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Deutschland und der Korridor

 
Anhang:
Die kirchliche Lage in Polen

Hans Schadewaldt
Ein Kapitel (S. 165-179) aus:
Auslanddeutschtum und evangelische Kirche. Jahrbuch 1937,
herausgegeben von D. Dr. Ernst Schubert, Pfarrer und Konsistorialrat,
Lehrbeauftragter an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin.
Chr. Kaiser Verlag, München, 1937.
(Hier auf dieser WebSite ist dieser Artikel als Zusatz
zu dem Buch Deutschland und der Korridor veröffentlicht.)

Im Teufelsgürtel von Versailles hat die deutsche Ostgrenze bis zum Abschluß des deutsch-polnischen Zehnjahresvertrages vom 26. Januar 1934 einen Gefahrenherd erster Ordnung dargestellt. Von Memel bis Hultschin/Teschen war diese offene europäische Grenze infolge der Zerschneidung enger politischer, wirtschaftlicher, kultureller und vor allem völkischer Zusammenhänge ein Hexenkessel, aus dem der europäische Frieden andauernd gefährdet wurde. Nicht allein das gespannte deutsch-polnische Verhältnis, sondern der geopolitische Druck des Versailler Systems auf Mitteleuropa und vor allem die Ausnutzung Polens als militärpolitischer Bundesgenosse Frankreichs und osteuropäischer Kontinentaldegen Englands bewirkten, daß man sich in Paris, London und Genf ernstere Sorgen um die Aufrechterhaltung des territorialen und rechtlichen Versailler Besitzstandes in diesem chronisch unruhigen Grenzgebiet machte als um viele andere Brandstellen des zerrissenen Europas.

Zu den unerfreulichsten Ergebnissen des Versailler Diktates gehört nächst dem Weichselkorridor das durch die Grenzziehung vom 20. Oktober 1921 durch den Machtspruch der Pariser Botschafterkonferenz zerschnittene doppelte Grenzland Oberschlesien. Obwohl im Artikel 88 des Versailler Vertrages den Einwohnern des umstrittenen Teiles Oberschlesiens zugestanden worden war, im Wege der Abstimmung kundzugeben, ob sie mit Deutschland oder mit Polen vereinigt zu werden wünschten, und diese Abstimmung am 20. März 1921 mit 59,64 : 40,36 v.H. eine unbestreitbare deutsche Mehrheit für das Verbleiben Oberschlesiens bei Deutschland erbrachte, wurde das Abstimmungsgebiet durch eine Grenze zerteilt, die den bodenschätzereichsten und wirtschaftlich aufgeschlossensten Industrieteil zu Polen schlug. Zur Aufrechterhaltung geordneter wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den zerschnittenen Gebietsteilen und zur Sicherstellung des Schutzes der in den beiden Teilen verbleibenden deutschen und polnischen Minderheiten wurde jener Staatsvertrag unter der Aufsicht des Völkerbundsrates geschlossen, der als "Genfer Abkommen" für einen Zeitraum von 15 Jahren, d.h. bis zum 15. Juli 1937, für die jüngste Geschichte Oberschlesiens zwar weniger praktische, aber rechtlich entscheidende Bedeutung gehabt hat. Das umfangreiche 606 Artikel umfassende Genfer Abkommen über Oberschlesien, dessen Durchführung der ehemalige Schweizer Bundespräsident Dr. Calonder durch die Gemischte Kommission leitete, stellt das größte Minderheitenschutz-Vertragswerk dar, das der Völkerbund geschaffen hat. Wenn es trotz dieser übergeordneten, völkerbundlichen Aufsicht Oberschlesiens durch den Genfer "Minderheitenschutz" in den 15 Jahren der Wirksamkeit des Genfer Abkommens nicht gelungen ist, eine befriedigende und praktisch ausreichende Sicherung des Minderheitenrechtes in Oberschlesien herbeizuführen, so trägt daran die Konstruktion dieses Abkommens insofern die Hauptschuld, als dem Präsidenten Calonder keine exekutiven Befugnisse, sondern lediglich "empfehlende Stellungnahmen" zustanden und deshalb die beiderseitigen Staatsregierungen durch die präsidentiellen Stellungnahmen nicht zur Durchführung der Rechtssprüche gezwungen werden konnten. Da auch der Polen im Versailler Vertrag auferlegte internationale Minderheitenschutz kaum mehr als eine moralische Bindung darstellte, sich jedenfalls praktisch zugunsten der deutschen Minderheit so gut wie nicht auswirkte, war und ist die Lage der Deutschen in Ostoberschlesien tatsächlich von dem Verdrängungswillen nachgeordneter polnischer Behörden, deren Maßnahmen durch den Druck des Westverbandes (Westmarkenvereins), der Aufständischen und einer durchaus deutschfeindlich gerichteten Presse gestützt werden, abhängig.

Das gespannte Verhältnis zwischen polnischer Staatsgewalt und deutscher Minderheit, das auch durch die loyale Haltung der Deutschen in Ostoberschlesien leider nicht gemindert wurde, ist bis auf den heutigen Tag trotz des richtungweisenden Berlin-Warschauer Verständigungskurses nur unwesentlich erleichtert worden, weil das Programm des Kattowitzer Woiwoden Dr. Grazynski die restlose Polonisierung dieses einst blühenden deutschen Gebietsteiles mittels aller möglichen Zwangsmaßnahmen, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, vorsieht. In der Durchführung dieses Polonisierungsprogramms hat sich die Kattowitzer Woiwodschaftsbehörde weder durch den für Polen bis 1935 bindenden internationalen Minderheitenschutzvertrag noch durch das Genfer Abkommen noch durch das deutsch-polnische Verständigungsabkommen von 1934 stören lassen, im Gegenteil, das Ziel der wirtschaftlichen und sozialen Vernichtung der deutschen Minderheit ist planmäßig weiter verfolgt worden, wenn auch die Methoden gewechselt haben und in den letzten Jahren weniger öffentlich in Erscheinung traten, ohne freilich in der Praxis an Brutalität zu verlieren. Es ist die Tragik des Schicksals der deutschen Minderheit in Ostoberschlesien wie in Pommerellen, daß ihr in ihrem schweren volklichen Daseinskampf um ihre international garantierten Rechte die Berlin-Warschauer Verständigung keinerlei Erleichterung gebracht hat, obschon der Geist des Hitler-Pilsudski-Vertrages auch einen Nutzen für die Minderheiten hüben und drüben als selbstverständliche Folge der loyalen Haltung der Zentralbehörden erscheinen lassen sollte. Wenn es aber das Sprachrohr des Woiwoden, die Kattowitzer Polska Zachodnia, fertig brachte, vor aller Öffentlichkeit festzustellen, daß nach der zwangsweisen Abwanderung von rund 120.000 ostoberschlesischen Deutschen noch "ein Drittel Deutsche zuviel" in der Woiwodschaft Schlesien lebten und aus Mangel an Beschäftigung das Land verlassen müßten, so kennzeichnet nichts treffender die drückende Atmosphäre in dem Polen zugeteilten oberschlesischen Gebiet als diese zynische Forderung: sie entspricht leider der tatsächlichen Lage der deutschen Minderheit, die durch erzwungene Arbeitslosigkeit infolge Massenentlassungen von tausenden deutschgesinnter Arbeiter und Angestellten wirtschaftlich zermürbt und seelisch zerbrochen wird! Trotzdem wird man die von polnischer amtlicher Seite angegebene, allein aus der Deutschsprachigkeit errechnete Kopfzahl der deutschen Minderheit von 90.000 = 7 v.H. der Gesamtbevölkerung der Woiwodschaft Schlesien als viel zu niedrig werten müssen, denn für Oberschlesien gilt die Tatsache, daß nicht die Sprache entscheidend für die Volkstumszugehörigkeit ist, sondern einzig und allein das willensmäßige Bekenntnis, daß Deutscher ist, wer sich zum Deutschtum bekennt, und Pole ist, wer sich zum Polentum bekennt, ohne Rücksicht ob er sich der deutschen, der polnischen oder beider Sprachen bedient, d.h. der doppelsprachige Oberschlesier drückt sein Volkstumsbewußtsein ausschließlich durch sein politisches Willensbekenntnis aus. Scheidet so die Sprache im volklich gemischten oberschlesischen Grenzland als Kriterium für die Volkstumszugehörigkeit aus, so läßt sich aus der Beobachtung der deutschen und der polnischen Willensrichtungen der Oberschlesier im Polen zugeteilten oberschlesischen Gebiet sagen, daß man heute noch mit 15 v.H. deutschgerichteter, d.h. sich zum deutschen Kulturkreis und zu Deutschland als Mutterland bekennender Oberschlesier rechnen kann; das ergibt bei einer Bevölkerungszahl von 1,3 Millionen rd. 200.000 Deutsche, eine Minderheitengröße, deren Bedeutung nicht allein durch die Zahl, sondern durch ihre organisatorische, wirtschaftliche und kulturelle Kraft einen Realitätswert darstellt, der die Bedeutung der oberschlesischen Frage für eine durchgreifende Regelung des Minderheitenschutzes und für die allgemeine Befriedung der ostmitteleuropäischen Grenze erhellt. Wie sich die Lage der Deutschen in Ostoberschlesien nach Ablauf des Genfer Abkommens gestalten wird, und ob die Erweiterung des deutsch-polnischen Verständigungsvertrages auch künftig der gequälten deutschen Minderheit Lebensmöglichkeiten sichert, ist nicht vorauszusagen - die Tatsache, daß der Woiwode Grazynski die völlige Überführung des in dem Autonomie-Statut verankerten verfassungsmäßig selbständigen Polnisch-Oberschlesien in den polnischen Staatskörper mit allen Mitteln durchzwingen wird, ist unbezweifelbar.

Bei dieser schweren Notlage der deutschen Minderheit in Ostoberschlesien spielt die evangelische Kirchenfrage eine besondere Rolle. Als Bestandteil der unierten evangelischen Kirche Preußens war die evangelische Kirche nach der Abtrennung Ostoberschlesiens vom Reiche die Verpflichtung eingegangen, sich eine eigene Verfassung zu geben. Die damalige der Generalsynode in Breslau unterstehende Kreissynode Pleß wurde mit den Funktionen einer besonderen Provinzial- und Generalsynode als gesetzgebender Körperschaft ausgestattet und stabilisierte sich als selbständige unierte evangelische Kirche Ostoberschlesiens mit dem Sitz in Kattowitz unter der Leitung des Kirchenpräsidenten D. [D.=Dr.; Anm. d. Scriptorium] Voß, in vollkommener Unabhängigkeit von dem für die evangelisch-augsburgische Kirche Polens zuständigen Warschauer Konsistorium unter Generalsuperintendent D. Bursche. Aus dem Genfer Abkommen waren der unierten evangelischen Kirche Ostoberschlesiens besondere Rechte gesichert, deren Wahrung mit Ablauf des Abkommens polnischerseits kurzerhand nicht mehr anerkannt wurde: Die Selbständigkeit der evangelisch-unierten Kirche Ostoberschlesiens durfte rechtlich durch die Aufhebung des Genfer Schutzvertrages in keiner Weise berührt werden, da die kirchliche Verfassungsfrage unabhängig vom Genfer Statut im Juni 1923 völlig legal geordnet worden, d.h. nicht befristet ist. Kirche und Kirchenvolk stehen in Ostoberschlesien in einem engen und ausgezeichneten Vertrauensverhältnis zueinander, wie sie zuletzt am 18. Oktober 1936 bei den Wahlen zu den kirchlichen Körperschaften in einem überzeugenden Beweis aller Welt vor Augen geführt worden ist. Überall siegten die deutschen Listen mit großen Mehrheiten; in den treuevangelischen Gemeinden Anhalt, Ludwigsthal und Loslau konnte überhaupt keine polnische Liste aufgestellt werden, und in den zahlenmäßig stärkeren Gemeinden Tarnowitz, Sohrau, Nikolai und Golassowitz fand durch Einigung der deutschen und polnischen Evangelischen auf eine Kompromißliste eine kampflose Wahl statt. Das beachtenswerte Ergebnis dieser evangelischen Kirchenwahlen, das durch die am 24. Januar 1937 erfolgte Nachwahl in Pleß noch nachdrücklich bestätigt wurde, ist als ein klares Urteil des oberschlesischen Volkes und seines unbegrenzten Vertrauens zur evangelisch-unierten Kirche anzusehen. Jeder Eingriff in dieses Vertrauensverhältnis und damit in die Selbständigkeit der evangelischen Kirche Ostoberschlesiens würde nur Schaden bringen. Trotzdem besteht die Befürchtung, daß der absolute Staatswille Warschaus versuchen wird, sich, gestützt auf den Polonisierungsakteur D. Bursche als geistliches Oberhaupt der Evangelischen Polens, durchzusetzen und das neue zentralistisch-autoritäre Kirchengesetz für die evangelisch-augsburgische Kirche, das zunächst nur für das ehemals russische, kongreßpolnische Gebiet gilt, in ähnlichen Formen auf alle sieben evangelischen Kirchen Polens auszudehnen, also auch auf die unierten Kirchen in Posen und Ostoberschlesien; schon heute gilt das neue Kirchengesetz für das ostschlesische Bielitz-Teschener Gebiet, auf das sich der Bereich der selbständigen evangelischen ostoberschlesischen Kirche nicht erstreckt.

Das neue polnische Kirchengesetz der Evangelisch-Augsburgischen Kirche1 ist in der gesamten evangelischen Öffentlichkeit Polens umstritten und von den selbständigen Kirchen aufs schärfste bekämpft worden, weil es der Kirche die politische Unabhängigkeit raubt und sie restlos der Staatsgewalt ausliefert. Die Begründung für das Kirchengesetz, die den selbständigen evangelischen Kirchen staatspolitische Passivität und mangelnden guten Willen gegenüber dem Staat vorwirft, ja sogar sie offen der "Germanisierung" bezichtigt, ist von den zuständigen Wortführern der evangelisch-augsburgischen Kirche unter Beweis ihrer unbedingt loyalen Einstellung zum Staate und ihrer vorbehaltlosen Betreuung des volkstumsmäßig polnischbewußten Kirchenvolkes in der polnischen Muttersprache entschieden zurückgewiesen worden. Am guten Willen der evangelischen Kirche Polens, ihr Verhältnis zum Staate gesetzlich zu regeln, hat es seit 1920, also seit 17 Jahren, nicht gefehlt, d.h. seit dem Zeitpunkt, als in Artikel 114 und 115 der Staatsverfassung der evangelisch-augsburgischen Kirche die Gleichberechtigung mit der in Polen vorherrschenden römisch-katholischen Kirche und die Regelung des Kirchen-Verhältnisses zum Staate auf gesetzlichem Wege "nach Verständigung mit ihren rechtmäßigen Vertretern" zugestanden worden ist. Wiederholt hat man kirchlicherseits versucht, zu dieser gesetzlichen Regelung mit dem Staate zu kommen, aber Vorurteil und Mißtrauen, nicht zuletzt wohl auch kirchliche Interesselosigkeit der stark freimaurerisch-freidenkerisch orientierten maßgebenden Staatsstellen haben das Zustandekommen eines gerechten, Religionsfreiheit und religiöse Gleichberechtigung der evangelischen Kirche sichernden Kirchengesetzes verhindert. Die von der polnischen Staatspresse tendenziös verbreitete Klage, daß die evangelische Kirche praktisch nichts getan habe, um ihr Verhältnis zum Polnischen Staate zu ordnen, ist objektiv falsch; das ist durch die aufklärende öffentliche Stellungnahme des polnischen Senators Evert als Präses der Evangelischen Gemeinde Warschaus zum Ausdruck gebracht worden: Hinter der Evertschen Auffassung steht die überwältigende Mehrheit des evangelischen Kirchenvolkes Polens, während die auf die autokratische polnische Staatslinie eingestellte Haltung des Generalsuperintendenten D. Bursche nur von einer mehr und mehr bröckelnden evangelischen Front gebilligt wird. Die evangelische Kirche lehnt die politische Auslieferung an den Staat um ihrer inneren Selbständigkeit willen ab und kann sich bei dieser ihrer Verantwortung vor ihrem Gewissen auf die Auffassung des polnischen Staatspräsidenten Professor Moscicki stützen, der im Mai 1933 bei einem Besuch einer evangelischen Abordnung aus Skandinavien auf die Frage nach dem Stand der religiösen Toleranz in Polen mit starker Überzeugung antwortete: "Nicht nur Toleranz, Toleranz ist ein zu kaltes Wort - wir haben Achtung vor fremden Anschauungen!"

Ist durch das Dekret vom 26. November 1936 unter völliger Ausschaltung der Synode das mit der moralischen Verantwortung und der Zustimmung des Generalsuperintendenten D. Bursche geschaffene Kirchengesetz für die evangelisch-augsburgische Kirche in Kraft getreten, so stehen die nationalpolnischen evangelisch-reformierten Kirchen in Warschau und Wilna zunächst noch außerhalb der Staatsregelung ebenso wie alle anderen evangelischen Kirchen in Polen, deren Kirchenverfassung staatsrechtlich nicht anerkannt ist. Die Kirchenverfassung für die evangelisch-augsburgische Kirche schränkt die Rechte der Synode erheblich ein und gesteht dafür dem Bischof, der zugleich Präsident des Konsistoriums und Präses der Synode ist, um so mehr Befugnisse zu. Diese Beschränkung der Stellung der Synode und die gleichzeitige außerordentliche Zuständigkeitssteigerung des Bischofs hat seitens des Gros der Pastoren wie des Kirchenvolkes stärkste Ablehnung gefunden. Trotzdem ist damit zu rechnen, daß der Staat die neue Regelung zwangsläufig auch auf die anderen evangelischen Kirchen ausdehnt und dadurch den Selbständigkeitscharakter aller evangelischen Kirchen Polens weitgehend aufhebt. Der Staat scheint sich dabei über die großen Bedenken hinwegzusetzen, die eine Schmälerung der ursprünglichen Lebenskraft der evangelischen Kirchen durch die dekretierten Kirchengesetze und Kirchenverfassung für die weltanschauliche und politische Abwehr der größten Gefahr für Polens Staat und Volk, nämlich des Bolschewismus, bedeutet. Gerade die Berufsauffassung und die Gewissenshaltung des evangelischen Menschen bilden den stärksten Schutzwall gegen den religionsfeindlichen Bolschewismus. Es kann dem Polnischen Staate nicht zum Nutzen gereichen, wenn er seine Stoßkraft durch die Zwangsbehandlung der Kirchen und die kleinliche Behandlung der Minderheitenfrage lähmt: Hier greifen Kirchen- und Minderheitenfrage ineinander, insofern als ein gutes Verhältnis des Staates zu den Nationalitäten in gleicher Weise wie zu den Kirchen die innere Kraft des Staates stärkt und sichert. Ein Nationalitätenstaat, wie es Polen mit seinen 35 Prozent völkischen Minderheiten ist, muß ein tragbares Verhältnis zu den nationalen Volksgruppen finden, weil ohne den Einsatz dieser volklichen Lebensbestandteile gemäß ihrer wirtschaftlichen Eignung und Kulturkraft das Staatswesen in ständiger Unruhe gehalten wird! Es ist nun eine merkwürdige Erscheinung, daß in dem ideologischen und staatsrealistischen Ringen um Kirchengesetz und Kirchenverfassung der Evangelischen der Gegensatz zwischen dem nationaldemokratischen Dmowskismus der um Polen als Mittelpunkt gruppierten Endeken und dem regierungsseitigen Pilsudskismus, der sonst die ganze innere und äußere Geschichte des neuen Polens erfüllt, nicht zugunsten der evangelischen Sache irgendwo bemerkbar geworden ist. Die Erklärung dafür liegt offenbar in der Tatsache, daß Polen sich als Vormacht des Katholizismus fühlt und dem römisch-katholischen Bekenntnis in Artikel 114 der Staatsverfassung "die Hauptstellung unter gleichberechtigten Bekenntnissen" gesichert ist, weil es die Religion der überwiegenden Mehrheit des polnischen Volkes ist. Immerhin kann sich der Staat auf den evangelischen Volksteil schon aus dessen ethischer Grundauffassung von den Pflichten eines Christenmenschen als loyale Bürger verlassen, und dieses Vertrauen sollte die Grundlage für eine Behandlung der evangelischen Kirchen Polens bilden, die diesen nicht die Freiheit der Betätigung auf kirchlichem Gebiete nimmt. Die Verfassungen, die sich die evangelischen Kirchen Polens, unabhängig von der Staatsgewalt, freiwillig gegeben haben, nachdem der Polnische Staat als selbständiges Staatswesen ins Leben getreten war, haben dem Staate keinen Schaden bereitet, und überall ist das evangelische Kirchenvolk und seine Pastoren dem Staat gegenüber treu und loyal gewesen: Die oktroyierte Kirchenregelung ist aber nicht dazu angetan, die Staatsfreudigkeit der Evangelischen Polens zu stützen. Können die Evangelischen nicht die berechtigte Erwartung aussprechen, daß man ihnen ihre Kirche als Herzensheimat nach ihrer Väterart beläßt?2 Den Kern des Kampfes um die evangelische Kirchenfrage in Polen hat vom Standpunkt der Deutschen Pastor Dr. Rudolf Schneider (Kattowitz) treffend so gekennzeichnet: ob es gelingt, einem neuen Kirchendenken Geltung zu verschaffen, das den Polen in seiner Art und den Deutschen in seiner Art wirtschaftliche Möglichkeit und kirchliche Freiheit gewährleistet. Diese Kernfrage hat ihre besondere Bedeutung für das evangelische Deutschtum in Ostoberschlesien, das zwar nur mit 2,5 v.H. Bevölkerungsanteil - 30.000 Evangelische (1937) gegen 80.000 (1921/22 z. Zt. der Abtrennung vom Deutschen Reiche) - auf den oberschlesischen Teil der Woiwodschaft Schlesien verteilt ist3 und im Zuge des Grazynski-Systems noch weitere zahlenmäßige Einbußen erleiden wird, dessen wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung aber um ein Berächtliches größer ist als die Kopfzahl, weil hier das deutsch-evangelische Leben trotz allen politischen Terrors und wirtschaftlichen Drucks auf die Gemeinden in Blüte steht. Aber was erleben wir: Zu den 30 in Ostoberschlesien amtierenden Pfarrgeistlichen der selbständigen unierten evangelischen Kirche, für die der Theologennachwuchs aus der eigenen Kirche reichlich vorhanden ist, sind durch Generalsuperintendent D. Bursche in den letzten Jahren zehn polnisch gesinnte Pastoren in Oberschlesien eingesetzt worden, die eine Art kirchlichen Nebenapparat aufgebaut haben und unter dem Titel des evangelischen "Religionsprofessors" an den höheren polnischen und an den deutschen Minderheitsschulen jenen polnischen Geist verbreiten, der durch den Namen Bursche hinreichend gekennzeichnet ist. Es ist bedauerlich, daß durch diese fremden polnischevangelischen Pastoren in das kirchliche Leben Ostoberschlesiens über alle politischen Schwierigkeiten des Tages hinaus weitere Spannungen planmäßig hineingetragen werden - die Schuld daran trägt nicht das evangelische Deutschtum in Ostoberschlesien! Mit Anerkennung sei hier aber der Theologischen Hochschule in Posen gedacht, der zwar die staatliche Anerkennung noch immer fehlt, die aber den evangelisch-theologischen Nachwuchs in fachlich ausgezeichneter Weise zur Verfügung stellt und deshalb endlich vom Staate als anerkannte theologische Fakultät ausgebaut werden sollte, eine Forderung, die um so dringlicher ist, als noch heute keine evangelisch-theologische Fakultät mit deutscher Sprache an den Universitäten Polens besteht.

Wenn man bedenkt, daß die Deutschen in der Woiwodschaft Schlesien nicht eingewanderte landfremde, sondern auf der Heimaterde gewachsene, bodenständige ansässige Menschen sind, deren Väter das Land durch ihre Arbeit zu dem gemacht haben, was ihnen allen unter normalen Verhältnissen die Zukunft von Land und Leben sicherte, so wird es verständlich, daß diese deutschbewußten Oberschlesier nicht nur materiell, sondern vor allem auch völkisch und seelisch entsetzlich unter den Verlusten und Opfern leiden, die ihnen seit der Abtrennung vom Deutschen Reiche zugefügt worden sind. Es sind nicht die kleinlichen tausendfältigen Schikanen des Alltags, es ist nicht die bewußte Zurücksetzung der Minderheit und immer neue Herausforderung durch die chauvinistischen Verbände und ihre vom Deutschenhaß erfüllten Anführer, sondern es ist die Zerschlagung der Existenzgrundlage der ganzen deutschen Volksgruppe durch die Vernichtung der Arbeitsplätze, die Ausschaltung des Nachwuchses aus dem Berufsleben mangels jeglichen Unterkommens in allen Erwerbszweigen; es ist die Drosselung des deutschen Schulwesens und der kulturellen Betätigung über den engbegrenzten weder der Kopfzahl noch der Kulturstärke entsprechenden Aktionsraum; es ist die zermürbende Verdächtigung der Minderheitenangehörigen als Staatsfeinde, die fortgesetzte Anzweifelung der Ehrlichkeit des von den Deutschtumsführern wiederholt abgegebenen Loyalitätsbekenntnisses gegenüber dem Polnischen Staat. Da werden die wirtschaftlichen Selbsthilfeorganisationen ebenso wie bedeutende kulturelle Veranstaltungen von einer gewissen einflußreichen Presse als staatsgefährliche Erscheinungen verdächtigt und nur zu oft unter dem Druck dieser gehässigen Meinungsmache behördlicherseits verboten. Da werden Volksbundheime, die zur sozialen und kulturellen Betreuung der Mitglieder der deutschen Bezirksvereinigungen eingerichtet wurden, "aus staatspolitischen Gründen" geschlossen, wird die Durchführung eines deutschen Winterhilfswerkes zur Linderung der ärgsten Not unter den Zehntausenden arbeitsloser deutscher Familien nicht zugelassen, da werden deutsche Jugendvereine aufgelöst und der deutschen Jugend alle Möglichkeiten genommen, sich in einem Jugendverband zur Pflege kultureller Interessen zusammenzuschließen; da werden Mitglieder des Tarnowitzer Wandererbundes unter nichtigen Vorwände als "Verschwörer" vor Gericht gestellt und mit hohen Strafen belegt; da werden Zeitungen, die in Wahrung der international geschützten Rechte der deutschen Volksgruppe deren Interessen öffentlich vertreten, Dutzend Male beschlagnahmt und in Presseprozessen am laufenden Band mit Geld- oder gar Gefängnisstrafen ihrer Schriftleiter verfolgt - in welchem Kulturland ist heute solches noch Brauch? Nichts belegt die für das Staatsvolk ebenso wie für die Minderheit unersprießliche Unruhe der Verhältnisse so eindrucksvoll, wie die ständigen, leider weder in Warschau noch in Genf erhörten Klagen, Beschwerden, Eingaben und Notrufe der deutschen Volksgruppe über die Behandlung, deren sie in den 15 Jahren des Genfer Abkommens je länger, je stärker ausgesetzt ist. Noch wird die tiefeinschneidende polnische Grenzzonenverordnung und die den deutschen Großgrundbesitz zerschlagende Agrarreform in Ostoberschlesien nicht angewendet, aber die ostoberschlesischen Deutschen fürchten nicht ohne Grund, daß sie auch auf diesen Gebieten den Staatsmaßnahmen nicht entgehen werden, vor deren Durchführung sie bisher das Genfer Abkommen bewahrt hat. Wenn so die deutsche Minderheit sich innerlich auf einen neuen, gewiß nicht leichten Abschnitt ihrer Lebensperiode vorbereitet, in der sie keinen internationalen Minderheitenschutztitel mehr in Anspruch nehmen kann, weil Polen jede Verlängerung der Genfer Schutzbestimmungen grundsätzlich abgelehnt hat, so ist sie doch zum Ausharren und Durchhalten auf der alten angestammten Erde entschlossen und sucht neue Kraft aus der Einheit und Einigkeit des Deutschtums, deren Mangel ihr allzu lange schon schweren Schaden durch den Widerstreit ihrer Führer bereitet hat.4

Für die planmäßige Verdrängung und wirtschaftliche Zerrüttung der deutschen Volksgruppe in Ostoberschlesien ist bezeichnend, daß 80 v.H. aller erwerbsfähigen Deutschen heute arbeitslos, 7.000 deutsche Jungen und Mädel ohne jede berufliche Ausbildung und ohne jede Aussicht sind, in einem Berufe unterzukommen, daß die Zahl der deutschen Schüler von 34.500 (1922) auf 11.400 gesunken, von den sechs privaten deutschen Gymnasien die drei in Rybnik, Antonienhütte und Laurahütte infolge Schülerrückgangs, begründet durch die wirtschaftliche Not des Deutschtums, geschlossen werden mußten, daß sich unter den 40 Leitern der öffentlichen deutschen Minderheitsschulen 38 Nationalpolen befinden, von 160 Lehrern an den deutschen Schulen 92 polnischer Nationalität sind und daß bei der Besserung der Wirtschaftskonjunktur in den letzten Monaten zwar 4.000 polnische Arbeiter neu eingestellt, dagegen weitere 150 deutsche Arbeiter entlassen worden sind. Am bittersten tritt die deutsche Not auf dem Gebiet der Schulen in Erscheinung: Die öffentlichen deutschen Minderheits-Volksschulen gingen von ihrem Höchststand 1927/28 mit 84 Schulen und ca 20.500 Schülern auf 40 Schulen mit 7.629 Schülern 1936/37, die höheren deutschen Minderheitsschulen von 3.500 Schülern auf 970 im Laufe der 15 Jahre des Genfer Abkommens zurück, eine Entwicklung, die hauptsächlich in dem Terror begründet ist, den der Westverband, die Aufständischen, polnische Werksleitungen und Betriebsräte durch die Entlassungen der deutschen Arbeiter und Angestellten ausgeübt haben, welche ihr Kind in der deutschen Schule beließen bzw. zur deutschen Schule anmeldeten. Der Druck dieser fanatischen Deutschenfeinde wirkt sich aber nicht nur auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiete aus, sondern richtet sich auch gegen den Gebrauch der deutschen Sprache, z.B. auch im Gottesdienst der beiden christlichen Konfessionen. Nicht kleiner ist die deutsche Schulnot in Pommerellen, wo von 10.689 deutschen Kindern über 7.000 (=66,4 v.H.) mangels deutscher Minderheitsschulen in die polnische Schule gehen müssen.

Schwere Schläge hat dem evangelischen Deutschtum die polnische Agrarreform im Posenschen verursacht, indem sie den deutschen Besitzstand durch Enteignungen dezimierte. Auf der anderen Seite hat die deutschsprachige evangelische Kirche, wie die aufrechte Haltung der vier Diözesen des kongreßpolnischen Gebietes bei den Burscheschen Synodwahlen gezeigt hat,5 durch den geschlossenen Einsatz ihrer Anhänger im altpolnischen Teil und durch den lebhaften Auftrieb der Evangelischen im ehemaligen Galizien zukunftsträchtige Impulse. Für die künftige kirchliche Lage von Wichtigkeit sind die neuen religiösen Bestrebungen und die hoffnungsreiche evangelisch-ukrainische Bewegung in Ostgalizien und Wolhynien. Ein Kristallisationszentrum bildet die "Arbeitsgemeinschaft deutscher Pastoren" in der Bursche-Kirche, die die Interessen der volksdeutschen evangelischen Kirchenangehörigen maßvoll, mutig und überzeugungstreu vertritt. Mit diesem seelisch-organisatorischen Rückhalt trotzt die feste Front von Pfarrer und Kirchengemeinde den chauvinistischen Eindringlingen, aber der Ansturm gegen die evangelische Kirche deutscher Gemeindeglieder wird um so bedrohlicher, je mehr sich der Polonisierungskurs Bursches von Warschau aus über das ganze Land ausweitet.

Durch die Haltung des Generalsuperintendenten D. Bursche ist in die Evangelisch-Augsburgische Kirche in Polen ein Zwiespalt hineingetragen worden, der sich je länger je mehr zu einer Frontbildung hie polnische, hie deutsche Kirche auswirkt. Die deutschen Evangelischen lehnen eine solche durch die Polonisierungsparole geschaffene politische Spannung ab und erkennen auf Grund ihrer völkischen Zusammensetzung und ihrer geschichtlichen Lage nur die lutherische Volkskirche an, die "polnische" und "deutsche" Kirche ist und mit gleichen Rechten die 120.000 evangelischen Polen wie die 360.000 evangelischen Deutschen Polens umfaßt. Die Einheit der Evangelisch-Augsburgischen Kirche darf nicht durch die politisch bedingte kirchliche Sonderbehandlung von drei Vierteln der zum deutschen Volkstum gehörigen Gemeindeglieder gefährdet werden und deshalb lehnen die deutschen evangelischen Glaubensgenossen die Burschesche Kampfdeklarierung der lutherischen Kirche zur "polnischen" Kirche auch in Oberschlesien grundsätzlich ab. Durch die Sonderstellung der Evangelisch-Unierten Ostoberschlesiens ist ihnen die Auseinandersetzung über das Warschauer Kirchengesetz erspart geblieben; aber es ist wohl sicher damit zu rechnen, daß nach der Herstellung der vollen Souveränität des Polnischen Staates über Ostoberschlesien auch die evangelische Kirchenfrage neu aufgerollt und u.a. der durch die Grenzziehung geschaffene "Anachronismus" beseitigt wird, daß heute noch evangelische Gemeinden im polnisch gewordenen Gebietsteil von der Beuthener Pfarrgeistlichkeit betreut werden, wie umgekehrt z.B. von Lublinitz aus noch evangelische Seelsorge in westoberschlesischen Grenzgemeinden geübt wird. Brücksichtigt man, daß von den Angehörigen der evangelisch-unierten Kirche in Ostoberschlesien kaum 10 Prozent polnischgesinnte Evangelische (ca. 3.000) sind, so wird die Forderung der evangelischen ostoberschlesischen Deutschen verständlich, daß ihnen mit den Gottesdiensten in deutscher Sprache auch ihre völkische Bewegungsfreiheit als evangelisches Kirchenvolk nicht eingeengt werde, mit anderen Worten, daß Generalsuperintendent Bursches Arm mit der Übertragung des neuen Kirchengesetzes auf Ostoberschlesien nicht das blühende evangelische Kirchenleben spaltet und stört, sondern ihm die Erfüllung seiner christlichen und kulturellen Aufgaben in seelischer Harmonie und loyaler Einstellung zum Staate erhalten bleibt. Unsicher wie das wirtschaftliche Leben der deutschen Volksgruppe in Ostoberschlesien ist auch ihre kirchliche Zukunft; aber der Glaube an die Kraft des Evangeliums von Christo ist in den 30.000 bekenntnistreuen Evangelischen der Woiwodschaft Schlesien, denen noch 3.000 aufrechte Evangelische des Bielitz-Teschener Schlesiens hinzuzurechnen sind, stärker als alle materielle Not und Pein: er ist der sicherste Pfeiler im Kampf um die Erhaltung der völkischen Art!

Wie sich auch immer die Lage der Deutschen in Polen und insonderheit das neue Verhältnis der evangelischen Kirchen zum Polnischen Staat entwickeln werden, stets werden Kirche und Minderheit ihre Pflichten gegen den Staat loyal erfüllen; aber sie erwarten, daß der Staat auch seiner Pflicht eingedenk ist, Kirche und Minderheit jene Rechte zu sichern, die sie als Mitträger des staatlichen Lebens und als Kulturstützen erster Ordnung beanspruchen. Die weltgeschichtliche Aufgabe Polens als Großmacht ist die Wacht gegen den Bolschewismus, ist der Schutz des Abendlandes vor dem Ansturm jener dunklen Kräfte, die mit der Fackel der Weltrevolution Not und Tod, Gesetzlosigkeit und Unfreiheit in alle Lande tragen: sie abzuwehren, braucht Polen die Rückendeckung durch die großen Kulturstaaten, voran Deutschland, aber nicht weniger die gesunde und geschlossene Kraft seines gesamten inneren Lebens, und zu dieser Kraft gehören wesentlich evangelische Kirche und deutsche Minderheit, auf deren zuverlässigen Einsatz der von Gefahren umdrohte, noch längst nicht innerlich gefestigte Polnische Staat nie und nimmer verzichten kann. Diese aus der geographischen Lage und der historischen Entwicklung Polens zwangsläufig gegebene Staatspflicht läßt erwarten, daß die polnische Staatsgewalt mit der wachsenden Konsolidierung ihres Machtbereiches im Innern und nach außen jene staatsmännische Weitsicht, Rücksichtnahme und Großzügigkeit gegenüber Kirchen und Minderheiten gewinnen und praktisch zur Anwendung bringen wird, die allein ein gedeihliches Zusammenleben und Zusammenarbeiten von Staat, Kirche und Minderheit gewährleisten. Die Wirkungskraft Polens als europäische Realität wird sich in dem Maße steigern, wie alle seine Volksgruppen und seine Kirchen in das Bewußtsein der Notwendigkeiten hineinwachsen, die Polen durch seine europäische Aufgabe, die Front gegen den Bolschewismus zu halten, gestellt ist.




Schneller als man erwarten mußte, haben sich die Befürchtungen der deutschstämmigen Evangelischen Oberschlesiens erfüllt: Unmittelbar nach Ablauf des Genfer Abkommens hat der Schlesische Sejm ein Gesetz über die vorläufige Organisation der unierten evangelischen Kirche in der Woiwodschaft Schlesien einstimmig angenommen, durch das der Polonisierung der evangelischen Kirche in Oberschlesien der Weg geöffnet wird. Nach diesem Gesetz sind dem Woiwoden Dr. Grazynski Vollmachten übertragen, die er sofort auf die Neubildung des Landeskirchenrates in der Weise angewandt hat, daß er durch Ernennung von vier neuen polnisch-evangelischen Mitgliedern des Vorläufigen Oberschlesischen Kirchenrates eine absolute polnische Mehrheit in den sieben Köpfe umfassenden Kirchenrat der zu 90 v.H. deutschen evangelischen Kirche Ostoberschlesiens sichergestellt hat. Artikel 15 des Kirchengesetzes, der besagt, daß Personen, die die polnische Staatsbürgerschaft nicht besitzen, weder kirchliche Ämter bekleiden noch irgendwelche Stellungen und Mandate in der Unierten Evangelischen Kirche in Oberschlesien innehaben können, macht den zahlreichen reichsdeutschen Pastoren die Ausübung ihres Hirtenamtes unmöglich und schafft dadurch Platz für die unter dem Druck des Woiwoden einzustellenden polnischen Pfarrer, ein Ziel, das der Ewangelík Górnóslaski, das Sprachrohr des Vereins der evangelischen Polen in Oberschlesien, unmißverständlich so gekennzeichnet hat: Die Kernbevölkerung Oberschlesiens muß ausnahmslos zum Polentum zurückkehren! Dieser politischen Tendenz des Kirchengesetzes entspricht auch der Artikel 18 Abs. 7, wonach den Gemeinden das wichtige Recht der Pfarrwahl entzogen und dieses Recht dem polonisierten Kirchenrat übertragen wird, der die freien Pfarrstellen nach Verständigung mit dem schlesischen Woiwoden(!) zu besetzen hat. Der bewährte und vom dankbaren Vertrauen der oberschlesischen Kirchengemeinden getragene Kirchenpräsident D. Voß hat gegen das Kirchengesetz scharfen Protest eingelegt, da es einen schweren Eingriff in die verfassungsmäßig garantierte Selbständigkeit der evangelischen Kirche bedeutet, weil es staatsrechtliche Bestimmungen mit innerkirchlichen, nach der Staatsverfassung der selbständigen Regelung durch die Kirche vorbehaltenen Fragen diktatorisch verbindet. Kirchenpräsident Voß hat weiter dagegen Einspruch erhoben, daß das Kirchengesetz ohne alle Beratung, ja ohne Fühlungnahme mit den zuständigen kirchlichen Körperschaften, voran mit der Kirchenleitung, im Sejm eingebracht und verabschiedet worden ist. Er hat schließlich bei dem polnischen Staatspräsidenten um eine Audienz nachgesucht, um ihm die Besorgnis der oberschlesischen Kirche namens der Kirchenleitung und der Kirchengemeinde vorzutragen. Nach Lage der Dinge muß aber damit gerechnet werden, daß durch die Auslieferung der ostoberschlesischen uniert-evangelischen Kirche an die Gewalt des Woiwoden und durch den Einzug polnisch gesinnter Pastoren in die deutschen Gemeinden eine Polonisierung großen Umfanges in der evangelischen Kirche Oberschlesiens vor sich gehen wird und eine Annäherung und möglicherweise Überleitung der oberschlesischen Kirche an die vom Bischof Bursche rein polnisch geleitete Augsburgische Kirche beabsichtigt ist.

Der deutsche Senator Hasbach hat im Warschauer Senat am 29. Juli 1937 eine Interpellation eingebracht, die sich mit dem vom Schlesischen Sejm verabschiedeten "Gesetz über die vorläufige Organisation der unierten evangelischen Kirche in Polnisch-Oberschlesien" beschäftigt und der Regierung zur Stellungnahme weitergereicht worden ist; sie hat folgenden Wortlaut:

          "Am 16. Juli 1937 hat der Schlesische Sejm ein von dem Herrn Wojewoden für Oberschlesien eingebrachtes Gesetz in drei Lesungen angenommen, welches als Gesetz über die vorläufige Organisation der unierten evangelischen Kirche in Oberschlesien bezeichnet ist. Dieses Gesetz steht mit Artikel 115 Abs. 1 und 2 der Staatsverfassung in Widerspruch.
          1. Das Gesetz gewährt dem Herrn Wojewoden entscheidenden Einfluß auf die Bildung eines Organs, mit welchem sich die Regierung über die endgültige Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche verständigen will. In diesem Vorgehen liegt eine Verletzung des Art. 115, Abs. 2 der Staatsverfassung.
          2. Obgleich das Gesetz nach seiner Überschrift nur die vorläufige Organisation der unierten Kirche bezweckt, enthält es eine Reihe von Bestimmungen, welche das Verhältnis von Staat und Kirche in wesentlichen Beziehungen bereits endgültig regeln, ohne daß dabei irgendeine kirchliche Stelle mitgewirkt hat. Darin liegt ebenfalls eine Verletzung des Artikels 115, Abs. 2 der Staatsverfassung.
          3. Das Gesetz enthält eine große Reihe von Bestimmungen, welche in die inneren Verhältnisse der Kirche eingreifen, vor allem die Bestimmung, wer zur Kirche gehört, die Ernennung der Mitglieder ihrer leitenden Kirchenbehörde, die Bildung der Synode und viele andere Handlungen, welche der ausschließlichen Regelung durch die Kirche selbst vorbehalten sind. Darin liegt eine Verletzung des Artikels 115, Abs. 1 der Staatsverfassung.
          Welche Maßnahmen gedenkt die Hohe Staatsregierung zu ergreifen, um dieses Gesetz in Übereinstimmung mit der Staatsverfassung zu bringen?"

Senator Hasbach hat damit die schweren Bedenken, die die unierte evangelische Kirche in Ostoberschlesien gegen das neue Gesetz des Schlesischen Sejms hegt, zum Ausdruck gebracht. Das evangelische Kirchenvolk steht vor der unverständlichen Tatsache, daß die endgültige Regelung der Rechtslage für die unierte Kirche Oberschlesiens einer Vertretung in die Hand gegeben werden soll, die sich nicht nach ihrem Willen, sondern nach dem des schlesischen Wojewoden zusammensetzt. Damit liegt die Stimmenmehrheit bei denen, die in den Gemeinden nur über eine verschwindende Minderheit verfügen, nämlich bei den aus anderen Gebieten nach Oberschlesien zugewanderten evangelischen Polen.

Die Evangelischen Ostoberschlesiens, die seit Jahren dem Druck einer sehr kleinen, kaum 10%igen polnischen Minderheit, die danach strebte, die Unierte Kirche und ihre Einrichtungen in ihre Hand zu bekommen, ausgesetzt sind, ihm aber sehr erfolgreich widerstanden haben, begleiten diese polnische Kirchenentwicklung mit um so größerer seelischer und religiöser Opposition, als es ihnen immer sichtbarer wird, daß der Weg der Kirchenpolitik Bursches über die Polonisierung der deutschen evangelischen Gemeinden letzten Endes zur Katholisierung, d.h. zu der in der Staatsverfassung mit Vorzugsstellung bedachten, staatlich wohlgelittenen Katholischen Kirche führt. Das Kirchengesetz in Oberschlesien stellt einen Wendepunkt in der Geschichte der Unierten Evangelischen Kirche in Oberschlesien dar: es stellt die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Kirche in Frage und vernichtet formal ihren deutschen Charakter. Nicht kirchlicher Aufbauwille, sondern staatliche Entnationalisierungspolitik haben hier einen Rahmen gesteckt, der eine unerhörte Belastung der Gewissen geschaffen hat: Das Kirchengesetz in Ostoberschlesien ist als völlig einseitiger, der Kirche aufgezwungener Staatsakt ein weiteres schwerwiegendes Moment in der Reihe der Kümmernisse, denen das oberschlesische Volk, insonderheit die Deutschen Oberschlesiens, seit der zwangsweisen Zuteilung ihrer Heimat an Polen ausgesetzt ist.




Übersicht über die evangelischen Kirchen in Polen

[Scriptorium merkt an: Ausführlicheres zu den Kirchen und ihren Beziehungen zu den Volksdeutschen in Polen finden Sie hier.]

1. Die Evangelische Kirche augsburgischen Bekenntnisses in Polen mit dem Sitz in Warschau mit ungefähr 480.000 Seelen,6 von denen 80 Prozent dem deutschen, 20 Prozent dem polnischen Volkstum angehören. Die Kirchenleitung mit Generalsuperintendent D. Bursche an der Spitz ist rein polnisch. Die bisherige Rechtsgrundlage dieser Kirche war das (russische) Gesetz vom 20. Februar 1849.

2. Die Unierte-evangelische Kirche in Polen mit dem Sitz in Posen mit ungefähr 300.000 Seelen, die fast ausschließlich dem deutschen Volkstum angehören. An der Spitze der Kirche steht Generalsuperintendent D. Blau.

3. Die Unierte-evangelische Kirche in Polnisch-Oberschlesien mit dem Sitz in Kattowitz und ungefähr 30.000 Seelen, die zu 90 Prozent dem deutschen Volkstum angehören. Die Kirche wird geführt von Präsident D. Voß. - Die Rechtsgrundlage für die beiden unierten Kirchen bilden die alten deutschen Kirchengesetze, in Oberschlesien darüber hinaus die Artikel 84-96 der Genfer Konvention vom 15. Mai 1922.

4. Die Evangelische Kirche A. und H. B. in Kleinpolen mit dem Sitz in Stanislau und ungefähr 35.000 Seelen, von denen etwa 30.000 dem deutschen Volkstum angehören. An der Spitze der Kirche steht Superintendent D. Zöckler. Die Rechtsgrundlage dieser Kirche bildet das (österreichische) Kaiserliche Patent vom 8. April 1861 und die Evangelische Kirchenverfassung vom 9. Dezember 1891.

5. Die Evangelisch-reformierte Kirche in der Republik Polen mit dem Sitz in Warschau und 14.000 Seelen, die fast ausschließlich dem polnischen Volkstum angehören. Die Rechtsgrundlage bildet das (russische) Gesetz vom 20. Februar 1849.

6. Die Evangelisch-reformierte Kirche in der Republik Polen mit dem Sitz in Wilna und 10.000 Seelen. Sie ist rein polnisch. Die Rechtsgrundlage bildet das (russische) Gesetz betr. die fremden Bekenntnisse.

7. Die Evangelisch-lutherische Kirche in Westpolen (altlutherische Kirche) mit 3.800 Seelen. Sie ist rein deutsch. Ihre Rechtsgrundlage bilden die alten deutschen Bestimmungen.



Nachsatz vom Scriptorium:

Als höchst aufschlußreiche weiterführende Literatur empfehlen wir das Buch von Adolf Eichler: Das Deutschtum in Kongreßpolen.



Anmerkungen

1Als Kirchengesetz wird im folgenden die Verordnung des Staatspräsidenten Moscicki über das Verhältnis des Staates zur Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen vom 26. November 1936 bezeichnet. ...zurück...

2Diese enge Verbundenheit von evangelischer Kirche und deutschem Volkstum kommt in der Entschließung treffend zum Ausdruck, die der "Rat der Deutschen" unter Vorsitz des Senators Hasbach zur Lage der Evangelisch-Augsburgischen Kirche Polens gefaßt hat. Die Entschließung lautet: "Der Rat der Deutschen hat die Berichte über die bewußte Benachteiligung des deutschen evangelischen Kirchenvolkes bei der Bildung der Körperschaften der Evangelisch-Augsburgischen Kirche gehört. Für uns Deutsche ist Glaube und Volkstum unlösbar verbunden. Die Ratsmitglieder ohne Unterschied der Konfession erklären sich mit aller Schärfe gegen die Zurücksetzung unserer Volksgenossen im religiösen und kirchlichen Leben." ...zurück...

3Der evangelische Bevölkerungsanteil erreicht in den Städten Kattowitz und Königshütte sowie im Kreise Pleß 5 v.H. ...zurück...

4Die Forderungen des Deutschtums in Ostoberschlesien sind
1. das Recht der Minderheit, ihr Deutschtum kulturell zu pflegen,
2. die Sicherung der deutschen Organisationen,
3. die Sicherung des deutschen Schulunterrichts für unsere Kinder und Verhinderung jeglicher wirtschaftlicher und moralischer Druckmittel zwecks Verminderung der deutschen Schülerzahl,
4. die Gewähr für die Abhaltung deutscher Gottesdienste,
5. das Recht der Deutschen auf den Arbeitsplatz als gleichberechtigte polnische Staatsbürger. ...zurück...

5Von den 10 Kreisen der Evangelisch-Augsburgischen Kirche sind dank der tendenziösen Handhabung des Wahlsystems durch Generalsuperintendent D. Bursche die vier größten Diözesen (Lodz, Plozk, Kalisch, Luck), die allein mehr als zwei Drittel der stimmberechtigten Kirchenglieder stellen, durch die gewaltsame Ausschaltung der Wahl von deutschgesinnten Synodalen überhaupt nicht in der Warschauer Generalsynode vertreten. Die Generalsynode ist unter dem Vorsitz Bursches eine Rumpfsynode, da sie infolge Fehlens der deutschen Synodalen statt aus den gesetzlich vorgeschriebenen 54 Mitgliedern nur aus 25 Synodalen besteht. ...zurück...

6Generalsuperintendent B. Bursche gibt die Zahl der Evangelischen in Polen mit rund 1 Million an, wovon auf die Evangelisch-Augsburgische Kirche 600.000 entfallen. ...zurück...


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Die kirchliche Lage in Polen