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[Bd. 9 S. 168]

5. Kapitel: Europa und der 16. März.

1.

Seit Deutschlands Austritt aus dem Völkerbunde hat wohl kein Ereignis das auf Versailles gegründete System Europas schwerer erschüttert als die Tat des Führers vom 16. März 1935. Die englische Unterhaussitzung des 18. März stand ganz im Banne dieser deutschen Entwicklung. Sir John Simon teilte mit, daß er in Berlin habe eine Protestnote überreichen lassen. Dieser Protest stellte in höflich-sachlicher Form fest, daß die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht im Widerspruche zum Londoner Kommuniqué stünde, und gipfelte in der Frage, ob der deutschen Regierung unter den veränderten Umständen der britische Besuch noch erwünscht sei. (Vgl. Anlage 14.) Mit innerer Zufriedenheit teilte Simon mit, daß die Reichsregierung diese Frage bejaht habe. Im Hinblick auf den vorgeschlagenen Luftpakt fragte ein Abgeordneter die Regierung, ob diese der französischen versprochen habe, mit dieser allein ein gegenseitiges Schutzabkommen einzugehen, falls es unmöglich sei, Deutschland zu gewinnen. Eden verneinte dies.

Großbritanniens selbständiges Vorgehen in Berlin war für die Pariser Regierung, die gerade mit Mussolini zusammen an eine gemeinsame Aktion Englands, Frankreichs und Italiens dachte, keine angenehme Überraschung. Auch herrschte Mißstimmung darüber, daß Simon nun doch noch nach Berlin reiste. Aber Sir John Simon dachte nicht daran, den bevorstehenden Besuch durch eine Haltung zu gefährden, die von der Reichsregierung als nicht wohlgesinnt aufgefaßt werden konnte. Das britische Volk hätte ein solches Verhalten seiner Regierung nicht mehr verstanden. Denn viel wichtiger als alle unfruchtbaren solidarischen Proteste war dem Volke jetzt erst recht die persönliche Aussprache zwischen deutscher und englischer Regierung. In Paris, Rom und London wurde die britische Regierung im Laufe des 19. März bestürmt, gemeinsam zu han- [169] deln, das Zusammenwirken der drei Regierungen zu bekunden und gemeinsam die einseitige Kündigung eines vielseitigen Vertrages zu verurteilen. Alles war vergeblich. Die Italier und vor allem die Franzosen hatten schließlich nur die eine Bitte an Sir Simon, daß sein Berliner Besuch nicht als Trennung der britischen Politik von derjenigen Frankreichs und Italiens ausgelegt würde. Soweit war es schon!

  Proteste  

Am 20. März zeitigte der französische Ministerrat gewisse Beschlüsse. Zunächst wurde eine Protestnote an die Reichsregierung fertiggestellt, die in leidenschaftlichem, ja hemmungslosem Tone Einspruch erhob gegen das Gesetz des 16. März; sie wurde durch François-Poncet am 21. März dem Reichsaußenminister von Neurath überreicht, der sie als unzutreffend ablehnte (vgl. Anlage 15). Sodann wurde in Paris beschlossen, den Völkerbundsrat mit der deutschen Angelegenheit zu befassen. Diesem zweiten Beschlusse stimmte Italien, das am 21. März ebenfalls eine scharfe, von Neurath abgelehnte Protestnote hatte in Berlin überreichen lassen (vgl. Anlage 16), zu, obwohl Mussolini anfänglich nicht für eine Befassung des Völkerbundsrates war. So ging in Genf am 21. März ein Telegramm Lavals ein; darin wurde die Einberufung einer außerordentlichen Ratstagung beantragt, um zu prüfen, inwieweit der Frieden Europas bedroht sei durch Deutschland, das, indem es das Wehrgesetz und die deutsche Militärluftfahrt schuf, "durch einen einseitigen Akt die vertraglichen Verpflichtungen bewußt verleugnet habe". In England jedoch herrschte hierüber Verärgerung, weil nichts weniger geeignet sei, das einheitliche Ziel Europas, Deutschland nach Genf zurückzubringen, zu vereiteln als eine Einmischung des Völkerbundes. Immerhin stimmte die britische Regierung dem französisch-italischen Plane einer Zusammenkunft von Vertretern der drei Regierungen vor der Berliner Reise Simons zu. Diese Zusammenkunft sollte aber nur vorbereitenden Charakter haben.

  Haltung Frankreichs  

In einer außerordentlichen Sitzung des Senats vom gleichen Tage richtete Ministerpräsident Flandin schwere Anklagen gegen Deutschland. Die Proklamation des Führers bedeute den [170] Abschluß einer Politik, die die Vernichtung der auf dem Völkerbund fußenden Arbeit bedeuten würde. Wo bleibe die Gerechtigkeit, von der die Satzungen des Völkerbundes sprechen, wenn jeder sich das Recht beimesse, die Verpflichtungen der Verträge zu verleugnen? Was bleibe von der Kraft des internationalen Rechtes übrig, wenn man die eigene Kraft jeder Nation an die Stelle dieses Rechtes setze? Frankreich könne die Auffassung des Reiches nicht teilen, ebensowenig, wie es die Begründung der Reichsregierung dazu nicht annehmen könne. Frankreich habe seit 15 Jahren viel für die Annäherung und Wiederversöhnung der beiden großen Völker getan(!!), aber diese Versöhnung könne nicht auf der Verkehrung der Wahrheit und auf der Ableugnung des Rechtes und der Gerechtigkeit fußen. Es sei nicht wahr, daß das deutsche Volk nach viereinhalbjährigem Kriege die Waffen niedergelegt habe. Über die Verantwortung an der Entfesselung des Krieges sei das Urteil längst gesprochen. Er, Flandin, werde nicht zulassen, daß dieses Urteil in Verjährung gerate. Er fordere Hitler auf, die Erinnerungen eines seiner großen Vorgänger, nämlich des Fürsten Bülow, zu lesen über die Vorgänge, unter denen die Kriegserklärung Deutschlands an Rußland erfolgt sei. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit der beiden Völker, eine Zusammenarbeit, die der Wunsch aller sei, könne nicht zustandekommen durch ein Vergessen der Verantwortlichkeiten. Im Anschluß daran suchte Flandin nachzuweisen, daß Frankreich abgerüstet habe. Wenn Frankreich sich anschicke, fuhr er fort, auf Grund des Artikels 11 der Völkerbundssatzungen jetzt den Völkerbund mit einem für die Sache des Friedens so schwerwiegenden Akt zu befassen, so diene Frankreich damit nicht seinem eigenen Interesse, sondern dem Interesse der Gesamtheit der Staaten. Der Friede der Welt stehe auf dem Spiel. Gewiß wolle Frankreich Ungerechtigkeiten nicht aufrechterhalten oder untragbare Zustände. Im Rahmen der Legalität seien alle Abänderungen der Verträge möglich, das habe man in der Vergangenheit gezeigt (Österreich, Ungarn, Bulgarien!). Frankreich hasse den Krieg. Die Regierung werde alles tun, um den Frieden aufrechtzuerhalten und werde in dem Bemühen nicht ablassen, um sich einen mächtigen Block [171] der Staaten zu schaffen, die denselben Idealen treu geblieben seien wie Frankreich.

Der Senat sprach der Regierung das Vertrauen für ihre Politik der nationalen Sicherheit und der Sicherung des Friedens mit 269 gegen 21 Stimmen aus.

Zwei Tage später hielt der nationalistische Abgeordnete Franklin-Bouillon in der Kammer eine Rede, die folgende Gedanken enthielt: Es sei genug der Lüge, daß es ein gutes Deutschland gebe, das den Frieden wolle, und daß alles in Genf geregelt werden könne. Man solle aufhören, England gegenüber schüchtern zu sein. Deutschland habe durch seine Aufrüstung der zivilisierten Welt den Krieg erklärt. Man müsse die Nationen des Friedens gegen die Räubernationen militärisch gruppieren. Man brauche keine Angst zu haben: Deutschland und Ungarn seien zusammen 80 Millionen Menschen, die die Vernichtung der Verträge und den Krieg wollten. Ihnen gegenüber wollten 400 Millionen Menschen die Aufrechterhaltung der Friedensverträge. Wenn man von Polen und England absehe und annehme, daß sie neutral seien, blieben immer noch 320 Millionen Menschen übrig.

Die Haltung Frankreichs läßt sich nur unter dem Gesichtspunkte verstehen, daß es wieder einmal die subjektiven Grundlagen seiner 300jährigen politischen Existenz zusammenbrechen sah. Und nicht nur das. Die Führer in Frankreich fühlten, daß dieser Zusammenbruch seiner Politik vielleicht der verhängnisvollste und gefährlichste werden könnte, den es je erlebte. In diesem Augenblick umklammerte Frankreich durch sein Bündnissystem fast das gesamte außerdeutsche Europa. Wenn dieser "mächtige Block der Staaten" zertrümmert würde, dann würde das heutige Frankreich keinen Augenblick länger in der Lage sein, seine durch die Tradition dreier Jahrhunderte gesegnete "Politik des Friedens" fortzusetzen, sondern das Volk der "bürgerlichen Demokratie und Freiheit" würde widerstandslos das Opfer seines russischen Verbündeten werden. Es war eine verzweifelte Sache für Frankreich, daß England im Begriff war, sich von dem "mächtigen Block der Staaten" zu distanzieren.

  Haltung Großbritanniens  

Gewiß darf man auch Simon glauben, wenn er meinte, daß [172] für ganz Europa die deutsche Mitteilung vom Sonnabend (16. März) wie ein schwerer Schock gekommen sei. Am schwersten jedoch fühlte sich die pazifistische Arbeiterpartei enttäuscht. Ihr Sprecher Lord Lansbury erklärte am 21. März im Unterhaus folgendes: Die Nachrichten über die Ereignisse in Deutschland hätten in England eine solche seelische Erschütterung verursacht, daß sie nur mit den Geschehnissen im August 1914 verglichen werden könnten. Die Mentalität in England und im Ausland sei die Mentalität des Krieges. Es sei Englands zwingende Pflicht, einen entscheidenden Schritt zur Rettung der Zivilisation zu tun. Lansbury verlangte Internationalisierung aller Verkehrsluftlinien der Welt, um die Gefahr eines Luftkrieges zu beseitigen, verlangte, daß Simon in Berlin nicht die deutsche Aufrüstung anerkennen solle, sondern erklären müsse, daß der Sinn der englischen Friedens- und Paktpolitik nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung sei.

Trotz aller Enttäuschungen, Überraschungen und inneren Gegensätze innerhalb großer Teile des Volkes waren die Engländer aber nach wie vor ehrlich bereit, sich mit Deutschland zu vergleichen. Sir John Simon selbst tat das Menschenmögliche, um Frankreich und Deutschland zu nähern. War er auf den französischen Plan einer vorbereitenden, englisch-französisch-italischen Besprechung in Paris vor dem Berliner Besuch eingegangen, so begrüßte er es in seiner Unterhausrede vom 21. März, wenn im Anschluß an die geplanten Besprechungen in Paris, Berlin, Moskau, Warschau, Prag weitere Unterhaltungen stattfinden würden, an denen auch Deutschland teilnehmen würde. Damit verdiente er sich allerdings nicht Dank der Franzosen. Echo de Paris schrieb, Sir John Simon versuche nichts mehr und nichts weniger, als Frankreich zum Viererpakt zurückzuführen, indem er der Hoffnung Ausdruck gebe, daß Deutschland an der zweiten beabsichtigten Konferenz in Stresa teilnehme; das sei unannehmbar. Das war natürlich übertrieben, denn Simon wollte nicht eine geplante Dreierbesprechung in London oder Stresa nach dem Berliner Besuch in eine Viermächtekonferenz umwandeln, sondern er hielt es für nützlich, wenn die vorhergehenden Besprechungen erfolgreich gewesen seien, eine Aussprache unter allen am Sicher- [173] heitsproblem interessierten Mächten, auch Deutschland, stattfinden zu lassen.

Am 23. März vormittags traf Eden in Paris ein, um mit Laval und Staatssekretär Suvich die Lage zu besprechen. Der Engländer vermochte gegenüber Frankreich seinen Willen durchzusetzen, die zweite Konferenz, in Stresa, bis zum 11. April hinauszuschieben. So gewann England Zeit für die Besuche in Warschau, Moskau, Prag und für eine Aussprache im englischen Unterhaus vor dieser Konferenz. Dagegen lehnten Laval und Suvich Edens Wunsch, Simons Vollmachten für Berlin zu erweitern, ab. Wahrscheinlich wollte Eden die Zustimmung Frankreichs dazu haben, unter Umständen den deutschen Entschluß vom 16. März als Verhandlungsgrundlage anerkennen zu dürfen, ein maßgebender Teil des englischen Volkes hätte dies, wie sich gleich zeigen wird, als durchaus annehmbar empfunden. Aber gerade das lehnte Laval rundweg ab und zog sich auf Teil V des Versailler Vertrages zurück, indem er gemeinsam mit Italien als Ausgleich für die industrielle Überlegenheit Deutschlands einen entsprechenden und dauernden Rüstungsvorsprung vor Deutschland forderte. Nach Abreise des Engländers soll Laval, laut Oeuvre, in einer Ansprache geäußert haben, die Engländer würden feststellen, ob Deutschland entschlossen und endgültig dem Frieden den Rücken kehren wolle, oder ob eine Hoffnung bestehe, daß es wieder in das europäische Konzert zurückkehre; sicher sei, daß Frankreich und England über die Friedenspolitik einig seien; Laval setzte große Hoffnungen auf die Freundschaft Mussolinis. (Siehe Anlage 17.)

  Die Briten in Berlin  

2.

Am späten Nachmittag des 24. März trafen Sir Simon und Eden im Flugzeug auf dem Berliner Zentralflughafen ein. Sie wurden herzlich und ehrenvoll empfangen. Mit dem englischen Botschafter Sir Phipps waren Neurath und Ribbentrop [174] zur Begrüßung erschienen, der erste Sturm der Leibstandarte Adolf Hitler, die "hundert lebendigen Wahrzeichen einer einseitigen Revision von Verträgen", wie die Times meinten, erwiesen den Engländern die Ehrenbezeugung. Zu beiden Seiten der Straßen standen Tausende und aber Tausende begeisterter Menschen, die den Engländern zujubelten und zeigten, wie groß das Vertrauen der Deutschen auf den ehrlichen und gemeinsamen Friedenswillen beider Nationen war.

Die Augen der Welt waren nach Berlin gerichtet. Vor seiner Abreise auf dem Londoner Flugplatz Croydon hatte Simon erklärt, er erwarte keine plötzlichen Ergebnisse, dazu seien die Probleme zu umfangreich und zu schwierig. "Wir werden aber mit dem Einsatz aller Kräfte um unser Ziel kämpfen. Unser aller Ziel ist: Friede auf Erden und guter Wille unter den Menschen."

Die Sonntagspresse Londons sprach von Simons "großer Mission". Der Observer schrieb, Deutschland habe jetzt zwischen Isolierung und kollektiver Sicherheit zu wählen; Deutschland fühle sich stark; sein Vorgehen vom 16. März habe jede Gefahr eines diplomatischen Kuhhandels, den Hitler verabscheue, beseitigt. Garvin wies darauf hin, daß die nationale Wehrpflicht tief im nationalen Leben Deutschlands wurzele und daß ein Aufgeben dieser jetzt wiederhergestellten stolzen Überlieferung nicht in Frage komme. Es könne kein gesünderes System eines vereinbarten Friedens in Europa geben ohne die Anerkennung der absoluten Gleichberechtigung Deutschlands unter den Großmächten. Daraus folge, daß die allgemeine Wehrpflicht ebenso berechtigt und unvermeidlich sei im Dritten Reiche wie in Frankreich, Italien, Rußland und Japan. Evening News umriß das Ziel der Simon-Reise in folgenden bündigen Worten:

      "Er geht nach Berlin, um Herrn Hitler zu sagen: Vergiß all diesen Quatsch von wegen Gleichberechtigung und Versailler Vertrag. Wieviel Prozent soll deine Armee, Flotte und Luftmacht betragen gegenüber den Armeen Frankreichs, Englands, Italiens, Rußlands usw.? Ebenso: was sind deine Bedingungen für deine Rückkehr nach Genf und die Unterzeichnung von einem oder mehreren gegenseitigen Assistenzpakten?"

Die Times versicherten, daß die [175] englischen Minister die Unterstützung der ganzen Nation hinter sich hätten, daß es Großbritanniens einziges Ziel sei, einander widersprechende Interessen zu versöhnen und ein zuverlässiges Friedenssystem zu schaffen; die Zusammenkunft in Stresa sei eine Höflichkeit gegenüber den beiden anderen Regierungen, man dürfe hoffen, daß dort nichts geschehen werde, was der Zusammenkunft ein antideutsches Gesicht geben könnte; die britische Regierung sollte eigene Politik treiben.

Das englische Volk in seiner Gesamtheit begleitete Simon mit seinen besten Wünschen nach Berlin. Volk und Regierung waren einig darin, Europa zu befrieden, indem man Deutschland gewann.

Zwei Tage, den 25. und 26. März, saßen Adolf Hitler, Neurath, Ribbentrop und Staatssekretär von Bülow sowie die drei Engländer, Simon, Eden und Phipps in schwerwiegender Aussprache zusammen. Es scheint, daß in diesen Unterhaltungen die Neuordnung des deutschen Wehrwesens vom 16. März nicht die Hauptrolle gespielt hat. Gegenstand der offenen Aussprache zwischen den beiden Mächten, die sich als durchaus gleichberechtigt gegenüberstanden, bildeten die fünf Punkte des Londoner Kommuniqués vom 3. Februar: Abrüstungsfrage, Ostpakt, Donaupakt, Deutschlands Rückkehr nach Genf und der Luftpakt für Mittel- und Westeuropa. Über allen Erörterungen stand der feste und aufrichtige Wille der Deutschen, eine wirkliche und dauerhafte Verständigung mit Frankreich herbeizuführen.

Die Engländer hatten eine ungeheuer wertvolle Gelegenheit, den Führer des neuen Deutschland und seinen politischen Willen jetzt unmittelbar kennen zu lernen.

Völlige Übereinstimmung zwischen Deutschen und Engländern wurde, wie man in London feststellte, allein in den Fragen der Rüstungsbegrenzung und des Luftpaktes erzielt. Der Eindruck der Engländer war dieser: Der Führer war bereit, nachdem Deutschland durch den Schritt vom 16. März das notwendige Verhältnis seiner Wehrkraft zu seinen Nachbarn gewonnen hatte, eine allgemeine proportionale Verminderung des Rüstungsstandes zu erörtern; er war ferner bereit, auf alle Waffen zu verzichten, die auch die anderen Staaten abzu- [176] schaffen bereit seien; er hielt es für durchaus möglich, daß allgemein auf schwere Tanks und Geschütze mit mehr als 30 Kilometer Reichweite verzichtet würde; auch mit einer internationalen Aufsicht über die nationalen Rüstungen war Adolf Hitler einverstanden. Außerdem legte er die durchaus maßvollen Flottenforderungen Deutschlands klar. (Times, 4. April 1935.) Schließlich erklärte er den Engländern, daß Deutschland in der Luft die Gleichheit mit England erreicht habe (Simon im Unterhaus, 3. April 1935), und daß er sofort bereit sei, für Westeuropa einen Luftpakt abzuschließen. Das alles waren schon wesentliche Übereinstimmungen in wichtigen Punkten. Allerdings über die Einzelheiten der Verhandlungen über die anderen Punkte – Ostpakt, Donaupakt, Völkerbund – wurde zunächst in der Öffentlichkeit noch Stillschweigen bewahrt. Daher kam es, daß hier und da in der Presse phantastische Meldungen auftauchten, wie z. B., daß der Führer die Rückgabe des Korridors und die Angliederung der deutschsprachigen Gebiete der Tschechoslowakei gefordert habe. Solche Gedanken irrten weit ab.

Die nachträglichen Veröffentlichungen lassen aber gewisse Teile der Verhandlungen über die Pakte erkennen. Danach hielt der Führer (vgl. Anlagen 22 und 23) nach wie vor an seiner Ablehnung des von Frankreich vorgeschlagenen Ostpaktes fest, weil er in der beabsichtigten gegenseitigen Beistandsverpflichtung nicht eine Erhöhung der Friedensgarantie, sondern vielmehr eine Erhöhung der Kriegsgefahr erblickte. Insbesondere wies der Führer in diesem Zusammenhange auf die Schwierigkeit hin, den Angreifer zu bestimmen. Demgegenüber bot Adolf Hitler erneut Nichtangriffspakte mit seinen Nachbarn an, ja, er war auch einem kollektiven Sicherheitspakt, wie ihn die Engländer wünschten, nicht abgeneigt, vorausgesetzt, daß er sich auf Nichtangriff, Schiedsverfahren und Konsultation gründe (vgl. Anlage 22). Jedoch war der Führer nicht bereit, Litauen in dieses System einzubeziehen. Dann fragte Simon den Führer, wie er über die Teilnahme an einem Sicherheitspakt denke, falls die eine oder die andere Gruppe der Paktteilnehmer unter sich ein Abkommen gegenseitiger Unterstützung abschließe; der Engländer hatte hier [177] die französisch-russische Verbindung im Auge. Hitler erwiderte, daß seiner Meinung nach dieser Gedanke sehr gefährlich und anfechtbar sei, da er darauf hinauslaufen würde, Sonderinteressen einer Gruppe im Rahmen des weiteren Systems zu schaffen; er ließ aber durchblicken, daß das Bestehen solcher Beistandsvereinbarungen das Reich nicht hindern würde, Nichtangriffspakte auf der von deutscher Seite gezeichneten Basis abzuschließen. Aus alledem gewannen die Engländer die Überzeugung, daß der für den Fall des Scheiterns des Ostpaktes angekündigte französisch-russische Beistandspakt zwar kein Hinderungsgrund für das deutsche System der Nichtangriffspakte sein würde, daß aber die von Frankreich angeregte Ostpaktidee endgültig aufgegeben werden mußte.

Über den im römischen Protokoll vom 6. Januar 1935 fixierten mitteleuropäischen Pakt meinte der Führer, daß er dessen Notwendigkeit nicht einsehe; auch sei es schwierig, den Begriff der äußeren "Nichteinmischung" zu bestimmen und von "inneren Erhebungen" klar zu trennen. Wenn aber die andern Regierungen einen solchen Pakt wünschen, sei das Reich nicht abgeneigt, diese Frage näher zu prüfen. Bezüglich des Völkerbundes erklärte der Führer den Engländern, daß Deutschland nicht gewillt sei, ihm anzugehören, wenn es ein "Land mittleren Rechtes" bleiben solle; das Reich befinde sich aber solange in untergeordneter Stellung, als es z. B. keine Kolonien besitze.

John Simon erklärte einem Berichterstatter der Mitteldeutschen Nationalzeitung, er persönlich sei mit dem in Berlin Erreichten zufrieden; in Wirklichkeit hätte er auch nicht mehr erwartet, ja sogar Zweifel gehabt, die Verhandlungen in zwei Tagen soweit vorwärts bringen zu können; daß dies möglich gewesen, sei in erster Linie der freundschaftlichen Art und Weise des Führers zu danken. Am 28. März im Unterhaus war er etwas kühler:

      "Ein beträchtliches Abweichen der Meinungen zwischen den beiden Regierungen trat bei den Besprechungen zutage. Aber das Ergebnis der Zusammenkunft war insofern zweifellos wertvoll, als beide Seiten in der Lage waren, ihre diesbezüglichen Standpunkte klar zu verstehen, ein Prozeß, der für jeden weiteren Fortschritt unerläßlich ist."

[178] Am gleichen Tage schrieben die Times: Hitler hätte in Ausführungen, die sachlich und menschlich stärksten Eindruck auf Simon und Eden gemacht hätten, dargelegt, daß es für Deutschland unmöglich sei, mit den "Champions des Kommunismus" zusammenzuarbeiten.

Der Gewinn der Berliner Reise bestand für die Engländer zwar nicht in irgendwelchen realen Erfolgen, sondern in zwei sehr wertvollen Erkenntnissen: zunächst wußten sie nun, daß das Reich wieder eine große Macht geworden war, mit der und mit deren politischen Zielen die andern Mächte zu rechnen hatten, was sie seit zwanzig Jahren nicht mehr getan hatten. Sodann hatten sie aus dem Munde eines Mannes auf Grund seines eigenen, unmittelbaren, anderthalb Jahrzehnte währenden Kampfes vernommen, welche Weltgefahr der Bolschewismus ist und welche solidarischen Verpflichtungen aus dieser Tatsache sich für die Völker Europas und ihre internationale Zusammenarbeit ergeben (vgl. Anlage 18). Gerade dies zweite war wesentlich; denn in London waren die Engländer in diesem Punkte nur gar zu gern geneigt, Hitlers Warnungen als übertrieben zu bezeichnen.

Simons Abreise aus Berlin.
[Bd. 9 S. 112a]      Sir John Simon verabschiedet sich von Freiherr von Neurath
auf dem Tempelhofer Flughafen zu Berlin.
      Photo Scherl.

3.

Gewiß, Simon war scheinbar mit leeren Händen zurückgekehrt. Die französische Partei in London beeilte sich, das ganze Unternehmen Simons als verfehlt und gescheitert hinzustellen und nun lauter denn zuvor ein enges Zusammengehen Englands mit seinen früheren Alliierten in gemeinsamer Front gegen Deutschland zu befürworten. Aber sie blieben in der Minderheit, die dieses wollten. Die Mehrheit des englischen Volkes hatte große Zuversicht für die Zukunft, auch wenn die Hoffnungen auf den Völkerbund und auf den Ostpakt gescheitert waren. Obwohl die in Berlin offenbar gewordene Abweichung der Meinungen es unmöglich erscheinen ließ, Deutsch- [179] land in absehbarer Zeit in den Völkerbund und in ein System der Kollektivsicherheit nach französischem Wunsche hineinzuziehen, bezeichneten die englischen Minister Simons Berliner Reise als außerordentlich nützlich und wertvoll; sie planten, nach der Konferenz von Stresa eine Konferenz nach London einzuberufen, zu der auch Deutschland eingeladen werden sollte. Die Times meinten, die Berliner Ergebnisse könnten für Europa nur dann von Segen sein, wenn sie in Stresa mit Achtung, gutem Willen und Aufrichtigkeit aufgenommen und weiterbehandelt würden. – Das ist die welthistorische Bedeutung der Berliner Märztage: Adolf Hitler hatte es in Englands Hand gegeben, zum Künder und Vermittler eines neuen Friedenswillens vor den Völkern zu werden auf einer Grundlage, die frei von bolschewistischen Giftkeimen war. Bei England lag es nun, ob es jetzt diesen Weg gehen oder zu jenem Zustand der Unruhe, der Furcht, des Mißtrauens zurückkehren wollte, der mit dem Weltkrieg begann und in Versailles und Genf sich fortsetzte. –

  Enttäuschung in Frankreich  

Daß es mit dem Ostpakt nun nichts mehr werden würde, darüber mußte jetzt auch der letzte Zweifel fallen. In Frankreich verbreiteten sich Unruhe und Argwohn. Laval mußte schwere Vorwürfe ertragen. Die Einführung der Wehrpflicht in Deutschland, die englische Note und die schwächliche Äußerung der französischen Regierung habe eine üble diplomatische Lage geschaffen; was sich da anbahne, könne Frankreich seine Bündnisse und Freundschaften kosten; der Chef einer verbündeten Regierung habe in Paris bereits zu verstehen gegeben, daß es ihm schwer fallen würde, einen außenpolitischen Kurswechsel zu vermeiden, wenn Frankreich immer wieder versage, teilte Echo de Paris am 25. März seinen Lesern mit. Einige Tage später spöttelte die Pariser Presse, nachdem sie die beruhigende Tatsache, daß die Berliner Besprechungen nur informatorischen Charakter besessen hätten, betont hatte, die Engländer hätten Hitler ein Friedenspatent ausgestellt. D'Ormesson meinte im Figaro, als Kennwort für die deutsch-englische Zusammenkunft könne man "Deutschland gegen Rußland" wählen.

Die in Frankreich um sich greifende Stimmung könnte man [180] als panikartige Trostlosigkeit bezeichnen. Franklin-Bouillon hielt am 28. März im Parlament wieder eine seiner wilden Reden: Deutschland habe Europa den Krieg erklärt, es bestehe die gleiche Kriegsgefahr wie 1914, die Kammer dürfe nicht in die Ferien gehen. Die Wogen der inneren Erregung, die durch die Drahtzieher des Antifaschismus heftig geschürt wurde, gingen so hoch, daß selbst Ministerpräsident Flandin voll schwerer Sorge war! Er sprach die außerordentlich bezeichnenden Worte: Angesichts der gegenwärtigen Lage lege die Regierung Wert darauf, daß die Abgeordneten und Senatoren sich in ihre Wahlkreise begäben und dort zu Ruhe und Besonnenheit mahnten(!). Wenn die Dinge ernster würden und die Zusammenberufung des Parlaments nötig werde, werde die Regierung ihre Pflicht tun. Trotzdem wurde in dieser stürmischen Sitzung der Antrag auf Parlamentsferien bis 28. Mai mit 382 gegen 238 Stimmen abgelehnt. Die Antifaschisten mißtrauten der Regierung.

Wie die "beruhigende" Tätigkeit der Minister selbst aussah, dafür zwei Beispiele.

• Am letzten Märztage behauptete Staatsminister Herriot in einer Rede zu Lyon, das republikanische Frankreich sei Gegenstand eines zunehmenden Hetzfeldzuges in Deutschland, das versucht habe, die Alliierten des großen Krieges, welche die "Freunde des Friedens" geblieben seien, zu trennen. Trotz der Enttäuschung über die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland wolle er keine aggressiven Worte gegen Deutschland richten. Es sei Herr seines Geschickes. Wenn es scheinbar zu einer Zusammenarbeit nicht bereit sei, könne es Frankreich nicht daran hindern, sich daran zu beteiligen. Die beste Lösung sei, wenn sich Deutschland an der internationalen Zusammenarbeit beteilige.

• Tags zuvor hatte Kriegsminister General Maurin bedauert, daß Frankreich seit Kriegende schwach geworden sei und nicht genug für seine materielle Kriegsvorbereitung gesorgt habe!


[181]

  Eden in Osteuropa  

4.

Eden setzte die "Erkundungs- und Anfragebesuche", wie sich Simon am 28. März im Unterhaus ausdrückte, fort. In den letzten Märztagen weilte er in Moskau. In Frankreich stieg das Barometer der Hoffnung. Im Mittelpunkt der Verhandlungen stand der Ostpakt. Eden lehnte allerdings den russischen Druck ab, in dem amtlichen Kommuniqué ein Versprechen der britischen Regierung auszudrücken, daß Großbritannien eine Haltung unzweideutigen Wohlwollens gegenüber einem östlichen Sicherheitssystem einnehme, das ohne Deutschland abgeschlossen werde, aber jederzeit dessen Beitritt ermögliche. Lange, aber vergeblich, bemühten sich die Russen, dies Zugeständnis zu erlangen, um schließlich festzustellen, daß man bei fernerer Weigerung Deutschlands sich dann mit einem gegenseitigen Unterstützungspakt Frankreich-Rußland-Tschechoslowakei begnügen müsse. Im Laufe der Besprechungen enthüllte Stalin dem Engländer seine schweren Kriegsbesorgnisse; 1914, so sagte er, habe das Ausdehnungsbedürfnis nur einer Nation die Kriegsgefahr heraufbeschworen, 1935 aber werde die Kriegsgefahr durch das Ausdehnungsstreben zweier Nationen begründet: Deutschlands und Japans; die Entscheidung liege bei dem "kleinen" England. Eden versicherte dem schreckhaften roten Imperator, daß England für den Frieden sei, wobei er die Frage der kommunistischen Propaganda absichtlich in den Hintergrund treten ließ. (Vergl. Anlage 19.)

In Warschau weilte Eden die ersten drei Tage des April. In Unterredungen mit dem polnischen Außenminister Oberst Beck und Marschall Pilsudski konnte der Engländer feststellen, daß in Warschau nach wie vor eine entschiedene Abneigung gegen den Ostpakt bestand. Jedoch schlug Eden dem Marschall Abänderungen vor, die Polen den Beitritt erleichtern sollten, so vor allem die Forderung, daß bei jeglicher Beschlußfassung Einstimmigkeit herrschen sollte – einen Vorschlag, den zur gleichen Zeit die britische Regierung in Paris machte. (Vgl. Anlage 20.) Mit seinem Besuch in Prag am 4. April beendete Eden seine Rundreise. Was in Prag verhandelt worden ist, ist zur Zeit unbekannt. Die amtliche Mitteilung darüber, die [182] bereits für Moskau und Warschau sphinxhaften Charakter trug, verdichtet sich hier zu völliger Undurchsichtigen. (Vgl. Anlage 21.) Die Times meldeten jedenfalls am 4. April, Eden habe feststellen können, daß die Tschechoslowakei für den Fall, daß Deutschland und Polen sich abseits halten sollten, entschlossen sei, den Ostpakt mit Frankreich und Sowjetrußland abzuschließen.

Das Ergebnis für Großbritannien aus den Tagen vom 25. März bis 4. April faßten die Times am 4. April in einem Leitartikel "Die Rolle Großbritanniens" folgendermaßen zusammen: Pilsudski scheine sehr deutlich gesagt zu haben, daß Polen nicht bereit sei, einem Pakt gegenseitigen Beistandes in Osteuropa beizutreten. Trotzdem habe man in Europa Polen nicht gleich als Gegner des Kollektivsystems gebrandmarkt. Deutschland aber habe man als solchen verurteilt, weil es dem Ostpakt widerspreche. Hitler sei zu zweiseitigen Pakten mit jedem Nachbarn, Litauen ausgenommen, bereit, worin sich die Unterzeichner verpflichten würden, dem Angreifer weder militärischen, noch wirtschaftlichen, noch finanziellen Beistand zu leisten. Der Angreifer würde also isoliert sein und kein Bündnis bekommen, so wie es auch die Völkerbundssatzung wolle. Gerade jetzt aber bestehe die Gefahr, daß etwas geschaffen werde, was aussehe wie kollektive Sicherheit (Edens Feststellungen in Prag!), was aber unvermeidlich zu einem System feindlicher Blocks und einem unsicheren Gleichgewicht der Mächte entarten würde. England stehe selbstverständlich bei den Ländern, die bereit seien, sofort und rückhaltlos seine Ideen zu teilen. Bisher sei viel zu viel Nachdruck auf die negative Seite der Erklärungen Hitlers gegenüber Simon gelegt worden; die positiven Seiten seien viel zu wenig gewürdigt. (Und hier macht die große englische Zeitung jene Angaben über die Berliner Gespräche, die bereits oben wiedergegeben sind.)

Die Times erkannten als das Ergebnis der englischen Ermittlungen die Annäherung an Deutschland. Die marxistische Presse allerdings sah sich genötigt, gegen Deutschland zu hetzen und schwere Verleumdungen auszustreuen.


[183]
5.

Inzwischen unternahm die englische Regierung noch einen Versuch, den Ostpakt zu retten; sie hoffte, durch den Einbau eines Sicherheitsventils doch noch den Führer oder wenigstens Polen zu gewinnen. Ende März schlug sie in Paris vor, dem Ostpakt einen ähnlichen Charakter zu geben wie dem Völkerbundspakt, d. h. für alle Unterzeichner die Einstimmigkeit vor irgendwelchen Entscheidungen oder Schritten festzusetzen. So könne der Pakt allgemeine Anerkennung finden.

  Französisch-russischer  
Beistandspakt

Die Franzosen sahen schließlich auch ein, daß der Ostpakt in seiner Urform nicht allgemein durchführbar war. Sie machten natürlich dafür die "Unnachgiebigkeit der Reichsregierung" verantwortlich, während "Rußlands friedliche Absichten" außer Zweifel standen! Den englischen Vorschlag ignorierten sie. Dafür tauchte Anfang April in Paris der Gedanke auf, das ursprünglich regional gedachte Abkommen in ein europäisches umzuwandeln und die ursprüngliche Beistandsverpflichtung auf Nichtangriff, Nichtunterstützung des Angreifers und Konsultation zu beschränken, es sollte jedem Unterzeichner freigestellt werden, mit anderen Partnern Beistandspakte abzuschließen; man glaubte, diese Tarnung französischer Bündnisabsichten mit Hitlerschen Gedanken würde den polnischen und möglicherweise auch den deutschen Wünschen besser entsprechen. Jedoch trat hierbei unausgesprochen die Idee des französisch-sowjetrussisch-tschechoslowakischen Bündnisses, gewissermaßen der kleine Ostpakt, dessen eindeutiger Kern die militärische Allianz gegen Deutschland war, in den Vordergrund. Bereits Anfang April waren die Verhandlungen zwischen Paris und Moskau soweit gediehen, daß der Abschluß eines Bündnisses als nahe bevorstehend betrachtet wurde. Besonders die Engländer interessierten sich für die "Allianz im neuen Stil" (Times), durch die offensichtlich der Völkerbund beiseitegeschoben wurde. Wenn auch das britische Volk mit mißtrauischen Augen diese französisch-russische Verbindung betrachtete, dann glaubte doch die britische Regierung auf Grund der Erklärung Hitlers, daß ein solcher Pakt zwar bedenklich, aber kein Hindernis für einen deutschen Nicht- [184] angriffspakt sei, in Stresa keinen Widerspruch hiergegen erheben zu sollen. Die "formelle Billigung" Großbritanniens (Flandin 25. 2. 1936) gab Frankreich in Stresa Mitte April jegliche Handlungsfreiheit in bezug auf den Russenpakt.

Nun gerieten zwar die französisch-sowjetrussischen Verhandlungen in dieser Zeit etwas ins Stocken, weil Litwinow Frankreich zu automatischer Hilfeleistung im Falle eines flagranten Angriffs zu zwingen suchte. Außerdem forderte Laval von den Russen das Versprechen, daß die kommunistische Propaganda in Frankreich und seinen Kolonien eingestellt und nicht mehr von den Russen unterstützt werde. Es war überhaupt merkwürdig zu sehen, wie die französische Regierung innerpolitisch in erbitterter Fehde mit den Kommunisten lag, außenpolitisch aber die Freundschaft der Bolschewiken suchte. Da nun beide Staaten ein starkes Interesse am Zustandekommen des Vertrages hatten, insonderheit Rußland aber aus Unruhe über polnisch-italische Besprechungen in Venedig stürmisch in Paris auf Abschluß drängte, gab Laval schließlich trotz der scharf ablehnenden Haltung eines großen Teiles der französischen Öffentlichkeit nach, indem er die automatische Hilfeleistung zugestand und die Hemmung der kommunistischen Propaganda in Frankreich durch einen in Zukunft geplanten "Pakt der moralischen Abrüstung" zu erreichen hoffte. Es war ein "Kompromiß" auf Frankreichs Kosten! Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes! Denn die Sowjetregierung forderte nebenbei von Frankreich eine Viermilliardenanleihe zur Neuorganisierung des verlotterten Sowjeteisenbahnwesens. Der Pariser Ministerrat fand das allerdings zu teuer, er beschnitt die Summe sehr erheblich. (Vgl. Anl. 29.)

So kam dann am 2. Mai 1935 zu Paris der französisch-russische Beistandspakt automatischer Hilfeleistung zustande, der den Schwebezustand des russischen Interims vom November 1934 beseitigte, allerdings auch den damaligen russischen Vorschlag sehr zu Frankreichs Gunsten abwandelte. Die geheimen militärischen Bestimmungen des Vertrages vom November 1934 wurden in Geheimklauseln zum Beistandspakt ergänzt und vervollkommnet durch entsprechende Abmachungen mit Rumänien, das den Russen im Konfliktsfalle Durch- [185] marschrecht durch Bessarabien zugestanden hat, und mit der Tschechoslowakei, die sich anschickte, 50 neue Flughäfen zu bauen, um im "Konfliktfalle" sowjetrussische Fluggeschwader aufzunehmen. Für Rußland hatte der Vertrag formell den Wert, den der Locarnopakt für Frankreich besaß. Natürlich enthielt er für Rußland damit auch faktisch, trotz aller rechtlichen Ableugnungen, die Verpflichtung automatischen Eingreifens, sobald Frankreich meinte, eine Verletzung des Locarnopaktes feststellen zu müssen. Auf diese Weise hatte Frankreich das europäische Gefahrenmoment nicht nur durch Erweiterung der Gefahrenzone von Westen nach Osten, sondern auch durch Verflechtung des Bolschewismus in interne Auseinandersetzungen des europäischen Staatensystems wesentlich erhöht. Die Spitze gegen Deutschland ließ der Vertrag nicht nur in der stark betonten Berufung auf den Völkerbund, dessen Mitglied das Reich nicht war, erkennen, sondern auch in der ausdrücklich erwähnten Tatsache, daß er aus dem ursprünglich geplanten Ostpakt und seinem Nebenabkommen, welches Frankreich, Deutschland und Rußland zu gegenseitiger Hilfeleistung verpflichten sollte, hervorgegangen sei. Es wird in dem Vertrage gesagt, daß er nur in den früher vorgesehenen Grenzen angewandt werden sollte, also jetzt gegen das außenstehende Deutschland! Eines der Argumente, die Laval zehn Tage später in Warschau vorbrachte, bestand in der Erklärung, daß der Pakt für den Fall eines etwaigen Angriffs Deutschlands auf Rußland oder Frankreich unterzeichnet sei. Auch hier läßt sich die Rückwirkung auf den Locarnopakt unschwer erkennen: die französisch-russische Allianz tritt in Kraft, wenn Frankreich der Meinung sein sollte, daß der Locarnopakt durch Deutschland verletzt worden sei, er tritt nicht in Kraft, falls Belgien oder Frankreich ihn verletzten! (Siehe Anlage 25.)

In seiner Kammerrede vom 25. Februar 1936 sagte Flandin, die französische Regierung sei der Ansicht gewesen, daß der Beistand "nur in dem einzigen Falle wirksam" werden dürfe, in welchem Völkerbundssatzung und Locarnopakt seinen Unterzeichnern volle Handlungsfreiheit lasse. Laval und Litwinow seien weiter der Ansicht gewesen, daß der Beistand [186] nur im Rahmen des Völkerbundes wirksam werden solle; nichts im Wortlaut des Abkommens dürfe als im Widerspruch zur Völkerbundssatzung oder zu früher von den Vertragschließenden unterschriebenen Verpflichtungen ausgelegt werden; das Abkommen solle nicht als ein in sich abgeschlossenes diplomatisches Instrument, sondern müsse als erste Etappe der Organisierung der kollektiven Sicherheit in Osteuropa betrachtet werden. – Damit zog Flandin eine scharfe Grenze zwischen den Zuständigkeiten des Locarnopaktes und des Russenpaktes, dieser sollte "nur" im Falle eines deutsch-russischen Konfliktes wirksam werden. Dieselbe Ansicht machte sich auch die englische Regierung zu eigen, sie meinte, ein deutsch-russischer Konflikt könne nicht die Verpflichtungen des Locarnovertrages in Kraft setzen, und deshalb nahm sie Kenntnis vom französisch-russischen Beistandspakt, ohne Einspruch zu erheben.

Mal abgesehen von den juristischen Wortdeuteleien, mal abgesehen auch von den Erfahrungen, die Deutschland fünfzehn Jahre lang mit Genfer Vertragsauslegungen gemacht hatte, wäre es an sich und tatsächlich doch ein Bruch des Locarnopaktes, wenn Frankreich in das Rheinland einmarschieren würde, um Rußland beizustehen. Weil der Russenvertrag die Forderung des aktiven Beistandes enthält, deshalb verstößt er trotz aller Gutachten von Völkerrechtslehrern und Kronjuristen praktisch und politisch gegen den Locarnopakt. Und das war es, was Deutschland an der Sache interessierte. Diese willkürliche Verfügung über deutsches Land nach den politischen Interessen dritter Staaten mußte das Reich bereits als die Vorbereitung eines Angriffs auf seinen Bestand auffassen.

Französische
  Militärmaßnahmen  

Neben dieser auf Rußland gerichteten Tätigkeit forcierte die Regierung Frankreichs mit allen Kräften ihre militärischen Maßnahmen. Am 1. April nahm die Kammer ein Gesetz über den Aufbau der Luftflotte an, das eine Stärke des Luftheeres von 36 000 Mann und 1700 Offizieren vorsah. Nach Flandins Mitteilungen erforderte das Programm der Landesverteidigung für 1935 etwa 800 Millionen Franken (= 131 Millionen Mark), im folgenden Jahre 1 Milliarde (= 164 Mill. Mark) für die Luftwaffe; für Materialbeschaffung seien 4½ Milliarden Franken (= 738 Millionen Mark) nötig. Auch die Flotte sollte [187] durch Neubauten vergrößert werden. Man gedachte, bis 1939 hierfür 1100 Millionen Franken auszugeben.

Als Überleitungsmaßnahme für die beschlossene Verlängerung der Dienstzeit wurden 60 000 im April ausgediente Soldaten zwar nicht sechs, wie erst geplant, aber drei Monate länger, bis zum 14. Juli, unter den Fahnen behalten. Es wirft ein Licht auf den durch die bolschewistische Propaganda bereits zerrütteten Geist der Truppe, daß angesichts dieser Maßnahmen es beim 126. Infanterie-Regiment in Brive zu Zwischenfällen kam. Eine Kompanie veranstaltete dort mehrmals Kundgebungen, bei denen "Nieder mit der zweijährigen Dienstzeit! Nieder mit dem Krieg!" gerufen und die Internationale gesungen wurde. Gendarmerie und Mobilgarde mußten zusammengezogen, zahlreiche Soldaten mußten verhaftet werden.

Ende April untersagte der französische Ministerrat auf Veranlassung des Handelsministers vorübergehend die Ausfuhr von gewissen, für die Landesverteidigung wichtigen Rohstoffen, vor allem von Magnesium, Baumwollabfällen und Holz für Gewehrschäfte.

Von Ende März an den ganzen April über wurden Regimenter aus dem Süden und Westen an die Nordostgrenze verlegt. Die "Grenzen wurden geschützt". Im Zuge dieser Truppenverschiebungen wurden Regimenter von Marokkanern und Senegalnegern nach dem Oberelsaß geschickt.

Fast täglich traten Kabinett, Armeeführung und Heeresausschuß der Kammer zu geheimen Besprechungen zusammen. Es blieb nicht aus, daß infolge von Indiskretionen gewisse Dinge ans Licht der Öffentlichkeit kamen. So teilte der Kriegsminister Anfang April mit, daß zwischen den Generalstäben Frankreichs, Sowjetrußlands, der Tschechoslowakei und Italiens Abkommen bestünden. Es wurde gesagt, daß im Kriegsfalle Sowjetrußlands Flugwaffe Frankreich sofort Hilfe leisten würde. (Bemerkungen übrigens, die ihren Sinn erst aus den geheimnisvollen Novembergesprächen erhalten.) Es wurde auch behauptet, daß im Falle eines deutsch-französischen Krieges die französischen Truppen freien Durchmarsch durch Belgien haben sollten. Allerdings stellte am 11. April in der belgischen [188] Kammer der belgische Kriegsminister Devèze ein Abkommen dieses Inhaltes in Abrede.

Es war erstaunlich, wieviele vergebliche Mühe man sich in Frankreich machte, um die eingebildete deutsche Gefahr abzuwehren! –

  Frankreich und Italien  

6.

In jener Zeit war Italien der Bundesgenosse Frankreichs. Der Duce gehörte in den Monaten Anfang 1934, da die Abrüstungskonferenz im Sterben lag, zu den Staatsmännern, die sich energisch für Deutschlands Aufrüstung in gewissen Grenzen einsetzten. Im Juni 1934 weilte der Führer bei Mussolini in Venedig, und es schien, als bahne sich zwischen beiden Männern ein engeres Verhältnis der Freundschaft an. Da kam der österreichische Putsch von Ende Juli 1934. Von dieser Zeit an herrschte in Italien eine starke Verstimmung gegen das Reich, infolge der irrigen Auffassung, daß die deutschen Nationalsozialisten in Österreich Verwirrung stiften wollten, um das Land dem Reiche besser und schneller angliedern zu können. In Österreich selbst bestanden erhebliche Spannungen zwischen Heimwehr und Nationalsozialismus, und Mussolini glaubte, seinen Sympathien für die Heimwehr durch einen entsprechenden Gegensatz zum Nationalsozialismus besser Nachdruck geben zu können.

Durch die römischen Vereinbarungen vom Januar 1935 fand das in der zweiten Hälfte 1934 geformte europäische Verhältnis Mussolinis seinen festen Ausdruck. Die italisch-französische Verbindung beruhte auf dem Grundsätze der Wechselseitigkeit: Frankreich gab Ostafrika preis, Mussolini zog sich von der Donau zurück, jedoch nicht ohne weiterhin ein wachsames Auge darauf zu haben, daß nicht etwa die Klerikalen oder die Nationalsozialisten den Vizekanzler und Heimwehrführer Starhemberg aus dem Sattel heben könnten. Unter dem Gesichtswinkel der Gefahr für Österreich betrachtete der [189] italische Regierungschef seit den Januarprotokollen die deutsche Rüstungsfrage: er, der vorher hierin einen von Frankreich abweichenden Standpunkt eingenommen hatte, stimmte jetzt bei, daß eine einteilige Abänderung der deutschen Wehrbestimmungen aus dem Versailler Vertrag nicht statthaft sei. In Übereinstimmung mit Frankreich legte er am 21. März in Berlin einen scharfen Protest gegen die Wiederherstellung der deutschen Wehrhoheit ein.

Es war rührend zu sehen, wie Frankreich alles tat, um die Gunst Mussolinis zu erhalten. Ende März verbreitete sich das Gerücht, Frankreich wolle im Rahmen der römischen Abmachungen für 75 Millionen Pfund die Insel Madagaskar an Italien verkaufen. Die Pariser Zeitungen befürworteten es, daß der Duce Abessinien seinem Reiche einverleibe. Sie scheuten nicht zurück, zu sagen, Deutschland liefere Waffen und Hunderte von Tanks an den Negus und stehe hinter ihm, wie es einst hinter Abd-el-Krim gestanden habe. Zu diesem Märchen fügten sie das andere, Mussolini habe sich von Deutschland abgewandt, weil in Venedig ihm der Führer kriegerische Gewaltpläne entwickelt hätte! Sie appellierten an den Stolz und das Selbstbewußtsein Italiens, indem sie verkündeten, Mussolini sei der einzige, vor dem sich Deutschland fürchte. All das erschien in den italischen Zeitungen wieder, erfüllte den einfachen Mann wie den Wirtschaftsführer und den Gelehrten mit großem Selbstbewußtsein, und so wurde der Boden gefestigt, auf dem der Duce Politik machte.

Ende März zog Mussolini "zur Vorsicht" die ganze Jahresklasse 1911 ein. Auf die Unsicherheit der internationalen Lage hinweisend brachte er die italische Armee von 160 000 auf rund 600 000 Mann in der ersten Aprilhälfte! Der Staatssekretär im Kriegsministerium, General Baistrocchi, erklärte am 29. März im italischen Senat, niemand könne voraussehen, ob ein Krieg ausbreche; man könne aber behaupten, daß er fast plötzlich, nach wenigen Tagen politischer Spannung, ausbrechen würde; deshalb dürfe man nicht die Initiative des Angriffs verlieren, das Gesetz des Handelns dem Gegner überlassen, man müsse also gerüstet sein.

      "Im April werden wir rund 600 000 Mann unter den Waffen haben, die vollkommen [190] ausgerüstet und in geschlossene Einheiten gegliedert sind. Wir sind für jede Aufgabe bereit, die uns das Schicksal stellen wird. Kein Ereignis wird uns unvorbereitet überraschen." –

Vor allem begann Italien mit besonderem Nachdruck sich dem Ausbau der Luftwaffe zuzuwenden. Das Finanzministerium legte Ende März eine Rüstungsanleihe von 148 Millionen Lire (etwa 50 Mill. RM.) auf, die "zur Entlastung der unter dem Schutze des Staates stehenden Unternehmen" verwandt werden sollten.

Es handelte sich bei allem um "Vorsichtsmaßnahmen". Es wäre irrig, dem Duce irgendwelche Angriffsabsichten zu unterstellen, aber die französische Kriegspsychose hatte sich nach Italien verbreitet, und Mussolini lebte in der Furcht, daß plötzlich die deutschen Regimenter nach Österreich vorbrechen und das Land besetzen könnten. Die im allgemeinen gut unterrichtete Außenpolitikerin des französischen Oeuvre schrieb sogar am 10. April, Mussolini habe vor einigen Tagen der Pariser Regierung ein französisch-italisches Militärbündnis zur Verteidigung Österreichs vorgeschlagen. Dies Bündnis habe mehr oder weniger bestimmte Versprechungen enthalten, worauf Rom mit der Kleinen Entente und mit dem Balkanbunde, also den Nachbarstaaten Österreichs, Militärabkommen schließen sollte.

Trotz alledem war Mussolini entschlossen, vorurteilslos nach Stresa zu gehen; hierin zeigte sich, wie er den Dingen überlegen war. Stresa sollte seinem Willen nach eine politische, nicht eine militärische Demonstration werden. Er wußte, daß ohne Deutschland in Europa kein dauernder Friede sein kann. Er wußte aber auch, daß die Idee der Abrüstung eine Utopie war. Diese beiden Erkenntnisse mußten irgendwie vereinigt werden. So sollte Stresa ein Pol europäischer Politik werden, dessen Wesenszug der Verzicht auf die gefährliche Abrüstungsutopie sein sollte (Popolo d'Italia, 2. IV.). Allerdings sollte auch die gemeinsame Front der drei Mächte auf der Grundlage des Londoner Kommuniqués vom 3. Februar hergestellt werden. Daneben wollte er die österreichische Unabhängigkeit sicherstellen und erwägen, ob nicht gewisse Friedensbedingungen der Verträge mit Österreich, Ungarn und Bulgarien ab- [191] geändert werden könnten. Popolo d'Italia brachte am 9. April eine offiziöse Erklärung für die Aufrüstung der drei Staaten. In einem anscheinend von Mussolini selbst stammenden Artikel des Popolo d'Italia, "Unser Plan" (11. April) äußerte er, von Stresa solle nicht der Krieg ausgehen und nichts beschlossen werden, was einen solchen in nächster Zeit unvermeidlich mache; natürlich könne Stresa nicht den ewigen Frieden sicherstellen; der Friede hänge vor allem von jemand ab, der nicht in Stresa teilnehme (Deutschland); man könne in Stresa nur allgemein beraten, denn die Lösung mancher grundlegender Fragen hänge von den Nichtanwesenden, Deutschland, Polen, Rußland, ab; Italiens Plan sei: "Bis zur Klärung des Horizontes Aufrechterhaltung einer ständigen Streitmacht von 600 000 Mann, Ausrüstung dieser Streitmacht mit den modernsten Waffen und Beschleunigung der Luft- und Seerüstungen."

  Stresa  

7.

Vom 11. bis 14. April 1935 fand die Dreimächtekonferenz in Stresa statt. Frankreich erschien mit der Absicht, eine feste Front mit klarer Spitze gegen Deutschland wieder herzustellen. Der Ostpakt trat in den Hintergrund; am Tage vor seiner Abreise legte Laval den Gesandten der Kleinen Entente und des Balkanpaktes die Grundzüge der geplanten französisch-russischen und tschechoslowakisch-russischen Beistandsabkommen dar. Italien hatte den Plan, zwar auch die Front der drei westlichen Mächte wieder zu festigen, aber doch Deutschland irgendwie zu behandeln, denn ohne Deutschland kein Friede in Europa. England wollte als ehrlicher Friedensmakler beileibe keine antideutschen Sonderallianzen, sondern wollte eine Formel finden, auf der die vier Großmächte zu gemeinsamer Friedensarbeit sich vereinigen konnten. Die britische Regierung bangte im stillen vor der Gefahr eines gegen Deutschland gerichteten französisch-italisch-sowjetrussischen Militärbündnisses, [192] wenn sich Großbritannien abseits hielte (News Chronicle). Ein Erfolg aber schien den Engländern nur auf der Grundlage des Völkerbundes möglich.

Es hatten sich versammelt MacDonald, Simon und Vansittart von englischer Seite, Mussolini, Suvich und Aloisi aus Italien, Flandin, gestärkt durch das Vertrauen, das ihm die Kammer am 2. April vor ihrer nun doch noch beschlossenen Vertagung bis zum 28. Mai mit 410 gegen 134 Stimmen ausgesprochen hatte, Laval und Loger als Vertreter Frankreichs. Sir John Simon bemühte sich, den Besprechungen von vornherein einen harmonischen Grundton zu geben; er führte aus:

Es werde ausdrücklich festgestellt, daß Großbritannien alles tun werde, um die Solidarität unter den drei Mächten zu stärken. Die leitende Idee der englischen Besuche in den Großstädten Europas sei nicht etwa gewesen, Deutschland glauben zu machen, daß die britische Regierung dem Schritt vom 16. März nicht widersprechen wolle, sondern festzustellen, ob noch irgendeine Hoffnung dafür vorhanden sei, daß Deutschland in ein gemeinsames System zurückkehren werde. Englands Richtlinie sei, ein kollektives Abkommen zur Sicherung des Friedens zu erreichen. England glaube, daß der Völkerbund geeignet sei, den Frieden zu organisieren, des weiteren müsse man ein bindendes internationales Rüstungs- – nicht Abrüstungs-! – abkommen erreichen.

Die englischen Darlegungen bewirkten, daß bereits am ersten Tage der Konferenz die Italier dem englischen Plane, eine neue Konferenz unter Beteiligung Deutschlands, Polens und Sowjetrußlands zu berufen, wohlwollend gegenüberstanden.

Am Vormittage des zweiten Verhandlungstages, dem 12. April, einigten sich die drei Regierungen, gemeinsam den französischen Antrag über die deutsche Aufrüstung vor dem Völkerbunde zu vertreten, es aber dem Völkerbundsrat zu überlassen, von sich aus den endgültigen Wortlaut der Entschließung festzulegen. Es handelte sich hier um einen französisch-italischen Kompromiß, dem sich die Engländer anschlossen. Im Laufe des Nachmittags machte dann Simon ergänzende Mitteilungen über Deutschlands Haltung in der Frage des Ostpaktes. Hierbei fragte Laval, wie sich Deutschland verhalten [193] werde, wenn andere Mächte als Deutschland als Teilnehmer dieses Paktes unter sich noch besondere Beistandsabkommen schließen sollten. Zur Zeit der französisch-russischen Paktverhandlungen war diese Frage die brennendste für Laval; er wollte für alle Fälle neben seinem Pakt mit Rußland die Tür für den Ostpakt offen halten. Scheinbar genügten ihm Simons Darlegungen nicht, denn dieser erbat von Stresa aus noch einmal telegraphisch in Berlin eine ausdrückliche Antwort auf diese Frage. Neurath erwiderte, Deutschland sehe eine derartige Möglichkeit immer noch als gefährlich an, sei aber dennoch bereit, an einem Vertrage teilzunehmen, auch wenn andere Staaten unter sich darüber hinausgehende Abkommen schließen sollten; Deutschland würde aber Wert darauf legen, daß seine eigene Mitteilung und die dieser andern Staaten in zwei verschiedenen Schriftstücken niedergelegt würden.

Damit war die Ungewißheit der Franzosen in diesem Punkte behoben. – Die Bahn für ihre Russenallianz war frei, da auch die Engländer keine Einwände dagegen erhoben. –

Betrachtet man das Endergebnis von Stresa (vgl. Anlage 26), dann bedeutete es einen unzweifelhaften Sieg der lateinischen Idee über den englischen Willen. Man griff auf das römische Protokoll und das Londoner Kommuniqué zurück, man verurteilte das "vertragsbrüchige" Deutschland und kündigte gleichsam durch die Blume Sanktionen an, und man versprach auf Vorschlag Mussolinis Österreich, Ungarn und Bulgarien Wehrfreiheit. (Diese drei Staaten hatten an die Konferenz ein formelles Ersuchen gerichtet, die militärischen Bestimmungen der Friedensverträge zu revidieren.) Über diesem dreigliedrigen Ergebnis stand zusammenfassend das Bekenntnis der englisch-französisch-italischen Solidarität, sinnfällig ausgedrückt durch das erneute feierliche Bekenntnis Englands und Italiens zum Locarnopakt. Dies Bekenntnis ging zwar unmittelbar aus dem Meinungsaustausch über den bevorstehenden Frankreich-Rußlandpakt hervor, es diente aber nicht der Klarstellung, sondern der Verschleierung, der Verwirrung. Laval hatte, nüchtern gesagt, die Genugtuung, daß England und Italien im Falle eines deutsch-russischen Konfliktes die Voraussetzungen des Locarnopaktes als nicht gegeben ansahen! Nicht [194] die Worte, die gesprochen wurden, sondern die Umstände, unter denen das Ergebnis zustande kam, machten es zu einem Siege der intransigenten französischen Politik.

Faßte man in Paris Stresa infolge des dort stattgefundenen geradezu märchenhaften Umfalls der britischen Regierung als eine Bekräftigung der englisch-französisch-italischen Solidarität auf, dann betonte man in London, daß man neue Verpflichtungen nicht übernommen und die alten nicht erweitert hätte. Aber auch das hörte man in England: Man müsse es ganz klar sagen, daß man die einseitige Aufkündigung von Verträgen grundsätzlichen Charakters nicht zulassen könne. England bleibe seinen alten Freunden treu, wolle aber den Kreis seiner Freunde erweitern. Deutschlands Erklärung zum Ostpakt habe befriedigt; man sehe jetzt zwei Gruppen, die eine: Deutschland und Polen, die andere nur Frankreich, sie würden sich gegenseitig nicht stören. Das heißt also, daß England sich in Stresa von Laval hatte überzeugen lassen von der Ungefährlichkeit des französisch-sowjetrussischen Beistandspaktes für den Locarnopakt, und daß England deswegen gegen den französisch-russischen Pakt Einwendungen nicht zu machen hatte.

Das Ergebnis von Stresa war dies: Deutschland wurde wegen des 16. März in den Bann getan, Frankreich erhielt als Ersatz für die Weigerung Englands, neue Verpflichtungen zu übernehmen, die Absolution für den Sowjetpakt, Italien bahnte sich einen neuen Weg zum Patronat über Österreich, und England, der bereitwillige Helfer und Friedensstifter, wurde mit leeren Redensarten über kollektive Sicherheit abgespeist. Den Engländern lag Stresa schwerstens in den Gliedern.

Premierminister MacDonald gab seine Enttäuschung über Stresa offen zu, aber er erklärte zugleich, daß er kein Atom seiner Hoffnungen aufgegeben habe, denn durch die herabsinkenden Wolken sehe er den Sonnenschein; die Konferenz von Stresa werde bestimmt helfen, die Wolken zu zerstreuen und die Sonne durchbrechen zu lassen, wenn ihr Geist erhalten, ihre Beschlüsse befolgt und ihr Zweck nicht gefährdet werde (Rundfunkrede 17. April). Im Unterhaus sagte er am 17. April:

      "Wir sind nach Stresa gegangen, um frühere politische Er- [195] klärungen im Lichte neuer und verschlechterter Verhältnisse zu prüfen. Viele dachten, daß diese neuen Verhältnisse neue Verpflichtungen der britischen Regierung bedeuten würden. Wir haben keine übernommen. Wir haben die Tür für Deutschland offen gehalten, damit es sich als ein aktiver Teilhaber den Bewegungen anschließen kann, die wir geplant haben, um ein System kollektiver Sicherheit in Europa zu schaffen. Ohne Deutschland seinen Schritt zu verzeihen, haben wir zu erkennen gegeben, daß unsere Politik weiterhin auf die Satzung des Völkerbundes gegründet sein wird. Die drei auf der Konferenz vertretenen Staaten sind auseinandergegangen als eine Staatenkombination, die dazu verpflichtet ist, zusammenzuhalten."

In Genf wurde auf diese Worte das Siegel gedrückt. –

  Genf  

Von Stresa gings nach Genf. Hier hatte sich der Völkerbundsrat vom 15.–17. April versammelt, um über Frankreichs Anklage gegen Deutschland (siehe Anlage 27) zu entscheiden. Diese Anklage war von jenem Geiste beherrscht, der zur Genüge bekannt war: Der Völkerbund und insbesondere Frankreich hätten sich alle Mühe gegeben, um der Welt den Frieden zu verschaffen. Nur Deutschland habe nicht den guten Willen gezeigt. Der durch nichts gerechtfertigten brutalen Geste vom Oktober 1933 sei der Vertragsbruch am 16. März 1935 gefolgt. Wohin solle man kommen, wenn der Völkerbund solche Handlungen durchgehen lasse?

Jedoch bei einer großen Zahl der fünfzehn Ratsmächte löste die Klageschrift Widerspruch aus. Besonders die "neutralen Staaten", wie man in Paris sagte, zeigten sich zurückhaltend, sie hatten keine Lust, in Gegensatz zu Deutschland zu kommen; Polen, Dänemark und die südamerikanischen Staaten erwiesen sich als Gegner des französischen Schrittes. Laval legte nichtsdestoweniger dem Rate den Entschließungsentwurf der drei Stresa-Mächte vor, der nichts mehr und nichts weniger als eine Verurteilung Deutschlands und eine Aufforderung, sich über Sanktionen zu verständigen, war. Der polnische Außenminister Beck wies in seiner anschließenden Rede darauf hin, daß durch die Politik des Völkerbundes selbst die deutsche Aufrüstung herbeigeführt worden sei; Polen wünsche auch nicht, daß, nachdem es mit seinem westlichen Nachbar auf- [196] richtige und loyale Friedensbeziehungen hergestellt habe, diese nun durch neue Pläne (Ostpakt) in Frage gestellt würden.

Die Aussprache über den Entschließungsentwurf am 17. April brachte neben den Befürwortungen Simons und Aloisis und scharfen Ausfällen Litwinows gegen Deutschland Loyalitätserklärungen Spaniens, Portugals und Südamerikas gegenüber dem Völkerbunde. Die Abstimmung über den Entschließungsentwurf brachte das überraschende Ergebnis, daß Dänemark sich allein der Stimme enthielt, während 13 Ratsmitglieder für die Entschließung stimmten, die drei Stresamächte, Polen, Spanien, Portugal, die Tschechoslowakei, Sowjetrußland, die Türkei, Argentinien, Chile, Mexiko und Australien. Die skandinavische und englische Presse antwortete mit schwerer Verstimmung, während die Pariser Presse vor allem über Polens Haltung frohlockte. (Entschließung siehe Anlage 28.) In Warschau bemühte man sich, Polens Haltung als eine formelle, aber unbedeutende und wertlose Demonstration hinzustellen, um sie Deutschland verständlich zu machen. Neben dieser Entschließung beschloß der Rat gemäß den Anregungen von Stresa die Bildung eines Ausschusses, der von 13 Staaten beschickt wurde und die Frage der Sanktionen gegen zukünftige Vertragsbrüche prüfen sollte.

Es verdient noch bemerkt zu werden, daß über dieser Völkerbundsratstagung die besondere Atmosphäre sich ausbreitete, welche durch die starke Erregung der kleinen Entente über Mussolinis Vorschlag, Österreich die Wiederaufrüstung zuzugestehen, hervorgerufen war.

Das Reuterbüro legte Simon ein Wort in den Mund, das er vor seiner Abreise aus Genf am 17. April gesprochen haben soll: "Stresa war gut, Genf war noch besser!" Der Sinn dieses pythischen Ausspruches war sehr dunkel. War er ernst gemeint, dann gingen doch die Auffassungen sehr auseinander!

Bereits am Abend des 17. April ließ der Führer dem englischen Botschafter Phipps einen maßvollen und sachlichen Protest gegen die Genfer Entschließung überreichen. Am 20. April wurde der Protest des Reiches den andern beteiligten Regierungen zugestellt: sie hätten nicht das Recht, sich zum Richter über Deutschland aufzuwerfen; der Beschluß des Völkerbunds- [197] rates versuche eine neue Diskriminierung Deutschlands und müsse deshalb sehr entschieden zurückgewiesen werden; die Reichsregierung behalte sich vor, ihre Meinung zu den im Ratsbeschluß berührten Einzelfragen demnächst darzulegen.

Die Berliner Korrespondenten der britischen Zeitungen kabelten ihre Beobachtungen nach London: Die bitterste deutsche Kritik richte sich mehr gegen den Völkerbund als gegen die einzelnen Mächte; die Deutschen erklärten, daß jegliche Neigung für eine schließliche Rückkehr nach Genf einen ernsten Rückschlag erlitten habe; aber trotz des Rückschlages für den Völkerbundsgedanken scheine doch noch einige Möglichkeit für kollektive Verhandlungen zu bestehen. Eine gewisse Ernüchterung in London war die Folge. Garvin meinte im Observer: An sich sei das Genfer Urteil richtig, aber das Gesicht und der Ernst des Protestes von Stresa hätten vollauf genügt, und hierbei hätte man es belassen sollen.

  England und Stresa  

Aus dieser Atmosphäre heraus, die schwanger war von Vorwürfen des britischen Volkes gegen seine Regierung, ist jener Aufsatz zu verstehen, den unter dem Titel: "Friede, Deutschland und Stresa" Premierminister MacDonald am 25. April im Wochenblatt der nationalen Arbeiterpartei, News Letter veröffentlichte. Er begann mit dem harten Los des Friedensstifters, um dann nüchtern zu sagen, Deutschland habe in einer Weise gehandelt, die das gegenseitige Vertrauen in Europa zerstörte; es beanspruche ein Maß bewaffneter Macht, das die meisten Nationen Europas seiner Gnade preisgebe. Das deutsche Volk verlange viel zu viel von denen, die es am besten verstehen und das größte Mitgefühl mit ihm haben, wenn es fordere, daß sein Ziel ebenso wie seine Methoden ohne Furcht und Verdacht hingenommen werden sollten.

      "Ich weiß, daß, wenn die unruhige Geschichte dieser Zeiten im kalten und gerechten Licht der Wahrheit studiert und aufgezeichnet werden wird, nicht die ganze Schuld vor Deutschlands Tür abgeladen werden wird. Dies aber wird Deutschland von dem Tadel nicht befreien, die Aussichten auf Erfolg der Friedensbemühungen zerstört zu haben, auch nicht von dem Tadel, Europa plötzlich besorgt gemacht und sich wieder dem verhängnisvollen Weg des Militarismus zugekehrt [198] und somit die Nationen Europas gezwungen zu haben, sich wieder mit erhöhter militärischer Rüstung zu versehen. Die Tür für eine ehrenvolle Vereinbarung, die Deutschland nicht nur sicher machen, sondern ihm auch das Vertrauen seiner Nachbarn geben und es zu einem geschätzten Gefährten beim Friedenswerk, anstatt zu einem Ungewissen und verdächtigen Beobachter machen wird, ist nach wie vor offen und niemand anders als Deutschland wird sie schließen. Stresa hat dies klargemacht."

Die Zeitungen der Liberalen und der Arbeiterpartei waren über die "sonderbare Haltung des Premierministers" (Daily Herald) erstaunt und beunruhigt. Hier sprach der Geist einer versunkenen Zeit. MacDonald, der gewiß mit Leib und Seele allezeit für die Abrüstung sich eingesetzt hatte, versuchte jetzt in der Erkenntnis des Genfer Fehlschlages eine verzweifelte Rechtfertigung seiner Politik. Er tat dies – seine Worte beweisen es – mit ehrlichem Herzen, aber er trug dem Fortschritt der Zeit, den Adolf Hitler verkörperte, nicht Rechnung; seine geäußerte Meinung war deshalb nach allem, was er selbst unmittelbar miterlebt hatte, nicht nur verfehlt, sondern sogar bedenklich, weil er sie in seiner Eigenschaft als Premierminister vertrat. Was Wunder, daß die französische Presse frohlockend mit Fingern auf Deutschland zeigte, das die "Straße des Friedens verwüstet" habe!

  England und Genf  

Das britische Volk ging über MacDonalds Meinung und über seine Hilfsstellung für die französische Bündnispolitik in Stresa zur Tagesordnung über. Die Times brachte eine Reihe von Äußerungen britischer Persönlichkeiten, die Genf ablehnten. In den letzten Apriltagen äußerte hier der Unterhausabgeordnete Oberstleutnant Cuthbert Headlam, der im Weltkriege Stabsoffizier der englischen Truppen in Frankreich und später parlamentarischer Sekretär der Admiralität war, sich zu Genf: Die Entschließung werde sicherlich die in Deutschland allgemein verbreitete Ansicht bestätigen, daß der Völkerbundsrat ein sklavisches Werkzeug der Siegermächte sei. Augenblicklich wäre der Versuch, die Sanktionen für Übertretung internationaler Verpflichtungen zu verstärken, verhängnisvoll, wenn nicht zugleich eine Vertragsrevision auf friedlichem Wege ein- [199] geleitet würde. Frankreich und die Kleine Entente hätten seit 1918 jeden derartigen Versuch zäh abgelehnt; daran sei jeder Versuch einer wirklichen Befriedung Europas gescheitert; es zeige sich immer deutlicher, daß Frankreichs Auffassung von Sicherheit nichts anderes bedeute als eine Reihe bewaffneter Bündnisse für die strikte Aufrechterhaltung des Status quo. Deshalb werde jede Paktpolitik die Form einer europäischen Koalition gegen Deutschland annehmen. Diesen Zustand des bewaffneten Waffenstillstandes müsse England ablehnen. Es müsse die europäische Frage mehr vom britischen als vom französischen Standpunkt betrachten; England habe zur Zeit keinen Grund, mit Deutschland zu brechen, denn das Reich sei anscheinend immer noch bereit, die Rüstungsbegrenzung zusammen mit einem Plan internationaler Überwachung anzunehmen.

Die kaum zwanzig Minuten währende Rede des Premierministers vor dem Unterhaus am 2. Mai war durchtränkt von jenem elegischen Geiste, der denjenigen erfaßt, der sein ganzes Lebenswerk gescheitert sieht. Deutschlands Vorgehen habe in den letzten Monaten den Frieden Europas aufs tiefste gestört, dies festzustellen beschränkte sich MacDonald, ohne, zur Verwunderung der Abgeordneten, weitere Angriffe gegen Deutschland zu richten. Jedoch sah MacDonald Möglichkeiten einer Politik, die auf den seit dem Londoner Kommuniqué geschaffenen Grundlagen, worunter natürlich auch Stresa eine Rolle spielte, sich gründete. Aber der Premierminister beschränkte sich nur auf kurze Mitteilungen, es schien, als läge ihm die Zukunft so fern, daß er keinen Anteil mehr an ihr hatte. Bereits in der Kabinettssitzung vom 1. Mai hatte die Regierung beschlossen, Anfang Juni dem König ihren Gesamtrücktritt zu erklären. Der innere Gegensatz war zu groß geworden. Sir John Simon, dem man vorwarf, daß er die deutsche Aufrüstung zugelassen habe, und der Luftfahrtminister Lord Londonderry, dem man vorwarf, daß er die britischen Luftrüstungen vernachlässigt habe, hatten die Absicht, nicht wieder in die Regierung einzutreten. Erschöpfung und Depression hatte die britische Regierung befallen, nachdem sie erkannt hatte, daß ihr guter Wille zum Frieden in Stresa und Genf die Gegensätze nur wieder vertieft, statt eingeebnet hatte.

[200] MacDonald mußte es dann noch erleben, daß die von ihm verteidigte Genfer Entschließung am 7. Mai im Oberhaus hart kritisiert wurde. Lord Dickinson brachte zu Beginn der Sitzung folgende Entschließung ein:

      "Das Oberhaus bedauert die Annahme der dritten Schlußfolgerung der Ratsentschließung, da sie geeignet ist, die Meinungsverschiedenheiten zwischen den europäischen Nationen in einem Augenblick zu unterstreichen, wo alles getan werden sollte, um eine freundschaftliche Zusammenarbeit zustandezubringen. Das Oberhaus ersucht die Regierung, im Benehmen mit den andern Mächten die Verhandlungen mit Deutschland auf einer Linie wieder aufzunehmen, die für das deutsche Volk annehmbar ist und einen dauerhaften Frieden in Europa sichern wird."

Die anschließende Aussprache ergab eine überwältigende Zustimmung und eingehendes Verständnis für Deutschland, wo eine neue Generation herangewachsen sei. Lord Dickinson bezeichnete die Entschließung als unglücklich, Lord Mottistone, der zu den britischen Abgeordneten in Versailles gehört hatte, schilderte, wie man von Deutschland die Unterschrift erpreßt habe: Nicht Deutschland, sondern die andern Mächte hätten ihr in Teil V gegebenes Versprechen nicht erfüllt. Fast alle Lords, mit Ausnahme Lord Cecils, der von der militärischen Erziehung der deutschen Jugend sprach, stellten sich auf Deutschlands Seite. Lord Ponsonby von der arbeiterparteilichen Opposition glaubte, daß das deutsche Volk beim Lesen des Berichts über die Aussprache das Maß tiefer Sympathie erkennen werde, das in England für die deutsche Nation vorhanden sei.

Die Demonstration für Deutschland war so gewaltig, daß sie nicht ohne Eindruck auf die Regierung Großbritanniens bleiben konnte. Überzeugt von dem moralischen Eindruck der Aussprache, zog Dickinson seinen Antrag wieder zurück, da der Zweck erreicht sei.

In diesen Tagen feierte König Georg V. von Großbritannien sein 25jähriges Regierungsjubiläum. Der durch diesen Anlaß begründete Telegrammwechsel mit dem Führer war in einem besonders herzlichen Ton gehalten und stellte [201] das gemeinsame Interesse des Friedens in den Mittelpunkt der beiderseitigen Politik.

Mitte Mai verlangte Lord Snowden, der ehemalige arbeiterparteiliche Schatzminister, in einem Aufsatz in der Daily Mail ehrliche Handlungsweise gegenüber Deutschland, der drohende Krieg in Europa könne nur durch eine Änderung der internationalen Politik verhindert werden; mehr denn je sollte Freundschaft mit Deutschland die Politik Großbritanniens sein; der Tadel des Völkerbundes gegen Deutschland werde sicher als größte Tat salbungsvoller Heuchelei seinen Platz in der diplomatischen Geschichte erhalten, und der Versailler Vertrag sei ein flagranter Bruch der Verpflichtungen der alliierten Mächte gewesen.

  Luftrüstungsfieber  

8.

Die Regierungen und Parlamente der großen Mächte verfielen im Frühjahr geradezu in ein Luftrüstungsfieber. Am 29. April fand ein englischer Kabinettsrat statt, der eine weitgehende Beschleunigung der Luftrüstungen unter Einschluß der Dominions beschloß. Man warf dem Luftfahrtminister Lord Londonderry vor, er habe nachlässig gehandelt, indem er sich nicht bemüht habe, den Umfang der deutschen Luftrüstungen kennen zu lernen und die englische Luftflotte zu vergrößern. Demgegenüber erklärte Sir John Simon am 2. Mai im Unterhaus, daß zwar der Umfang der deutschen Luftrüstungen erheblich schneller zugenommen habe, als die englischen Berater im vergangenen Herbst für wahrscheinlich gehalten haben, daß aber Deutschland nach der Erklärung des Führers vom 26. März Luftparität mit England habe. Das bedeute, daß die Stärke der deutschen Frontlinienflugzeuge einer britischen Frontlinienstärke von 800–850 Flugzeugen entspreche, einschließlich der britischen Überseeziffern, aber ausschließlich der Hilfsflugzeuge und besondern Einheiten. Mitte Mai konnte Daily Telegraph seinen Lesern mitteilen, die englische Regierung plane eine Verdreifachung der heimischen und annähernd eine Verdoppelung der gesamten britischen [202] Luftstreitkräfte in der ganzen Welt binnen zwei Jahren; im April 1937 sollte die Luftflotte umfassen in der Heimat 128 Geschwader mit 1460 Flugzeugen, in Übersee 50 Geschwader mit 530 Flugzeugen. In den Betrachtungen der Engländer spielte ein neuer Flugzeugtyp eine Rolle, der das schnellste (400 km/h) und leistungsfähigste Kampfflugzeug sein sollte und das "fliegende Fort" genannt wurde.

Frankreich warf im April eine Anzahl sehr schneller Jagdflugzeuge nach Metz und Straßburg, um einem befürchteten deutschen Überfall begegnen zu können. Nach Straßburg kamen in den letzten Apriltagen von Reims sechs Jagdflugzeuge neuesten Typs, die eine Stundengeschwindigkeit von fast 400 Kilometern erreichen sollten. Das Land besaß am 1. Januar 1935 fast 100 Flughäfen, 48 staatliche, 47 kommunale und private, die dem öffentlichen Verkehr zur Verfügung standen; Luftfahrtminister Denain hielt für nötig, daß bis zum 1. Juli 1935 noch 22 neue Land- und Wasserflughäfen fertiggestellt würden. Der Luftfahrtminister entwickelte Anfang April auf dem Kongreß des französischen Luftschiffverbandes seine Pläne zur Verbesserung der Luftwaffe. Hierbei war besonders auffallend die Ankündigung, daß die französischen Flugzeuggeschwader als einzige in der Welt mit einem motorgekuppelten Geschütz ausgerüstet würden, um das die fremden Fliegerorganisationen Frankreich beneiden würden. Die Flugzeugindustrie wurde angewiesen, sämtliche Militärflugzeuge, die ursprünglich bis zum Frühjahr 1937 geliefert werden sollten, bereits bis Ende 1935 fertigzustellen.

Der Militärflugplatz von Moskau.
[Bd. 9 S. 160b]      Die Rote Armee:
Der Militärflugplatz von Moskau.
      Photo Scherl.
Rußland arbeitete mit allen Kräften an der Vermehrung seiner Luftwaffe. Die Sowjetregierung beschloß Mitte Mai, die Dorfbevölkerung für die Luftwaffe zu interessieren und Verständnis für die militärische Luftfahrt unter der bäuerlichen Jugend zu erwecken, diese militärisch im Flugwesen auszubilden. In Paris erzählte man sich, Sowjetrußland besitze über 4000 moderne Kampfflugzeuge. (Vgl. auch Anlage 5.)

Mussolini weihte am 27. April die in der Nähe Roms neugegründete Stadt Guidonia ein. Sie empfing ihren Namen von einem bekannten Flieger und sollte so Zeugnis ablegen vom Willen des faschistischen Italien, die Lüfte zu erobern. Einzel- [203] heiten über dieses Ziel hatte der Unterstaatssekretär im Luftfahrtministerium, Valle, in der italischen Kammer bereits einen Monat vorher entwickelt: Italien habe sich entschlossen, das für sechs Jahre vorgesehene Programm des Aufbaues seiner Luftstreitkräfte zu beschleunigen und schon in drei Jahren durchzuführen; Italien baue gegenwärtig Bombenflugzeuge, die imstande seien, eine Geschwindigkeit von 330 Kilometern zu entwickeln und rund 3600 Pfund Sprengstoff mit sich zu führen.

Das große Ereignis jener Frühjahrswochen war der Abschluß eines Luftabkommens zwischen Paris und Rom, das in Ergänzung der römischen Protokolle vom Januar 1935 eine Reihe von Vereinbarungen auf dem Gebiete der Handels- und Militärluftfahrt bringen sollte. Aus diesem Anlaß traf am 10. Mai Denain zu einem sechstägigen Besuche in Rom ein. Die militärische Persönlichkeit des französischen Unterhändlers und die militärischen Ehren seines Empfanges zeigten der Welt, daß der Gegenstand der Verhandlungen sich nicht bloß auf zivilem Gebiete bewegte. Bereits am 13. Mai konnte das französisch-italische Luftabkommen unterzeichnet werden, dessen Gegenstand die enge Verbindung des Luftverkehrs beider Staaten, insbesondere die Eröffnung einer Luftlinie Rom–Paris am 1. Juni war. Der Erfolg der Reise des Generals Denain löste in Paris hellen Jubel aus.

Die Nervosität, die in den Luftzonen aller Staaten Europas zitterte, veranlaßte den Reichsminister der Luftfahrt, General Göring, der am 1. April auch den Oberbefehl über die Flakartillerie übernommen hatte und so das gesamte Flugwesen, Luftflotte und Flugabwehr, in seiner Hand vereinigte, am 2. Mai vor der ausländischen Presse Erklärungen abzugeben. Der Minister betonte, daß bei der Regierungsübernahme des Führers nicht das geringste von einer deutschen Flugwaffe vorhanden gewesen sei; nachdem die technischen und industriellen Möglichkeiten bis zum äußersten ausgebaut worden seien, hätte die neue deutsche Flugwaffe schlagartig geschaffen werden können. Die Richtlinie sei immer die Sicherheit der deutschen Nation. Es hänge ausschließlich von den anderen Mächten ab, die Höhe der deutschen Luftwaffe zu bestimmen.

      "Wenn [204] Sie mich fragen: 'Wie stark ist nun die deutsche Luftwaffe?', dann kann ich Ihnen versichern, daß die deutsche Luftwaffe immer so stark sein wird wie die Konstellation in der Welt für oder gegen den Frieden. Ich sage Ihnen nichts Überraschendes, wenn ich betone, daß die deutsche Luftwaffe so stark ist, daß derjenige, der Deutschland angreift, einen sehr, sehr schweren Stand in der Luft haben wird. Denn die deutsche Luftwaffe verfügt über kein einziges altes Flugzeug! Sie verfügt über keinen einzigen alten Motor! Was die deutsche Luftwaffe heute an Motoren und Maschinen besitzt, ist das Modernste, was überhaupt existiert."

Trotz alledem, so fuhr der General fort, sei Deutschland nach wie vor bereit, an Luftkonventionen mitzuarbeiten und gemäß übernommener Verpflichtungen seine Luftstreitkräfte im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten nicht nur zur Sicherung und Verteidigung Deutschlands, sondern auch zur Sicherung und Verteidigung des europäischen und Weltfriedens einzusetzen. Die deutsche Luftflotte sei nicht so riesengroß, wie man vielleicht im Ausland annehme. Sie sei geschaffen worden im Bekenntnis Deutschlands für den Frieden, und sollten einmal die Völker sich auf die Abschaffung der Luftstreitkräfte einigen, so werde Deutschland sich davon nicht ausschließen. Deutschland stehe keiner Regelung im Wege, wenn sie von den anderen Völkern ehrlich betrieben werde, aber es komme nur eine Regelung in Frage, die auf vollständig gleichberechtigter Basis beruhe.

Die deutschen Seeflieger in Kiel-Holtenau.
[Bd. 9 S. 256a]      Die deutschen Seeflieger
in Kiel-Holtenau: Der Start.
      Photo Scherl.
Die deutschen Seeflieger in Kiel-Holtenau.
[Bd. 9 S. 256a]      Die deutschen Seeflieger
in Kiel-Holtenau: Der Staffelwinkel.
      Photo Scherl.

Die eindrucksvollen und klaren Ausführungen Görings hinderten allerdings nicht, daß zwei Wochen später (15. Mai) Lord Rothermere im englischen Oberhaus als konservativer Abgeordneter ausführte, England stehe heute vor der Möglichkeit der schrecklichsten Gefahr in der ganzen englischen Geschichte; die Entwicklung des Bombenflugzeuges könne das ganze Gesicht Europas stark verändern. Rothermere begründete die englische Aufrüstung unter Hinweis auf die "deutsche Gefahr", die er geradezu phantastisch ausmalte: Deutschland besitze 10 000 Bombenflugzeuge, das sei eine "schauerliche Gefahr", der England nur begegnen könne, daß es jeden eventuellen Feindstaat wissen lasse, daß es mit gleicher Münze herausgeben könne.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra