Auf den Straßen des Todes. Der Bromberger Blutsonntag: Die letzte Station eines zwanzigjährigen Leidensweges, Teil 1. Marian Hepke.

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Auf den Straßen des Todes. Leidensweg der 
Volksdeutschen in Polen.
[5]
Der Bromberger Blutsonntag
Die letzte Station eines zwanzigjährigen Leidensweges - Teil 1
Marian Hepke

Als nach dem schmachvollen Ende des Weltkrieges die östlichen Gebiete Deutschlands abgetrennt wurden und zu Polen kamen, begann für das Deutschtum in diesen Gebieten ein Leidensweg, wie ihn sich niemand hätte vorstellen können. Alle scheinheiligen sogenannten Minderheitsschutzverträge und übrigen Abmachungen, mit denen die Siegerstaaten die Welt über das Unrecht hinwegtäuschen wollten, das im Osten Europas durch das Versailler Diktat geschaffen worden war, konnten nicht verhindern, daß sich auf ehemals deutschem Boden zynische Brutalität in einem Maße austoben sollte, wie es niemals hätte vermutet werden können. Unter dem Deckmantel der "Gesetzlichkeit" wurden immer wieder von den polnischen Machthabern Maßnahmen mit raffinierter Spitzfindigkeit ersonnen, um die Zahl der Deutschen in Westpreußen, Posen und Oberschlesien zu verringern, ihr Wirtschaftsleben zugrunde zu richten und damit zielbewußt eine Deutsche Frage in diesem uralten deutschen Kulturland auszumerzen.

Nach der Machtübernahme durch Polen setzte geradezu eine Völkerwanderung von Osten nach Westen ein. Unendlich groß war die Zahl der Auswandererzüge, unendlich groß die Zahl deutscher Menschen, die mit Tränen in den Augen ihre Heimat verließen, um sich in den verbliebenen Gebieten des Deutschen Reiches eine neue Existenz zu schaffen. Nach den Beamten und Kaufleuten kam die Reihe an die Ansiedler, von denen ein großer Teil ohne weiteres aus dem Lande gejagt wurde. Unter dem Deckmantel der Wiedergutmachung von angeblich begangenem früheren "Unrecht" wurden die Liquidationsverfahren eingeleitet. [6] Überall, wo es nur geschehen konnte, wurde reichsdeutscher Besitz liquidiert.

Verringerte sich durch den Fortzug deutscher Menschen die Zahl der deutschen Schulen, so wurde durch besondere Maßnahmen dafür gesorgt, daß die noch verbliebenen deutschen Kinder nach Möglichkeit polnische Lehrer erhielten oder in polnische Schulen geschickt worden mußten. Eine derartige Anordnung sah vor, daß nur bei einer Anzahl von 40 Kindern in einem Dorf eine deutsche Schule erhalten wurde. Gab es aber nur 39 Kinder in dem Dorfe, so mußten diese eine polnische Schule besuchen. In Deutschland dagegen hat man schon für 10 polnische Kinder eine Minderheitenschule unterhalten!

Die Reihe der immer wieder geschickt ausgeklügelten deutschfeindlichen Maßnahmen ist keineswegs kurz. Den deutschen Organisationen und Vereinen wurde das Leben so schwer wie irgend möglich gemacht. Die Vereinsgesetze waren so raffiniert ausgearbeitet, daß die Behörden über alles, was in diesen Organisationen geschah, im Bilde sein mußten. Leider waren sie es nicht immer, sondern erdachten sich zu ihren politischen Zwecken noch eine besondere Konspirationstätigkeit vieler deutscher Vereine, so daß als weiteres politisches Kampfmittel die Gerichte und die politische "Defensive" in Anspruch genommen wurden.. So kam es zu den großen politischen Prozessen, die vor allem dazu dienten, um die gesamte öffentliche Meinung gegen alles Deutsche aufzupeitschen.

Um dieser "öffentlichen Meinung" Rechnung zu tragen, hat man Anweisungen gegeben, auf Grund deren man den deutschen Gastwirten und Kaufleuten ihre Konsense zum Verkauf von Alkohol und Tabak entzog, den deutschen Ärzten und Apothekern die Kassenpraxis bzw. die Kassenaufträge verweigerte, um mit all diesen Schikanen ungezählte deutsche Volksgenossen brotlos zu machen.

Aber auch damit waren die Etappen des deutschen Lei- [7] densweges in Polen noch nicht zu Ende. Der nächste große Schlag war das Agrarreformgesetz. Durch dieses Gesetz wurde nicht nur der deutsche Großgrundbesitz getroffen, sondern die gesamte deutsche Volksgruppe. Es diente zur Entdeutschung des Landes. Die Verringerung des Grundbesitzes zwang die deutschen Gutsbesitzer, ihren Beamten- und Arbeiterstand zu verringern. Die Schicht der Verdienenden wurde kleiner und damit auch die Zahl derjenigen, die in den Städten bei den deutschen Kaufleuten Käufe tätigen, bei den Handwerkern Bestellungen machen konnten. Die Agrarreform glich einem Schneeball, der, zu Tal gehend, eine Lawine wird und Tausende vernichtet. Verringerte man den deutschen Grundbesitz auf der einen Seite, so ließ man auf der anderen keineswegs zu, daß Deutschen Auflassungen gegeben würden. Selbst wenn deutsche Gutsbesitzer freiwillig parzellieren wollten, durften sie keineswegs deutsche Bauernsöhne auf ihrem Lande ansiedeln.

Eine weitere deutschfeindliche Maßnahme stellte das Grenzzonengesetz dar. Dieses Gesetz war dazu angetan, die gesamte Grenzzone zu entdeutschen, zu der das Korridorgebiet in vollem Umfange gehörte. Selbst im Erbgange war es nicht möglich, ohne staatliche Genehmigung den Besitz auf den Sohn zu verschreiben; auch jede Pachtung war genehmigungspflichtig. Alle Anträge auf derartige Genehmigungen wurden aber mit der ganzen Verbissenheit, die diese bewußte Entdeutschungspolitik auszeichnete, abschlägig beschieden.

In den Städten war es nicht anders als auf dem Lande. Pässe zu Reisen nach Deutschland wurden fast überhaupt nicht genehmigt. Man achtete von seiten der polnischen Behörden sehr streng darauf, daß - trotz des deutsch-polnischen Freundschaftsvertrages - die deutsche Volksgruppe in Polen um Gottes willen nicht etwa von dem Geist des Nationalsozialismus "infiziert" wurde. Bekam irgendein [8] Deutscher einmal einen Paß, so mußte er unerhört hohe Gebühren dafür bezahlen. Die deutsche Volksgruppe in Polen saß tatsächlich hinter einer chinesischen Mauer.

Die deutsche Presse in Polen hatte es in all den Jahren wahrlich nicht leicht. Über die zahllosen Verhaftungen von Deutschen, von denen vielen Spionage vorgeworfen wurde, durfte unter Hinweis auf den Landesverratsparagraphen überhaupt nichts gebracht werden. Selbst statistische Zusammenstellungen über die Schäden, die dem deutschen Besitz durch die Agrarreform zugefügt worden sind, wurden beschlagnahmt, obwohl kein Wort der Kritik in diesen Zusammenstellungen enthalten war. Trotz alledem hat die deutsche Presse in Polen sich nicht verkrochen. Sie hat ihre Meinung gesagt, auch wenn es nur durch Andeutungen, ja oftmals durch Zitate deutscher und selbst polnischer Dichter und Schriftsteller geschehen konnte. Einen Schiller, einen Goethe konnte man ebensowenig beschlagnahmen wie ein Wort des Marschalls Pilsudski oder eines polnischen Dichters.

Auf den Ämtern durfte seit Beginn der polnischen Zeit grundsätzlich nur polnisch gesprochen werden; schließlich war es so weit gekommen, daß auch auf den Straßen jedes deutsche Wort der Anlaß zu wüsten Beschimpfungen, ja sogar zu Tätlichkeiten wurde.

Schon seit der Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich hatte sich eine Verschärfung des deutschfeindlichen Kurses bemerkbar gemacht. Als am 14. März [1939] die tschechoslowakische Republik zerfiel und die Neugestaltung des Donauraumes immer deutlicher wurde, als im Zuge der weiteren Entwicklung das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren gebildet wurde, war nicht nur im Verkehr mit den Amtsstellen, sondern auch im Privatverkehr mit Polen eine immer stärker werdende Abkühlung des deutsch-polnischen Verhältnisses zu bemerken. Es erwachte etwas, das man die Unruhe des schlechten Gewissens nennen [9] muß, denn nicht nur in den Kreisen der deutschen Volksgruppe in Polen, sondern auch in polnischen Kreisen machte sich mehr und mehr die Erkenntnis bemerkbar, daß auch die Erörterung der Fragen im Osten Deutschlands vor der Tür stehen müßte. Diese Erkenntnis wuchs, als am 23. März der deutsch-litauische Staatsvertrag über die Wiedervereinigung des Memelgebietes mit dem Deutschen Reich bekanntgegeben wurde. Wie an einer Waage hob sich die Stimmung der deutschen Bevölkerung in Polen, während diejenige der Polen in gleichem Maße sank. Beide Teile waren überzeugt: Es kann nicht mehr lange dauern. Charakteristisch für die Stimmung, über die die Presse laut Anweisung der Zensurbehörde nichts bringen durfte, ist eine Verlautbarung, die in der gesamten polnischen Presse erschien, die aber auch die volksdeutsche Presse zu veröffentlichen hatte. Der Burgstarost in Bromberg, der höchste Regierungsbeamte, erließ folgende Bekanntmachung:

    "Aus Anlaß der letzten internationalen Ereignisse verbreiten unverantwortliche und staatsfeindliche Faktoren seit einiger Zeit unwahre und aus den Fingern gesogene Gerüchte mit dem Ziel, unter der Bevölkerung Unruhe hervorzurufen. Dieser Aktion ist mit aller Rücksichtslosigkeit entgegenzutreten, indem man auf dem kürzesten Wege die Polizei unter Angabe der Quellen oder der Namen der Unruhestifter informiert. Diejenigen, die unwahre Gerüchte verbreiten, werden zur strengsten gerichtlichen Verantwortung gezogen werden."

Daß eine derartige Bekanntmachung keineswegs das Ziel, der Gerüchtemacherei ein Ende zu bereiten, erreicht hat, beweist, daß eine deutsche Zeitung in Polen tolle Gerüchte brandmarken mußte, die z.B. in Bromberg, Konitz, Nakel und Wirsitz zu gleicher Zeit auftauchten. Überall in diesen Orten erzählte man sich nämlich, daß die Polizei auf einem deutsch-evangelischen Friedhof in einem Sarge Waffen entdeckt habe! Die bösen Deutschen hätten [10] eine Beerdigung inszenieren wollen, um diese Waffen in Sicherheit zu bringen! Gleichzeitig wußte aber dieselbe deutsche Zeitung auf die Ursachen dieser Panikstimmung hinzuweisen. Sie nannte dafür die vielen Plakate und Boykottparolen, die deutschfeindlichen Aufschriften, die mit Teer auf den Schaufenstern der deutschen Läden immer wieder in den Städten angebracht wurden.

Die allgemeine Erregung wurde noch geschürt durch die Aufforderung des Starosten, alle Fälle von Gerüchtemacherei zur Anzeige zu bringen. Der Deutschenhaß konnte sich jetzt in noch grasserer Form austoben. Die Zahl der Prozesse gegen Deutsche steigerte sich ins hundertfache. In den ersten Tagen des Mai saßen allein in den Gefängnissen von Westpreußen und Posen etwa 1.000 Deutsche, die durch irgendeine Bemerkung angedeutet hatten, daß sie mit einer Änderung der Grenzen im Osten Deutschlands rechneten. Oftmals aber genügte schon die Bemerkung, "er kommt", um zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt zu worden. Denn, so folgerten die polnischen Richter, "er" konnte nur der Führer, konnte nur Adolf Hitler sein.

Eine Welle von Versammlungen wurde über das Land gejagt. In Bromberg veranstaltete der berüchtigte Westverband Versammlungen unter freiem Himmel. Dabei wurde allen Deutschen, die mit fremden Agenturen zusammenarbeiten sollten, rücksichtsloser Kampf angedroht. "Zusammenarbeit mit einer fremden Agentur" war aber schon eine deutsche Organisation, der man angehörte, war die "verdächtige" Reise nach Danzig oder die zahlreiche Post, die ein Deutscher aus dem Deutschen Reich erhielt. Im Anschluß an die große Kundgebung vom 26. März in Bromberg fanden Straßenumzüge statt, bei denen man die Aushängetafeln der Deutschen Rundschau und die Schaufenster deutscher Buchhandlungen zerstörte. Ein Zwischenfall, der die Haßstimmung der Polen deutlich aufzeigte, hat aber dennoch in deutschen Kreisen viel Heiter- [11] keit hervorgerufen. Mitten hinein in diese aufgeregte Stimmung kam auf der Brahe ein deutscher Transit-Lastkahn, der den vielversprechenden Namen "Zukunft" trug und stolz die von den Polen so gehaßte Hakenkreuzfahne führte! Der Lastkahn wurde zwar mit Steinen bombardiert, aber die hakenkreuzbewehrte deutsche "Zukunft" ließ sich deswegen doch nicht von ihrem Ziele abbringen! Den Deutschen Brombergs erschien der kleine Zwischenfall wie ein Symbol.

Die politische Spannung führte zu schärfstem wirtschaftlichen Boykott. Die polnischen Zeitungen forderten offen dazu auf, deutsche Geschäfte und deutsche Lokale nicht aufzusuchen. Die deutsche Kaufmannschaft und die deutschen Handwerker haben sich nur mit Mühe behaupten können.

Einer dieser Boykottaufrufe, die im März 1939 verbreitet wurden und zum Boykott alles dessen aufforderten, was, deutsch ist, hatte folgenden Wortlaut:

          "Die Deutschen in Polen heben den Kopf. Wir haben uns bisher Mühe gegeben, mit unseren Mitbürgern in Polen so gut wie möglich zusammenzuleben. Die Deutschen haben jedoch unsere Absicht nicht erkannt, sondern gehen sogar so weit, öffentlich den Boykott des polnischen Wirtsvolkes zu proklamieren. Auf Grund dieser Provokation muß die polnische Allgemeinheit den illoyalen Bürgern eine entsprechende Abfuhr erteilen.
          1. Diejenigen Polen, die in deutschen Geschäften kaufen oder deutsche Lokale aufsuchen, werden öffentlich gebrandmarkt.
          2. Es ist nicht gestattet, in der Hauswirtschaft irgendwelche Erzeugnisse deutscher Herkunft zu gebrauchen.
          3. Die Hausfrauen dürfen auf den Märkten nicht bei deutschen Landwirten und deutschen Gärtnern oder Händlern kaufen.
    [12]  4. Polen dürfen keine deutschen Zeitungen und Zeitschriften halten.
          5. Alle polnischen Firmen müssen ausschließlich polnische Jugend und polnische Arbeiter beschäftigen.
          6. Staats- und Kommunalbeamte und Privatunternehmen müssen im Verkehr mit Personen deutscher Nationalität ausschließlich die polnische Sprache gebrauchen.
          7. Alle Aufschriften und Reklamen in deutscher Sprache, die sich noch bei polnischen Firmen befinden, müssen beseitigt worden.
          8. Alle Schreiben, die an die Behörden, Büros und Firmen in deutscher Sprache abgefaßt werden, müssen unbeantwortet bleiben.
          9. Die polnische Kaufmannschaft muß sich im Verkehr mit Danziger Firmen ausschließlich der polnischen Sprache bedienen.
         10. Die Polen dürfen sich nicht deutscher Banken bedienen.
         11. Wir streben an: a) das Verbot des Erwerbs von Grundstücken oder von Konzessionen durch Deutsche; b) die Aberkennung aller Staatsaufträge und Aufträge der Kommunalbehörden an deutsche Firmen; c) die Begrenzung des Debits für deutsche Zeitungen in Polen; d) das Verbot des Tragens deutscher Uniformen und Parteiabzeichen.
         12. Wir fordern die Rückgabe der übermäßig großen Zahl deutscher Kirchen, die infolge von mangelnden Gemeindegliedern nicht gebraucht werden und die Abgabe dieser Kirchen an die römisch-katholischen Parochien.
         13. Wir fordern die Liquidierung der übergroßen Zahl deutscher Schulen, und zwar staatlicher wie auch privater Schulen in Polen zum Ausgleich für die geringe Zahl von polnischen Schulen in Deutschland.
          Polen! Wir rufen euch auf, wir rufen alle Organisationen politischen oder allgemeinen Charakters auf, eine energische Haltung für die Verwirklichung der hier angeführten [13] Grundsätze einzunehmen. Denkt daran, daß nur die starke Faust dazu führt, daß der deutsche Hochmut zur Besinnung kommt und unsere Solidarität und unsere Ausdauer werden zu der Stärkung unseres Besitzstandes und zur Nationalisierung unseres Wirtschaftslebens beitragen, die allein Garantien eines starken Polen sind."

Zu diesem Aufruf, der von verschiedenen Militärverbänden unterzeichnet worden ist, ist nur kurz zu sagen, daß er durch die Ereignisse längst überholt war. Denn kein Beamter fertigte z.B. einen Besucher ab, der sich etwa einer anderen als der polnischen Sprache bedient hätte. Polnische Firmen beschäftigten keine deutschen Angestellten, die meisten reichsdeutschen Zeitungen waren schon in Polen verboten, deutsche Filme wurden nicht mehr gezeigt, staatliche oder Kommunalaufträge erhielten deutsche Firmen keineswegs, und in deutschen Uniformen ist hier niemals jemand gesehen worden, deutsche Parteiabzeichen waren stets der Anlaß zu Auseinandersetzungen und Anpöbeleien.

Recht bezeichnend für die Handhabung der Finanz- und Steuergesetze ist ein Geheimdokument, das erst jetzt aufgefunden wurde, aber in Graudenz im Juli 1939 herausgegeben wurde. Es lautet folgendermaßen:

    Graudenz, 14. 7. 39
    Oberfinanzamt Graudenz
    Nr. I-166-39 geheim
    An alle Vorsitzenden der Finanzämter
    des Oberfinanzamtes Graudenz
          Wegen ständiger Verschlechterung der Beziehungen der deutschen Minderheiten zu Polen, verbunden mit den Handelsbeziehungen Polen-Deutschland, und der sich daraus ergebenden Liquidierungen des polnischen Besitzes in Deutschland durch die dortigen Behörden ist es notwendig geworden, auch hier in Polen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln das Besitztum der deutschen Minderheiten zu reduzieren.
    [14]  Aus diesem Grunde empfiehlt das Oberfinanzamt den Herren Vorstehern der Finanzämter, bei sämtlichen in ihrem Bereich zu erfassenden Minderheiten in dieser Beziehung zu verfahren.
          Hier sind folgende Möglichkeiten vorhanden:
          Bei der Bemessung von Steuern, bei der Angabe des Umsatzes und Einkommens der Steuerzahler Nichtanerkennung von Steuerermäßigung sowie Ablehnung von Zahlungserleichterungen und Ratenzuteilung bei rückständigen Steuern.
          Bei Anwendung dieser Möglichkeiten ist jedoch genau erstens darauf zu achten, daß die hierbei in Frage kommenden Gesetze beachtet werden. Ferner ist dabei zu berücksichtigen, ob es sich nicht um einen loyalen Bürger dem polnischen Staate gegenüber handelt.
          Sämtliche hierzu in Frage kommenden Beschlüsse in bezug auf politisches Verhalten sind mit den Verwaltungsbehörden gemeinsam zu bearbeiten.
          Vorstehende Verfügung hat der Chef des Amtes als streng geheim in seinen Militärakten aufzuheben; nur dieser bzw. sein Stellvertreter dürfen von dem Inhalt Kenntnis erhalten.
          Für die strengste Geheimhaltung macht die Oberfinanzkammer voll und ganz die Chefs der Ämter verantwortlich.
    Oberfinanzamt
    (A. Klausel)
    Chef der Abteilung I.

So wurde mit allen Mitteln gearbeitet, um das Deutschtum wirtschaftlich zu schädigen. Der Satz: "...ist es notwendig geworden, auch hier in Polen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln das Besitztum der deutschen Minderheiten zu reduzieren..." - besagt alles. Das war die charakteristisch polnische Methode, mit dem Ausdruck des Biedermannes nach außen, die größte Liebenswürdigkeit [15] an den Tag zu legen, aber dann unsichtbar um so kräftiger zuzugreifen.

Die breite Öffentlichkeit aber kehrte sich längst nicht mehr daran, auch nur den Anschein einer auf Grund von Staatsverträgen gegründeten Freundschaft oder auch nur Duldsamkeit an den Tag zu legen. Die Ausschreitungen nahmen immer größeren Umfang an. Besonders in den kleinen Städten und auf dem Lande gab es Ausschreitungen übelster Art. Versammlungen Deutscher wurden gesprengt, die Fenster eingeschlagen und Deutsche überfallen und blutig geschlagen. Als der Bromberger Vertreter des Deutschen Nachrichtenbüros Karl Heinz Fenske in kurzen sachlichen Berichten diese Vorgänge schilderte und an die Berliner Zentrale des Nachrichtenbüros durchgab, wurde er auf Anordnung des Bromberger Starosten aus der Telefonzelle heraus verhaftet. Der Presse wurde genehmigt, die Nachricht von der Verhaftung zu veröffentlichen, allerdings mußte als Grund der Verhaftung angegeben werden, daß Fenske "unwahre und in der Tendenz irredentistische Nachrichten über Polen im Ausland verbreitet habe, die das Ansehen des polnischen Staates herabsetzten."

Die Mitteilung von der Verhaftung Karl Heinz Fenskes machte der Burgstarost den Schriftleitern der Deutschen Rundschau, die er zu sich geladen hatte, höchst persönlich. In dieser Unterredung mit den deutschen Pressevertretern erklärte der Starost: "Meine Herren, es ist nicht ausgeschlossen, daß es zu einem Kriege zwischen Deutschland und Polen kommt. Es ist sogar nicht ausgeschlossen, daß in diesem Kriege Deutschland siegen wird, denn es hat über 80 Millionen Einwohner, während Polen nur gegen 30 Millionen Einwohner hat. Außerdem ist Deutschland besser gerüstet als Polen, aber" - und bei diesen Worten hob der Sprecher die Stimme, stand von seinem Sessel auf und zeigte auf die anwesenden deutschen Herren, unter denen der Verfasser sich befand - "nur über Ihre Leichen zieht Hitler hier [16] in Bromberg ein!" Mit dieser Drohung verband er die Aufforderung, in der deutschen Presse größte Zurückhaltung zu üben und keinerlei Meldungen über etwaige Ausschreitungen gegen Deutsche zu bringen, auch nichts über einen Boykott oder ähnliche Dinge.

Wir deutschen Pressevertreter hielten diese Worte des Starosten für einen Einschüchterungsversuch. Wer konnte ahnen, daß nach sechs Monaten die Äußerung in dem schrecklichen Bromberger Blutsonntag ihre Verwirklichung erfahren sollte.

Die Ablehnung alles Deutschen, der Boykott der deutschen Unternehmen und die Verfolgungen, die Ausweisungen aus der Grenzzone und die vielen Prozesse gegen die Deutschen hinderten aber die Finanzbehörden nicht, auf die deutsche Volksgruppe einen Druck auszuüben, die zu Rüstungszwecken aufgelegte Luftschutzanleihe zu zeichnen. Die Deutsche Rundschau hat in der ganzen Zeit, in der sie als Deutsche Rundschau in Polen erschien, nur ein einziges Mal einen amtlichen Inseratenauftrag erhalten, und zwar am 5. April 1939 eine Bekanntmachung des Finanzministers über diese Luftschutzanleihe, die auf der ersten Seite gebracht werden mußte.




Auf die vielen polnischen Herausforderungen antwortete am 28. April der Führer in seiner großen Reichstagsrede, in der er die Kündigung des Zehnjahrespaktes mit Polen bekanntgab. Nunmehr sahen sich alle polnischen Stellen jeder Hemmung enthoben; die deutschfeindliche Stimmung konnte sich restlos austoben. Vereine wurden geschlossen, Sportplätze und Turnhallen beschlagnahmt, die Prozesse wegen angeblicher Verbreitung falscher Nachrichten fanden in immer größerem Rahmen statt, wobei man sich oft zweifelhaftester Zeugen bediente, um die angeklagten Deutschen verurteilen zu können. Außerdem [17] setzte eine große neue Enteignungswelle ein, die jedoch die letzte sein sollte. Viele Häuser deutscher Gesellschaften, das Zivilkasino in Bromberg, das Evangelische Vereinshaus in Posen, die letzten Johanniterkrankenhäuser wurden einfach fortgenommen. Der Deutschen Bühne Bromberg wurde die weitere Tätigkeit untersagt.

Die Volksdeutschen aber wußten schon: Das dauert nicht mehr lange. Sie bissen die Zähne zusammen und gaben die Hoffnung nicht auf. Angefacht durch den Sturm des polnischen Hasses wurde die Hoffnung, die noch gestern ein schwacher Funke war, bald zu einer lebendigen Glut. Jeder von uns wußte, es konnte nicht mehr lange dauern, bald mußte auch für uns die Freiheit kommen.

Auf polnischer Seite stieg der Haß zusehends. Wie weit die Haßstimmung sich hat versteigen können, geht aus einem Artikel hervor, der am 11. Mai [1939] im Dziennik Bydgoski erschien und der von einer Frau Zofia Zelska Mrozowicka verfaßt wurde. In diesem Artikel, in dem die genannte "edle" Frauenseele zunächst einmal behauptet, daß es in Polen so gut wie keine Deutschen gäbe, kommt die Verfasserin zu dem unlogischen Schluß, daß die Deutschen in Polen sich auf das Schlimmste gefaßt machen müßten. Der Schlußabsatz des erwähnten Beitrages lautet:

          "Es hat daher gar keinen Zweck, den Deutschen in Polen zu Hilfe eilen zu wollen, weil sie keinen Grund haben, um Hilfe zu bitten. Sie wissen sehr wohl, daß ihnen in Polen kein Haar vom Haupte fallen wird, solange hier Ruhe herrscht. Sie sind intelligent genug, um sich darüber klar zu sein, daß im Kriegsfall kein einheimischer Feind lebendig entrinnen wird. Wie dem auch sei, die polnischen Staatsbürger deutscher Nationalität zittern im Gedanken daran, daß es einen feindlichen Angriff auf das polnische Hoheitsgebiet geben könnte. Sollte es unter ihnen hier und dort Anhänger eines ausländischen Regimes geben, so wissen sie mit Bestimmtheit: Der Führer ist weit, aber der [18] polnische Soldat ist nahe, und in den Wäldern fehlt es nicht an Ästen."

Diese Art der Hetzpropaganda, die schon im Mai die blutigen Zeichen eines 3. September an den Himmel der Zukunft malte, erfuhr von Woche zu Woche weitere Verschärfungen.

Die großen Ferien kamen und damit die Zeit der Urlaube. Fast schien es, als wenn eine weitere Erörterung des deutsch-polnischen Problems vertagt worden wäre. Aber wer mit wachen Augen durch das Land im Westen des damaligen Polens fuhr, bemerkte, daß die Ruhe nur äußerlich war. Überall auf dem Lande, besonders aber im Korridorgebiet, war Militär zu sehen. Immer mehr Züge mit Soldaten kamen aus dem Osten. Die Truppen wurden an Polens Westgrenze geschafft. Auf dem Lande waren sowohl bei den Gutsbesitzern wie bei den kleinen Bauern Einquartierungen zu sehen, und als die Kornfelder geschnitten waren, begann man damit, Drahtverhaue anzulegen, Schützengräben auszuheben. Auch in die Städte wurde mehr und mehr Militär gelegt. Mit der Zunahme der militärischen Maßnahmen stieg die Spionagefurcht, die Verhaftungen nahmen zu. Immer wieder hörte man von neuem von Freunden, von Männern und Frauen, die in die Gefängnisse geschafft worden waren.

Die Presse wies immer wieder auf die Gefahr hin, die durch die deutsche Volksgruppe in Polen für den polnischen Staat entstehen solle. Immer öfter erschienen in der polnischen Presse Hinweise auf die deutsche Minderheit, die sich angeblich mit feindseligen Absichten gegen den polnischen Staat trage. Man befürchtete die Schaffung von bewaffneten Abteilungen im Rücken der polnischen Armee. Aus diesem Grunde waren schon lange vor der Mobilmachung den Deutschen alle Waffenscheine abgenommen worden. Selbst Jagdwaffen wurden Deutschen nicht belassen. Auch die volksdeutschen Förster mußten ihre Waffen ab- [19] liefern. In der Presse erschienen Meldungen über angebliche Bombenanschläge in den verschiedensten Teilen Polens. Als Täter wurden Deutsche bezeichnet. Eine Explosion, die sich im Elektrizitätswerk in Warschau ereignete, durfte von der Presse nicht gebracht worden. Ebenso war es verboten, irgendwelche Meldungen über den Absturz von Flugzeugen zu bringen.

Der polnische Major Lepecki hielt im polnischen Rundfunk eine Ansprache, in der er die polnische Bevölkerung dazu aufrief, größte Wachsamkeit gegenüber den deutschen Bewohnern des Landes walten zu lassen. Jede Beobachtung sei unverzüglich den Behörden zu melden, denn die Deutschen in Polen würden bei einem zu erwartenden Kampf in die Feindseligkeiten eingreifen. Wie groß die Angst vor den Volksdeutschen war, beweist unter anderem eine Reihe von warnenden Pressenotizen, die fast täglich in den polnischen Zeitungen erschienen und von denen eine z. B. folgenden Wortlaut hatte:

    "Wir warnen die Deutschen in Polen!

          Die polnische Regierung wird keine verbrecherische Aktion dulden. Die Diversion von seiten der deutschen Minderheit in Polen im Innern das polnischen Staates wird immer kräftiger. Ein gewisser Teil der polnischen Staatsbürger deutscher Nationalität nimmt an dieser verbrecherischen Aktion teil und ist auf den ausdrücklichen Befehl Berlins tätig, indem Instruktionen von seiten der deutschen Gestapo entgegengenommen werden. Diese Tatsachen bemüht sich die deutsche Propaganda in ungewöhnlicher Weise zu ihrem Vorteil auszunutzen. Man stellt die Tatsachen so dar, als wenn diese Handlungsweise auf die Verzweiflung von seiten der unterdrückten und gefolterten deutschen Minderheit in Polen zurückzuführen ist. Ähnlich arbeitete die Propaganda im Sudetengebiet vor der endgültigen Entscheidung. Die polnischen Behörden können [20] aber bei der Diversion seitens der Deutschen nicht gleichgültig bleiben. Alle Einzelheiten der von Berlin geleiteten Arbeit sind uns bekannt. Die Schuldigen haben die härteste Strafe zu erwarten. Da helfen keine Hilferufe, da hilft kein Wehklagen."

Auf diese Weise gab man allen Ausschreitungen, die sich gegen Deutsche richteten, von vornherein den Anschein der Vergeltung. Aber noch war es nicht so weit!

Während schon in den Sommermonaten verschiedene Reservistenjahrgänge zu sogenannten "Übungen" eingezogen waren, begann dann in der Nacht zum 24. August [1939] die Generalmobilmachung, die jedoch völlig geheim durchgeführt werden sollte. Magistratsbeamte und die Luftschutzkommandanten, die man ja besonders sorgfältig ausgewählt hatte, trugen nachts und in den frühen Morgenstunden die Gestellungsbefehle aus. Die Einberufenen hatten sich wenige Stunden nach Erhalt des Gestellungsbefehles zu melden. Der Bevölkerung bemächtigte sich eine ungeheure Erregung. Diese wurde noch gesteigert durch die amtliche Anordnung, in Parkanlagen und Gärten Luftschutzgräben zu schaffen. In den öffentlichen Anlagen wurde unter Leitung hoher Beamter mit dem Bau solcher Luftschutzgräben begonnen.

Am Morgen des 30. August [1939] wurde der Presse von der Zensurbehörde noch einmal eingeschärft, daß keine Nachrichten über eine Mobilmachung, die bereits seit Tagen durchgeführt war, gebracht werden dürften. Um die Mittagszeit erschienen aber Maueranschläge in den Straßen: rote Plakate verkündeten die Generalmobilmachung. Die auf den roten Plakaten genannten Jahrgänge standen jedoch bereits unter den Waffen! Die Bekanntgabe der Mobilmachung war nur eine Formsache. Als erster Mobilmachungstag galt der 31. August. [Anm. d. Scriptorium: Betonung in allen drei Fällen von uns hinzugefügt. Eine Mobilmachung ist eine de facto Kriegserklärung - und diese, gegen Deutschland, erließ das "friedliebende Opferlamm" Polen also schon mehr als eine Woche vor der "offiziellen", für die Deutschland bis heute die Schuld am Kriege in die Schuhe geschoben wird...]

Die allgemeine Erregung erreichte ihren Höhepunkt, als in der Nacht zum 1. September der Deutsche Rundfunk von [21] dem Überfall auf den Sender Gleiwitz Bericht erstattete. Am 1. September sah man einige bis dahin noch verbliebene Familien polnischer Offiziere und sehr viele Juden in Autos Bromberg verlassen. An die Presse wurde ein Aufruf des polnischen Staatspräsidenten telefonisch durchgegeben und auch die deutsche Presse aufgefordert, diesen Aufruf zu veröffentlichen. Er hat folgenden Wortlaut:

    "Bürger der Republik!

          In der heutigen Nacht hat unser Erzfeind aggressive Operationen gegenüber dem polnischen Staat begonnen, was ich vor Gott und der Geschichte feststelle. In diesem geschichtlichen Augenblick wende ich mich an alle Bürger des Staates, in der festen Überzeugung, daß sich das ganze Volk in Verteidigung seiner Freiheit, Unabhängigkeit und Ehre um den Obersten Führer und die Armee scharen und dem Angreifer eine würdige Abfuhr erteilen wird, wie dies schon oft in der Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen geschehen ist. Das ganze Volk Polens wird, gesegnet von Gott im Kampf um seine heilige und gerechte Sache, vereinigt mit der Armee, Schulter an Schulter in den Kampf und zum vollen Siege ziehen.
          Warschau, 1. September 1939
    / - / Ignacy Moscicki,
    Staatspräsident."
Dieser Aufruf mußte in der Mittagausgabe der Deutschen Rundschau am Freitag, dem 1. September, erscheinen. Kurze Zeit nach Ausgabe des Blattes versiegelten Schutzleute das Verlagsgebäude und die Druckerei der genannten deutschen Zeitung. Gegen 14 Uhr hörte man über Bromberg das erstemal das eigenartige dumpfe Brummen deutscher Flugzeugmotoren. Fliegeralarm erscholl, die Straßen waren augenblicklich leer, bald hörte man auch [22] polnische Flak, die einige wenige Schüsse abgab. Die Angriffe der deutschen Flieger richteten sich ausschließlich gegen den Bromberger Flughafen.

Als nach dem Verschwinden der deutschen Flugzeuge wieder Ruhe eintrat, setzte die erste Großaktion gegen die deutsche Bevölkerung in Bromberg ein. Polizeibeamte holten auf Grund von Listen, die schon seit langem vorbereitet gewesen sein mußten, diejenigen Deutschen aus ihren Wohnungen, die zur Internierung abtransportiert werden sollten. Es handelte sich in der Hauptsache um die Führer politischer Organisationen, um ehemalige deutsche Reserveoffiziere und um solche Volksgenossen, die in politische Prozesse verwickelt gewesen waren. Diese Deutschen wurden nach dem ehemaligen Reichswaisenhaus im Stadtteil Bleichfelde gebracht. Auch am nächsten Tag wurden die Festnahmen fortgesetzt. Am Sonnabend wurden die Verhafteten zu zweien gefesselt und in südlicher Richtung aus der Stadt herausgeführt. Niemand wußte, wohin der Weg dieser bedauernswerten Volksgenossen führen sollte, niemand ahnte, wie weit er sein würde und auch nicht, wer von dieser Schar jemals Bromberg wiedersehen sollte. Diese Aktion war nicht örtlich begrenzt. Sie muß vielmehr von den Zentralbehörden mit einer Genauigkeit, die sonst polnischen Maßnahmen nicht nachgesagt werden kann, schon Wochen vorher vorbereitet worden sein. Aus allen Teilen der ehemaligen polnischen Republik, aus dem Korridorgebiet wie aus dem Netzedistrikt, aus Posen wie Oberschlesien wurden in langen Transporten die Deutschen nach dem Landesinnern geschafft. Der Internierungsbefehl besagte, daß die Verhafteten für vier Tage Lebensmittel mitnehmen und zweimal Wäsche zum Wechseln mitnehmen durften. Verboten war es, Geld und Ausweispapiere mitzuführen. Als namenlose Männer und Frauen sollten diese Unglücklichen einem ungewissen Schicksal entgegengeführt werden. Die Deutschen aus Ostgalizien und aus Wolhynien [23] hatte man in das berüchtigte polnische Konzentrationslager Bereza Kartuska in den polessischen Sümpfen gebracht. Die Deutschen aus Westpolen traten am 2. September ihren Marsch an, der zu einem Höllenmarsch werden und zum Teil bis Lowitsch, zum Teil bis Kutno führen sollte.

Die Angehörigen und die übrigen Deutschen in Bromberg blieben in Ungewißheit zurück. In den Mittagsstunden gab es erneut schwere Fliegerangriffe gegen die Bahnhofsanlagen und gegen militärische Objekte in Bromberg. Die Flugstaffeln brausten über die Stadt hinweg, schwere Detonationen waren weithin hörbar und bald zeigten gewaltige Rauchwolken, daß die Bombeneinschläge gesessen hatten. Die Erregung unter der polnischen Bevölkerung war bis aufs höchste gestiegen, zumal sich die Meldungen häuften, daß die deutschen Truppen am 1. September schon Nakel besetzt hatten und im Anrücken seien. Der Flüchtlingsstrom, der ostwärts und südwärts durch Bromberg hindurchzog, wurde immer stärker. Das polnische Militär hatte die Dörfer räumen lassen. Auf kümmerlichen Wagen fuhren die Bauern durch die Stadt hindurch. Bald waren die Chausseen und die Wege verstopft. Die großen Viehherden wurden über die Felder getrieben, die Flüchtlingswagen mehrfach auf der gleichen Strecke hin- und hergeleitet, da man schon längst den Überblick verloren hatte. In der Nacht zum Sonnabend war aus der Gegend von Crone her Artilleriefeuer zu hören. Von den Chausseen hörte man das dumpfe Geräusch marschierender Truppen, das Rattern der Wagen. Kühe brüllten. Ein sternklarer Himmel wölbte sich über der Stadt, die bange Frage, was der kommende Sonntag bringen würde, bewegte alle. Die Deutschen waren erfüllt von der Hoffnung, daß nun bald die Stunde der Befreiung schlagen würde.

Der Sonntag kam. Mit herrlicher Klarheit ging die Septembersonne über der Stadt auf. Gleich in den frühen Morgenstunden gab es Fliegeralarm, aber die Verwirrung war [24] schon so groß, daß Entwarnungssignale nicht mehr gegeben wurden.

Ich hatte von der Polizei den Befehl erhalten, mich alle vierundzwanzig Stunden auf der Polizeikommandantur zu melden. Ich kam dieser Pflicht nach und fand das Regierungsgebäude am Sonntag gegen 10 Uhr fast leer vor. Einige Zivilisten mit weißroten Armbinden und Karabinern bewaffnet, taten Dienst. Die uniformierte Polizei war damit beschäftigt, Akten zusammenzupacken und Kisten auf Lastautos zu laden, um schließlich mit den Lastautos fortzufahren. Als ich mich auf dem Rückweg befand, entstand in der Stadt eine Panik. Vom Nordrande der Stadt kam die Danziger Straße eine größere Trainabteilung polnischer Soldaten herunter. In vollem Galopp rasten die Pferde die Straße entlang dem Theaterplatz zu. Die Soldaten hatten zum Teil Gasmasken vor dem Gesicht. Auf dem Bürgersteig liefen Soldaten, auf dem Fahrdamm fuhren nebeneinander Lastautos, Trainwagen und Radfahrer. Die Flucht war derart, daß Wasserhydranten umgerissen wurden, Gaslaternen zur Erde stürzten. Auch in den Parallelstraßen der Danziger Straße das gleiche Bild. Überall flüchtendes Militär. Die Offiziere waren nicht in der Lage, die Truppe zum Halten zu bringen. Immer wieder riefen sie ihren Soldaten etwas zu, aber die Rufe gingen unter in dem Gerassel der Wagen, in dem Geschrei der Menschen. Schließlich fielen Schüsse. Die Offiziere versuchten durch diese Schüsse ihren Befehlen Nachdruck zu verleihen, aber umsonst. In panischem Schrecken raste alles weiter. Niemand war zu halten. Und augenblicklich verbreitete sich unter den Polen in der ganzen Stadt die Nachricht, daß die Deutschen auf die Soldaten geschossen hätten.

Alles das, was man in zahllosen Zeitungsartikeln und in Radioberichten und Vorträgen dem Volke eingehämmert hatte, wurde in den von der Angst gepeinigten Gemütern plötzlich zu einer für sie unumstößlichen Gewißheit: Die [25] deutsche Zivilbevölkerung sei der polnischen Armee in den Rücken gefallen! Denn, so behaupteten die Polen, wie hätte sonst diese Armee in die Flucht geschlagen werden können, von der die polnische Presse immer wieder gesagt hatte, daß sie nach zwei Tagen vor den Toren Berlins stehen würde!

Niemand von den Deutschen in Bromberg hatte geschossen! Kein Deutscher hatte ja noch irgendeine Schußwaffe im Hause. Alles war uns abgenommen worden. Das Schreckensregiment der letzten Tage hatte bereits dazu geführt, daß sich kaum noch ein Deutscher auf den Straßen zu zeigen wagte, wenn er nicht durch irgendeine besondere Zwangsmaßnahme dazu veranlaßt worden war, wie z. B. der Verfasser, der seiner Meldepflicht hatte genügen wollen.

Ich versuchte meine Wohnung zu erreichen, die sich etwas außerhalb, am Rande der Stadt befindet. Ich war tatsächlich auch bis auf etwa 100 Meter an mein Haus herangekommen, als ein junges polnisches Mädchen rief: "Schießt ihn nieder, das ist auch ein Deutscher!" Mehrere Männer stürzten auf mich zu, von denen der eine durch eine gelbgrüne Binde als Luftschutzkommandant gekennzeichnet war. Ohne mich zu untersuchen oder irgendeinen Beweis oder auch nur den Anschein eines Beweises zu haben, sagte der Mann mir ins Gesicht, ich hätte meine Waffen nicht abgeliefert, man wisse alles, er verhafte mich! Widerstand war zwecklos. Ich wurde nach der deutschen Dürerschule gebracht, in der polnisches Militär einquartiert war. Ein Soldat bekam den Befehl, mich abzuführen. Er entsicherte das Gewehr, ich mußte vorangehen und so marschierte ich an diesem Tage zum zweitenmal nach dem Regierungsgebäude. Vorübergehende und hauptsächlich Soldaten riefen immer wieder: "Wozu führst du den Kerl überhaupt ab? Sofort über den Haufen knallen!" Im Regierungsgebäude wurde mir der Paß abgenommen und dann brachte man mich in ein Zimmer, in dem ich mit meinem [26] Begleitmann zunächst allein saß. Neben diesem Raum befand sich die Telefonzentrale der Polizeikommandantur. Als Polizeikommandant fungierte ein Zivilist. Immer wieder ging das Telefon. Aus den Gesprächen war zu entnehmen, daß Meldungen über angebliche Schießereien aus den verschiedenen Stadtteilen einliefen. Schließlich wurde ein Ferngespräch aus Thorn gemeldet. Es sprach der Bromberger Starost, der schon am Sonnabend mit dem Stadtpräsidenten zusammen in Automobilen die Stadt verlassen hatte. Bei der Flucht dieser Leute sind nicht nur Akten und Dienstmaterial, sondern auch manches andere aus der Stadt verschwunden. Von der unerhörten Gewissenlosigkeit dieser "Machthaber" zeugt die Tatsache, daß sie selbst so wichtige Einrichtungen wie die Feuerwehr aus der Stadt entführten! Sämtliche Feuerwehrautos und Wasserwagen hat man aus der Stadt fortgeschleppt, mitten während eines Krieges und angesichts drohender Brände.

Von Thorn aus gab der Starost nun den Befehl, alle Deutschen in Bromberg zu verhaften. Der Kommandant an dem Apparat im Nebenraum wiederholte die Befehle: "Jawohl, Herr Starost, alle Deutschen verhaften, alle deutschen Kirchen zerstören!" Durch diese Wiederholung wurde mir der Inhalt des Gesprächs bekannt.

Allmählich wurden immer mehr Deutsche ins Regierungsgebäude gebracht. Auf den Straßen hatte man sie aufgegriffen und mit erhobenen Armen zum Polizeikommando gebracht. Aus den Häusern waren sie herausgeholt worden, aus den Luftschutzkellern. Der Befehl war da, alle Deutschen zu verhaften - er wurde gewissenhaft ausgeführt. Und die furchtbare Saat, die man in Tausenden von Hetzartikeln in den vergangenen Wochen ausgestreut hatte, ging ihrer blutigen Ernte entgegen.

Die Räume im Regierungsgebäude reichten bald nicht mehr aus. Überall standen dicht gedrängt die Menschen, die man hier zusammengetrieben hatte. Schließlich wurden [27] auch die Korridore belegt. Aufgeregt, kreidebleich und zitternd kamen Männer, Frauen, Jünglinge und Mädchen in das Gebäude. Einige von ihnen wiesen bereits Zeichen von Mißhandlungen auf. Ein deutscher Bauer wurde hereingeführt, dessen ganze rechte Gesichtshälfte von Schrotkugeln zerfetzt war. Aus den Kellern hörte man immer wieder entsetzliche Schreie. Was sich dort abgespielt hat, wußte niemand, aber die furchtbaren Laute führten dazu, daß die angsterfüllten Menschen, denen man mit Erschießung gedroht hatte, sich mit sorgenvollen Augen ansahen. Die später Eingetroffenen erzählten im Flüsterton, daß sie auf den Straßen schon viele Tote gesehen hatten. Immer wieder hörte man wüste Schießereien, dazwischen auch die Einschläge von Handgranaten. Wann endlich kam die deutsche Befreiung?

Diese Frage bewegte uns alle. Niemand wußte, was sich in der Stadt auf den Straßen und in den Häusern, in den Vorstädten und in den Dörfern der Umgebung abspielte. Niemand von uns konnte glauben, daß das polnische Volk von einem Blutrausch sondergleichen erfaßt worden sei. Wir wußten zwar, daß die polnische Presse immer wieder in Schlagzeilen ihren Lesern eingehämmert hatte, jeder Deutsche sei ein Feind! Aber daß man nun jeden Deutschen umbringen würde, das haben wir niemals vermutet und konnten es schließlich auch nicht annehmen, gerade bei einem Volk, das bei jeder Gelegenheit seine überaus starke kirchliche Einstellung betont hatte. Wir konnten auch nicht annehmen, daß die polnischen Soldaten sich dazu hergeben würden, über unbewaffnete Zivilisten herzufallen, daß sie sich zu Mordverbrechen schlimmster Art hergeben würden. Männer, Frauen, Greise und Kinder sind dem Wüten der polnischen Horden zum Opfer gefallen - jawohl, auch Kinder. Wie erschütternd wirkte in einem Vortrag, den ein gerichtsärztlicher Sachverständiger, der die Sezierung der Leichen der ermordeten Volksdeutschen durchführte, vor [28] einer ausländischen Ärztekommission gehalten hat, die Feststellung, daß man nach dem Bromberger Blutsonntag das erstemal auch die Wirkung rasanter Feuerwaffen auf Säuglinge und kleine Kinder hat feststellen können. Bisher, so betonte der Redner, ist von Truppen noch niemals auf Säuglinge und Kinder geschossen worden.



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Auf den Straßen des Todes
Leidensweg der Volksdeutschen in Polen