Von der Gründung
Deutschösterreichs
zum Anschluß 1918-1938.
Eine Dokumentensammlung.
14. Appell Dr. Seipels an den
Völkerbundsrat.
6. September 1922.
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Meine Herren! Ich habe zu Beginn meiner Ausführungen in kurzen ernsten,
aber - wir ich versichern möchte - keineswegs
übertreibenden Worten gesagt, wie sehr die österreichische Frage im
gegenwärtigen Stand ihrer Entwicklung eine politische ist. Meine letzten
Bemerkungen zeigen Ihnen, nachdem ich eine Zeitlang von finanziellen Dingen
gesprochen habe, wieder, wie wenig sich die politischen Erwägungen von
den finanziellen trennen lassen, ja, wie sogar durch die praktische
Möglichkeit und den Wert aller Lösungsversuche deren politische
Kehrseite mitbestimmt wird. Die Erkenntnis, daß die österreichische
Frage, das heißt die Frage, ob unser Land politisch und auf die Dauer auch
wirtschaftlich unabhängig erhalten werden kann, eine politische Frage
ersten Ranges geworden ist, hat mich bewogen, vor einigen Tagen mehrere
unserer Nachbarländer zu besuchen, um zu hören, was sie über
Österreich denken, und weil ich nicht, ohne mit ihnen gesprochen zu haben,
vor den Völkerbund treten wollte. Meine Reise hatte aber noch einen
anderen Zweck. Ich gestehe offen: Ehe das Volk Österreichs in seiner
Absperrung zugrunde geht, wird es alles tun, um die Schranken und Ketten, die es
beengen und drücken, zu sprengen. Daß dies ohne
Erschütterung des Friedens und ohne die Beziehungen der Nachbarn
Österreichs untereinander zu trüben, geschehe, dafür
möge der Völkerbund sorgen!
[204] 14a. Genfer Protokoll über Garantie, Internationale
Anleihe und Kontrolle für Österreich
4. Oktober 1922.
Die Regierung Seiner Britischen Majestät, die Regierung der
Französischen Republik, die Regierung seiner Majestät des
Königs von Italien und die Regierung der Tschechoslowakischen
Republik,
Einerseits,
Im Augenblick, wo sie es unternehmen, Österreich in seinem Werke der
wirtschaftlichen und finanziellen Wiederherstellung zu helfen,
Ausschließlich im Interesse Österreichs und des allgemeinen Friedens
handelnd sowie in Übereinstimmung mit den Verpflichtungen, die sie
bereits übernommen haben, als sie einwilligten, Mitglieder des
Völkerbundes zu werden,
Erklären feierlich:
Daß sie die politische Unabhängigkeit, die territoriale Unversehrtheit
und die Souveränität Österreichs achten werden;
Daß sie keinen besonderen oder ausschließlichen Vorteil
wirtschaftlicher Art suchen werden, der diese Unabhängigkeit unmittelbar
oder mittelbar zu gefährden geeignet wäre;
Daß sie sich jeder Haltung enthalten werden, die dem Geiste der
Konventionen zuwider sein könnte, die gemeinschaftlich zum
wirtschaftlichen und finanziellen Wiederaufbau Österreichs vereinbart
werden sollen, oder die den Garantien abträglich sein könnte, welche
die Mächte zur Wahrung der Interessen der Gläubiger und der
Garantiestaaten vereinbart haben werden;
Und daß sie sich gegebenenfalls, um die Achtung dieser Grundsätze
seitens aller Nationen zu gewährleisten, in Gemäßheit der
Bestimmungen des Paktes des Völkerbundes, sei es einzeln, sei es
gemeinsam, an den Rat des Bundes wenden werden, damit er die zu ergreifenden
Maßnahmen erwägt, und daß sie sich den Entscheidungen
genannten Rates fügen werden.
Die Regierung der Bundesrepublik Österreich,
Andererseits,
Verpflichtet sich nach dem Wortlaut des Artikels 88 des Vertrages von
Saint-Germain, ihre Unabhängigkeit nicht auf- [205] zugeben; sie wird sich
jeder Verhandlung und jeder wirtschaftlichen oder finanziellen Verpflichtung
enthalten, die diese Unabhängigkeit unmittelbar oder mittelbar zu
gefährden geeignet wäre.
Diese Verpflichtung steht nicht im Widerspruch damit, daß
Österreich vorbehaltlich der Bestimmungen des Vertrages von Saint
Germain seine Freiheit auf dem Gebiete der Zolltarife und der
Handels- oder Finanzabkommen sowie im allgemeinen für alles bewahrt,
was sein Wirtschaftswesen oder seine Handelsbeziehungen betrifft, wobei
indessen verstanden ist, daß sie seiner wirtschaftlichen
Unabhängigkeit nicht durch Gewährung einer Sonderbehandlung
oder ausschließlicher Vorteile Eintrag tun kann, die diese
Unabhängigkeit zu bedrohen geeignet sind.
Das gegenwärtige Protokoll bleibt zur Unterzeichnung für alle
Staaten offen, die ihm beitreten wollen.
Urkund dessen haben die Unterfertigten, zu diesem Zweck gehörig
bevollmächtigt, die gegenwärtige Erklärung unterzeichnet
(Protokoll I).
Gefertigt zu Genf in einem einzigen Exemplar, das im Sekretariat des
Völkerbundes niedergelegt bleibt und von ihm sofort registriert werden
wird, am 4. Oktober eintausendneunhundertundzweiundzwanzig.
Balfour. Seipel.
G. Hanotaux.
Imperiali.
Kramář
Pospiśil.
15a. Beginn des Führerbuches "Mein
Kampf"
1. Band verfaßt in der Festungshaft 1924, erschienen München
1925.
1. Kapitel.
Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, daß das Schicksal mir
zum Geburtsorte gerade Braunau am Inn zuwies. Liegt doch dieses
Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren
Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren [206] als eine mit allen
Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint!
Deutschösterreich muß wieder zurück zum großen
deutschen Mutterlande, und zwar nicht aus Gründen irgendwelcher
wirtschaftlicher Erwägungen heraus, Nein, nein; Auch wenn diese
Vereinigung, wirtschaftlich gedacht, gleichgültig, ja selbst wenn sie
schädlich wäre, sie müßte dennoch stattfinden.
Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich....
15b. Aus dem Lager der Anschlußgegner:
"Der österreichische Mensch",
von Oscar A. H. Schmitz
Diese 1914 erschienene Schrift eines reichsdeutschen
Literaten zum Anschauungsunterricht für Europäer, insbesondere
für Reichsdeutsche, die einer "europäischen Tafelrunde" gewidmet
war, erhielt eine eingehende österreichische Widerlegung in dem Buche
Der deutschösterreichische Mensch und der Anschluß von Fr.
Kleinwächter (Wien 1926.)
Auf viele heutige Österreicher, welche die Orientierung nach Wien verloren
haben, übt München eine starke Anziehungskraft aus. Hier
blüht jedoch nicht der deutsche Geist, mit dem sich Vermählung
lohnt. Diese Atmosphäre hat eine krankhafte Anziehungskraft für
wurzellose Menschen aller Art, daher auch für Österreicher, die den
Sinn ihres Österreich verloren haben... Auf diese gründet sich auch
der Ruhm Hitlers, dessen Nationalsozialismus stark in die österreichischen
Alpenländer hinüberwirkt. Ja, es besteht die Gefahr, daß hier
nachträglich ein neuer, sich "kerndeutsch" fühlender Typus entsteht,
der noch einmal in Reinkultur alles das an deutschen Fehlern und Irrtümern
zusammengefaßt, was unsere Kriegsgegner unter dem Wort "boche"
der Verachtung aller bessern Geister, auch in Deutschland, preisgegeben haben...
Das nationale Großdeutschtum ist nach der Sozialdemokratie das
größte Hindernis am Neuaufbau Österreichs. Die
revolutionäre Politik erreicht vorübergehende Klassenvorteile auf
Kosten des Ganzen; das [207] mag oft verbrecherisch
sein, aber die völkische Politik ist schlimmer als verbrecherisch, sie ist
dumm. Sie stellt den Gipfel des bekannten politischen Unverstandes der
Deutschen überhaupt dar...
In den Vereinigten Staaten Europas wird Österreich eine besondere Rolle
spielen als die natürliche Brücke zwischen Ost und West, die es in
geringerem Maße und weniger bewußt immer gewesen ist. Bis dahin
kann freilich noch viel Zeit vergehen. Was soll aber inzwischen dieses kleine, auf
die Dauer allein nicht existenzfähige Land tun? Ein Anschluß wird
über kurz oder lang nötig sein, aber welcher? Der an das Reich
wäre, wie gesagt, die schlechteste Lösung, denn dabei würde
Österreich seine Individualität verlieren... Zwar hat man den
Gedanken einer Donauföderation fallen gelassen, aber es besteht die
Möglichkeit, daß sich die Kleine Entente zu einem
osteuropäischen Block ohne Rußland auswächst. Das
wäre der politische Ersatz für die alte Monarchie. Hier sich
anzuschließen, entspricht Österreichs alter Tradition wie seinem
gegenwärtigen Interesse, solange der Augenblick noch nicht gekommen ist,
in den Vereinigten Staaten Europas die deutschsprechende Mitte zu bilden.
(Gekürzter Schlußteil.)
16. Der Anschluß als Programmpunkt der
parlamentarischen Parteien Österreichs
Veröffentlicht in der Monatsschrift Der
Anschluß des Österreichisch-Deutschen Volksbundes
(Führung: Generaldirektor Dr. Ing. Hermann Neubacher,
Rechtsanwalt Dr. Arthur Seyß-Inquart, die
Universitätsprofessoren Wilhelm Bauer, Hans Eibl u. a.) am
15. Februar 1927.
Christlichsoziale Partei:
Insbesondere verlangt sie auch die Gleichberechtigung des deutschen Volkes in
der europäischen Völkerfamilie und die Ausgestaltung des
Verhältnisses zum Deutschen Reiche auf Grund des
Selbstbestimmungsrechtes.
(Punkt 8 des Sylvesterprogramms 1926).
[208]
Sozialdemokratische Partei:
Die Sozialdemokratie betrachtet den Anschluß Deutschösterreichs an
das Deutsche Reich als notwendigen Abschluß der nationalen Revolutionen
von 1918. Sie erstrebt mit friedlichen Mitteln den Anschluß an die Deutsche
Republik.
Großdeutsche Volkspartei:
Der unverrückbare Leitstern unserer Außenpolitik ist der
Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich. Das Streben nach der
Vereinigung aller Volksgenossen in einem staatlichen Verband liegt
naturnotwendig im Wesen der Volksgemeinschaft. Denn soll sich die Volkskraft
auf kulturellem und wirtschaftlichem Gebiete voll entfalten, so ist hierfür
die breiteste Grundlage, also die Heranziehung aller Volksgenossen und
kräftigste Unterstützung und Förderung, wie sie nur die
staatliche Macht zu bieten vermag, erforderlich.... Die Angleichung unsrer
Rechts-, Wirtschafts- und Verwaltungseinrichtungen haben den Anschluß
vorzubereiten und zu erleichtern.
Landbund für Österreich:
Der Landbund will im deutschen Landvolk das natürliche
Einheitsgefühl heben und vertiefen. Der Zusammenschluß aller
deutschen Stämme im geschlossenen Sprachgebiet zu einem einigen
Deutschen Reich bildet sein unverrückbares, außenpolitisches
Ziel.
(Zu den Novemberwahlen 1930 folgten auch
Schober-Block und Heimat-Block [Starhemberg!] mit ähnlichen
Erklärungen; 1933 unterstellten sich die Großdeutschen Hitler,
während die anderen Parteien ihre
Anschluß-Artikel strichen.)
17a. Entschließung des Nationalrates zur
österreichisch-deutschen Rechts- und
Wirtschaftseinigung
(Einstimmig angenommen.)
23. Mai 1928.
Die Bundesregierung wird aufgefordert, in der begonnenen Angleichung des
gesamten Eisenbahnrechtes an das reichsdeutsche durch ständige
Fühlungnahme mit den deutschen Regierungsstellen weiter fortzufahren.
Der Nationalrat erblickt in [209] einer beschleunigten
Angleichung österreichischer Rechts- und Wirtschaftsverhältnisse an
jene des Deutschen Reiches ein dringendes Gebot und eine
unerläßliche Voraussetzung für eine günstige
Zukunftsentwicklung Österreichs.
17b. Dr. Seipel über Mitteleuropa und
Anschluß
Erklärung im Nationalrat.
27. Juli 1928.
Was wir, wenn solche (gegen den Anschluß gerichtete) Erklärungen
(wie die des amtierenden jugoslawischen Außenministers Marinkovic) auch
jetzt wieder abgegeben wurden, aus ihnen lernen können, ist, daß es
nicht an der Zeit ist, mit einer Erfüllung des Anschlußgedankens zu
rechnen, und daß es auch gar nicht an der Zeit ist, selbst diesen Gedanken in
öffentlichen Aussprachen mehr in den Vordergrund zu rücken, als es
notwendig ist, weil wir ja wissen, daß wir derzeit auf jede solche
Äußerung ein Nein zur Antwort bekommen. Irgendein Versuch, uns
zu veranlassen, daß wir etwa selbst auch uns zu diesem Nein bekennen, das
die andern ausgesprochen haben, oder daß wir uns zur Hoffnungslosigkeit
bekennen, als ob die künftige Entwicklung der europäischen Politik
nicht irgendeinmal in anderer Richtung vor sich gehen könne, als sie durch
ein solches Nein angedeutet ist, - ein Versuch, dahin zu bringen, ist nicht
gemacht worden. Deshalb habe ich die Meinung, daß wir uns frei halten
müssen, hineinzugehen in eine größere oder kleinere, eine
europäische, mitteleuropäische, deutsche Lösung, sobald sich
uns die Tür in dieses oder jenes größere Wirtschaftsgebiet
öffnet. Aber niemals werden wir glauben, daß die
mitteleuropäische Frage gelöst ist, wenn der große Staat, der
das eigentliche Mitteleuropa ausfüllt, das Deutsche Reich, bei dieser
Lösung nicht dabei ist.
18. Aus der Regierungserklärung des
Bundeskanzlers Johann Schober
27. September 1929.
Es sei mir gestattet, nunmehr auch noch einige Worte über die
Führung der auswärtigen Politik der Republik zu sagen. [210] Sie hat nach dieser
Richtung hin von der neuen Regierung keine Veränderung des nun schon
traditionellen Kurses zu erwarten.
Unsere Politik ist erstens eine Politik der Freundschaft mit allen Staaten und ganz
besonders mit unsern Nachbarn. Daraus folgt, daß sie zweitens eine Politik
der Neutralität ist und bleiben muß. Wir treten keiner Staatengruppe
bei und richten unsere Politik gegen niemanden. Wir wünschen
außenpolitisch neutral zu sein und glauben damit nicht nur unseren
Interessen, sondern auch denen aller andern europäischen Staaten
zueinander weitaus am besten zu dienen.
Zum dritten ist unsere Politik eine friedliche. Sie lehnt in rückhaltloser
Aufrichtigkeit den Krieg als Werkzeug staatlicher Politik ab und unterstützt
alle Bestrebungen, die auch im Verhältnis der Staaten zueinander Gewalt
durch Recht ersetzen und eine gerechte, vernünftige und friedliche Ordnung
der Dinge in Europa herbeiführen wollen.
Wir wissen uns in dieser Politik eins mit dem Deutschen Reiche, dem wir in
bösen wie in guten Tagen brüderliche Treue halten wollen.
18a. Telegramm des Bundeskanzlers an den
amtierenden Reichskanzler Müller
Bei der Übernahme der Regierungsgeschäfte der Republik
Österreich ist es mir ein aufrichtiges Bedürfnis, Sie, Herr
Reichskanzler, zu versichern, daß mir und allen Mitgliedern der Regierung
die Pflege und der Ausbau der innigsten Beziehungen zwischen dem deutschen
Brudervolke und Österreich besonders am Herzen liegt.
19. Deutsches Studentenrecht in
Österreich
Verordnung des Akademischen Senats der Universität Wien.
1. Die ordentlichen Hörer der Universität Wien, die
gleicher Abstammung und Muttersprache sind und mindestens ein Prozent aller
ordentlichen Hörer zählen, werden als eine Studentennation
angesehen. Ordentliche Hörer einer Nation, welche wegen zu geringer
Anzahl keine Studentennation darstellen oder [211] eine solche wegen ihrer
die Mindestzahl nur wenig überschreitenden Mitgliedzahl nicht zu bilden
wünschen, können mit einer anderen Studentennation vereinbaren,
daß diese ihre Vertretung übernimmt.
2. Die deutsche Studentennation wird Deutsche Studentenschaft
genannt, die übrigen Studentennationen werden nach ihrer
Volkszugehörigkeit bezeichnet.
3. Die ordentlichen Hörer, die wegen gemischter Abstammung
keine Studentennation darstellen, bilden die Gemischte Studentenschaft.
Dem Akademischen Senat steht es jederzeit zu, die Anerkennung der Vertretung
einer Studentenschaft mit Angabe der Gründe auf ein oder zwei Semester,
höchstens vier Semester, aufzuheben. Als ausreichende Gründe
gelten wiederholte Verstöße gegen die allgemeinen und
akademischen Gesetze und für die Studentenschaft geltende Satzung, die
Nichterfüllung der übernommenen Verpflichtungen oder die
Überschreitung der ihr zukommenden Rechte, die Verletzung der Interessen
der Hochschule im allgemeinen, im besonderen Bestrebungen, die den deutschen
Charakter der Hochschule beeinträchtigen.
Diese Studentenordnung wird auf Grund des Beschlusses des Akademischen
Senates vom 20. März 1930 verlautbart.
Wien, 8. April 1930.
Der Rektor der Wiener
Universität.
Gez.:
Gleispach e. h.
20. Aus dem Anschlußgelöbnis auf der
Klagenfurter Tagung des Österreichisch-deutschen Volksbundes: Alle
Parteien einig!
Juni 30.
Der Volksbund erreichte damals einen Stand von
rd. 1 300 000 Mitgliedern durch korporativen Beitritt
von Gewerkschaften, Bünden usw.
Der Volksbund hat bei dieser Jahrestagung die gewaltigen Fortschritte feststellen
dürfen, die er organisatorisch gemacht hat. Das deutsche Volk, das gesamte
Ausland kann aus der Beteiligung so vieler bedeutender Männer und
Frauen der Po- [212] litik, Wirtschaft und
Kunst feststellen, daß die Anschlußbewegung ständig im
Steigen begriffen ist, daß der Anschlußwille sich mit aller Kraft
für den Tag vorbereitet, an dem Deutschösterreich sein
Selbstbestimmungsrecht ausüben wird.
Der Volksbund, der von allen vier Parteien des Nationalrates Zustimmung und
Unterstützung findet, richtet an die parlamentarische
Vertretung - sowohl an den Nationalrat wie an den
Reichstag - die Aufforderung, es nicht bei Wünschen und
Hoffnungen zu belassen, sondern zu jenen Taten zu schreiten, die heute
möglich sind: Wir fordern die doppelte Staatsbürgerschaft! Wir
fordern die Zollunion!
(Veröffentlicht im Anschluß vom 26. 6. 1930.)
Tatsächlich brachte die NSDAP. nach ihrem Wahlsiege
am 17. 10. 1930 im Reichstag einen Antrag auf Abschluß einer
Zoll- und Wirtschaftsunion mit Österreich ein.
20a. Der Versuch einer
deutschösterreichischen Zollunion
Das Wiener Protokoll, abgeschlossen zwischen Bundesminister
Dr. Schober und Reichsaußenminister Dr. Curtius
(Auszug).
19. März 1931.
Im Verfolg der Besprechungen, die Anfang März 1931 in Wien
stattgefunden haben, haben die Deutsche Regierung und die Österreichische
Regierung vereinbart, alsbald in Verhandlungen über einen Vertrag zur
Angleichung der zoll- und handelspolitischen Verhältnisse ihrer
Länder auf Grund und im Rahmen der nachstehenden Richtlinien
einzutreten:
I.
1. Unter voller Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit der beiden
Staaten und unter voller Achtung der von ihnen dritten Staaten gegenüber
übernommenen Verpflichtungen soll der Vertrag dazu dienen, den Anfang
mit einer Neuordnung der europäischen Wirtschaftsverhältnisse auf
dem Wege regionaler Vereinbarungen zu machen.
2. Insbesondere werden beide Teile sich in dem Vertrage verbindlich
dazu bereit erklären, auch mit jedem anderen Lande, auf dessen Wunsch, in
Verhandlungen über eine gleichartige Regelung einzutreten.
[213]
II.
1. Deutschland und Österreich werden ein Zollgesetz und einen
Zolltarif vereinbaren, die übereinstimmend in beiden Zollgebieten mit dem
Vertrage und für dessen Dauer in Kraft zu setzen sind.
2. Änderungen des Zollgesetzes und Zolltarifs können
während der Dauer des Vertrages nur auf Grund einer Vereinbarung der
beiden Teile vorgenommen werden.
III.
1. Im Warenverkehr zwischen den beiden Ländern sollen
während der Dauer des Vertrages keine
Einfuhr- und Ausfuhrzölle erhoben werden.
2. Die beiden Regierungen werden sich in dem Vertrage darüber
verständigen, ob, für welche bestimmten einzelnen Warenkategorien
und für welche Zeit Zwischenzölle sich als erforderlich
erweisen.
20b. Der Haager Schiedsspruch
(Auszug des Rechtsgutachtens des ständigen Internationalen Gerichtshofes,
nach Fritz Berber, "Das Diktat von Versailles," Bd. 1,
562 ff.)
5. September 1931.
Von den acht Richtern der Mehrheitsentscheidung haben sechs, nämlich die
Richter Guerrero (San Salvador), Graf Rostworowski (Polen), Fromageot
(Frankreich), Altamira (Spanien), Urrutia (Kolumbien), und Negulesco
(Rumänien) erklärt, daß nach ihrer Ansicht das
Zollunionsprojekt nicht nur gegen das Genfer Protokoll, sondern auch gegen den
Artikel 88 des Vertrages von St. Germain verstoße, weil es
die Unabhängigkeit Österreichs auf wirtschaftlichem Gebiet zu
bedrohen geeignet sei und deshalb einen Akt darstelle, der die
Unabhängigkeit Österreichs in Gefahr zu bringen vermöge.
Von den beiden anderen Richtern der Mehrheit war der Richter
de Bustamente (Kuba) dagegen der Ansicht, daß das
Zollunionsprojekt gegen Artikel 88 nicht verstoße. Daher bilden die
obenerwähnten sechs Richter in diesem Punkt nicht die Mehrheit.
Die Richter Adatci (Japan), Kellogg (Vereinigte Staaten von Amerika), Baron
Rolin-Jaequemyns (Belgien), Sir Cecil Hurst [214] (England),
Schücking (Deutschland), van Eysinga (Holland) und Wang (China)
erklärten, der Mehrheitsentscheidung auch darin nicht beistimmen zu
können, daß eine Unvereinbarkeit mit dem Genfer Protokoll
vorliege.
Auch die dissentierende Meinung geht davon aus, daß Österreich sich
seiner Unabhängigkeit nicht entäußern kann und sie auch nicht
gefährden darf, es sei denn mit Zustimmung des Rates. Aber weder eine
"aliénation" der Unabhängigkeit eines Staates, der auf
seinem Gebiet alle Befugnisse eines unabhängigen Staates ausübe,
liege in dem Projekt, noch sei der Tatbestand des "compromettre"
gegeben; denn dieser Tatbestand liege nur vor, wenn die fortdauernde Existenz
Österreichs als eines Staates, der auf seinem Gebiet alle Befugnisse eines
unabhängigen Staates auszuüben vermag, gefährdet sei. Das
Protokoll von 1922 habe die Verpflichtung des Vertrages von St. Germain
wiederholt und nur ihren Ausdruck leicht verändert. Der Sinn des zweiten
Absatzes des Protokolls sei der, klarzustellen, daß innerhalb der ihm
verbliebenen Freiheit Österreich das Recht nicht verloren habe, Abkommen
im Interesse seines Handels zu treffen. Der Zusatz, nach welchem solche
Abkommen die wirtschaftliche Unabhängigkeit Österreichs nicht
durch ein Sonderregime oder ausschließliche Vorteile zugunsten eines
anderen Staates gefährden dürfen, stellt nach Ansicht der
dissentierenden den Richter keine Ausdehnung, sondern nur eine
Bestätigung der im Vertrag von St. Germain übernommenen
Verpflichtung dar.
Die dissentierenden Richter gehen davon aus, daß im allgemeinen eine
Zollunion die Unabhängigkeit der vertragschließenden Staaten
für die Zukunft nicht gefährde, und daß vollends keiner der
Staaten seine Unabhängigkeit durch einen solchen Schritt
einbüße. Da im vorliegenden Fall kein Einzelbeweis für die
Gefährdung der Unabhängigkeit, abgesehen von jener allgemeinen
Präsumption, erbracht sei, könne die im übrigen nicht
begründete Ansicht der Mehrheit nicht zutreffen.
Ein begründetes Sondergutachten des Richters Anzilotti (Italien), in
welchem er sich zwar der Entscheidung der Mehrheit anschließt, ihre
Beweisführung aber durchaus ablehnt, verdient besondere Beachtung, da es
die außenpolitischen Motive des Konfliktes offen behandelt.
[215] 20c. Verzichterklärung Dr. Schobers vor dem
Völkerbundsrat
3. September 1931.
Der Unterausschuß der Wirtschaftsexperten hat in seinem Bericht in
mutiger Weise die Frage aufgeworfen, ob es nicht möglich wäre,
durch ein neues Konzept der europäischen Zusammenarbeit eine neue
Sachlage zu schaffen, die geeignet wäre, gleichzeitig zur Sicherung des
wirtschaftlichen Aufschwunges wie des dauerhaften Friedens in Europa
beizutragen. Der Unterausschuß hat u. a. die Bedingungen
untersucht, denen Zollunionen unterworfen werden müßten, um das
soeben erwähnte Ziel zu erreichen.
Da die österreichische Bundesregierung aus den Ereignissen der letzten
Monate feststellen konnte, daß im Gegensatz zu ihren Absichten
Schwierigkeiten für die vertrauensvolle Zusammenarbeit der
europäischen Völker aus der Durchführung des Zollprojektes
entstehen könnten, erklärt sie, weil für sie das Interesse an
dieser Zusammenarbeit eng mit den österreichischen Interessen verbunden
ist, ihren Entschluß, das Projekt der Zollunion nicht weiter zu
verfolgen.
Ich hoffe, daß diese Erklärung wesentlich dazu beitragen wird, die so
notwendige allgemeine Beruhigung herbeizuführen und eine Stimmung zu
schaffen, welche konstruktives Zusammenwirken der Regierungen
ermöglichen wird. In den letzten Monaten hat sich aus sehr verschiedenen
Ursachen, die den Gegenstand der Untersuchungen der wirtschaftlichen
Organisation des Völkerbundes bilden, die Wirtschaftskrise nicht nur in
Österreich und Deutschland, sondern in einem großen Teil der
europäischen Staaten außerordentlich verschärft und
ausgebreitet. Es ist eine weitreichende Vertrauenskrise entstanden, die die
Grundlagen des europäischen Wirtschaftslebens erschüttert. Dem
Zwecke, das gegenseitige Vertrauen wiederherzustellen, soll auch die
Erklärung dienen, die ich soeben bei der ersten sich hierfür bietenden
Gelegenheit abgegeben habe.
(Gleichzeitig erfolgte eine sinngemäße Erklärung des
Reichsaußenministers.)
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