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[Bd. 9 S. 205]

6. Kapitel: Frankreich, Litauen, Österreich.

1.

Wir wenden uns jetzt Frankreich zu. Laval hatte am 2. Mai den Beistandspakt mit Sowjetrußland geschlossen, diese "unbefriedigende, traurige Vernunftehe", wie sich der Jour ausdrückte. Frankreich hatte vor der Hand darauf verzichten müssen, daß die Russen im französischen Heer und in der französischen Arbeiterschaft die kommunistische Propaganda einstellten. Was das hieß, mag man daran ermessen, daß Anfang April der Zentrale Ausführende Ausschuß der im Jahre 1920 durch die 3. Internationale gegründeten Roten Gewerkschaftsinternationale in Moskau beschlossen hatte, ein westeuropäisches Sekretariat in Paris zu eröffnen, das unmittelbar unter Moskau stehen sollte. Zum Vorsitzenden dieses Sekretariats wurde der bekannte französische Kommunistenführer Gaston Mommonsseau, der seit 1920 in der Komintern und der Roten Gewerkschaftsinternationale eine wichtige Rolle spielte, ernannt. Zu dieser Roten Gewerkschaftsinternationale gehörten auch die ehemaligen Oppositionsgruppen der Amsterdamer Internationale. Dieser Beschluß hieß nichts anderes als planmäßige Organisierung der Weltrevolution in Frankreich. Ein Geist der Auflehnung gegen militärische Gewalt war bereits gezüchtet, eine Atmosphäre des Streikfiebers war schon geschaffen, bolschewistische Agenten und Spitzel trieben sich im Lande herum – Mitte April 1935 wurden 20 allen Nationalitäten und Gesellschaftsklassen angehörende Personen der 32köpfigen Spionagegesellschaft der Lydia Stahl und des amerikanischen Ehepaares Switz, die für Sowjetrußland arbeitete, vor dem Pariser Strafgericht abgeurteilt – und es klang fast wie ein Leitwort für den Pakt mit Frankreich, als Sowjetrußlands Kriegskommissar Woroschilow am 1. Mai im Aufruf für die Rote Armee verkündete: Sowjetrußland – dieses Wort klinge für die Arbeiter und Werktätigen aller Länder wie ein Schlachtruf – Sowjetrußland sei das Bollwerk der Weltrevolution!

[206] Am 5. und 12. Mai fanden in Frankreich Gemeindewahlen statt. Sie waren von dem üblichen marxistischen Krach und Getöse begleitet. Demonstrationen, Proteste, Verhaftungen, Verletzungen blieben nicht aus, die vereinigte marxistische Front fühlte sich durchaus als Herrin der Lage. Das Ergebnis jagte der Bourgeoisie einen heftigen Schrecken ein: In den 858 Wahlbezirken stiegen die Kommunisten von 48 (1929) auf 91! Die Sozialisten gingen von 195 auf 189 zurück, die Radikalsozialisten verloren 4, sie bekamen 222 Sitze. Der Sieg der Kommunisten war der erste sichtbare Erfolg des marxistisch-kommunistischen Wahlbündnisses, aus dem später durch Hinzutritt der linksbürgerlichen Radikalsozialisten die "Volksfront" hervorging. In Paris bekam der Stadtrat statt einem Kommunisten, wie bisher seit 1919, deren acht, während die zehn Sozialisten auf fünf zurückgingen. Viele Gemeinden der Provinz gerieten unter marxistische Verwaltung. Das Ergebnis war so erschütternd, daß im ersten Augenblick an eine Gefahr, einen Rücktritt des Kabinetts Flandin gedacht werden konnte. Echo de Paris meinte, das Volk habe sich gegen die Regierung ausgesprochen und erwarte, daß die parlamentarische Atmosphäre eine grundlegende Änderung erfahren werde. Die jüdisch-bolschewistische Saat begann zu sprießen.

  Laval in Warschau  

Um das französische Bündnissystem in Osteuropa durch eine Kette neuer Erfolge zu befestigen, begab sich Laval am Abend des 9. Mai auf die Reise nach Warschau und Moskau, wohin er bereits im April eingeladen worden war. Am Nachmittag des folgenden Tages wurde der Franzose in Warschau auf dem Bahnhof vom polnischen Außenminister Oberst Beck höflich, aber kühl empfangen. Es war etwas länger als ein Jahr her, daß Lavals Vorgänger Barthou in Warschau weilte und stark enttäuscht wieder abreiste. Nachdem aber Beck seine Unterschrift unter den Genfer Tadelsantrag gegen Deutschland gesetzt hatte, glaubte Frankreich wieder festere Hoffnungen auf Polen setzen zu dürfen. Nun hatte sich allerdings Oberst Beck wenige Tage später, zu Ostern, d. h. am 21. und 22. April, nach Venedig begeben, wo er mit Suvich zusammentraf. Die Außenpolitikerin des Oeuvre schien gut unterrichtet zu sein, wenn sie als den Zweck der [207] Aussprache angab, daß Beck hier mit allen Mitteln den Abschluß des französisch-russischen Bündnisse zu vereiteln suchte. Es lag durchaus im Rahmen des Möglichen, wenn Beck dem faschistischen Italien vorstellte, sein Bündnis mit Frankreich müsse zerbrechen, wenn dies sich mit dem bolschewistischen Rußland verbinde. Beck und Suvich sollen auch übereingekommen sein, daß Italien eine Aussöhnung zwischen Polen und den baltischen Staaten, insbesondere Litauen, herbeizuführen suchen solle. Man erwog den Plan eines mitteleuropäischen Paktes, der auch Polen und die Randstaaten umfassen solle, wodurch Sowjetrußland ausgeschaltet wurde. Diese italisch-polnische Politik kam allerdings nicht in Gang, jedoch wurde das französisch-russische Beistandsabkommen geschlossen. – Unmittelbar vor Lavals Eintreffen führte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im polnischen Sejm, Fürst Janoß Radziwill, im Czar im Zusammenhang mit dem französisch-sowjetrussischen Pakt, wonach Sowjetrußland verpflichtet ist, Frankreich bewaffnete Hilfe zu leisten, aus, ob Laval und die französische Öffentlichkeit wirklich glaubten, daß Polen seine Ostgrenze den Millionen der Roten Armee öffnen werde, deren Hauptziel doch die Vorbereitung der kommunistischen Weltrevolution sei, und ob die französische Öffentlichkeit wirklich glaube, daß die Stäbe der Roten Armee in Krakau, Posen, Wilna oder Warschau sich niederlassen könnten; derartige Illusionen zu hegen, liege nicht im Interesse der freundschaftlichen Entwicklung der polnisch-französischen Beziehungen.

Damit stand fest, daß Lavals geplante Überzeugungsversuche zwecklos sein würden, denn die französische Partei in Polen war klein und schwach. Wie das gut informierte Oeuvre schrieb, wollte Laval in Warschau darauf hinweisen, daß der französisch-russische Beistandspakt keineswegs gegen Polen gerichtet sei, sondern nur für einen etwaigen Angriff Deutschlands auf Rußland oder Frankreich unterzeichnet sei; selbst wenn Polen Sowjetrußland angreifen sollte, dürfte Frankreich nach den Bestimmungen seines Paktes mit Rußland seinem Sowjetverbündeten keine andere als die im Artikel 16 der Völker- [208] bundssatzungen im Falle einer Verletzung dieser Satzungen vorgesehene Hilfe leisten.

Der Franzose bekam demgegenüber manchen Vorwurf zu hören: Frankreich habe Polen in jeder Weise vernachlässigt, habe es wirtschaftlich nicht unterstützt, sei gegenüber dem größten Erfolg der polnischen Politik, dem Friedenssicherungsabkommen mit dem Reich, verständnislos, ja ablehnend geblieben, es habe durch das sowjetrussische Abkommen das französisch-polnische Bündnis ernstlich in Frage gestellt. Man müsse nämlich in Paris wissen, daß jeder Versuch russischer Truppen, die Grenze zu überschreiten, welche Vertragspflichten auch immer als Vorwand dienen könnten, von Polen als Kriegsfall betrachtet werden müsse.

Drei offizielle Bankette fanden in Warschau statt, die erwarteten freundschaftlichen Tischreden wurden aber nicht gehalten. Die Polen wurden trotz aller schönen Worte Lavals den Eindruck nicht los, daß sie durch den russisch-französischen Pakt glatt überrumpelt werden sollten. Der Schmerz hierüber war um so bohrender, weil sie noch fünf Wochen früher Eden gegenüber sich einem Kollektivabkommen grundsätzlich nicht abgeneigt gezeigt hatten und nun plötzlich auf Grund dieser Tatsache in ein ganz neues machtpolitisches System hineingestellt wurden. Und ob auch Laval den Polen versicherte, sie sollten nicht zu gegenseitiger Hilfeleistung gezwungen werden, die Sowjetarmee sollte kein Durchmarschrecht haben, das Bündnis solle nicht Ostpakt genannt werden, die Polen sollten weder gegen Litauen, noch gegen die Tschechei besondere Verpflichtungen eingehen, es käme nur darauf an, ob sie sich einem kollektiven System einordnen wollten oder nicht – die Polen zeigten keine Lust, sich dem russischen Wolfe in irgendeiner Weise zu verbinden. Und wenn auch Laval wider besseres Wissen versicherte, der französisch-russische Pakt sei von keinerlei finanziellen Zusicherungen an Rußland begleitet, der Zweck des Abkommens sei allein gewesen, Deutschland des großen Rohstoffbeckens und der fast unerschöpflichen Quellen an Menschenmaterial, die Rußland darstelle, zu berauben, die Polen nahmen dies alles höflich zur Kenntnis, blieben aber [209] kühl. Oberst Beck beharrte auf seinem Plane eines mehrseitigen Nichtangriffs- und Konsultativpaktes. Der amtliche Bericht über den Warschauer Besuch vermag folgendes magere Ergebnis festzustellen:

      "Der Meinungsaustausch gab den beiden Ministern die Möglichkeit festzustellen, daß der gemeinsame Gegenstand ihrer Bestrebungen die Erhaltung des europäischen Friedens und der Sicherheit durch Organisierung einer breit aufgefaßten internationalen Zusammenarbeit sei, die allen die Möglichkeit zur Mitarbeit biete."

Das bedeutet, daß Polen sich eindeutig gegen Lavals Ostpaktpolitik erklärt hatte.

Marschall Pilsudski, der wegen seiner schweren Erkrankung an Magen- und Leberkrebs Laval nicht empfangen konnte, starb am Abend des 12. Mai, an dessen Morgen der Franzose Warschau verließ. Der große Revolutionär und geniale Staatsgründer, der im Weltkrieg in Magdeburg interniert war, der während der oberschlesischen Unruhen eine maßvolle Haltung einnahm und gewissermaßen der Gegenspieler Korfantys war, hatte die Freundschaft zwischen Deutschland und Polen begründet. Sein Tod löste in Deutschland tiefe Trauer aus, in Paris flackerten Hoffnungen auf. Ihn allein hielt man dort für denjenigen, der Polen mit Deutschland verbunden, und mit dem Tone innerster Überzeugung verkündete Journal, daß Polens ganze politische Entwicklung der letzten Zeit jetzt in Frage gestellt sei. Echo de Paris war deutlicher: Der wahre Lenker der polnischen Außenpolitik sei nun von der Bühne abgetreten; da dürfe man mit Recht fragen, ob die ziemlich paradoxe Diplomatie Warschaus die bisherige Richtung beibehalten werde; mit Pilsudski verschwinde der Traum eines ukrainischen Reiches, der Traum von Kiew, der Warschau in die Arme Berlins getrieben habe. (Vgl. Anlage 30.)

  Laval in Moskau  

Beschwingt von neuen Hoffnungen erschien auch Laval am Morgen des 13. Mai in Moskau. Litwinow empfing ihn, der Bahnhof war mit französischen und sowjetischen Fahnen geschmückt, gewaltig klangen die Töne der französischen und der Sowjethymne durch die Bahnhofshalle. Auch Litwinow war von neuen Hoffnungen erfüllt, denn die französischen Gemeindewahlen vom Vortage hatten den Kommunisten starken [210] Zuwachs gebracht. Das Wahlergebnis bildete den geeigneten Hintergrund für den Staatsbesuch und seinen Verlauf.

Laval unterstrich den Sinn seines Besuches gebührend: Durch den Moskauer Besuch habe die französische Regierung die ganze politische Bedeutung des Beistandspaktes unterstreichen wollen.

      "Die Ideale unserer Länder sind zwar nicht die gleichen, aber sie sind geeint durch die starken Hände der Friedensliebe. Ich weiß, daß ich unser beider heißen Wunsch ausdrücke, wenn ich sage, wir würden es gern sehen, wenn andere Länder an dem friedlichen Aufbauwerk teilnehmen würden, das so notwendig ist. Jedes Land hat seine eigenen Bestrebungen, und gleichzeitig sorgt jedes Land für den Schutz seiner Ehre und Würde. Aber jedes Land hat die Pflicht, seinen Beitrag zur internationalen Sache der Solidarität zu liefern."

Radek sah allerdings in der Moskauer Prawda nicht so blumenreiche Hintergründe der Bündnispolitik: Die kapitalistischen Staaten hätten aus Angst vor dem rasch emporwachsenden Deutschland ein Zusammengehen mit der Sowjetunion, deren Friedensliebe bekannt sei, zur Sicherung des Friedens angestrebt; trotz dieser Bündnispolitik werde die Sowjetunion niemals ihr Klasseninteresse vergessen. Hinter dem Transparent der französischen Friedensliebe flackerte also die Flamme des bolschewistischen Klassenkampfes, der Weltrevolution.

Die französische Agentur Havas verbreitete eine Meldung, wonach Laval seine 4½stündige Unterredung mit Stalin als ein "Liebesmahl wahrer Freundschaft" bezeichnete! Die bürgerliche Presse von Paris wagte im Anschluß hieran die schüchterne Hoffnung zu äußern, daß es nun nicht mehr im Sinne der Bolschewiken liegen könne, daß in Frankreich, insbesondere in der französischen Armee, kommunistische Propaganda getrieben werde. Allerdings gab wohl Stalin dem Franzosen eine Zusicherung, daß das Heer nicht weiter unterhöhlt werden solle. Aber das war wohl nur eine taktische Maßnahme. Die revolutionären Demonstrationen, die zu Ehren Lavals durchgeführt wurden, lassen doch andere Tendenzen erkennen. Noch unmittelbar vor seiner Abreise am Abend des 15. Mai wurden ihm zu Ehren Ballettvorführungen veranstaltet, die u. a. "Bilder aus der französischen Revolution von 1789" boten. Es [211] war fast, als sollte durch den Appell an eine große Tradition das revolutionäre Gewissen der französischen Bourgeoisie wieder geweckt werden. Der Schwerpunkt der Besprechungen lag aber doch auf außenpolitischem Gebiet, im besonderen hat wohl Laval gewisse polnische Wünsche und Vorbehalte vorgetragen und um deren Berücksichtigung gebeten. Für Laval hing in Moskau sehr viel davon ab, die Möglichkeit einer Wiedergewinnung Polens vorzubereiten. Für den Erfolg der demnächst einsetzenden französisch-sowjetrussischen Generalstabsbesprechungen war es entscheidend, daß Polen der Eintritt in den durch die "deutsche Gefahr" hervorgerufenen Ring aller Völker, die die Verträge verteidigen wollten, leicht gemacht wurde. Mit neuen Hoffnungen für den Ostpakt kehrte Laval am 15. Mai nach Warschau zurück, um an der Beisetzung Pilsudskis in Krakau teilzunehmen. (Vgl. Anlage 31.)

Marschall Pilsudskis Leichenzug.
[Bd. 9 S. 304a]      Polen: Marschall Pilsudskis Leichenzug in den Straßen Warschaus.      Photo Scherl.

Zu dieser machtvollen und glänzenden Feierlichkeit, welche die Bedeutung des polnischen Staates nach außen hin bekundete, waren viele hohe und höchste Würdenträger, Staatsmänner und Generäle der Staaten Europas erschienen. Das Reich war vertreten durch General Göring, von seiten Frankreichs war außer Laval Marschall Pétain gekommen. Für politische Besprechungen war bei diesem Staatsakt keine Möglichkeit, und Laval war nicht in der Lage, seine Moskauer Ergebnisse nutzbringend auszuwerten. Aber er hatte bei dieser Gelegenheit am Vormittag des 18. Mai eine Begegnung mit General Göring, wo in privater Unterhaltung und mit großer Offenheit alle zwischen beiden Völkern zur Debatte stehenden Fragen erörtert wurden, ohne daß auf Einzelheiten eingegangen wurde. So nahm der zweite Warschauer Besuch eine von Laval nicht vorhergesehene Wendung; er wäre, wenn er die Begegnung mit General Göring vorausgesehen hätte, vielleicht bei seinem ersten Warschauer Aufenthalt vorsichtiger in seinen Äußerungen gewesen!

  Regierungskrise  
in Frankreich

Als Laval wieder in Paris eintraf (20. Mai), fand er die französische Regierung in tiefer innerer Zerrüttung. Die Erfolglosigkeit seiner Osteuropareise wurde auch nicht durch die Erklärung aus der Welt geschafft, die er nach seiner Rückkehr abgab:

      "Meine Reise war ausgezeichnet. Die Aufnahme, die [212] ich als Vertreter Frankreichs gefunden habe, war herzlich und bisweilen erhebend. Ich glaube sagen zu können, daß die internationale Lage sich auf Grund meiner Besprechungen gebessert hat."

Diesen Glauben in moll teilte allerdings nur Laval.

Eine geschickte Regie hatte dafür gesorgt, daß der polnische Mißerfolg Lavals verdeckt wurde durch den am 16. Mai in Prag abgeschlossenen tschechoslowakisch-russischen Beistandspakt, der von Außenminister Dr. Benesch und dem Sowjetgesandten Alexandrowski unterzeichnet wurde und das Gegenstück zu dem zwei Wochen vorher zustandegekommenen französisch-russischen Beistandspakt bildete. Gleichzeitig wurde in Moskau von der Sowjetregierung und einer tschechoslowakischen Abordnung die Einrichtung eines regelmäßigen Luftverkehrs zwischen den Hauptstädten beider Länder vereinbart. Wenige Tage vorher hatte die Tschechei Rußland einen Kredit von 250 Millionen Kronen zum "Wareneinkauf" in der Tschechoslowakei zur Verfügung gestellt. Das tschechoslowakisch-sowjetrussische Militärbündnis bedeutete für den Bolschewismus einen neuen erfolgreichen Vorstoß nach Europa. Seit Mitte März 1935 bereits weilte in Prag eine aus sowjetrussischen Generalstabsoffizieren bestehende Militärmission. Seit dieser Zeit etwa reiste zusammen mit tschechischen Offizieren eine sowjetrussische Kommission durch das Land, um die geeigneten Plätze für fünfzig neu anzulegende Militärflughäfen festzustellen! Aber auch die andere Seite kam zur Geltung: Die bolschewistische Agitation und Zersetzung der tschechoslowakischen Armee wurde mit Hochdruck vorwärtsgetrieben. Immer fester und zielbewußter verband sich der Geist der Weltrevolution mit den tschechischen Regimentern. Das Bündnis von Mitte Mai tat sein Übriges, den südlichen Nachbar des Reiches schlagkräftig zu machen, indem es ihm das bolschewistische Todgift tief einimpfte.

Tschechoslowakisches Militär.
[Bd. 9 S. 208b]      Tschechoslowakisches Militär.
Photo Scherl.
Tschechoslowakische Panzerwagenabteilung.
[Bd. 9 S. 208b]      Tschechoslowakische
Panzerwagenabteilung.
      Photo Scherl.


2.

Die unsichtbaren Mächte der Revolution, die in den Logen und in den marxistischen Parteien wirkten und von hier aus [213] als mitbestimmende Nebenregierung die Entschlüsse des Kabinetts leiteten, erblickten im Abschluß des französisch-sowjetrussischen Bündnisses den ersten Teil ihres im Frühjahr 1933 beschlossenen Programmes. (Vgl. Anlage 1.) Den französischen Marxisten wie den sowjetrussischen Machthabern kam es jetzt darauf an, daß das Bündnis auch innenpolitisch in Frankreich zuverlässig untermauert wurde. Der große Zusammenschluß aller, die der aktiven Revolution verschworen waren, mußte als das nächste Ziel erreicht werden. Das geschah nicht mehr mit Hilfe der Regierung, sondern gegen sie; die Umstände begünstigten die Entwicklung.

Bereits im April drängte der linke Flügel der Radikalsozialisten heftig zum Marxismus hin. Verzweifelt wehrte sich Minister Herriot gegen das "Mindestprogramm", das die Front commun den Radikalsozialisten aufzuzwingen versuchte: kollektive Tarifverträge, bezahlter Urlaub, Vierzigstundenwoche. Aber sein Gegenspieler in der Partei, der Geschichtsprofessor Edouard Daladier aus Orange, war erfolgreicher, er drängte die Radikalsozialisten an die Seite der Marxisten. Im Mai 1935 beunruhigte eine kurze aber scharfe Währungskrise das Volk. Es war wohl eine Folge des Russenpaktes, daß die internationale Börsenspekulation sich gegen den Franken wandte. In der Zeit vom 1. bis 17. Mai betrug der Goldabfluß aus Frankreich eine Milliarde, in der Woche vom 17. bis 24. Mai stieg er auf 3 Milliarden, und in den drei Tagen vom 25. bis 27. Mai kamen noch drei Milliarden dazu! Die englische Presse meldete, daß am 28. Mai eine panikartige Goldflucht von Frankreich nach England zu Wasser und zur Luft stattgefunden habe. Im Laufe des Tages seien fünf Tonnen Barrengold im Werte von 1¼ Million Pfund Sterling auf dem Luftwege nach England gebracht worden. Ein Postdampfer brachte Gold im Werte von ½ Million Pfund Sterling. Hunderte von Franzosen eilten nach England, um ihre Franken in Pfund Sterling umzutauschen. Diese Goldflucht war der Ausdruck einer panikartigen Furcht vor dem Bolschewismus.

Flandin mußte etwas unternehmen. Sicher ging es auf seine Anregung zurück, als Englands Finanzbehörden große Summen Franken aufkauften, um die französische Währung zu [214] stützen. Aber es half nichts. Flandin, der bei der Regierungsübernahme im November 1934 geglaubt hatte, daß sein Kabinett der Mitte im Gegensatz zu der ausgesprochenen Rechtsregierung seines Vorgängers Doumergue sich ohne Ausnahmegesetze gegen die auseinanderstrebenden Meinungen der einzelnen Kammergruppen werde durchsetzen können, war genötigt, am 30. Mai ein Ermächtigungsgesetz dem Parlamente vorzulegen:

      "Senat und Abgeordnetenkammer übertragen der Regierung die Befugnis, bis zum 31. Dezember 1935 alle Maßnahmen mit Gesetzeskraft zu treffen, die geeignet sind, die Sanierung der öffentlichen Finanzen, die Wiederbelebung der Wirtschaftstätigkeit, die Verteidigung des öffentlichen Kredites und die Aufrechterhaltung der Währung zu verwirklichen. Diese vom Minister zu erlassenden Verordnungen werden den Kammern vor dem 31. Juli 1936 zur Ratifizierung unterbreitet werden."

Ein erbitterter Kampf um das Gesetz setzte ein. Minister Herriot erklärte, es handle sich darum, ob der Staat über die Spekulation oder die Spekulation über den Staat Sieger bleiben solle. Die rechtsgerichteten Freunde der Abwertung waren stärker als die Regierung. Der Schwerindustrielle Laurent führte aus, die Finanzlage habe am 13. Mai begonnen ernst zu werden, genau an dem Tage, da Laval in Moskau sich vor dem Grabe Lenins verneigt habe. Damit habe die rote Front in Frankreich neuen Auftrieb erhalten. Paul Reynaud sah die einzige Rettung des Landes in einer aus Mitgliedern aller Parteien bestehenden neuen Regierung des Landes. Seine Rede machte tiefen Eindruck. Unter ihrem Nachhall verweigerte die Kammer in der ersten Stunde des 31. Mai Flandin mit 353 gegen 202 Stimmen die nachgesuchten Vollmachten und führte so seinen Sturz herbei.

Staatspräsident Lebrun betraute den 61jährigen Kammerpräsidenten Fernand Bouisson mit der Regierungsbildung. Der Industrielle Bouisson war 1924 der Sozialistischen Partei beigetreten, 1927 als Marxist Präsident der Kammer geworden und 1933 wieder aus der Partei ausgeschieden. Er brachte ein "Kabinett der verbreiterten nationalen Union zu Verteidigung des Franken" zusammen, das alle Parteien mit Ausnahme der [215] Internationalen Sozialisten (Leon Blum) und Kommunisten umfaßte. Laval, Maurin, Denain, der jüdische Postminister Mandel blieben in ihren Ämtern. Als ihre Aufgabe betrachtete die neue Regierung möglichst schnelle Beseitigung der Währungskrise und Herstellung des Gleichgewichts der öffentlichen Finanzen – die Staatsschulden waren 1930–1935 von 265 auf 340 Milliarden gestiegen! – unter möglichster Schonung des kleinen Mannes und der Beamtenschaft.

Am 4. Juni trat Bouisson vor die Kammer mit Regierungserklärung und Vollmachtenforderung, die er nicht bis zum 31. Dezember, sondern nur bis zum 31. Oktober ausgedehnt wissen wollte. 264 Neinstimmen gegen 262 Jastimmen stürzten ihn. Die Radikalsozialisten hatten ihr Wort gebrochen und Herriot die Gefolgschaft verweigert. Sie waren Daladier gefolgt, der sie an die Seite der marxistischen Opposition geführt hatte. Vergeblich versuchten 17 Abgeordnete hinterher ihr Nein in ein Ja zu verwandeln, um für Bouisson eine Mehrheit zu konstruieren. Das Parlament hatte gesprochen, Bouisson war gestürzt. Draußen aber, auf den Boulevards, im Quartier Latin, auf dem Opernplatz, demonstrierten die Anhänger der royalistischen Action française sowie der Jeunesse Patriote und anderer faschistischer Verbände gegen den destruktiven Parlamentarismus. Die Polizei mußte alle Kräfte aufbieten, um ernstere Störungen zu vermeiden.

Nun sollte der 53jährige Korse Pietri, Kriegsminister seit Doumergue, der zur Mitte zählenden Gruppe Flandin angehörend, die Regierung bilden. Sein Ziel war die breite parlamentarische Union mit Einschluß der Partei Leon Blums. Natürlich waren die von ihm geforderten Vollmachten wesentlich begrenzter und geringer. Das paßte nun wieder den Rechtsparteien und der Banque de France nicht. So scheiterten Pietris Bemühungen in der Morgenfrühe des 6. Juni.

Das Volk wurde noch unruhiger. Die "Vereinigung der Steuerzahler"(!) kündigte große Versammlungen gegen Staatsbankrott und Bürgerkrieg an. Die Feuerkreuzler wetterten gegen die Abgeordneten, die sie Sklaven der kapitalistischen und marxistischen Internationale nannten, die nationale Vereinigung ehemaliger Frontkämpfer, die 3½ Millionen Mitglie- [216] der zählte, rief zur Tat gegen die schwachen Politiker auf. Die Action Française rief nach Rettung aus Korruption und Spekulation. Leon Blum sah eine "vorläufige Lösung" nur in der Bildung einer Regierung, "die sich auf eine entschlossene zusammenhaltende demokratische Mehrheit und die Arbeiterorganisationen sowie die demokratischen Kräfte des Landes stützt". Vielleicht hoffte Leon Blum, daß er schon jetzt zur Macht kam, denn die Radikalsozialisten begannen jetzt ernstlich die Verbindung mit den Marxisten zu suchen, Gefahr war im Verzuge.

Nachdem noch Herriot, Bouisson und der radikalsozialistische Fraktionsführer Delbos vergeblich eine Regierung zu bilden versucht hatten, gelang es endlich in den Morgenstunden des 7. Juni Laval, die 99. Regierung der dritten Republik auf die Beine zu stellen. Sein Erfolg beruhte wohl nicht zuletzt darauf, daß er der Mann war, der der Linken durch den Russenvertrag empfohlen war. Seine Regierung war eine ausgesprochene bürgerliche Linksregierung: von 20 Mitgliedern waren sechs bürgerliche Mitte, dagegen neun Radikalsozialisten und zwei Marxisten. Am 8. Juni stellte Laval sein Kabinett der Kammer vor:

      "Die Vollmachten werden sich auf den Kampf für die Verteidigung des Franken und gegen die Spekulanten beschränken. Das Parlament wird weiterhin tagen. Die Regierung wird die Diskussion der Interpellationen annehmen, wenn sie sie auch nicht besonders begünstigen wird. Die Vollmachten werden bis zum 31. Oktober laufen. Ihre Ratifikation (d. h. ihre Anerkennung durch das Parlament) wird bis zum 31. Dezember erfolgen müssen."

Außerdem wurde Einschränkung und Abbau der öffentlichen Ausgaben vorgesehen. Laval bekam mit 326 gegen 160 Stimmen das Vertrauen. Gegen ihn waren die Marxisten. Der linke Flügel der Radikalsozialisten hatte sich der Stimme enthalten.

"Das Kap ist glücklich umschifft" meinte das Oeuvre. Rechts war man resigniert. Laval hänge von der Gnade der Radikalsozialisten ab. Der höllische Tanz des Parlaments müsse in den Abgrund führen, schrieb Le Jour, das Kabinett Laval lebe nur deshalb, weil die Radikalsozialisten in ihrem zerstörerischen Kampfe müde geworden seien; es wisse in sei- [217] nem fensterlosen Bau nicht, was im Lande vorgehe; zwischen ihm und dem Lande gebe es keine Brücken mehr. Nun, vielleicht wußte Laval, der sich als Vorkämpfer der Demokratie und des Friedens fühlte, sehr genau, daß an ihn und seine diplomatischen Fähigkeiten, zwischen rechts und links hindurch zu lavieren, geradezu ungeheure Ansprüche gestellt werden würden.

  Revolutionäre Spannungen  
in Frankreich

Die revolutionäre Losung "Demokratie gegen Faschismus" zog immer größere Kreise des französischen Volkes in ihren Bann. Hatten schon die Wahlen vom 12. Mai den Kommunisten große Gewinne gebracht, so brachte auch der zweite Wahlgang zur Erneuerung des Generalrats des Seinedepartements am 2. Juni den Kommunisten 13, den übrigen Marxisten 6, den Bürgerlichen 4 Sitze, so daß der Generalrat des Paris umschließenden Departements nun insgesamt 67 Marxisten, davon 23 Kommunisten, 5 Radikalsozialisten und 68 Bürgerliche umfaßte. Da die Radikalsozialisten, wie sich bald zeigte, links stimmten, hatte die Front commun die Mehrheit. "Der Faschismus ist auf dem Rückzuge, es lebe der rote Gürtel!" frohlockte der Populaire. Offensichtlich blühte der rote Weizen. Von Moskau aus wurden die Kommunisten angewiesen, maßvoll und verständig zu sein, die Propaganda im Heere vorsichtig zu betreiben, um möglichst große Teile des französischen Volkes für die Linksfront zu gewinnen: Ziel müsse immer bleiben, eines Tages die Regierung zu übernehmen. In den schweren Tagen der Regierungskrise schüttelten Streiks gegen die Wirtschafts- und Steuerpolitik der Regierung die Hauptstadt. Die Marxisten aller Richtungen steigerten ihre Propaganda, die der Gehorsamsverweigerung im Heere diente. Auf dem 32. Parteitage der Marxisten am 9. Juni in Mülhausen entband der Generalsekretär Paul Faure die französischen Soldaten ihres Eides, wenn ihre Generäle von ihnen verlangen sollten, daß sie den Faschismus verteidigten! Am folgenden Tage beschloß, mit Wissen und Willen Moskaus, das Zentralkomité der französischen kommunistischen Partei die Fortsetzung der antimilitaristischen Propaganda im Heere. Die Armee sei bürgerlich und richte sich gegen die Interessen der Arbeiterklasse.

[218] Immer heftiger und bedrohlicher wurden die Auseinandersetzungen mit den Faschisten. Kaum ein Tag verging, an dem nicht irgendwo Zusammenstöße sich ereigneten. In der Kammer selbst verbat sich jedoch Laval jegliche Auseinandersetzungen, da die Regierung für ihr schweres Werk Ruhe brauchte. Am letzten Tage der Kammersitzung, am 28. Juni noch, versuchte die Volksfront in der Kammer einen Vorstoß mit ihrer Forderung, die Rüstungsindustrie zu verstaatlichen. Um allen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen, zog Laval seine Vorlage über die Militärkredite in Höhe von 5,7 Milliarden zurück. Die Front commun hatte vom Ministerpräsidenten ein Verbot der faschistischen Aufzüge und Versammlungen gefordert. Laval erklärte: Die Demokratie könne nur durch Autorität verteidigt werden: die Regierung werde die freien Einrichtungen und den republikanischen Staat gegen jede Beeinträchtigung schützen und erinnere an den Grundsatz, daß keine Einzelperson und keine Teilgruppe von Bürgern sich die Souveränität anmaßen könne. – Das war eine Erklärung nicht nur gegen rechts, sondern auch gegen links! Darauf schickte Laval das Parlament für vier Monate nach Hause.

Das Mißtrauen gegen Laval veranlaßte die Radikalsozialistische Partei, sich eindeutig für die Front commun zu erklären; sie schloß sich dem antifaschistischen Aufruf der Marxisten vom 30. Juni an (vgl. Anlage 32). Herriot, der Vorsitzende der Radikalsozialisten, verwahrte sich allerdings hiergegen; seine Partei sei keine revolutionäre Partei, er drohte mit seinem Rücktritt. Da aber die übergroße Mehrheit für Anschluß an die Front commun stimmte, kündigte Herriot, einem Konflikt ausweichend, für den Herbst seinen Rücktritt vom Vorsitz an. Der Gegenspieler Herriots war Edouard Daladier, der südfranzösische Geschichtsprofessor, ein besonnener Mann, der einer ruhigen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus durchaus zugängig war. Daladier, der Idealist, sah den Kampf zwischen den Roten und den Weißen heraufziehen, für den man sich beizeiten entscheiden müsse. Alle Republikaner müßten sich, ohne Rücksicht auf Parteigrenzen, zusammenschließen. Republik und Vaterland seien voneinander [219] nicht zu trennen. In den ersten Julitagen entschied sich die Partei endgültig für Daladier, gegen Herriot.

Die unruhvollen Tage, angefüllt mit plötzlichen und heftigen Zusammenstößen zwischen Feuerkreuzlern und Marxisten gingen dahin, der große Nationalfeiertag, der 14. Juli, war da. Die umsichtige Regierung hatte dafür gesorgt, daß die feindlichen Brüder sich bei ihren Aufmärschen nicht zu Gesicht bekamen. Zwischen dem kleinen Häuflein Feuerkreuzlern und "Französische Solidarität", es waren wohl 55 000 Mann, und der mehr als zehnfachen Übermacht der Antifaschisten hielt die Regierung ihre offizielle Truppenparade ab, und so kam es, daß der gefürchtete Tag ruhig verlief. Offensichtlich aber hatte er die Schwäche der Feuerkreuzler enthüllt. In ihrer Organisation selbst war es zu Auseinandersetzungen gekommen. Ein Teil der Mitglieder forderte nämlich den sofortigen Kampf gegen den Parlamentarismus. Immerhin Oberst de la Rocque erklärte, seine Bewegung hätte sehr an Kraft gewonnen, die 320 000 Mitglieder von Anfang Juni hätten sich verdoppelt. Was aber hatte das zu bedeuten gegenüber der Tatsache, daß die Volksfront, die Marxisten aller Richtungen und das linksliberale Kleinbürgertum, einen geschlossenen Block bildete, daß hinter der versöhnten Trikolore und roten Fahne Leon Blum, Edouard Daladier, Pierre Cot, Eugen Frot und Cachin einträchtiglich marschierten in dem Siegesbewußtsein: "der Faschismus wird nicht mehr heraufziehen!" Es war die Symbolik des Tages, daß diese Männer an der Bastillesäule eine Aufschrift anhefteten: 1789–1935.

Betrachtet man den Zustand Frankreichs an jenem 14. Juli 1935, so war nicht zu verkennen, daß die Kräfte der revolutionären Aktion eine ungeheure Steigerung erfahren hatten. So sollte es auch sein, das lag ganz im Sinne Rußlands, denn den Bolschewisten erschien die Aktivierung der Revolution im Geiste des Marxismus als die beste Gewähr für den zukünftigen Bestand und die Auswirkung des französisch-sowjetrussischen Bündnisses (vgl. Anlage 32). Jede Stärkung der französischen Volksfront entlastete das sowjetrussische Außenkommissariat von Arbeit und Sorgen.


[220]

Sudetenland
  und Memelland  

3.

Der Kampf gegen das Sudetendeutschtum ist, solange es eine Tschechoslowakei gibt, keinen Augenblick zur Ruhe gekommen. Im Brennpunkte dieses Kampfes standen die deutschen Schulen, und das Prager Schulministerium bemühte sich unablässig, diesen deutschen Schulen Vernichtungsschläge zu versetzen, wo es konnte. Die Auflösung deutscher Schulen wurde mit Sparmaßnahmen begründet.

Im Herbst 1934 wurde ein großer Schlag gegen die deutsche Universität in Prag geführt. In Durchführung des Universitätsgesetzes von 1920 forderte das Prager Schulministerium am 22. November den Senat der deutschen Universität Prag auf, die aus dem 14. Jahrhundert stammenden Gründungsinsignien dem Rektor der tschechischen Universität auszuliefern. Da sich der deutsche Senat weigerte, diese Forderung, die das Sudetendeutschtum aufs tiefste erregte, zu erfüllen, stürmten tschechische Studenten, von ihren Professoren aufgewiegelt, am 24. November die deutsche Universität und verwüsteten einen Teil der Räume aufs schlimmste, und nur der erbitterte Widerstand der deutschen Studenten verhinderte, daß das ganze Carolinum ein Trümmerhaufen wurde. Jedoch die tagelange Brutalität der Tschechen und die Haltung der Regierung zwang die Deutschen zu schmachvoller Demütigung: Am 26. November übergaben sie die ehrwürdigen Insignien, fünfzehn goldene Ketten der akademischen Würdenträger, das alte goldene Szepter des Rektors, die vier Szepter der einzelnen Fakultäten und das alte Siegel von 1348 den Tschechen.

Eine wilde Flamme der Empörung loderte überall in Deutschland empor. Die deutschen Hochschulen, Professoren und Studenten legten feierlichen Protest gegen diese Gewalttat ein, die eine Schmach für das ganze Deutschtum darstellte, in Wien nahmen die Demonstrationen umfassenden Charakter auch gegen die Regierung Schuschnigg an.

Eine endlose und lückenlose Kette weiterer Provokationen und Verfolgungen erfüllte die Wintermonate. Der Wahlkampf, der den Maiwahlen vorausging, rief zahlreiche Überfälle und blutigen Terror hervor. Insbesondere gegen Ende [221] April, als Konrad Henlein dazu überging, die überwiegende Mehrheit aller Sudetendeutschen in einer großen, umfassenden "Heimatfront" zu einigen, brach ein wilder Terror über die unglücklichen und wehrlosen Deutschen herein, die oft genug noch ohne jeden polizeilichen Schutz blieben. Und dennoch wurden die Parlamentswahlen vom 19. Mai ein sieghaftes Bekenntnis zur deutschen Einheit. Zwei Drittel der 1,8 Millionen deutscher Wähler, nämlich 1¼ Millionen, gaben Henleins Sudetendeutscher Heimatfront die Stimme, sie bekam 44 Mandate, während die deutschen Sozialdemokraten, Landwirte und Christlich-sozialen die Hälfte ihrer Mandate einbüßten. Die Sudetendeutsche katholische Volkspartei ging mit 22 Mandaten (3 mehr als 1929) aus der Wahl hervor. Im Tschechenparlament war nächst den 45 tschechischen Agrariern Konrad Henleins "Sudetendeutsche Heimatfront" die stärkste Partei geworden. Unzweifelhaft hatte das Bündnis der Tschechoslowakei mit Sowjetrußland, das von der überwältigenden Mehrheit aller Deutschen als eine Provokation Hitlers und des Reiches aufgefaßt wurde, als der Appell zu Einheit und innerer Festigung gewirkt. Wie der schützende Ring eines kampferprobten Feldheeres legte sich Konrad Henleins Sudetendeutsche Heimatfront draußen vor die Burg, die das Deutschland Hitlers war.

  Memelland  

Nicht so glücklich in ihrem Kampf um Recht und Dasein waren die Memeldeutschen.

Die Verfolgung des deutschen Volkes im Memelland durch die Litauer ist von mir im ersten Bande meines Werkes Deutsche unter Fremdherrschaft Seite 302–331 eingehend geschildert worden. Die Reichserneuerung 1933 hatte ein Erstarken des deutschen Volksgedankens auch an der Memel zur ganz selbstverständlichen Folge. Dieser Umstand schien den Litauern um so gefährlicher, als die um die Jahreswende 1933/34 erfolgende Befriedung und Befreundung Deutschlands mit Polen, dem Erbfeind Litauens, im Memelland, wie man in Kowno meinte, den Gedanken eines Abfalls von Litauen herbeiführen und bekräftigen konnte.

Seit Anfang 1934 begann ein wahrhaft barbarischer Vernichtungskampf Litauens gegen die Memelländer. Anfang Fe- [222] bruar setzte der Gouverneur Navakas einen Schulreferenten ein und betraute ihn mit der Aufsicht über das gesamte memelländische Schulwesen; der Schulreferent beanspruchte, ohne die statutenmäßige Genehmigung der autonomen Behörden nachsuchen zu müssen, die Schulen revidieren zu dürfen. Jedoch das Direktorium Schreiber verfügte, daß die Lehrer den Gästen den Zutritt nur mit Genehmigung der Landesbehörde (Direktorium) gestatten sollten. Gewissenhaft befolgten die Lehrer diese Verfügung, und einige von ihnen wurden deshalb sogar verhaftet.

Durch Spitzel verschaffte sich Navakas durchaus unzutreffende, sehr häufig gefälschte Unterlagen dafür, daß die Memelländer, vor allem die Beamten und Lehrer unter Duldung der autonomen Behörden den Nationalsozialismus verbreiteten und, was in keiner Weise auch nur im geringsten zutraf, den Staatsumsturz vorbereiteten. Seit Frühjahr 1934 forderten die halbamtliche Presse, der Rundfunk und Versammlungen die Entfernung des Memeler Landespräsidenten Dr. Schreiber. Nach dem Haager Urteil vom 11. August 1932 (Deutsche unter Fremdherrschaft I, 332) war die Absetzung des Landespräsidenten durch den Gouverneur aber nur möglich, wenn der Präsident die litauische Verfassung, die internationalen Verpflichtungen verletzt oder seine im Statut festgesetzte Zuständigkeit überschritten hatte; in diesen Fällen mußte der Gouverneur gemäß Artikel 17 des Statuts einen Monat nach Absetzung des Präsidenten den memelländischen Landtag zusammenrufen, damit er die Erklärung des neuen Direktoriums entgegennehmen und über die Vertrauensfrage abstimmen konnte.

Am Nachmittag des 28. Juni 1934 rief der litauische Gouverneur Navakas den Landespräsidenten Dr. Schreiber zu sich und teilte ihm mit, daß er angesichts der Vorgänge im Memelgebiet nicht länger von der litauischen Regierung im Amte geduldet werden könne; er habe, angeblich, staatsfeindliche Umtriebe im Memelgebiet geduldet und gefördert. Dr. Schreiber erwiderte, er sei sich nicht bewußt, daß er sich im Sinne der im Haager Urteil vorgesehenen Möglichkeiten vergangen habe, und daß er aus eigenem Entschluß nicht zurücktreten [223] könne, sondern nach dem Memelstatut an den Auftrag des memelländischen Landtags gebunden sei. Darauf ordnete Navakas die Amtsenthebung Dr. Schreibers an, weil er als Landespräsident die staatsfeindliche nationalsozialistische Bewegung, die das Ziel der Abtrennung des Memellandes von Litauen verfolge, unterstützt habe, darin liege eine Gefahr für die litauische Souveränität über das Memelgebiet, und darum habe er sich entschlossen, den Landespräsidenten abzusetzen. Als dessen Nachfolger berief Navakas unverzüglich den Großlitauer Reizgys, der unter Hinzuziehung zwei weiterer Großlitauer, Zvilius und Jonuschaitis, als Landesdirektoren ein rein großlitauisches Landesdirektorium bildete.

Jetzt begann ein Schreckensregiment sondergleichen. Reizgys setzte Anfang Juli den Memeler Oberbürgermeister Dr. Brindlinger ab, weil er die litauische Sprache nicht beherrsche und daher auf Grund der Gesetze die frühere Bestätigung seiner Wahl ungültig sei. Der Großlitauer Simonaitis wurde Oberbürgermeister. Vier weitere Magistratsmitglieder – Schwede, Glogau, Bertuleit und Kurnies – wurden ihrer Ämter enthoben, weil sie "staatsfeindlichen Parteien" angehörten. Mitte Juli erhielt der litauische Kriegskommandant in Memel von der Regierung in Kowno die unbeschränkte Vollmacht zur willkürlichen und radikalen Unterdrückung jeder öffentlichen Betätigung der nicht großlitauischen Bevölkerung; er erhielt das Recht, Parteien, Gesellschaften und Verbände wegen Staatsgefährlichkeit zu schließen. Sofort erklärte er die Neumann-, Saß- und Memelländische Landwirtschaftspartei auf Wunsch des Gouverneurs für geschlossen. Automatisch verloren zugleich alle die, die sechs Monate vor dem Verbot, also Mitte Januar, einer der verbotenen Organisationen angehört hatten, das aktive und passive Wahlrecht, das Recht der Mitgliedschaft des Landtages sowie in den Körperschaften der Selbstverwaltung und des öffentlichen Rechts, Landwirtschaftskammer, Handelskammer usw. Damit wurde ein wahrhaft vernichtender Schlag gegen das Memeldeutschtum geführt; sein Zweck war, den Litauern die restlose Eroberung des Beamtentums, der Verwaltung, der Organisationen, des Landtags bei kommenden Wahlen zu sichern.

[224] Beamtenabsetzungen, Terror, Verhaftungen, grausame Peinigungen der politischen Gefangenen vermischen sich von nun an zu einem schrecklichen Chaos. Bereits Mitte Juli waren zahlreiche Beamte, vor allem Lehrer und Forstbeamte, suspendiert, verhaftet und in eine Disziplinaruntersuchung verwickelt, weil sie "staatsfeindlichen Parteien" angehört hätten! Von 400 Memelländern, die in litauischen Diensten – Eisenbahn, Post, Zoll – standen, wurden 175 fristlos ohne Entschädigung entlassen, 135 zwecks weiterer Schikanen nach Großlitauen strafversetzt, und der Rest stand auf der Liste derer, die noch entlassen werden sollten; auch 50 städtische Beamte und Angestellte waren als Opfer ausersehen. Es war der Plan von Reizgys und Simonaitis, auch die autonome Verwaltung völlig zu zertrümmern: der Verwaltungsapparat sollte vereinheitlicht, die Gemeindeverwaltungen und Landratsämter sollten aufgelöst, die Selbstverwaltung des Gebietes sollte dem Landesdirektorium übertragen werden. Hierdurch allein sollten 700 Gemeindevorsteher ausgeschaltet werden; außerdem sollten alle Beamten, die nicht die litauische Sprache beherrschen, entlassen werden. Auch das Kreditwesen und die Schulen vor allem sollten umgestaltet, d. h. "gesäubert" werden. Über die Hälfte der memelländischen Beamtenschaft, weit über 800 Beamte, waren von der Entlassung bedroht.

Navakas hatte, wie es das Memelstatut verlangte, am 19. Juli den Memellandtag auf den 27. Juli einberufen. Daß dies Parlament, dem 24 Deutsche und 5 Litauer angehörten, Reizgys das Vertrauen aussprechen würde, war nicht anzunehmen. Navakas traf deshalb seine Vorbereitungen: Die stärkste Partei, die memelländische Landwirtschaftspartei, hatte er durch den Kriegskommandanten verbieten lassen; dann waren sechs Abgeordneten dieser Partei die Mandate entzogen worden; die übrigen versuchte man durch Drohungen und Versprechungen für ein Vertrauensvotum zu gewinnen. Als dies vergeblich war, wurden am 27. Juli eine halbe Stunde vor Beginn der Sitzung den 22 Abgeordneten, einschließlich der sechs Ersatzmänner für die bereits entrechteten Mitglieder der landwirtschaftsparteilichen Wahlliste, die Mandate entzogen. Der Vorsitzende der Landwirtschaftspartei, Guts- [225] besitzer Conrad, wurde seit frühen Morgenstunden von der litauischen Polizei gefangen gehalten, damit er sich nicht mit seinen Parteigenossen beraten konnte. Bei Eröffnung der Landtagssitzung waren nur 14 von 29 Abgeordneten anwesend. Außer einer Anzahl Deutscher fehlten die Litauer, die erklärt hatten, sie würden nie mehr den memelländischen Landtag betreten, solange noch Abgeordnete darin seien, die "staatsfeindlichen Parteien" angehört hätten. Da für die Beschlußfähigkeit des Parlaments 20 Abgeordnete nötig waren, schloß Landtagspräsident Waschkies die Sitzung, bevor Reizgys seine Erklärung abgeben konnte. Wenige Wochen später, am 6. September 1934, wurde der Landtag zum zweiten Male durch litauische Sabotage beschlußunfähig gemacht. Am 11. Oktober schloß Navakas auf Grund des Artikels 12 des Memelstatuts die Session des Memelländischen Landtages.

Wochen um Wochen lastete der Druck des litauischen Terrors auf dem Memelland. Entgegen den Bestimmungen des Memelstatuts wurde der litauischen Sprache in Öffentlichkeit und Schule der Vorrang eingeräumt. Das war eine schwere Gewalttat, da nach dem Willen der Eltern in mehr als neun Zehntel aller Memelschulen die deutsche Sprache Unterrichtssprache war. Reizgys vermochte auch nicht, an dieser Tatsache etwas zu ändern, denn trotz allem Terror ergab die im Oktober veranstaltete Umfrage bei den Eltern, daß an dem bestehenden Zustande sich nichts geändert hatte: Deutsch bleibt die Sprache von mehr als 200 Schulen, während nur 20 Schulen die litauische Unterrichtssprache hatten. Die "Sprachreform" war offensichtlich gescheitert. Dagegen wurden Anfang November 1934 die drei memelländischen Banken, die Landwirtschaftsbank, der Kreditverband memelländischer Grundbesitzer und die Raiffeisenbank unter Staatsaufsicht gestellt, die durch zwei litauische Kreditinspektoren ausgeübt wurde. –

Bereits Anfang Juli 1934 hatte das Reich bei den Signatarmächten des Memelstatuts Beschwerde erhoben über die Verletzungen des Statutes und insbesondere über die Entlassung Dr. Schreibers. Eden erklärte dazu im englischen Unterhaus am 20. Juli 1934, die Signatarmächte hätten sich bereits in Verbindung untereinander gesetzt, das Reich aber habe die einzige [226] Möglichkeit, als Mitglied des Völkerbundsrates seine Beschwerde bei dieser Körperschaft anzubringen. England lehnte damals nicht nur eine direkte Verhandlung mit Deutschland über diese Dinge ab, sondern versuchte sogar, die traurigen Vorgänge in Memel gegen Deutschland auszuspielen, indem es das Reich zwingen wollte, die wertvolle Hilfe des Völkerbundes anzurufen. Im September legte dann Schulrat Meyer, der Vizepräsident des memelländischen Landtages, gelegentlich der Völkerbundstagung in Genf den Signatarmächten eine ausführliche Beschwerdeschrift vor, der man in geschickter Weise Erfolg verlieh, indem die Signatarmächte Ende September in Kowno Verwahrung gegen die Vertragsverletzung einlegten und die Wiederherstellung der gesetzmäßigen Zustände verlangten. Die anschließende Prüfung der Verhältnisse fiel ungünstig für Litauen aus, der juristische Ausschuß der Signatarmächte stellte ausdrücklich trotz des ungebärdigen und aufsässigen Verhaltens von Litauen den Bruch des Memelstatuts fest.

Der Konflikt Litauens mit den Signatarmächten wurde durch eine Geste Litauens nach außen hin beigelegt. Das Direktorium Reizgys trat am 1. Dezember 1934 zurück. Man gab als Grund wachsende wirtschaftliche Schwierigkeiten an, immerhin hatte man doch in Kowno vorher mit einer Lebensdauer des Direktoriums bis wenigstens in den Januar 1935 gerechnet. Dieser sogar für die litauische Regierung überraschend schnelle Rücktritt muß als Folge der Untersuchung durch den Völkerbund angesehen werden. Man mußte sich in Kowno wohl oder übel entschließen, durch eine Geste die von den Signatarmächten festgestellten Statutsverletzungen zu sühnen. Den letzten Anstoß zu seinem Rücktritt gab seine allem Rechte hohnsprechende Verfügung von Ende November, wonach für 222 Schulen die litauische und nur für 6 Schulen die deutsche Unterrichtssprache zugelassen wurde! Angesichts des letzten Erhebungsergebnisses konnte der Gouverneur Novakas diesen Schritt den Signatarmächten gegenüber keineswegs verantworten, er ließ Reizgys fallen, weil eine Beschönigung dieses einwandfreien Bruches des Memelstatuts schlechterdings unmöglich war.

[227] Aber die Memelländer kamen vom Regen in die Traufe. Ein noch barbarischerer Litauer, Jürgis Bruvelaitis, Vorsitzender der litauischen Landtagsfraktion und Führer der litauischen Schützen- und Jugendverbände im Memelland, wurde Reizgys' Nachfolger. Dieser Deutschenhasser berief als Landesdirektoren zwei Mitglieder der – verbotenen! – memelländischen Landwirtschaftspartei: Buttgereit und Grigat, sowie den Gouvernementsrat Dr. Anisas. Dieses sonderbare Direktorium, in dem die beiden Gegensätze Litauen und Memelland in ihren schroffsten Vertretern vereinigt waren, war eine aus den Forderungen der Signatarmächte hervorgegangene Demonstration, der irgend ein praktischer Wert nicht innewohnte, denn Bruvelaitis führte sich sogleich mit der gewalttätigen Bestimmung ein, daß sämtliche deutsche Personennamen, Vor- und Zunamen, litauisiert werden mußten. Am 13. Dezember erlebte das Memelland die gleiche Parlamentskomödie wie schon zweimal: Von 25 geladenen Abgeordneten waren 16 erschienen. Schriftführer Riechert von der Volkspartei verlas im Namen von 13 Abgeordneten eine sehr scharfe Erklärung, worin er sich gegen die Maßnahmen der Zentralregierung und des Gouverneurs verwahrte, dann aber mußte der Landtag auseinandergehen, ohne das Mißtrauensvotum gegen Bruvelaitis angenommen zu haben; er war beschlußunfähig, weil Gouverneur und Direktoriumspräsident den Mitgliedern der litauischen Landtagspartei das Erscheinen zur Sitzung untersagt hatten.

Den Höhepunkt des litauischen Vernichtungswillens bildete der Prozeß gegen 126 angeklagte Memelländer, der am 14. Dezember 1934 vor dem Kriegsgericht in Kowno begann und am 3. April 1935 endete. Dieser Prozeß, der in Kowno in litauischer Sprache geführt wurde und während seiner Dauer das deutsche Volk aufs tiefste aufwühlte, erklärte Volkstumswillen und Vaterlandsliebe der Memelländer zum Verbrechen. Es waren 32 Angehörige der ehemaligen Saß-Gruppe – Pfarrer von Saß war Führer der christlich-sozialen Arbeitsgemeinschaft – und 91 Angehörige der ehemaligen Neumann-Gruppe angeklagt – Dr. Neumann war Führer der sozialistischen Volksgemeinschaft – sich staatsfeindlich betätigt und Hochverrat getrieben zu haben. Die Beweise der Litauer gründeten [228] sich auf die Aussagen eines gewissen Mollinus, eines litauischen Spitzels, der sich in die Neumann-Gruppe eingeschmuggelt hatte und deren Geschäftsführer geworden war. Ein anderer Spitzel war Kuhbutat, der in Beziehungen zur litauischen Geheimpolizei stand. Beide fungierten als "Angeklagte" und "Zeugen".

Die Anklage behauptete, daß die Memelländer das Gebiet von Litauen abtrennen und an Deutschland angliedern wollten, zu diesem Zwecke sei ein bewaffneter Aufstand vorbereitet worden. Pfarrer von Saß erklärte diese Behauptung für eine Lüge. Er sei überzeugter Nationalsozialist, aber er habe im vollen Einverständnis mit Rudolf Heß niemals an eine Einmischung ausländischer Stellen gedacht; er habe nie eine Verbindung mit deutschen amtlichen Stellen oder der Reichsleitung der NSDAP. gehabt. Nicht ein einziges Mal sei davon die Rede gewesen, daß man das Memelland von Litauen trennen wollte. Die andern Angeklagten bestritten, daß in den "Stammeskreisen" (S. K.), vor Gericht vom Staatsanwalt "Sturmkolonnen" genannt, die Jugend zum Zwecke "militärischer Vorbereitung" zusammengeführt worden sei. Derselbe Vorwurf wurde von den andern Jugendorganisationen, vor allem auch vom Wandervogel, abgewehrt. Aus der Tötung eines Gerichtswachtmeisters Jesuttis schloß das Gericht auf Bestehen einer Feme; auch dafür fehlten die Beweise. Auch die Aussagen des Zeugen Wilson, in dessen Wohnung die Einigungsverhandlungen zwischen Saß und Neumann stattgefunden hatten, brachten keine Belastung.

Je länger der Prozeß dauerte, je mehr Zeugen vernommen wurden, um so offensichtlicher brach die Anklage in sich zusammen. Am 23. Januar erklärte der ehemalige Oberbürgermeister Brindlinger von Memel vor Gericht:

      "Ich habe die Überzeugung, daß keiner von diesen Herren (Neumann, Saß usw.) mit dem Gedanken auch nur gespielt haben kann, im Memelgebiet einen bewaffneten Aufstand zu entfachen. Die Männer um Neumann und Saß haben immer wieder betont, daß man die Hoffnung nicht aufgeben dürfe, zu einem guten Einvernehmen mit dem Zentralstaat zu kommen. Ich habe ihnen darauf erklärt, sie seien große Optimisten, denn solange eine [229] gewisse Clique im Memelgebiet existiere, werde es nicht gelingen, bessere Beziehungen herbeizuführen."

Unter dieser Clique verstand Brindlinger gewisse Memelländer, die aus eigennützigen Ideen heraus handelten und kein Interesse an einer Befriedung hatten. Das Gericht verzichtete auf Nennung von Namen. Am 30. Januar erklärte ein Offizier der litauischen Grenzpolizei, der seit Jahren im Memelgebiet tätig war, daß über Abhaltung militärischer Übungen der Parteien direkt nichts festgestellt werden konnte; die Nachforschungen, an denen auch er teilgenommen habe, hätten sich lediglich auf Vermutungen und Gerüchte gestützt; auch von der Abhaltung geheimer Versammlungen seitens der Anhänger der Neumann-Partei sei nichts zu merken gewesen.

Aber eines wurde im Laufe des Prozesses deutlich: Manche Angeklagte, die während der Voruntersuchung ein Schuldgeständnis abgelegt hatten, widerriefen vor Gericht. Dabei wurde einwandfrei festgestellt, daß die Geständnisse vor dem Untersuchungsrichter durch schwere Mißhandlungen, durch Androhung mit Erschießen und Standgericht abgepreßt worden waren! Nicht nur die Polizei, sondern auch Dolmetscher und Untersuchungsrichter hatten sich an den Mißhandlungen beteiligt! Teilweise sind den Angeklagten die Aussagen, die sie vor dem Untersuchungsrichter machen sollten, von der Polizei erst eingeprügelt worden. – Der Prozeß war eine Kulturschande des 20. Jahrhunderts.

Während dies in Kowno sich abspielte, wurde in Memel kräftig weiter schikaniert. Zum vierten Male war der Landtag zum 29. Dezember einberufen worden, jedoch ein Polizeiaufgebot verhinderte die Sitzung, indem es den Abgeordneten das Betreten des Sitzungssaales verwehrte. Als dann die Sitzung auf den 4. Januar 1935 verschoben wurde, schrieb der Gouverneur, ohne dazu berechtigt zu sein, die Tagesordnung vor, und auch an diesem Tage wußte der Gouverneur durch polizeilichen Eingriff das Mißtrauensvotum gegen Bruvelaitis zu verhindern. Auch bei seiner sechsten Sitzung am 28. Januar war der Landtag beschlußunfähig. Der frühere Direktoriumspräsident Dr. Schreiber und fünf Schulleiter wurden unter Polizeiaufsicht gestellt, weil sie sich gegen das Staatsschutzgesetz [230] vergangen hätten. Dabei wurden die oben angeführten Vorgänge aus dem Frühjahr 1934 als Grund angeführt.

Am 2. März waren die Zeugenvernehmungen in Kowno beendet. Von den 426 Zeugen sollten 260 als Belastungszeugen auftreten; jedoch der größte Teil von ihnen hatte seine früheren Aussagen widerrufen. Das Ergebnis war kümmerlich und die Verteidiger beantragten Freisprechung. Dennoch setzte Litauen die Welt in Schrecken durch die schweren Strafen, die gegen die Memelländer beantragt wurden. Fünf Todesstrafen wurden gefordert für diejenigen, die angeblich an der völlig ungeklärten Tötung von Jesuttis beteiligt gewesen waren, dutzende anderer Angeklagter wurden vom Staatsanwalt schwerer, zum Teil lebenslänglicher Zuchthausstrafen für wert befunden. Die Urteilsverkündung am 26. März entsprach ungefähr den Anträgen: Vier Todesurteile wegen Fememord, 24 schwere Zuchthausstrafen und Vermögenseinziehungen, dazu noch eine große Zahl von Zuchthausstrafen. Nur ganz wenige, die irrtümlich oder durch Namensverwechslung in die Angelegenheit hineingeraten waren, wurden freigesprochen. Die juristische Begründung des Urteils lautete, daß die Hauptbeschuldigten im Memelgebiet geheimen, von Deutschland aus geleiteten nationalsozialistischen Organisationen angehört hätten, deren Ziel darin bestanden habe, das Memelgebiet durch einen bewaffneten Aufstand von Litauen loszureißen und mit Deutschland zu vereinigen. Außerdem hätten Verbindungen mit der SS. und der SA., also mit Gliederungen der NSDAP., bestanden.

Zu Beginn des Jahres hatte Außenminister Lozoraitis auf dem Allitauischen Kongreß der Regierungspartei eine Rede gehalten, worin er meinte, die Beziehungen Litauens zu Deutschland seien in ein Stadium getreten, das "Litauen niemals wünschte". Die "normale Durchführung des Memelstatuts" werde gestört. Litauen sei weit davon entfernt, mit dem Deutschtum zu kämpfen, es lasse aber nicht zu, daß die Mehrheit der Einwohner, die Litauer seien, wegen ihres Litauertums terrorisiert würden, und es lasse nicht zu, daß sie entlitauisiert würden und die Autonomie verletzt werde.

Diese phantastische Unwahrheit, die Lozoraitis der Welt [231] vorsetzte, bildete die politische Begründung des Urteils von Kowno. Es war keine Begründung, sondern eine Verwirrung. Die Welt wußte das, und darum war sie entsetzt. Ganz Deutschland brauste auf vor Zorn und Empörung über diese blutige Gewaltjustiz. Ein heiliger Grimm, daß man die Unschuldigen wehrlos dem Schicksal der Märtyrer preisgeben mußte, loderte über allen deutschen Gauen. Der Chor der Millionen rief nach Gerechtigkeit und forderte den Schutz der Signatarmächte. In Kowno aber fanden am letzten Märztage bedenkliche deutschfeindliche Kundgebungen statt, mit dem Gummiknüppel in der Faust mußte die Polizei den Ansturm der Rasenden von den deutschen Gebäuden abwehren. Im Memelgebiet traf die litauische Regierung Vorkehrungen, weil sie Unruhen der Memelländer fürchtete: Die Polizeistunde wurde verkürzt, Landes- und Grenzpolizei wurden alarmiert.

Die Signatarmächte des Memelstatuts hatten in der zweiten Märzhälfte die Regierung in Kowno davon verständigt, daß der rechtlose Zustand im Memelgebiet mit dem Grundsatz der Autonomie unvereinbar sei und daß der Zustand des Gesetzes schleunigst wieder hergestellt werden müsse. Daraufhin wurde Anfang April der Gouverneur Nawakas durch Kurkauska ersetzt. Auch wurden Anstalten getroffen, das Direktorium zu erneuern; daß es sich nicht um einen grundsätzlichen Systemwechsel handelte, sollte sich bald zeigen. Der Landtag, der am 16. April zusammentrat, blieb nach wie vor nicht beschlußfähig durch die Sabotage der litauischen Abgeordneten. Bruvelaitis erließ, im Hinblick auf notwendig werdende Neuwahlen, Bestimmungen über Einbürgerung, wonach etwa 8–9000 mündige Großlitauer auf Grund leichter Voraussetzungen das memelländische Bürgerrecht erwerben sollten. Es war geradezu ein Problem, wie es dieser kleine Staat wagen durfte, die großen Mächte Europas durch schwere Rechtsbrüche Tag für Tag zu verhöhnen.

Nachdem der Führer in seiner Unterredung mit Sir John Simon Ende März eindringlich darauf hingewiesen hatte, daß zur Befriedung Europas es unbedingt nötig sei, den litauischen Gewalttaten Einhalt zu gebieten, beschlossen die drei Mächte in Stresa, ernstere Töne in Kowno zu reden. Gewiß sei die [232] litauische Regierung bei der Bildung des Direktoriums zweifelsohne auf Schwierigkeiten gestoßen; auch sei nicht zu leugnen, daß der Geist einsichtsvoller Loyalität die Voraussetzung für ein reibungsloses Funktionieren des Memelstatutes sei; aber die gegenwärtige Lage in Memel sei unvereinbar mit den Bedingungen des Memelstatuts, in dem als Grundlage eines Regierungssystems das Bestehen und regelmäßige Funktionieren des Landtages und eines das Vertrauen des Landtages besitzenden Direktoriums vorgesehen sei. Mit Hinweis auf diese Tatsachen forderten England, Italien und Frankreich die litauische Regierung am 19. April auf, diese Lage "prompt" zu beenden und die Einsetzung eines solchen Direktoriums auf einer baldigen Sitzung des Landtages sicherzustellen. Es wurde weiter angekündigt, daß sich die Signatarmächte bei Nichtbeachtung ihres Schrittes veranlaßt sehen würden, die Angelegenheit auf Grund Artikels 17 des Memelabkommens durch den Völkerbundsrat entscheiden zu lassen.

Die Entscheidung durch den Völkerbund wäre mit der Einsetzung eines Volkerbundskommissars getroffen worden. Tatsächlich erörterte man in England diese Idee. Am 29. April fragte der Abgeordnete Oberstleutnant Moore im Unterhaus Sir John Simon, ob es nicht besser sei, einen Völkerbundskommissar einzusetzen; Simon antwortete klug: "Es ist meiner Ansicht nach besser, die Antwort der litauischen Regierung abzuwarten." Die englische Presse erörterte die Memelfrage sehr eingehend und sah die Lösung darin, daß die Memelregierung im Verhältnis ihrer Zusammensetzung mehr dem überwiegend aus Deutschen bestehenden Landtag entspreche.

Die Regierung in Kowno hatte trotz alledem in einer Kabinettssitzung beschlossen, eine Kursänderung im Memelgebiet nicht eintreten zu lassen, sondern sich lediglich mit einer Zurschaustellung des "guten Willens" zu begnügen. Am 1. Mai forderte Bruvelaitis den Alterspräsidenten des Memellandtages, Hilpert, schriftlich auf, mit den Mehrheitsparteien eine Erweiterung bzw. Umbildung des Direktoriums in der Weise zu beraten, daß die Mehrheitsparteien im Direktorium drei von fünf Sitzen erhalten sollten. Hilpert durchschaute das unwürdige Manöver und lehnte seine Beteiligung ab. Am [233] 2. Mai antwortete die Regierung in Kowno den Signatarmächten, daß sie alle Einwände als nicht im Einklang mit der tatsächlichen Lage im Memelgebiet stehend zurückweise, worüber die Engländer sehr ungehalten waren: sie drohten sehr entschieden mit einer Klage vor dem Völkerbund. Wie gewissenlos die Litauer waren, bewies Bruvelaitis einige Tage später, als er im Zuge seiner bisherigen Politik den flagranten Rechtsbruch beging und das deutsche Lehrerseminar in Memel an die Regierung in Kowno verkaufte, damit diese darin eine litauische Lehrerakademie einrichten könnte.

Am 4. Mai war die Legislaturperiode des Landtags abgelaufen. Die Memelländer befürchteten, daß der Gouverneur die Neuwahlen möglichst weit hinausschieben würde. Er tat es denn auch und setzte sie am 9. Mai für den 29. September an. Die Landtagsparteien von Memelland, Landwirtschaftspartei, Memelländische Volkspartei, Sozialdemokratische Partei und Arbeiterpartei beschlossen bereits vier Tage später, beim Wahlkampf in geschlossener Front und mit einer einzigen Liste aufzutreten. Jedoch waren sich die Memelländer darüber klar, daß ihnen Zehntausende von Stimmen verlorengehen würden, da ja den ehemaligen Mitgliedern der "staatsfeindlichen" Parteien das aktive und passive Wahlrecht entzogen worden war, während Tausende von Litauern widerrechtlich eingebürgert wurden. Als am 17. Mai das Obertribunal die Kassationsklage der im März Verurteilten verworfen hatte – leidenschaftliche Protestkundgebungen in Königsberg und Tilsit waren die Folge – glaubte Staatspräsident Smetana der Außenwelt wieder eine Geste schuldig zu sein: Obwohl die zum Tode Verurteilten im Bewußtsein ihrer Unschuld es abgelehnt hatten, den Gnadenweg in Anspruch zu nehmen, "begnadigte" er selbst sie aus eigener Initiative zu lebenslänglichem Zuchthaus!

Es unterliegt keinem Zweifel, daß der außerordentlich schwere Memelkonflikt zwischen Litauen und das Reich eine schier unüberbrückbare Kluft legte. Damit trat Litauen in der großen Auseinandersetzung um den Ostpakt automatisch auf die Seite Sowjetrußlands. Bereits im Januar 1935 ließ [234] Litauen starke militärische Bewegungen erkennen. Aktive Truppen wurden an die Memelgrenze verlegt, die Reservejahrgänge 1907 und 1908 wurden zu dreimonatigen Übungen eingezogen. Das Memelland war überfüllt von litauischem Militär. Daß bei diesen Vorgängen eine gewisse Verbindung zwischen Kowno und Moskau bestand, kann mit Sicherheit angenommen werden. Anderseits war die obstinate Haltung Litauens gegenüber den Signatarmächten nur aus dem Rückhalt zu erklären, den dieser Randstaat an Frankreich hatte. Frankreich war in Kowno der geheime Gegenspieler nicht nur Deutschlands, sondern auch Großbritanniens! Litauen war den Franzosen ein Werkzeug der Ostpaktpolitik. Konnte doch Anfang April ein Teil der englischen Presse melden, daß Litauen "im Vertrauen auf die Unterstützung Frankreichs und Rußlands" den Plan habe, den Völkerbund zu ersuchen, das Memelstatut durch eine unbedingte Anerkennung der Souveränität Litauens über Memelland zu ersetzen; dadurch würde die Memelangelegenheit eine innerpolitische Angelegenheit Litauens und keine fremde Einmischung wäre mehr möglich. In der Tat weilte Mitte April der litauische Gesandte aus Paris in Genf, um ganz vorsichtig die Stimmung zu sondieren.

Merkwürdig, wie das friedliebende Frankreich sofort hinter den Kulissen auftaucht, wenn es irgendwo einen Staat findet, der im Gegensatz zum Reiche steht! Und so ist es auch kein Wunder, daß ausgerechnet zur Zeit der Lavalreise eine Belebung der litauisch-russischen Beziehungen unleugbar ist. Das litauische Innenministerium interessierte sich Anfang Mai plötzlich für geeignete Bodenflächen, auf denen Flugplätze angelegt werden könnten. Man sollte bald erfahren, warum und wieso. Seit Anfang Mai nämlich weilte eine sowjetrussische Fliegerabordnung – vier Fliegeroffiziere der Roten Luftflotte – in Litauen, um Zwischenlandeplätze für die Rote Luftflotte zu erkunden. Ein litauischer Fliegeroffizier in Zivil begleitete sie bei ihren Erkundungen. Sie besichtigten die Flughäfen Kowno, Schaulen und Memel, neue Anlagen wurden für Poniewitsch und Rakischki geplant. Das Innenministerium unterstützte die Kommission. Die Parallelität dieser Vorgänge mit denen in der Tschechoslowakei ist unverkennbar; so war auch Litauen [235] ein Glied in der Kette jener Staaten, die sich der Friedensidee Frankreichs anschlossen, bzw. unterordneten.

  Strömungen in Österreich  

4.

Für Mussolini wurde Stresa der Ausgangspunkt einer kühneren Politik an der Donau wie in Ostafrika.

Infolge des Marseiller Königsmordes wurden die Legitimisten in Österreich mit schweren Vorwürfen überhäuft, aber der Gedanke der habsburgischen Restauration erlitt dadurch keinen Schaden.

Da jedoch dem Legitimismus die Kraft fehlte, sich durchzusetzen, trieb er auf den hochgehenden Wogen der internationalen Politik wie das steuerlose Wrack eines gestrandeten Schiffes. Der italische Regierungschef lehnte die Habsburger Bewegung ursprünglich deswegen ab, weil er von ihr eine Gefahr für Südtirol befürchtete. Nach dem Juli 1934 änderte Mussolini seinen Standpunkt: er sah in der Restauration der Habsburger ein Bollwerk gegen den Anschluß Österreichs an Deutschland. Die Nachfolgestaaten der Donaumonarchie aber lehnten jede habsburgische Restauration ab, da diese den Zerfall ihrer Länder nach sich ziehen würde. Nach den Stürmen des Königsmordes im Oktober 1934 beeilten sich die Legitimisten, zu erklären, daß sie nicht revisionistisch seien, alles, was sie erstrebten, sei eine förderative Gestaltung des Donauraumes. Ein solches Ziel aber wurde nun wieder in Rom mißbilligt; Mussolini befürchtete, daß, wenn es erreicht würde, der italische Einfluß im Donauraum bald durch italienfeindliche Einflüsse verdrängt werden würde. Auf einer italisch-österreichischen Verhandlung Mitte Juni 1935 in Wien über die Rückkehr der Habsburger wurde daher von italischer Seite erklärt, daß eine Restauration augenblicklich mehr Nachteile als Vorteile habe: sie biete zwar eine Sicherheit gegenüber einem Anschluß an Deutschland, würde aber, da sie die Bil- [236] dung eines großen Staatenbundes im Donau- und Balkanraum anstrebe, ein Überwiegen der italienfeindlichen Kräfte in diesem Staatenbunde begünstigen.

Die zweite politische Kraft des neuen Österreich war der Austromarxismus. Er drohte und rumorte und gab keine Ruhe. Er provozierte die Polizei, griff die Beamten an, führte zu Zusammenstößen, wie im November 1934 derartige blutige "Kundgebungen" in Wien und Umgebung stattfanden. Der 12. Februar 1935, der Jahrestag der Revolte von 1934, war wieder ein sehr unruhiger Tag; überall rührten sich die Marxisten, es kam verschiedentlich zum Handgemenge mit der Polizei, die Zusammenrottungen zerstreuen oder kommunistische Fahnenträger verhaften wollte. Der nächtliche Himmel wurde festlich beleuchtet durch Feuerwerk, das die Gestalt von Sowjetsternen hatte.

Der Nationalsozialismus hatte vor allem die Jugend Österreichs erfaßt. Die Partei als solche bestand nicht mehr, aber der völkische Geist beseelte das junge Geschlecht, dazu der Wille, das Land aus seiner unglücklichen Lage befreit zu sehen. Obwohl die Nationalsozialisten sich aller ungesetzlichen Handlungen enthielten, sondern nur das gleiche Recht der Freiheit mit den andern Staatsbürgern forderten, dauerten die seit Ende Juli 1934 verschärften Verfolgungen unvermindert an. Wer nur irgendwie der Regierung nationalsozialistisch verdächtig war, wurde vor Gericht gestellt und eingekerkert. Ende Mai 1935 wurde die Zahl der politischen Häftlinge auf 10 000 geschätzt (V. B. 12. Juni 1935). Beamtentum und Heer blieben unnachsichtlich jedem verschlossen, der irgendwie durch Sympathie für die NSDAP. die Aufmerksamkeit der Behörden erregte.

Die vierte politische Richtung stellt der Faschismus der Heimwehren dar. Deren Führer, Fürst Starhemberg, erblickte den Höhepunkt der deutschen Geschichte in der mittelalterlichen Verbindung zwischen Wien und Rom, sie wieder herzustellen, war sein Ziel. Erinnerungen an die Zeit der Türkenkriege, in denen sein Vorfahr eine so große Rolle spielte, sprachen hier mit. Er betrachtete es als seine Aufgabe, die inneren Zustände Österreichs denen Italiens anzugleichen. So [237] wurde er in Österreich der entschlossene Parteigänger Mussolinis. Die Bedeutung dieser Tatsache lag darin, daß einst der christlich-soziale Bundeskanzler Dollfuß selbst in seinem politischen Testamente Starhemberg zum lebenslänglichen Leiter der vereinigten Wehrorganisationen eingesetzt hatte.

Das Regiment Österreichs setzte sich nun aus zwei einander durchaus wesensfremden Bestandteilen zusammen. Die eine Richtung verkörperte Starhemberg, der Führer der faschistischen Heimwehren, der Satrap Mussolinis, die andere Richtung stellte Schuschnigg, der Christlich-Soziale, der "Österreicher", dar. Beide waren einander entgegengesetzt wie Feuer und Wasser, aber gemeinsam war ihnen die Gegnerschaft gegen den Marxismus – im April 1935 wurden am Schlusse eines langen Prozesses die marxistischen Rädelsführer der Schutzbundrevolte vom Februar 1934 zu schweren Kerkerstrafen verurteilt – und gegen den Nationalsozialismus.

  Österreich und Italien  

Seit Ende Juli 1934 war eine weit über das römische Protokoll vom Frühjahr 1934 hinausgehende Verengung der Beziehungen Österreichs zu Italien eingetreten. Der unsichtbare Leiter der österreichischen Außenpolitik war Starhemberg, der Vizekanzler, und der holte sich seine Weisungen in Rom. Schuschnigg, der Bundeskanzler, der es mit Paris hielt, wo man die These von der Unabhängigkeit Österreichs am reinsten vertrat, kam gegen diese Strömung zunächst nicht recht auf. Erst im Dezember 1934 wurde in Paris in einer Zusammenarbeit zwischen Laval und den Vertrauensleuten Schuschniggs der auf das Donauproblem bezügliche Teil des Römischen Protokolls geschaffen. So kam es, daß die französisch-italische Einigung vom Januar 1935 das Band zwischen Wien und Rom lockerte. Die österreichische Regierung wurde in aller Form von Frankreich und Italien von der beschlossenen "Nichteinmischung" unterrichtet. Daß dieses Protokoll eine Fessel für Italien war, ergab sich aus der plötzlich veränderten Stellung, die Benesch zur Frage der Rückkehr der Habsburger nach Österreich einnahm. Vor der französisch-italischen Einigung forderte Benesch, daß Laval und Mussolini die Rückkehr der Habsburger ausdrücklich auf jeden Fall als ein internationales und nicht innerstaat- [238] liches Problem erklären sollten, weil Benesch und mit ihm die gesamte Kleine Entente befürchteten, daß ein von Rom aus unterstützter Habsburger revisionistische Politik treiben könne; nach der Einigung von Rom war er einverstanden, die habsburgische Thronbesteigung als ein innerstaatliches Problem anzusehen, wenn die Wahrung der österreichischen Unabhängigkeit "oberster Gesichtspunkt" sei; in diesem Falle nämlich war ein von Rom aus geförderter Revisionismus nicht zu befürchten. –

Aber Italien war auch nach dem römischen Protokoll entschlossen, seinen Einfluß an der Donau nicht so leichthin aufzugeben. Anfang Februar 1935 setzte das halbamtliche Giornale d'Italia die Welt in Erstaunen mit einem Bericht über eine "unlängst", in Wahrheit nie gehaltene Göbbelsrede, worin der Minister angekündigt haben soll, das Reich werde nächstens einen Kampf entfalten, der die Welt in Verwirrung setzen werde; erst komme die Memelfront, dann Österreich an die Reihe, vielleicht auch beide gleichzeitig; die deutsche Regierung müsse mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln den Weg für die Rückkehr aller Deutschen ins Reich öffnen; in Zukunft dürfe es in Europa nur ein einziges Deutsches Reich geben; das würde nicht nur vom Führer vertreten, sondern auch vom gesetzmäßigen Träger der deutschen Waffen, der deutschen Reichswehr. Das Deutsche Nachrichtenbüro nannte diese Wiedergabe einer nicht gehaltenen Rede eine "politische Brunnenvergiftung übelster Art", aber sie zeigte doch, wie man in Italien durch die Konstruktion einer deutschen Schuld ein neues Anrecht auf die Rolle eines Beschützers der österreichischen Unabhängigkeit zu erlangen hoffte. Dies war für den Duce um so wichtiger, als der abessinische Konflikt heraufstieg. Mussolini betrachtete ein von allen störenden Einflüssen befreites, d. h. unter italischem Einfluß stehendes Österreich im besondern als geeignetes Reservoir, aus dem er seine Fremdenlegion für den Kampf in Afrika rekrutieren konnte. Bereits vom Februar liegt ein Aufruf des "Freiheitsbundes" der christlichen Arbeiter vor, worin Österreicher – gemeint waren Arbeitslose – zum Kriegsdienst für Italien geworben wurden (vgl. Anlage 34)!

[239] Die Einführung der deutschen Wehrhoheit änderte das Bild der großen Politik mit einem Schlage zugunsten Mussolinis. Österreich forderte nun auch für sich die allgemeine Wehrpflicht, der Ministerrat stimmte ihr am 4. April grundsätzlich zu: Die Dienstzeit sollte zwei Jahre betragen, zwei ständige Armeekommandos in Wien und Salzburg sollten errichtet werden, das ständige Heer sollte 4000 Offiziere, ebensoviel Unteroffiziere und 12 000 Mann umfassen, überdies sollten zwei Jahrgänge von je 35 000 Mann einberufen werden. Dieser Umstand der Wehrhaftmachung Österreichs öffnete aufs neue die Türen für den Einfluß Italiens, erschien doch seit Anfang April in Wien sogar eine italische Wochenschrift: Corriere Austriaco zur Vertiefung der von der österreichischen Regierung (Starhemberg) gewünschten österreich-italischen Beziehungen, die, wie wir eben sahen, für Mussolini höchst materieller Art waren.

In Stresa war Mussolini der kraftvolle Anwalt der Aufrüstung Österreichs und wurde als solcher von den beiden Westmächten gleichsam schweigend anerkannt, indem sie seinen Ausführungen beipflichteten. Zehn Tage später weilte Starhemberg in Rom und unterbreitete dem Duce seinen Aufrüstungsplan, wobei er nicht verfehlte, zu betonen, daß nicht sofort die allgemeine Wehrpflicht eingeführt werden dürfe, weil sonst mit den jungen für den Nationalsozialismus gewonnenen Jahrgängen "zweifelhafte Elemente" in die Wehrmacht hineinkommen würden. Starhemberg und Mussolini stimmten in diesem Punkte durchaus überein.

  Starhemberg  

Starhemberg verstärkte von jetzt an die Werbung von Freiwilligen durch die Heimwehren in Kärnten, damit sich diese der italischen Militärexpedition in Eritrea und Somaliland anschlössen. Im übrigen begann er nachdrücklich, eine Vereinigung der österreichischen Wehrorganisationen – Heimwehr, Ostmärkische Sturmscharen, Freiheitsbund – zu einer einzigen halbmilizartigen Gesamtformation herbeizuführen, um auf diese Weise durch vollendete Tatsachen eine feste Grundlage für die zwischen Mussolini und Schuschnigg bevorstehenden offiziellen Wehrverhandlungen zu schaffen.

Bezeichnend war es auch, daß die österreichische Unterrichts- [240] verwaltung Ende April auf den Schulen als dritte moderne Fremdsprache italisch einführte. Anfang Mai begab sich eine italische Militärmission, bestehend aus zwei Generalen und zwei Generalstabsoffizieren, nach Wien, um die Angleichung des österreichischen Bundesheeres an die italische Heeresorganisation in die Wege zu leiten. Die Kleine Entente geriet begreiflicherweise über diese Dinge in nicht geringe Erregung, argwöhnte doch Südslawien, daß Kärnten und Steiermark das beste Ausfallstor für Italien gegen den Balkan werden könne.

Die Beziehungen zwischen Italien und Österreich waren Anfang Mai wieder so innig geworden, daß die italisch-österreichisch-ungarische Besprechung, die zur Vorbereitung der geplanten Donaukonferenz vom 4.–6. Mai in Venedig stattfand, gleichsam ergebnislos blieb. Der ungarische Außenminister Kanya war dem Duce gegenüber sehr ungehalten darüber, daß dieser die "Sicherung der Selbständigkeit Österreichs" als das alles beherrschende Problem behandeln wollte. Die ungarischen Lebensnotwendigkeiten seien genau so wichtig, meinte Kanya. Schon fünf Tage später, am 11. Mai, hatte Schuschnigg in Florenz eine zweistündige Aussprache mit Mussolini, die sich um die habsburgische Frage und die Wiederaufrüstung drehte. Hier erteilte Mussolini im Rahmen seiner etwa drei Wochen vorher mit Starhemberg geführten Verhandlungen dem Bundeskanzler den Auftrag zur Schaffung einer österreichischen Luftflotte, die offiziell anzukündigen sich am 14. Mai die von Fürst Starhemberg geführte Heimwehr beeilte. Das römische Nichteinmischungsprotokoll war also dank Stresa in völlige Vergessenheit geraten. –

Österreich – eine Satrapie des faschistischen Italien! Was Österreich in diesem Augenblicke war und tat, dankte es seiner Anlehnung an Mussolini; innerlich litt es unter schwersten Spannungen. Nach dem Tode von Dollfuß hatten die Heimwehren, Starhemberg, eine bittere Schlappe erlitten. Ihr Totalitätsanspruch auf den Staat war zunichte geworden, nachdem nicht Starhemberg, wie er hoffte, sondern Schuschnigg Bundeskanzler geworden war. Das bedeutete eine Stärkung des christlich-sozialen Einflusses in der "vaterländischen Front", eine erste Etappe des Erfolges der Klerikalen und Legitimisten [241] gegen die Faschisten. Die Heimwehren hatten sich dann in der Jugendfrage der Kirche beugen müssen, jetzt sollte die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht für den Parteiklerikalismus ein schöner Vorwand werden, um endgültig das Verschwinden der Wehrverbände zu fordern! Er wartete darauf, Starhemberg, der, wie wir oben sahen, energische Anstrengungen machte, seinen Einfluß in der neu einsetzenden militärischen Entwicklung zu festigen, einen vernichtenden Schlag beizubringen. In den Heimwehren, die allerdings auch stark mit legitimistischen und christlich-sozialen Elementen durchsetzt waren, regte sich jedoch sogleich ein Geist der nationalrevolutionären Opposition gegen dieses zähe Vordringen der christlich-sozialen Forderungen. Deshalb wichen die christlich-sozialen Kreise, die eine Verstärkung der illegalen Opposition durch die Heimwehren fürchteten, wenn diese aufgelöst werden sollten, wieder einen Schritt zurück: sie garantierten der Heimwehr bis auf weiteres ihre Existenz im Rahmen der Vaterländischen Front, gestalteten aber ihren Organisationsentwurf der allgemeinen Wehrpflicht so, daß weder dem Staate noch den Wehrverbänden Gefahren drohten. Danach sollte die gesamte taugliche männliche Bevölkerung ein Jahr lang unter der Aufsicht altösterreichischer Offiziere im Arbeitsdienst tätig sein, dann sollten die "staatstreuen" Elemente in das Heer eintreten, während die "politisch unzuverlässigen" Männer noch ein Jahr im Arbeitsdienst bleiben sollten.

Jedoch vermochte Starhemberg mit Mussolinis Hilfe auch diesen heimtückischen Angriff abzuschlagen. Wollten die Klerikalen das Heer dem Faschismus möglichst entziehen, so gelang es am 24. Mai Starhemberg in seiner Eigenschaft als Führer der Vaterländischen Front, den Bundeskanzler Schuschnigg, der gleichzeitig Bundesminister für Landesverteidigung war, zu bestimmen, das Bundesheer aktiv in die vaterländische Front einzugliedern. Hatte Starhemberg sich im April bereits bemüht, die Wehrverbände in halbmilizartige Organisationen umzugestalten, so gelang ihm jetzt, durchzusetzen, daß nur derjenige in das Bundesheer eintreten konnte, der Mitglied der vaterländischen Front war. Jeder aktive Soldat mußte also [242] gleichzeitig Mitglied der vaterländischen Front sein. Damit war recht eigentlich die volle Identität zwischen Bundesheer und vaterländischer Front hergestellt, ein Vorgang, der eine geradezu diktatorische Machtfülle für Starhemberg, den Führer der Vaterländischen Front, und insbesondere seine Heimwehren umschloß, denn alsbald ging Starhemberg noch weiter. Nicht nur, daß er die Werbungen einstellen ließ, sondern er schloß auch alle Mitglieder, die erst nach dem 1. Februar 1934 eingetreten waren, aus der Vaterländischen Front aus, eine "Reinigungsmaßnahme", die sich vor allem gegen die im Sinne Starhembergs unzuverlässigen Ostmärkischen Sturmscharen des Bundeskanzlers Dr. Schuschnigg richtete! Denn der Aufstieg dieser Sturmscharen hatte erst nach dem 1. Februar 1934 begonnen! Die Mitglieder der "Ostmärkischen Sturmscharen", des "Freiheitsbundes" und des "Christlich-sozialen Turnerbundes" waren aufs höchste erregt und drohten, daß sie die Waffen nicht freiwillig niederlegen würden.

Es schien, als würde jetzt der Entscheidungskampf zwischen den beiden Prinzipien des Heimwehrfaschismus und des klerikalen Legitimismus ausbrechen. Eine große, heimwehrfeindliche Massenversammlung wurde Mitte Mai einberufen, auf der der Führer der Habsburganhänger, Ackerbauminister Josef Reither sprechen sollte. Starhemberg erreichte, daß die Versammlung verboten wurde, gleichzeitig ordnete er für die Heimwehren Alarm an, weil er eine Auseinandersetzung mit den Ostmärkischen Sturmscharen erwartete. Reither wie auch der Staatssekretär für Arbeiterschutz im Sozialministerium, Gossauer, der den "Freiheitsbund", die Weltorganisation der christlichen Arbeiter führte, boten Ende Mai dem Bundespräsidenten Miklas ihren Rücktritt an, der sie jedoch bewog, ihr Gesuch wieder zurückzuziehen.

Am 2. Juni 1935, einem Sonntag, ließ Starhemberg die Wiener Heimwehren aufmarschieren. Er erklärte bei dieser Gelegenheit, der Heimatschutz betrachte sich als Träger des neuen Österreichs. Der Stabschef der Ostmärkischen Sturmscharen, Dr. Kimmel, beantwortete die Behauptung mit der Erklärung, daß die Sturmscharen nicht nur als kulturelle, son- [243] dern auch als Wehrbewegung weiterbestehen würden, von einer ausgesprochenen Vereinigung könne keine Rede sein. Schuschnigg selbst sandte folgendes Begrüßungstelegramm an Kimmel:

      "Aushalten und mitkämpfen und noch mehr und höher die Sturmscharfahne hissen und nicht dulden, daß irgendwo in diesem Lande die Sturmscharfahne je eingezogen werde. Wir sind hundertprozentige Österreicher und Katholiken, die Kerntruppe des katholischen Österreichs."

Einige Tage später, am 6. Juni, forderte die Reichsführung der Sturmscharen die Unterstellung des neuen, von Starhemberg vereinheitlichten Wehrverbandes unter das Heeresministerium und damit unter den Landesverteidigungsminister, welcher zugleich der Bundeskanzler Dr. Schuschnigg war. Diese Auffassung, daß alle militarenten Kräfte restlos dem Heeresministerium zur absoluten Verfügung unterstellt werden sollten, fand auch in den Kreisen des Bundesheeres starke Zustimmung.

Die Sturmscharen drangen aber mit ihrem Versuch, Starhemberg auszuschalten, nicht durch. Ende Juni wurde das 1933 gegründete halbmilitärische Schutzkorps, "ein uniformierter, bewaffneter, nach militärischem Muster organisierter, von der Bundesregierung aufgestellter Wachkörper, der aus den sich freiwillig meldenden Mitgliedern der Schutzkorpsverbände gebildet wird", dem Sicherheitsminister Starhemberg unterstellt, der nun auch das Recht erhielt, zu bestimmen, welche Wehrverbände als Schutzkorpsverbände zu betrachten seien und weiterbestehen dürften. Man war wieder da, wo man im Mai war. Damit hatte sich Starhemberg gegen den Ansturm seiner Widersacher durchgesetzt und die schon lange bestehende Zweiteilung der obersten Staatsführung auch in der Führung der Exekutive verankert: Schuschnigg hatte das Heer, Starhemberg das Schutzkorps und damit auch die Führung der vereinheitlichten Wehrverbände.

Den Widersachern Starhembergs, besonders im Bundesheer, war diese Wendung unsympathisch. Diese Lösung aber war nur möglich gewesen, weil Starhemberg im Ministerrat sich mit den Legitimisten geeinigt hatte und der seit einem Jahre angekündigten Aufhebung der Habsburgsgesetze zugestimmt hatte. Auch in der Vaterländischen Front und ihren Verbän- [244] den gab er, wie die Richtlinien des Generalsekretärs der Vaterländischen Front, Oberst Adam, von Anfang Juli zeigten, die legitimistische Propaganda frei. Damit hatte sich Starhemberg seines Einflusses auf die habsburgische Frage begeben, trotzdem noch kurz zuvor die oben erwähnte Besprechung in Wien die Abneigung Italiens gegen die Restaurationspläne erwiesen hatte. Starhemberg brachte, gewiß mit Zustimmung Mussolinis, das Opfer dieses Verzichtes, um wenigstens seinen Einfluß in der Regierung zu erhalten. Und dieser Erfolg war vielleicht augenblicklich für den Duce der wichtigste, da der Konflikt mit Abessinien ernstere Formen annahm. Italien mußte sich in Österreich Rückenfreiheit sichern, um in Afrika entschlossener vorgehen zu können. Die Erklärung des Führers am 21. Mai erleichterte Starhemberg und Mussolini das Zugeständnis an die Legitimisten.

  Italien und Abessinien  

5.

Wir sahen, daß der Negus Ende März alle direkten Verhandlungen mit Italien abgebrochen und den Streit dem Völkerbundsrate übergeben hatte. Dies störte den Duce. Er wollte sich nicht in die Hand des Völkerbundsrates begeben. Mussolini bot also Haile Selassie an, die Grenzstreitigkeiten, die gegen Ende März wieder sehr an Zahl und Schwere zunahmen, durch ein Schiedsverfahren zu beseitigen, unter Umgehung des Völkerbundsrates. Der Negus wollte nichts davon wissen, er setzte fortan all seine Hoffnungen auf den Völkerbund.

Ohne Unterbrechung ließ Mussolini Truppen nach Ostafrika transportieren. Der kleine Hafen Massaua im italischen Eritrea glich einem Heerlager. Fast täglich liefen Dampfer ein, die zwei- bis dreitausend Mann aus Italien oder Tripolis und ungeheure Mengen Kriegsmaterial brachten.

Italienischer Großtank bei der Probe zum Tankrennen.
[Bd. 9 S. 256b]      Italien: Großtank
bei der Probe zum Tankrennen.
      Photo Scherl.
Parade der italienischen Flugzeuge und Flieger.
[Bd. 9 S. 256b]      Italien: Parade
der Flugzeuge und Flieger.
      Photo Scherl.

Noch wurde kein Wort von Krieg gesprochen. General de Bono, Oberstkomman- [245] dierender in Massaua, sprach von der "großen humanitären Mission" Italiens, die der Befreiung von mehr als zehn Millionen armseliger unterdrückter Menschen dienen sollte; vorläufig sei von Krieg keine Rede: "Für uns handelt es sich nicht darum, die Sache Italiens zu vertreten, sondern die der Menschheit". In der italischen Kammer sprach Lessona, der Unterstaatssekretär für die Kolonien, von Abessinien als einem Lande der Räuberei und der Sklaverei. Die italische Presse strotzte täglich von Drohungen gegen Abessinien und die Länder, die diesem Staate angeblich Waffen lieferten. Nur allzugern nahm sie französische Falschmeldungen auf, daß Deutschland Waffen nach Abessinien liefere, und sparte nicht mit versteckten und offenen Drohungen. Stets war es der Kehrreim, daß Italien in Abessinien nicht nur sein gutes Recht und seine nationale Ehre, sondern auch die Zivilisation gegen die Barbarei verteidige; es müsse seine Sicherheitsvorkehrungen treffen, "um den Herausforderungen ein Ende zu machen und unsere Kolonien gegen jeden etwaigen weiteren Angriff zu schützen". Daß die propagandistischen und militärischen Vorbereitungen Italiens auf den Krieg abzielten, war Ende April allgemein verbreitete Anschauung. Die allgemeine Ansicht erwartete, daß die Feindseligkeiten nach Ende der Regenzeit im September oder Oktober beginnen würden; Italien werde durch seine guten Vorbereitungen dafür sorgen, daß sich die Katastrophe von Adua 1896 nicht wiederholte.

Der Kaiser von Abessinien führte im April die allgemeine Wehrpflicht ein und kündigte sogar die Aufstellung eines Frauenheeres an. Er bestritt die italische Behauptung, daß er die allgemeine Mobilisierung angeordnet habe, er wies auch die Unwahrheiten italischer Zeitungen zurück, daß er aus Deutschland, Schweden usw. Waffen erhalten habe; lediglich eine tschechische und eine belgische Firma hätten Waffen nach Abessinien geliefert. Er war empört über die beleidigenden Äußerungen, die aus Italien laut wurden, wies energisch auf seinen unerschütterlichen Willen zu schiedsrichterlicher Lösung und Frieden hin – in Genf traf noch am 20. Mai ein längeres Telegramm des Negus ein, das die Friedensliebe Abessiniens und den Mangel an gutem Willen in Italien betonte und vor [246] allem forderte, daß den militärischen Maßnahmen Italiens, die unzutreffenderweise als "defensiv" hingestellt würden, Einhalt geboten würde – und hoffte zu guter Letzt, daß ihm der Völkerbundsrat am 20. Mai helfen werde.

      "Wenn dies aber nicht der Fall ist", meinte er Anfang April, "und wenn Italien seine militärischen Vorbereitungen fortsetzt, dann müssen wir mobil machen. Äthiopien wird sich niemals mit einem Zustand inoffiziellen Krieges abfinden, wie er vorhanden war, als Japan seine Operationen in Mandschukuo durchführte; wir werden von vornherein Widerstand leisten."

Kaiser Haile Selassie glaubte sogar nachdrücklich die italischen Vorwürfe zu entkräften, indem er am 18. Mai durch ein Edikt die Zwangsarbeit der niederen Arbeiter abschaffte und einen Ausgleich der drückenden Bodensteuern anordnete. Das wurde als ein Fortschritt der Kultur in Abessinien um tausend Jahre gepriesen, und wir dürfen wohl annehmen, daß dies Edikt der stärkste Trumpf des Negus war, von dessen Wirkung in Genf und London er sich viel versprach. –

Mit unangenehmen Gefühlen sah man in London, wie Mussolini ohne Zögern immer entschiedenere Vorbereitungen gegen Abessinien traf. England ließ durch seinen Botschafter Drummond in Rom durchblicken, daß es keine kriegerischen Abenteuer gebrauchen könne, am wenigsten zwischen zwei Völkerbundsmitgliedern. Mussolini kehrte sich nicht daran, ebensowenig an die vereinten englisch-französischen Vermittlungsversuche. Es scheint nämlich, daß in Stresa MacDonald und Simon Mussolini insgeheim weitgehende Zugeständnisse gegenüber Abessinien gemacht haben. Wahrscheinlich haben die Engländer um den Preis "wohlwollender Neutralität" und Gewährung eines "Mandates" über Abessinien Mussolinis weiteres Verbleiben im Völkerbunde erkauft. Derartige Meinungen tauchten in der englischen Presse auf, weil man sich anders das unbeirrte Vorgehen Mussolinis nicht erklären konnte. Nun ist es ja richtig, daß die britische Regierung dem französischen Vorschlag, den Fall vor Genf zu bringen, nicht geneigt war, weil sie mit gutem Rechte eine neue Bloßstellung der Genfer Einrichtung befürchtete, aber unter dem Drucke der öffentlichen Meinung Englands mußte Drummond Mussolini wissen lassen, daß sein [247] Vorgehen nicht im Sinne des Völkerbundes und Englands liege und daß daraus auch Folgerungen für Europa erwachsen könnten; es wurde sachte auf Sanktionen hingedeutet. Derartige Andeutungen erwiderte Italien mit der Behauptung, Deutschland und England hätten Waffen nach Abessinien geliefert.

Was sollte England nun tun? Auf der einen Seite stand Stresa und die Gefahr eines Ausscheidens Italiens aus dem Völkerbunde, die England vermeiden wollte, auf der anderen Seite stand Abessinien, das Nachbarland Ägyptens mit dem Tanasee, aus dessen Wassermengen das Nilland seine Lebenskraft zog, und der schwerwiegende Cliffordbericht. Und schließlich durfte auch der lachende Dritte in Afrika, der im Hintergrunde stand, Japan, nicht vergessen werden. Großbritannien befand sich im Mai in wahrhafter Bedrängnis, als neben das baltische Problem Deutschland–Rußland nun auch noch das mediterrane Problem Italien–Abessinien trat. Erschwerend war, daß in beiden Fragen Frankreich sich als der starke Gegenspieler Englands zeigte.

Nun einige Worte zum oben erwähnten Cliffordbericht.

Der Oberstleutnant E. A. M. Clifford war Führer der britischen Somaliland-Abessinien-Grenzkommission. Er hatte einen Bericht verfaßt, der da feststellte, daß die Schuld am Grenzzwischenfall bei Ual-Ual Ende 1934 Italien treffe, der Zwischenfall habe sich 90 Kilometer von der Grenze auf abessinischem Gebiet ereignet. Die Haltung der italischen Behörden in Ual-Ual nannte Clifford provokativ, und er fügte hinzu, daß zwei italische Flugzeuge mit Maschinengewehren auf die Köpfe der britisch-abessinischen Kommission geschossen hätten, obwohl der Union Jack weithin sichtbar über dem Lager wehte.

Diese Feststellungen sickerten trotz der Geheimhaltung in der englischen Öffentlichkeit durch und erregten die Gemüter. Zudem bestätigte Sir John Simon selbst, daß der Vertrag vom 13. Dezember 1906, worin England, Frankreich und Italien gemeinsam die Unabhängigkeit Abessiniens garantierten, noch in Kraft sei. Und nun handelte Mussolini so, rücksichtslos die in Stresa erhaltenen Freiheiten ausnutzend, indem er darauf [248] hinwies, daß die abessinischen Rüstungen und die italienfeindliche Stimmung ihn dazu zwinge.

Nachdem einige weitere matte Vorstellungen Englands in Rom, die dem Scheine nach von Frankreich unterstützt wurden und beschleunigte Einsetzung eines Schlichtungsausschusses forderten, erfolglos verlaufen waren, wie man leicht voraussehen konnte, fragte Morningpost am 16. Mai, was nun werden solle. Würde die britische Regierung zum Vertrag von 1906 und zur Völkerbundssatzung stehen, dann würde wahrscheinlich Italien aus dem Völkerbund austreten; würde man den Dingen ihren Lauf lassen, dann würde die Preisgabe Abessiniens eine weitere Schmälerung des Ansehens für den Völkerbund bedeuten. Das war die heikle Situation, aus der die noch heiklere Aufgabe Edens erwuchs, als er von seiner Regierung am 18. Mai nach Genf geschickt wurde. Die britische Regierung hatte ihm freie Hand gegeben, sich zu bemühen, den kriegerischen Absichten Italiens zwar entgegenzutreten, aber gleichzeitig zu vermeiden, daß Italien aus dem Völkerbund getrieben werden könne!



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra