche die Sicherung Ostdeutschlands gegen einen
russischen Einbruch forderte. Einem solchen Einbruch waren in erster Linie
die östlich der Weichsel gelegenen Landstriche Preußens
ausgesetzt. Gegen sie mußte sich aller Wahrscheinlichkeit nach eine
russische Offensive zunächst richten, während die übrigen
an Rußland grenzenden Gebiete weniger bedroht waren. Um den
Schutz
Ost- und Westpreußens östlich der Weichsel zu
gewährleisten, war zunächst ein weitläufiger Aufmarsch
längs der Grenze vorgesehen. Während die drei aktiven
Armeekorps sich in ihren Korpsbezirken zu versammeln hatten, sollten nach
den im Frieden getroffenen Anordnungen planmäßig nach
vollendeter Mobilmachung vorgeführt werden: das I. Reservekorps
zwischen das I. und XX. Armeekorps in die Gegend von
Angerburg - Nordenburg, die 3.
Reserve-Division auf den rechten Flügel des XVII. Armeekorps in die
Gegend von Hohensalza, so daß nach beendetem Aufmarsch die 8.
Armee zwischen Gnesen und Tilsit stand mit 4½ Armeekorps, einer
Kavallerie-Division und drei gemischten Landwehr-Brigaden in einer
Stärke von 218 000 Mann, 76 000 Pferden, 636
Geschützen, darunter 48 schweren Kalibers.
Die Aufgabe, die dem Generalobersten v. Prittwitz mit diesen
verhältnismäßig schwachen Kräften
gegenüber dem gewaltigen russischen Koloß zufiel, war
keineswegs leicht. Sie bedingte eine weitgehende Freiheit des Handelns. So
besagte auch seine Anweisung, "der Oberbefehlshaber der 8. Armee hat die
Operationen im Osten nach eigenem Ermessen zu leiten". Das war ein
grundlegender Unterschied in der Friedensvorbereitung dieser Operationen
gegenüber denen auf dem westlichen Kriegsschauplatz. Hatte man
hier die Machtmittel zur Verfügung, um dem Gegner sofort das Gesetz
des Handelns vorzuschreiben, so daß man auch Richtlinien und Plan
im Frieden bereits festlegen konnte, so war man im Osten vom Feinde
abhängig und hatte nur allgemeine Gesichtspunkte aufstellen
können, die aber betonten, daß auch hinsichtlich der
Hauptkräfte ein übereinstimmendes Handeln mit dem
österreichisch-ungarischen Heere anzustreben sei. Im Sinne der
weitgehenden Vollmachten, die dem Oberbefehlshaber übertragen
waren, lag es, daß ihm außer seiner eigentlichen Armee auch alle
Hilfsmittel der Grenzkorpsbezirke zur Verfügung standen. Dazu
gehörten auch die Besatzungen der Festungen. Nennenswerte
bewegliche Kräfte befanden sich in Posen, Thorn und
Königsberg. Dann war klar, daß die Eisenbahnen eine
bedeutsame Rolle zu spielen hatten, da die 8. Armee aus ihrer weiten
Aufstellung für die eigentlichen Operationen enger versammelt
werden mußte. Der Möglichkeit schneller
Eisenbahnverschiebungen hatte der erste Aufmarsch Rechnung getragen.
Vorbereitungen waren durch die Eisenbahnabteilung des Großen
Generalstabes im Frieden bereits getroffen, wobei man die Bahn
Thorn - Allenstein - Insterburg [279] als die am weitesten gegen die Grenze
vorgeschobene Linie angesehen hatte, die wahrscheinlich bis zum Beginn der
Operationen betriebsfähig erhalten werden konnte. Zu ihrem Schutze
war die Sperrung der Masurischen Seenkette von Ortelsburg bis
Lötzen vorbereitet.
Der Aufmarsch der Russen gegen Ostpreußen.
Vom Feinde nahm der deutsche Generalstab an, daß man
zunächst mit zwei russischen Armeen zu rechnen hatte, von denen
jede etwa fünf Armeekorps stark sein werde: einer, die an der
ostpreußischen Ostgrenze aufmarschieren werde, und einer zweiten an
der ostpreußischen Südgrenze, und daß der Aufmarsch
dieser beiden Armeen durch eine große Zahl von
Kavallerie-Divisionen und Grenzwach-Brigaden gedeckt sein werde. Man
rechnete auch damit, daß die starke russische Kavallerie bestrebt sein
werde, frühzeitig die deutsche Grenze zu überschreiten, um
Mobilmachung und Aufmarsch zu stören, und daß die beiden
russischen Armeen später durch einen konzentrischen Vormarsch
versuchen würden, Ostpreußen auf schnellstem Wege in
russischen Besitz zu bringen.
Diese Auffassung des deutschen Generalstabes über die Lage traf im
wesentlichen zu. Auf russischer Seite marschierte die 1. oder
Niemen-Armee unter dem Befehl des Generals Rennenkampf, dem im
russisch-japanischen Kriege bewährten Reiterführer, in der
Stärke von vier Armeekorps am mittleren Niemen von Kowno bis
nördlich Grodno auf. Eine Nebengruppe in Stärke eines
Armeekorps versammelte sich bei Schaulen (Szawle) in Litauen, fünf
Kavallerie-Divisionen, in zwei Gruppen geteilt, und eine
Grenzwach-Brigade sicherten den Aufmarsch an den Flügeln. Die 2.
oder
Narew-Armee unter General Ssamsonow, versammelte sich in Stärke
von sechs Armeekorps an der
Bobr - Narew-Linie von Osowiec bis Warschau. Ihr
gehörten weitere vier
Kavallerie-Divisionen und eine Schützen-Brigade an. Zwischen beiden
Armeen wurde, etwas später fertig werdend, bei Grodno noch eine
Reservearmee zusammengezogen. Beiden Armeen folgte in zweiter Linie eine
größere Zahl von
Reserve-Divisionen, so daß sich insgesamt 750 000 Mann,
225 000 Pferde und 1.900 Geschütze gegen das
unglückliche Ostpreußen heranwälzten.
Die Absichten der Russen gingen dahin, zunächst mit ihrer gewaltigen
Heereskavallerie in Ostpreußen einzubrechen, das Land zu
überfluten, die Mobilmachung so nachhaltig zu stören,
daß sie zurückverlegt werden müßte, Bahnen,
Straßen, Depots und Magazine zu zerstören und Pferde
beizutreiben. Dieser ersten Maßnahme sollte dann der zangenartige
Einbruch folgen, wobei die 1. Armee die Masurische Seenkette
nördlich, die 2. Armee sie westlich zu umgehen hatte. So sollte der
Krieg nach Deutschland hineingetragen werden. Der gewaltige Vorsprung,
den die russischen Streitkräfte in ihrer Mobilmachung
gegenüber Deutschland hatten, sollte neben der ungeheuren
Überlegenheit diesem Plane zugute kommen.
[280] Der Aufmarsch der deutschen 8.
Armee. Grenzschutzkämpfe.
Bis zum 10. August waren die Verbände der deutschen 8. Armee in der
Hauptsache in ihren planmäßigen Aufmarschräumen
versammelt. Im Posenschen stand die 6.
Landwehr-Brigade bei Gnesen, die 3.
Reserve-Division bei Hohensalza. Rechts der Weichsel befand sich die 70.
Landwehr-Brigade bei Goßlershausen, das XVII. Armeekorps um
Deutsch-Eylau - Neumarkt - Gilgenburg; das XX.
Armeekorps sammelte sich bei
Allenstein - Wartenburg; das I. Reservekorps stand um
Angerburg - Nordenburg, das I. Armeekorps um
Gumbinnen - Goldap, die 2.
Landwehr-Brigade bei Tilsit. Vorwärts vom I. Armeekorps sicherte
die 1. Kavallerie-Division in der Gegend von
Stallupönen - Pillkallen. Das Armeeoberkommando hatte
am 8. August sein Hauptquartier von Posen nach Marienburg verlegt.
In den Ostfestungen Breslau, Posen, Thorn, Graudenz und
Königsberg war man eifrig beschäftigt, bewegliche Kräfte
zur Verwendung außerhalb des Festungsbereichs aufzustellen und
auszurücken.
So waren Mobilmachung und erster Aufmarsch, wie es beim Westheer der
Fall war, auch im Osten planmäßig und glatt verlaufen, obwohl
erhebliche Teile der hier verbleibenden Kräfte seit dem ersten
Mobilmachungstage im
Grenz- und Bahnschutz hatten verwendet werden müssen. An
verschiedenen Stellen der langen deutschen Ostgrenze hatten auch die
Grenzschutzabteilungen inzwischen bereits Gelegenheit gehabt, die Klingen
mit dem Gegner zu kreuzen.
Bereits am 2. August, dem ersten Mobilmachungstage, war der Grenzschutz
des VI. Armeekorps zur Erhöhung des Schutzes des oberschlesischen
Kohlenreviers bis in die Gegend von Bendzin auf russisches Gebiet
vorgeschoben worden. Am folgenden Tage setzten sich Teile des VI.
Armeekorps in den Besitz von Czenstochowa, Teile des V. Armeekorps nahmen
Kalisz. An beiden Stellen kam es zu Gefechten mit russischen
Beobachtungsabteilungen, die nach kurzem Widerstand abzogen.
In Ostpreußen hatten vom ersten Mobilmachungstage an
Kämpfe mit russischen
Aufklärungs-Abteilungen stattgefunden. Überall wurde die
russische Kavallerie, die bereits am 2. August, entsprechend den Absichten
der russischen Heeresleitung, bei Johannisburg und Bialla in der
Stärke von Regimentern auftrat, vom deutschen Grenzschutz
abgewiesen. Am 4. August warfen die Vorposten der Grenzschutzabteilung
Memel russische Grenzwachabteilungen bei
Deutsch-Krottingen zurück. An diesem Tage überschritt die
preußische 1.
Kavallerie-Division unter Generalleutnant Brecht ihrerseits die Grenze und
griff, unterstützt durch schwache Abteilungen des
Füsilier-Regiments 33 und des
Ulanen-Regiments 8, Kibarty an, nahm den Ort, zerstörte
gründlich den Bahnhof, aus dem im letzten Augenblick noch vier
Züge nach Osten abdampften. Vor überlegenen russischen
Kräften wurde die Stadt wieder aufgegeben.
[281] Auch bei Soldau war es in diesen Tagen zu
ernsteren Zusammenstößen gekommen. Die dort stehende
Grenzschutzabteilung, bestehend aus einigen Kompagnien des
Infanterie-Regiments 148 und Teilen des
Kürassier-Regiments 5 und des Feldartillerie-Regiments 35, wies am 4.
August den Vorstoß der russischen 6.
Kavallerie-Division ab. Am nächsten Tage erneuerte der Feind zweimal
den Angriff. Beide Male wurde sein Durchbruchsversuch von den tapferen
Westpreußen vereitelt, eine seiner Brigaden schwer
zusammengeschossen.
Am 9. August warf ostpreußische Landwehr bei Schmalleningken an
der Memel einige
Infanterie-Kompagnien, die über die Grenze vorzukommen
versuchten. Einen schönen Erfolg hatten die deutschen Waffen am
gleichen Tage bei Bialla zu verzeichnen. Die russische 4.
Kavallerie-Division überschritt bei Schwiddern die Grenze. Die
Abteilung Bialla, bestehend aus dem II. Bataillon
Infanterie-Regiments 147, der 4. Batterie
Feldartillerie-Regiments 82 und einigen Dragonern unter Major Beerbohm,
griff den Feind an, schlug ihn, brachte ihm schwere Verluste bei, verfolgte
ihn bis zur Grenze und nahm ihm sechs Geschütze ab. Ebensowenig
hatten am folgenden Tage Teile der russischen 3.
Kavallerie-Division Glück, die bei Romeyken südlich
Eydtkuhnen ins deutsche Gebiet eingedrungen waren. Hier warfen sich
einzelne Kompagnien des
Füsilier-Regiments 33 und des Infanterie-Regiments 41,
unterstützt von einer Batterie des
Feldartillerie-Regiments 1, dem Feinde entgegen.
So waren alle Versuche der starken russischen Kavallerie, die
Mobilmachung zu stören, gescheitert. Der schwache deutsche
Grenzschutz hatte überall gehalten. Nirgends war es dem Feinde
gelungen, Zerstörungen an Bahnen oder militärischen
|
Einrichtungen in nennenswertem Umfange vorzunehmen. Dafür hatte
die russische Kavallerie ihre Erfolge in der Verwüstung des Landes
gesucht, soweit es von den deutschen Truppen aufgegeben war.
Kosakenpatrouillen mit Zündmitteln planmäßig
ausgestattet, hatten diese Aufgabe besorgt. Dörfer, Güter,
Gehöfte waren allenthalben in Flammen aufgegangen. Einwohner
wurden als Geiseln verschleppt, friedliche Zivilpersonen, unter ihnen Frauen
und Kinder, waren erschossen worden, wehrfähige Männer
verstümmelt, um sie dienstuntauglich zu machen. Der blühende
Grenzort Prostken südlich Lyck, war schon in den ersten Tagen
völlig zerstört worden.
Die Erfolge bei all diesen Zusammenstößen hatten anderseits
Mut und Stimmung der deutschen Truppen belebt. Sie hatten überall
das Gefühl der Überlegenheit über den Feind gewonnen,
dessen Reiterei auch in der Überzahl den Kampf mit der blanken
Waffe scheute. Die Erbitterung über den wüst hausenden und
brandschatzenden Feind war groß. So kam es, daß in dem
Bestreben, das Land vor neuen Verheerungen zu schützen, der
Grenzschutz allmählich aus der planmäßig im Frieden
festgelegten Aufstellung, die einen schmalen Landstrich preisgab, sich
näher an die Grenze heranschob. Truppen, wie höhere
Führer handelten hierin übereinstimmend; insbesondere war
dies beim I. Armeekorps [282] der Fall, das die Brandfackel in seine
Heimatprovinz hineingetragen sah, und das daher mit seiner Masse
erheblich weiter vorrückte, als es sowohl den Friedensvorbereitungen,
wie den Absichten des Armeeoberkommandos entsprach.
2. Die ersten Kämpfe der 8. Armee gegen die
Armee Rennenkampfs.
Die ersten Absichten und Maßnahmen des Oberkommandos
der 8. Armee.
Als das Oberkommando der 8. Armee am Nachmittag des 8. August in
Marienburg eintraf, war die Lage noch keineswegs geklärt. Man war
einstweilen noch auf die auf Friedensnachrichten sich gründenden
Mutmaßungen über den feindlichen Aufmarsch angewiesen.
Eines hatte die Aufklärung allerdings festgestellt: Polen westlich der
Weichsel war vom Feinde fast völlig geräumt. Dagegen
herrschte noch Dunkel darüber, wie es jenseits der Grenze
Ostpreußens von Memel bis Augustow und am unteren Narew aussah.
Jedenfalls aber brauchte man mit einem Vormarsch des Feindes
südlich der Weichsel gegen Posen nicht mehr zu rechnen, und so
befahl der Oberbefehlshaber noch am 8. das Heranführen der in der
Provinz Posen stehenden Teile der Armee, der 3.
Reserve-Division und der 6. Landwehr-Brigade, mittels Eisenbahn nach
Ostpreußen.
Die in den nächsten Tagen eingehenden Nachrichten brachten das
Armeeoberkommando weiter zu der Anschauung, daß auch am unteren
Narew kein stärkerer Feind stehe, daß sich vielmehr die beiden
Armeen, mit denen man rechnete, östlich der Linie
Wirballen - Lomza versammelten, und daß ihr Einbruch
aus dieser Linie nach Ostpreußen hinein zu erwarten war.
Generaloberst v. Prittwitz kam daher zu dem Entschluß, seine ganze
Armee im östlichen Ostpreußen zusammenschließen zu
lassen, um alsdann den vormarschierenden Gegner anzugreifen, wobei er
sich noch vorbehielt, ob er seinen Hauptstoß gegen den rechten oder
linken Flügel des Feindes richten werde.
Bis zum 14. August war das Bild klarer geworden. Ein Vorstoß der 36.
Infanterie-Division auf Mlawa hatte nur ausweichende russische Kavallerie
getroffen, Infanterie hatte sich nirgends gezeigt. Mit einem Vormarsch des
Feindes westlich Lomza glaubte das Armeeoberkommando einstweilen nicht
rechnen zu brauchen. Dagegen hatte anscheinend der Feind seine
Versammlung von Wirballen bis Lomza vollendet und alle Anzeichen
deuteten auf baldiges Vorgehen. Der Führer der nördlichen
Armee, General Rennenkampf, war von Wilna in Kalwarja eingetroffen; am
13. August hatte der Gegner nordöstlich Marggrabowa die Grenze mit
starken Abteilungen bereits überschritten. Die Gesamtstärke
der beiden feindlichen Armeen berechnete das Armeeoberkommando auf acht
bis zehn Armeekorps und sieben
Kavallerie-Divisionen. Als nun am Morgen des 14. August neue Nachrichten
einliefen, nach denen die Gegend am unteren Narew vom Feinde frei war,
und gleichzeitig das Generalkommando des [283] I. Armeekorps meldete, daß
stärkere feindliche Kräfte beiderseits Marggrabowa vorgingen,
während an der Front
Wystyniec - Wladyslawow alles ruhig bliebe, daß auch
die von Kalwarja und Marjampol heranführenden Straßen von
Infanterie frei seien, und Verschiebungen feindlicher Kavallerie von
Wirballen nach Süden erkannt seien, faßte der Oberbefehlshaber
den entscheidenden Entschluß. Er rechnete nunmehr mit einem
Vorgehen des Feindes südlich der Romintenschen Heide, so daß
sich Gelegenheit zu bieten schien, seine Nordflanke zu fassen. Zu diesem
Zweck sollte die Armee nach dem linken Flügel zusammengezogen
werden. Es wurde der Herantransport des XVII. Armeekorps in die Gegend
von Darkehmen befohlen, der sofort zu beginnen hatte. Bis zum Eintreffen
des Korps sollte das I. Reservekorps die
Angerapp-Linie von Angerburg bis Darkehmen halten, während das
I. Armeekorps bei
Gumbinnen - Insterburg zu verbleiben hatte. Die 3.
Reserve-Division und die 6. Landwehr-Brigade waren bereits in die Linie
Nikolaiken - Lötzen eingerückt und unter dem
Befehl des Generals v. Morgen mit der Verstärkung dieser Linie
beschäftigt. Dem XX. Armeekorps wurde die Aufgabe zugewiesen, aus
der Gegend von Ortelsburg die rechte Flanke der Armee zu decken. Die 70.
Landwehr-Brigade wurde von Goßlershausen nach
Strasburg - Lautenburg herangezogen; westlich von ihr
rückten gemischte Abteilungen aus Graudenz und Thorn an die
Grenze; in den Raum östlich der Brigade sollten einige Bataillone aus
Danzig herangeführt werden. Alle diese von Thorn bis Neidenburg
verteilten
Landwehr- und Ersatztruppen wurden dem einheitlichen Befehl des
Generals v. Unger unterstellt und angewiesen, an das XX. Armeekorps
heranzuschließen. In Königsberg wurde unter dem Befehl des
Generals Brodrück aus
Landwehr- und Ersatztruppen eine mobile Division gebildet, die nach
Insterburg herangeführt werden sollte.
Wenn auch am 14. August abends und im Laufe des 15. neue Nachrichten
eingingen, die erkennen ließen, daß es sich beim
Überschreiten der Grenze in der Gegend von Marggrabowa noch
nicht um den Beginn eines allgemeinen Angriffs, sondern vielmehr um eine
gewaltsame Erkundung gehandelt hatte, so blieb doch das
Armeeoberkommando bei seiner Ansicht, daß die russische Offensive
südlich der Romintenschen Heide zu erwarten sei. Bis zum 18. August
konnten die geplanten Bewegungen und Transporte ausgeführt sein,
so daß an diesem Tage nachmittags die ganze 8. Armee
operationsfähig war. So sah man mit Zuversicht den kommenden
Dingen entgegen.
Um den Ereignissen näher zu sein, begab sich das
Armeeoberkommando nach Bartenstein, wo es am 16. August eintraf. Hier
stellte sich heraus, daß der Gegner nach Süden und nach
Norden weiter reichte, als man bisher angenommen hatte. Zwischen Lomza
und Ostrolenka hatten Flieger stärkeren Feind festgestellt. Der
Nordflügel der Armee des Generals Rennenkampf war nicht in der
Gegend von Filipowo, südlich der Romintenschen Heide, sondern mit
Sicherheit bei [284] Wirballen anzunehmen, starke Kavallerie
noch weiter nördlich in der Gegend von Schirwindt und Schillehnen.
An der Bahn
Kowno - Wirballen waren Truppenausladungen gemeldet. Bei
dieser Ausdehnung des Feindes wurde es fraglich, ob noch eine Umfassung
seines Nordflügels gelingen werde.
Am Morgen des 17. August erfuhr man aber ferner, daß das I.
Armeekorps nicht mehr mit seiner Masse bei Gumbinnen bereit stand,
sondern erheblich weiter vorwärts mit seinen Divisionen
auseinandergezogen bei
Goldap - Mehlkehmen und bei Stallupönen; das war um
so erstaunlicher, als General v. Prittwitz noch von Posen aus seine
Unterführer darauf hingewiesen hatte, daß der Aufmarsch
zunächst planmäßig durchzuführen sei. Der jetzt
erlassene Befehl, das Armeekorps noch am heutigen Tage
zurückzunehmen und es nördlich Gumbinnen zu vereinigen,
war nicht mehr ausführbar. Das Armeekorps stand im Gefecht. Der
erste größere Kampf im Osten hatte begonnen.
Das Gefecht des I. Armeekorps bei Stallupönen am 17.
August.
Der Kommandierende General des I. Armeekorps, General v.
François, hatte sich nicht entschließen können, das ganze
Land östlich Gumbinnen der Verwüstung durch die Russen
preiszugeben. Auch schien es ihm erforderlich, die schwache deutsche
Kavallerie in ihrer Aufklärungstätigkeit durch stärkere
Truppen aller Waffen zu unterstützen. So war es gekommen,
daß die 2.
Infanterie-Division am Morgen des 17. August mit Teilen bei Goldap, mit dem
Rest bei Tollmingkehmen stand, die 1. im Bogen um Stallupönen
herum von Göritten bis Bilderweitschen, als stärkerer Feind
zunächst gegen den rechten Flügel der 1.
Infanterie-Division bei Göritten vorging. Der Gegner verstärkte
sich mehr und mehr, so daß allmählich die ganze Division im
Kampfe stand. Um 10 Uhr vormittags kam die Meldung, daß eine lange
Kolonne von Wisztyniec auf
Groß-Sodehnen im Anmarsch sei. Die 2.
Infanterie-Division wurde benachrichtigt. Ihr Führer, General v. Falk,
entschloß sich selbständig, mit den bei Tollmingkehmen
stehenden Kräften seinerseits diesen Feind in der Flanke anzugreifen.
Inzwischen war auch General v. François auf dem Gefechtsfeld
eingetroffen und hatte die Leitung übernommen. Das Eingreifen der 2.
Infanterie-Division brachte auf dem rechten Flügel die Entscheidung.
Der Feind wurde hier völlig geschlagen, er ließ 2.000 Gefangene
und 4 Maschinengewehre in deutscher Hand. Nicht so günstig stand
das Gefecht auf dem linken Flügel. Hier hatten die Russen mit
überlegenen Kräften die 1.
Infanterie-Division umfaßt; trotz größter Tapferkeit der
braven Ostpreußen gingen einige Geschütze verloren. Die
Division mußte am Abend ihren linken Flügel
zurückbiegen und sich eingraben.
[285]
Skizze 9: Gefecht des I. Armeekorps bei Stallupönen
am 17. August 1914
|
Immerhin hatte aber das Armeekorps bei Einbruch der Dunkelheit das
Bewußtsein, einen vollen Sieg über das III. russische Korps
davongetragen zu haben. Die Beute hatte sich auf 3.000 Gefangene und 6
Maschinengewehre gesteigert. Man beabsichtigte, auf dem Schlachtfelde zu
biwakieren und am frühen [285] Morgen den Erfolg weiter
auszunützen. Eine erneute Weisung des Armeeoberkommandos, auch
im Falle eines Waffenerfolges nach Gumbinnen zurückzugehen,
veranlaßte jedoch das Armeekorps, noch in der Nacht den Marsch
nach Westen anzutreten. Er erfolgte völlig unbelästigt vom
Gegner.
Die Kämpfe der 8. Armee am 19. und 20. August.
Die Ereignisse beim I. Armeekorps hatten den bündigsten Beweis
geliefert, daß sich der rechte Flügel der Russen über die
Bahn Kowno - Stallupönen nach Norden erstreckte.
Andere Nachrichten gaben dem Armeeoberkommando die Gewißheit,
daß der Feind beiderseits der Romintenschen Heide in der
Vorbewegung war. Sein Aufmarsch war also beendet, der allgemeine
Vormarsch im [286] Gange. Aus der Linie
Wirballen - Augustow erwartete man fünf Armeekorps.
Auch von Ostrolenka her schien der Feind angetreten zu sein. Wenn auch
der Vormarsch weiter nördlich erfolgte, als dem Oberbefehlshaber
ursprünglich vorgeschwebt hatte, verzichtete er doch keineswegs auf
den Angriffsentschluß. Um zunächst das I. Armeekorps einer
Teilniederlage zu entziehen, wurde es angewiesen, trotz des Waffenerfolges
zurückzugehen. Die übrigen für den Kampf in Frage
kommenden Verbände erhielten noch am 17. nachmittags den Befehl
zur Bereitstellung zum Angriff, und zwar sollten stehen: die 3.
Reserve-Division, deren Verteidigungsabschnitt die 6.
Landwehr-Brigade allein zu übernehmen hatte, bei Lötzen, das
I. Reservekorps bei Angerburg und nördlich, das XVII. Armeekorps
bei Darkehmen, die Division Brodrück an der Angerapp
südwestlich Gumbinnen.
Am 18. nachmittags standen die Truppen bereit. Die Russen setzten ihren
Vormarsch nur langsam und tastend fort. Sowohl beim Armeeoberkommando
als auch beim Generalkommando I. Armeekorps rechnete man mit der
Absicht der Russen, den linken Flügel des Armeekorps, von dem die 2.
Infanterie-Division im Bogen um Gumbinnen herumstand, die 1. sich links
anschloß, zu umfassen. Das Armeeoberkommando stellte die Division
Brodrück dem General v. François zur Verfügung, der
sie an Stelle der 2.
Infanterie-Division einsetzte und diese hinter dem linken Flügel des
Armeekorps als seine Reserve bereitstellte.
Am 19. August begab sich das Armeeoberkommando nach Nordenburg. Zur
Schlacht kam es an diesem Tage noch nicht. Nur auf dem
äußersten linken deutschen Flügel bei Mallwischken hatte
sich starke russische Kavallerie, es waren die beiden
Garde-Divisionen, gegen Teile der 2.
Landwehr-Brigade gewandt. Der deutschen 1.
Kavallerie-Division glückte es, die russische Kavallerie im
Rücken zu fassen und ihr schwere Verluste beizubringen. Im Schutze
der Dunkelheit räumten die Russen das Schlachtfeld, sieben
Geschütze zurücklassend.
Bis zum Abend gewann der Oberbefehlshaber den Eindruck, daß der
Feind in der Linie
Ostrolenka - Lomza sich zwar verstärkt hatte, aber noch
nicht erheblich vorgerückt war; das russische II. Korps hatte mit dem
Anfang Lyck erreicht, in der Gegend
Goldap - Filipowo standen zwei bis drei Divisionen; der
nördlich der Romintenschen Heide vorgehende Feind schien sich nach
der Chaussee
Stallupönen - Gumbinnen zusammenzuziehen. Gegen
das I. Armeekorps hatte er nur vorgefühlt. In Übereinstimmung mit
General v. François kam General v. Prittwitz zu der Ansicht,
daß sich die Möglichkeit bot, mit dem I. und XVII. Armeekorps
in schnellem Handeln durch beiderseitige Umfassung des Feindes bei
Gumbinnen einen größeren Erfolg zu erzielen, während
man den bei Goldap stehenden Feind mit dem I. Reservekorps und der 3.
Reserve-Division in Schach hielt. In Ausführung dieses Gedankens
wurde zwischen 4 und 5 Uhr nachmittags befohlen, daß noch am
Abend antreten sollten: das XVII. Armeekorps auf Walterkehmen und
nördlich, das I. Reservekorps gegen die Chaussee [287] Darkehmen - Kleszowen,
während die 3.
Reserve-Division noch die Gegend von Possessern erreichen sollte. Da man
tagsüber des Vormarschbefehls gewärtig gewesen war, konnte
der Marsch ungesäumt angetreten werden; nur beim I. Reservekorps,
das noch an der
Angerapp-Stellung gearbeitet hatte, mußten die Truppen erst
zusammengezogen werden. So befanden sich die Verbände der Mitte
und des linken Flügels der Armee in der Nacht vom 19. zum 20. August
unterwegs. Auf dem rechten Flügel hatte General v. Scholtz die
Divisionen des XX. Armeekorps nach vorn aufschließen lassen; die 37.
stand abwehrbereit bei Ortelsburg, die 41. südwestlich Jedwabno. Die
Abteilungen des General v. Unger waren nach links herangezogen; die 70.
Landwehr-Brigade stand bei Neidenburg.
Mit Tagesanbruch des 20. August begann der Artilleriekampf bei der
Division Brodrück und der 1.
Infanterie-Division. Die 2. Infanterie-Division war während der Nacht
durch die Waldungen nordwestlich Gumbinnen marschiert und trat 4 Uhr
morgens überraschend zum umfassenden Abgriff auf Mallwischken
an. Der Erfolg war groß. Die Division war bereits um 9 Uhr morgens
bis zur Straße
Gumbinnen - Kussen durchgedrungen und hatte 4.000
Gefangene gemacht. Die 1.
Infanterie-Division schloß sich mit starkem linken Flügel dem
Angriff an, und auch hier drangen die wackeren ostpreußischen
Regimenter bis in gleiche Höhe vor, wo der Angriff zunächst
einmal zum Stehen kam. Die Division Brodrück gewann in frontalem
Kampf nur wenig Gelände.
Nicht so glücklich verliefen die Ereignisse südlich der
Eisenbahn
Gumbinnen - Stallupönen beim XVII. Armeekorps. Mit
der 35.
Infanterie-Division links, mit der 36. rechts, rechter Flügel über
Walterkehmen trat das Armeekorps um 5 Uhr morgens zum Angriff an, der
zunächst flott vorwärts ging. Der Feind schien in
nordöstlicher Richtung zu weichen. Schon begannen Teile des
Armeekorps gegen die Chaussee
Gumbinnen - Stallupönen einzuschwenken, um dem
gegen das I. Armeekorps kämpfenden Feinde in die Flanke zu fallen,
als sich herausstellte, daß man zunächst nur vorgeschobene
Kräfte geworfen hatte, und daß nun erst der eigentliche Angriff
auf die starke Stellung der Russen zu beginnen hatte. Zu einer Umfassung
gelangte man trotz mehrfacher Versuche nicht mehr; immer stieß man
wieder auf eine neue starke Front. Trotzdem wurde in mühseligem
Ringen noch weiter Gelände gewonnen, bis schließlich der
Angriff seine Kraft verlor. Die Verluste, namentlich an Offizieren, waren
ungeheuer. General v. Mackensen mußte sich entschließen, sein
Armeekorps mit Einbruch der Dunkelheit hinter die Rominte
zurückzunehmen.
Das I. Reservekorps war die ganze Nacht auf ungemein schlechten Wegen
durchmarschiert; als Ziel hatte General v. Below der 1.
Reserve-Division Kleszowen, der 36. Königsfelde zugewiesen. Der
Kanonendonner aus nordöstlicher Richtung, wo man das XVII.
Armeekorps im Kampfe wußte, schallte immer lebhafter
herüber. Da noch keine Meldungen über feindliche
Bewegungen von [288] Goldap her vorlagen, war der
Kommandierende General entschlossen, auf das Gefechtsfeld
weiterzumarschieren, eine Absicht, die jedoch durch einen Befehl des
Armeeoberkommandos verhindert wurde, nach dem die Divisionen unbedingt
zu halten hätten da nach sicheren Nachrichten bei Goldap zwei
feindliche Armeekorps ständen. Die stark ermüdeten Divisionen
rasteten noch, als plötzlich gegen 11 Uhr vormittags der Feind
erschien und gegen die Linie
Kleszowen - Gawaiten zum Angriff schritt. Beide Divisionen
traten dem Feinde gewandt entgegen und gingen bald ihrerseits zum Angriff
über. Trotz mehrfacher Versuche der Russen, den linken Flügel
der 36.
Reserve-Division nördlich Gawaiten zu umfassen, ging der Angriff der
tapferen
ost- und westpreußischen Reservisten und Landwehrmänner,
denen man nicht ansah, daß sie über 24 Stunden auf den Beinen
waren, vorwärts und bis zum Abend war er weit über die Linie
Kleszowen - Gawaiten auf Goldap vorgeschritten. Gegen 5 Uhr
nachmittags teilte das Armeeoberkommando mit, die 3.
Reserve-Division sei im Vorgehen von Benkheim gegen den Rücken des
Feindes, freilich sei es fraglich, ob sie heute noch zum Eingreifen komme.
General v. Below entschloß sich, die Fortsetzung des Angriffs auf den
21. August zu verschieben.
Die Russen waren vom I. Reservekorps überall
zurückgedrängt, zur Entscheidung war es aber nicht
gekommen. Diese am nächsten Tage zu bringen, dazu schien die 3.
Reserve-Division berufen. Sie war am Morgen des 20.
befehlsgemäß nach Benkheim marschiert, wo sie vom
Armeeoberkommando als Flankenschutz festgehalten wurde, trotz Einspruchs
des Divisionskommandeurs. Erst 4 Uhr nachmittags ordnete der
Oberbefehlshaber den Weitermarsch in Richtung Kleszowen an, wo das I.
Reservekorps im Kampf stände. Kurz vor Einbruch der
Dämmerung erreichte die Division die Gegend nordöstlich
Rogahlen. Die Brigaden wurden noch zum Angriff in östlicher
Richtung entfaltet, der Angriff selbst sollte mit Tagesgrauen in den
Rücken des Feindes erfolgen. Bis dahin konnte auch über die
Lage beim I. Reservekorps Klarheit gewonnen sein.
So waren auf dem rechten Schlachtflügel am Abend des 20. August die
Vorbedingungen für einen bedeutenden Erfolg geschaffen. Auch auf
dem linken Flügel beim I. Armeekorps war die Lage günstig
geblieben. Die 2.
Infanterie-Division war am Nachmittage über die Chaussee
Gumbinnen - Kussen noch weiter vorgedrungen, der Feind
allmählich auf Kattenau und die Höhen nördlich des
Ortes zurückgewichen. Die Truppen waren aber nach den Leistungen
der letzten Tage am Rande ihrer Kräfte, zudem war eine neue
befestigte Stellung der Russen bei Kattenau erkannt, die man an diesem
Tage nicht mehr angreifen wollte. Das Generalkommando plante
für die Nacht eine neue Verschiebung der Kräfte nach Norden,
um so am folgenden Tage zu einer wirksamen Umfassung zu kommen. 6.000
Gefangene, eine große Zahl von Maschinengewehren und einige
Geschütze waren die Beute des Tages.
Nördlich vom I. Armeekorps hatte die 1.
Kavallerie-Division einen Sieges- [289] zug vollführt. Sobald
rückgängige Bewegungen beim Feinde erkannt wurden, hatte
General Brecht die Verfolgung aufgenommen. Über Kussen auf
Pillkallen vorgehend, griff seine Division mehrfach mit
Artillerie- und Maschinengewehrfeuer in den Kampf ein. Südlich
Pillkallen bot sich ihr Gelegenheit, eine zurückgehende feindliche
Kolonne zu attackieren. Über 600 Gefangene, dabei zwei geschlossene
Kompagnien, und viel Kriegsmaterial blieben in der Hand der deutschen
Reiter. Die Gefangenen in der Mitte, nächtigte die Division an den
Forsten nördlich Pillkallen.
So hatten am 20. August 1914 zum ersten Male seit anderthalb
Jahrhunderten Preußen und Russen in einer großen Schlacht
sich gegenübergestanden. Der Russe hatte sich als ein sehr
achtungswerter Gegner erwiesen. Von Natur ein guter Soldat, war er
wohldiszipliniert, kriegserfahren, gut ausgerüstet. Er war tapfer,
verschlagen, geschickt im Ausnutzen des Geländes, ein Meister in
gedeckter Verwendung von Artillerie und Maschinengewehren. Ganz
besonders geschickt erwies er sich in der Anlage von Feldbefestigungen, die
wie mit Zauberschlag in mehreren Linien hintereinander entstanden. Diesen
trefflichen Eigenschaften des Soldaten stand die Unsicherheit der russischen
Führung gegenüber. Sie fühlte sich der deutschen von
vornherein unterlegen; sie war daher vorsichtig und zeigte besonders
große Sorge um ihre Flanken. Wie weit die Vorsicht ging, dafür
ist besonders kennzeichnend, daß die Russen täglich nach dem
Marsche schanzten, selbst wenn sie sich noch Hunderte von Kilometern vom
Feinde befanden. Um ihre Bewegungen zu verschleiern, machten sie reichlich
Gebrauch von Nachtmärschen; bei Bewegungen am Tage
nützten sie vielfach durch Marsch in den Chausseegräben die
Deckung der Bäume gegen Fliegerbeobachtung aus, so daß auf
den Straßen nur Fuhrwerk zu erkennen war. Beides, die Art der
Bewegung, wie das tägliche Schanzen, erschwerten die deutsche
Aufklärung und gaben ihr Anlaß zu falschen
Schlüssen.
Der Rückzug der 8. Armee.
Beim Armeeoberkommando hatte am Nachmittag des 20. August der Eindruck
geherrscht, daß die Aussichten auf einen Erfolg nicht schlecht seien.
Die Narew-Armee rückte anscheinend nur langsam vor, so daß
Zeit blieb, die Entscheidung gegen Rennenkampf durchzuführen, um
so mehr, als das Generalkommando XX. Armeekorps sich voller Zuversicht
dahin aussprach, das Armeekorps werde im Süden schon halten, bis
im Norden der Sieg errungen sei. Da kamen am Abend Meldungen, die einen
entscheidenden Umschwung herbeiführten. Hatte man bisher den
linken Flügel der
Narew-Armee im Marsch auf Chorzele angenommen, so war nunmehr von
Fliegern festgestellt, daß auch von Warschau und Pultusk starker
Feind im Anmarsch auf Mlawa bereits so nahe gerückt war, daß
er am 21. August früh die Grenze überschreiten konnte.
Gleichzeitig ging [290] die Nachricht ein, daß auch noch
weiter westlich starker Feind aufgetreten war. Im ganzen bestand nach
sicheren Nachrichten die
Narew-Armee aus fünf Korps.
Unter diesen veränderten Umständen glaubte General v. Prittwitz
den Kampf gegen Rennenkampf nicht mehr durchführen zu
können. Mit einer schnellen Entscheidung, die schon in den
nächsten Tagen volle Bewegungsfreiheit gegen die
Narew-Armee gegeben hätte, rechnete man nicht; gelangte diese aber in
den Rücken der noch kämpfenden 8. Armee, so schien eine
Katastrophe unvermeidlich. Der Oberbefehlshaber entschloß sich,
seine Armee hinter die Weichsel zurückzuführen. Das war ein
Entschluß, den nur strategische Erwägungen eingegeben hatten;
die Rücksichten auf das Schicksal des preisgegebenen Landes glaubte
der Oberbefehlshaber jenen unterordnen zu müssen. Auch dieser
Rückzug war nicht ungefährdet, wenn nicht der
Narew-Armee hinreichender Aufenthalt bereitet wurde. Diese Aufgabe sollte
dem XX. Armeekorps zufallen, sowie der 3.
Reserve-Division, die mittels Eisenbahn nach Allenstein, und dem I.
Armeekorps, das an den rechten Flügel des XX. herangeführt
werden sollte.
Die entsprechenden Anordnungen wurden sofort erlassen. Es sollten
zurückgehen: die 3.
Reserve-Division nach Lötzen oder Angerburg, um dort verladen zu
werden, das I. Reservekorps auf Nordenburg, das XVII. Armeekorps auf
Allenburg, das I. Armeekorps nebst Division Brodrück in der
Richtung auf Königsberg. Die 1.
Kavallerie-Division sollte Anschluß an das XVII. Armeekorps suchen.
Trotz der Schwierigkeiten, welche die Übermittlung dieses den Truppen
völlig unerwartet kommenden Befehls machte, glückte das
Loslösen vom Feinde überall. Bis zum Nachmittage des 21. August
hatte die Masse der Armee die Abschnitte der Angerapp und Inster zwischen
sich und den Feind gebracht. Noch am Abend dieses Tages begann der
Abtransport der 3.
Reserve-Division von Angerburg. Die 1. Kavallerie-Division ruhte halbwegs
Gumbinnen - Insterburg, nachdem sie in drei Tagen unter
erfolgreichen Kämpfen 190 Kilometer zurückgelegt hatte. Die 2.
Landwehr-Brigade marschierte nördlich des Pregel auf
Königsberg ab.
Das Armeeoberkommando hatte sich am Morgen des 21. nach Bartenstein
zurückbegeben. Vom Generalkommando des XX. Armeekorps erfuhr
man, daß der Feind anscheinend mit starken Kräften in der Linie
Mlawa - Friedrichshof aufschloß. General v. Scholtz
hatte schon tags zuvor eine Verschiebung seiner Divisionen nach Westen
angeordnet und plante nunmehr, sein Armeekorps noch weiter rechts
rückwärts zu ziehen, um in der Gegend von Gilgenburg das
Herankommen der 3.
Reserve-Division und des I. Armeekorps anzuwarten, falls sich nicht vorher
Gelegenheit zu einem überraschenden Schlage gegen den von Mlawa
anrückenden Feind bieten sollte. Diese Absichten wurden vom
Oberbefehlshaber gebilligt. Bis zum Nachmittage gewann man ferner die
Gewißheit, daß die Armee Rennenkampfs den
zurückgehenden Korps nur sehr vorsichtig folgte; auf seinem rechten
Flügel schienen neue Ausladungen stattzufinden.
[291] Inzwischen hatte die Oberste Heeresleitung,
der gegenüber General v. Prittwitz seinen Entschluß eingehend
begründet hatte, in die Führung auf dem östlichen
Kriegsschauplatz eingegriffen. Im Laufe des Tages wies der Chef des
Generalstabes des Feldheeres, General v. Moltke, mehrfach darauf hin,
daß die Trennung der feindlichen Armeen die Gelegenheit zu einem
Angriff auf die
Narew-Armee biete, wozu erforderlich sei, die Kräfte der Armee
zusammenzufassen. Es erscheine angezeigt, das XVII. Armeekorps und das I.
Reservekorps hinter der Seenlinie gedeckt an das XX. heranmarschieren zu
lassen.
Dieser gewagte Plan schien dem General v. Prittwitz nicht ausführbar.
Wenn auch der Feind den zurückgehenden Korps bisher nicht gefolgt
war, so meinte er doch in kürzester Frist mit einem solchen Handeln
des Gegners rechnen zu sollen, dessen Bestreben doch sein mußte, im
Verein mit der
Narew-Armee den Deutschen den Rückzug zu verlegen. Er glaubt um
so weniger dem Vorschlage der Obersten Heeresleitung entsprechen zu
können, als er einmal auch starke Kräfte im Anmarsch gegen die
Linie Arys - Johannisburg annahm, und anderseits das
Generalkommando des XX. Armeekorps noch meldete, Ortelsburg und
Willenberg seien bereits von feindlicher Kavallerie besetzt.
Der General entschloß sich allerdings nunmehr, die gesamte 8. Armee
nach dem rechten Flügel zum Angriff auf die
Narew-Armee zusammenzuziehen, jedoch sollte das I. Reservekorps und das
XVII. Armeekorps westwärts weitermarschierend dorthin gelangen.
Die erforderlichen Anordnungen wurden gegen 8 Uhr abends erlassen, die
Angriffsabsicht den Armeekorps bekanntgegeben. Der Transport des I.
Armeekorps blieb, wie bisher beabsichtigt, bestehen, die Ausladungen der 3.
Reserve-Division wurden nach Deutsch-Eylau verlegt, wohin auch die 6.
Landwehr-Brigade folgen sollte.
Das Armeeoberkommando begab sich in der Nacht zum 22. August nach
Mühlhausen. Die Bewegungen der Armee vollzogen sich
planmäßig, Rennenkampf folgte anscheinend nicht, nur einzelne
Eskadrons fühlten gegen die Angerapp vor. Als Ausladepunkt
für das I. Armeekorps wurden
Goßlershausen - Strasburg und
Bischofswerder - Neumarkt für je eine Division
bestimmt. Die 1.
Kavallerie-Division sollte den Abmarsch der Armee verschleiern und die
Fühlung am Feinde halten. So hoffte General v. Prittwitz bis zum 26.
August die Armee zwischen Thorn und Allenstein versammelt zu haben. Bis
dahin blieb dem XX. Armeekorps die Aufgabe, den Feind aufzuhalten. Auf
Antrag des Generalkommandos genehmigte der Oberbefehlshaber die
Rückverlegung der Ausladungen der 3.
Reserve-Division nach Allenstein, wo sie die Flanke des Armeekorps decken
sollte. Alle übrigen Kräfte der Armee sollten aber rechts vom
XX. Armeekorps eingesetzt werden.
Dieses Armeekorps war inzwischen, wie beabsichtigt, in die Linie
Gilgenburg - Orlau eingerückt, hatte die 70.
Landwehr-Brigade zwischen seine beiden Divisionen eingeschoben und die
übrigen Abteilungen des Generals v. Unger an [292] seinen rechten Flügel herangezogen.
Den linken Flügel des Feindes nahm das Generalkommando bei Mlawa
an; weiter östlich hatte er die Chaussee
Neidenburg - Willenberg erreicht und war bis südlich
Ortelsburg gelangt. Auch Johannisburg sollte besetzt sein. Die ersten
über Allenstein herausrollenden Transporte der 3.
Reserve-Division hielt das Generalkommando an und ließ sie nach
Allenstein zurückführen, wo die Division ausgeladen und unter
Sicherung in südöstlicher Richtung, untergebracht wurde.
Angesichts dessen, daß der linke Flügel der Russen nicht
über Mlawa hinausreichte und immer neue Meldungen vom
Anmarsch starker Kräfte aus südöstlicher Richtung
sprachen, war General v. Scholtz der Auffassung, daß die Ausladungen
des I. Armeekorps zu weit entfernt gewählt seien. Der entstehende
Zeitaufenthalt konnte verhängnisvoll werden. Er beabsichtigte, ihre
Verlegung nach
Deutsch-Eylau zu beantragen. Indessen kam die Nachricht, daß Seine
Majestät der Kaiser den im Ruhestand lebenden General der
Infanterie v. Beneckendorff und v. Hindenburg zum Oberbefehlshaber der
8. Armee ernannt und ihm den General Ludendorff als Chef des Generalstabes
zur Seite gestellt habe.
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