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Deutschland und der Korridor

 
Das politische Schicksal
des Weichsellandes (Teil 2)

Erich Maschke

Seitdem der Orden dazu übergegangen war, selbst in großem Umfang Ausfuhrhandel zu treiben, um die Produkte seiner Eigengüter nutzbringend verwenden zu können, wurde das alte [101] Einvernehmen zwischen ihm und seinen Städten zunehmend gestört. Dazu kam, daß der Krieg mit Polen in den Jahren 1409/1410 der Wirtschaft Preußens tiefe Wunden geschlagen hatte, die umsoweniger heilen konnten, als der Thorner Friede dem Ordenslande eine untragbar hohe Kriegsentschädigung auferlegt hatte. Schon Heinrich von Plauen war daher genötigt gewesen, vom Lande Steuern zu verlangen, wie sie im blühenden Ordensland bisher überhaupt nicht bekannt gewesen waren. Auch seine schwachen Nachfolger mußten an die Stände des Landes die gleichen, ja erhöhte finanzielle Forderungen stellen.

Nun war das fünfzehnte Jahrhundert in ganz Deutschland, ja noch darüber hinaus die Zeit, in der die Stände durch das Recht der Steuerbilligung wachsenden Einfluß auf die Politik gewannen. Der fürstliche Territorialstaat wurde durch den "Ständestaat" ersetzt. Auch das Deutsche Reich erlag diesem Vorgange, erkämpften doch die deutschen Fürsten gegenüber Kaiser und König ebenso die reichsständische Freiheit, wie sie ihrerseits in ihren Ländern den Forderungen der Landstände nachgeben mußten. Wenn im fünfzehnten Jahrhundert die preußischen Stände im Kampfe gegen die Ordensherren groß wurden, so war das ein Vorgang, der grundsätzlich in nichts von der allgemeinen deutschen Verfassungsentwicklung abwich. Ein Unterschied war nur insofern gegeben, als in Preußen weniger der Adel, wie sonst im Reich und auch im benachbarten Polen, als vielmehr die großen Städte die Träger der ständischen Bewegung waren. Ein Unterschied lag auch insofern vor, als der Landesherr Preußens eine geistliche Körperschaft, eben der Deutsche Orden, war, der unvermeidbar die allgemeine Krise der katholischen Kirche Deutschlands und des ganzen Abendlandes in dieser Zeit auch an sich selbst erfuhr. Denn so tapfer und bedingungslos der Orden nach außen hin sein Recht gegen Polen wahrte, solange noch die geringste Aussicht bestand, auf diesem Wege die politische Freiheit zu hüten oder wiederzugewinnen, so sehr war doch die Form des Ordens selbst einer Reform oder besser noch einer grundsätzlichen Änderung bedürftig.

Diese innere Krise des Ordens erleichterte daher den Ständen ihre Einflußnahme auf die Landesherrschaft. Als zwischen den oberdeutschen und den niederdeutschen Ordensbrüdern offene Streitigkeiten ausbrachen und die Stände vom Orden selbst um Vermittlung angegangen wurden, da war für sie der Weg frei, ein Nebenregiment zu errichten. Denn der preußische Bund, den Städte und Adlige im Februar 1440 gründeten, hatte dieses letzte Ziel, obgleich die Bundgenossen sich in ihm nur "um des gemeinsamen Nutzes und Frommen willen, Gott zu Lobe, unserm gnädigen Herrn Hochmeister, seinem Orden und Lande zu Ehren und uns allen zu fürderem Bestehen und Wohlfahrt" zusammentaten und nur zur Bekämpfung von Übergriffen der Herrschaft verpflichteten. Doch wenn der Bund bald Steuern ausschrieb, Gerichtshoheit ausübte und auf die kleinen Städte, die sich ihm hatten anschließen müssen, einen scharfen Druck ausübte, so war unverkennbar, daß der Bund eine ständische Nebenregierung war, die bald das Gesetz des Handelns an sich riß.

Im Jahre 1454 schickte der preußische Bund seinen Absagebrief an den Hochmeister und unterstellte sich dem Könige von Polen. Nicht aus eigener Kraft sondern durch den Verrat der Stände kam nun Polen im Weichsellande endlich an das lange erstrebte Ziel. In einem furchtbaren
Schlochauer Tor in Konitz
Schlochauer Tor in Konitz, der ehemaligen festen deutschen Ordensstadt.
dreizehnjährigen Kriege erschöpften sich die Kräfte des Ordens und des Landes. Das einzig bedeutende Treffen des Krieges, die Schlacht bei Konitz (1454), endete mit einer völligen Niederlage der Polen. Im übrigen waren sie auf die Gelder und die Söldner des Bundes angewiesen.

Als der Orden, von Kaiser und Reich verlassen, endlich den Widerstand aufgeben mußte, sprach er im zweiten Thorner Frieden (19. Oktober 1466) den Verzicht auf Pommerellen, das [102] Kulmerland mit der Michelau sowie die Gebiete von Elbing, Marienburg, Stuhm und Christburg östlich der Weichsel aus. Auch das Bistum Ermland wurde der Oberhoheit des polnischen Königs unterstellt. Der Rest des Ordensstaates mußte ebenfalls die königliche Oberhoheit anerkennen und hörte damit auf, Teil des Deutschen Reiches zu sein. Der Ordensstaat war zerschlagen. Noch über ein halbes Jahrhundert hindurch lehnten sich die Hochmeister gegen das Schicksal auf, das ihnen das Thorner Friedensditat auferlegte. Als sich gezeigt hatte, daß die Hilfe des Reiches und der deutschen Fürsten selbst dann nicht zu gewinnen war, wenn Fürstensöhne an die Spitze des Ordens traten, wandelte der Hochmeister Albrecht von Brandenburg 1525 den restlichen Ordenssaat in ein weltliches Herzogtum um und nahm dieses vom polnischen Könige zu Lehen.

Bitterer und enttäuschender noch wurde das Schicksal des westlichen Ordenslandes zu beiden Seiten der Weichsel, das sich dem Könige von Polen unterstellt hatte. Der Abfall der Stände vom Orden beruhte in keiner Weise, wie einzelne polnische Historiker es glauben machen wollen, auf einem nationalen Gegensatze der einheimischen nichtdeutschen Bevölkerung gegenüber der deutschen Landesherrschaft. Nicht der polnische Landesadel des Kulmerlandes oder Pommerellens war führend in der ständischen Bewegung. Die bedeutendste Adelsfamilie des Landes, die Baysen, die nach dem Abfall das Amt eines Gubernators besetzte, war deutscher Herkunft. Doch die eigentlich treibende Kraft war gar nicht der Adel sondern die großen Städte, vor allem Thorn. Danzig hatte sich der Bewegung nur zögernd angeschlossen und war erst spät, dann freilich umso entschlossener dem Abfall der Stände beigetreten. Thorn war in seiner Bevölkerung ganz überwiegend, in seinem Patriziat, das allein die politische Führung in der Hand hatte, ausschließlich deutsch, und Danzig hatte überhaupt eine so gut wie geschlossene deutsche Bevölkerung. Es waren also gerade die Landschaften und die sozialen Schichten des Ordenslandes, die am reinsten deutsch waren, die sich gegen die Ordensherrschaft erhoben hatten. Der Preußische Bund und der Ständekampf hatten keine nationalen sondern jene allgemeinen innerpolitischen Wurzeln, von denen wir oben gesprochen hatten. Ihr einziges Ziel war die ständische Freiheit, eine möglichst große Unabhängigkeit vom Landesherren. Diese aber schien ihnen am besten der polnische König zu verbürgen, nachdem sie zuvor eine Unterstellung unter die Könige von Dänemark oder Böhmen erwogen hatten, denn der König von Polen war fern und zudem selbst in der Hand der ständischen Adelsherrschaft seines Landes.

Es sollte sich nur zu bald zeigen, daß die Rechnung der preußischen Stände falsch gewesen war. Es hätte sie schon stutzig machen müssen, daß in ihrem Schreiben, in dem sie sich dem polnischen Könige unterstellten, nur von Vereinigung und Einverleibung ihres Landes die Rede war, in dem großen Inkorporationsprivileg des polnischen Königs aber von Wiedervereinigung, als ob jetzt ein alter historischer Zustand wiederhergestellt und das Weichselland in einen früheren politischen Zustand zurückgeführt würde, während doch in Wirklichkeit die Unterstellung des Landes auf dem freien Willen der Stände beruhte und obendrein die ehemals preußischen Gebiete östlich der Weichsel mitbetroffen waren, auf die Polen in den vorangegangenen Jahren nicht einmal einen Anspruch zu erheben gewagt hatte.

Andererseits verpflichtete sich der polnische König, das Land bei seinen alten Privilegien und Rechten zu erhalten und in Bezug auf Preußen nichts Wichtiges ohne die Zustimmung der Stände zu unternehmen. Ausdrücklich wurde das Recht auf eigene Landtage anerkannt, was gegenüber dem polnischen Sejm von grundlegender Bedeutung war. Ebenso wurde den Ständen das Indigenatsrecht zugesichert: Ämter und Würden sollten nur mit Landeskindern besetzt werden.

[103] Die Geschichte "Königlich Preußens", wie es zum Unterschiede vom Herzoglichen Preußen dann genannt wurde, ist erfüllt vom erbitterten, aber vergeblichen Widerstande des Landes gegen die schamlose Gewalt, mit der alle feierlich verbrieften Rechte des deutschen Weichsellandes unterdrückt und vernichtet wurden. Das Amt des Gubernators, der das Haupt der ständischen Landesregierung und der Stellvertreter des Königs war, wurde seit dem Jahre 1467 nicht mehr besetzt, nachdem es zuvor in den Händen des Hans von Baysen und dann seines Bruders Stibor gelegen hatte. Die Ordensverwaltung wurde gleichzeitig durch die drei Wojewodschaften oder Palatinate Pommerellen, Kulm und Marienburg ersetzt, die kleinere Verwaltungseinheit waren die Starosteien. Bei ihrer Besetzung und bei der Bestellung der Mitglieder des Landesrates wurde bald das Indigenatsrecht durchbrochen und wurden Polen oder doch Nichtpreußen eingesetzt. Das Haupt der polnischen Gegenreformation in Preußen, der ermländische Bischof Hosius, war es daher, der als Vorsitzender des Landesrates die völlige Einverleibung Königlich Preußens in die Republik Polen im Jahre 1569 betrieb. Ebenso wurde der preußische Landtag bekämpft und in ihm besonders die deutsche Verhandlungssprache, die nach der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts gewaltsam unterdrückt wurde. Vergebens rief damals der Vertreter Danzigs im Landtage aus: "Man säße allhie nicht wie Polnische, sondern wie Preußische Räthe, die Teutsch gebohren, zur Teutschen Zunge gehörten!"

Da die Preußen darauf hinweisen konnten, daß sie nicht mit der polnischen Republik verbunden seien sondern mit dieser nur den König gemeinsam hätten, während sie im übrigen durch Gesetz, Verfassung, Sprache und Sitte von Polen geschieden seien, so sollte alles Sonderleben, trotz feierlichen Zusicherungen im Beginn des Endkampfes gegen den Orden, jetzt gewaltsam vernichtet werden. Das Wort, das der polnische Kronmarschall den Preußen auf dem Reichstage des Jahres 1562 zurief: "Euch hilft kein Recht", steht über der Geschichte des Weichsellandes und seiner unglücklichen deutschen Bevölkerung seit dem Jahre 1466.

Trotzdem war das Verfassungsverhältnis bis zum Jahre 1569 so, daß trotz ständiger Minderung der preußischen Rechte Königlich Preußen nicht zu Polen gehörte sondern selbständig war, auch wenn es den polnischen König als Oberherrn anerkannte. Erst der Gewaltstreich der Lubliner Union von 1569, dem die eingeschüchterten Vertreter des Landes erlagen, änderte diesen Zustand und machte Königlich Preußen wider alles Recht zu einem Teil der Republik Polen. Nur in der Zeit von 1569 bis 1772 hat diese also eine auf Rechtsbruch und Gewalt beruhende Herrschaft im Weichsellande ausgeübt. Auch noch in dieser Zeit wahrte Preußen sich in der Steuerbewilligung und bei der Teilnahme an Kriegen des polnischen Staates die eigene Entscheidung, wie es auch durch die Führung eines eigenen Landeswappens seine Sonderstellung unterstrich.

Danzigs Handelswege
und seine Wirtschaftsstellung
im deutschen Osten
Danzigs Handelswege und seine Wirtschaftsstellung im deutschen Osten
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Darüber hinaus hat Danzig unnachgiebig seine Unabhängigkeit, die ja das einzige Ziel beim Abfall vom Orden gewesen war, verteidigt. Es blieb weiterhin die stolze Hansestadt, die es unter dem Orden gewesen war. Bezeichnend für seine Stellung war, daß es seine außenpolitische Vertretung selbst wahrnahm. Zahlreiche auswärtige Gesandte wurden im Laufe der Zeit beim Danziger Rate akkreditiert. Selbst der polnische König schrieb dem Danziger Rate noch im siebzehnten Jahrhundert in deutscher oder lateinischer Sprache und nahm so auf dem völkischen Charakter der deutschen Hansestadt Rücksicht. Danzig scheute sogar den bewaffneten Konflikt mit einem polnischen Könige nicht, wenn dieser seine rechtlichen Verpflichtungen zu verletzen suchte. Als der neugewählte König Stefan Bathory die Huldigung der Stadt vor der Anerkennung ihrer Privilegien, zu der er verpflichtet war, verlangte und Danzig sie ihm ver- [104] weigerte, zog er mit einem Heer vor Danzig und belagerte es 1577 vergeblich. Er mußte froh sein, mit einer Entschuldigung und einer Geldzahlung der Stadt unter voller Anerkennung ihrer Handels- und sonstigen Privilegien davonzukommen. Danzig aber durfte in diesem erfolgreichen Kampf für seine Unabhängigkeit und sein Recht einen Höhepunkt seiner Geschichte sehen.

Dennoch waren die preußischen Stände zu schwach, um aus eigener Kraft das politische Schicksal des Weichsellandes zum Besseren zu wenden. Auch auf das Herzogliche Preußen konnten sie keine Hoffnungen setzen. Zwar hatte die Reformation die niemals abgerissenen Fäden zwischen den beiden getrennten Teilen Preußens verdichtet und enger geknüpft und suchte Herzog Albrecht sich auch auch sonst des ehemaligen Ordenslandes anzunehmen. Für die politischen Machtverhältnisse bedeutete das nicht viel. Wohl aber hatte es für die Zukunft die größte Bedeutung, daß im Jahre 1618 die brandenburgischen Hohenzollern auf die preußische Linie des Hauses folgten. Diese schon bei der Lehensnahme Herzog Albrechts 1525 vorgesehene Nachfolge verband das Herzogtum Preußen mit dem brandenburgischen Kurfürstentum. So nahm jenes [105] am Aufstieg Brandenburgs teil und vermochte die Fesseln der polnischen Oberhoheit schon über ein Jahrhundert vor der Rückkehr Königlich Preußens in das deutsche Staatsleben abzustreifen.

In großen politischen Zusammenhängen vollzog sich diese Wandlung. Die Verbindung Polens mit Litauen, die ebenfalls 1569 durch den Lubliner Reichstag zu einer Realunion geworden war, weckte die Gegnerschaft des aufstrebenden russischen Reiches, das nach Westen, gegen die Ostsee und gegen Polen vorzudringen begann. Die Berufung des schwedischen Wasa Sigismunds III. auf den polnischen Königsthron (1587) andererseits bereitete den Kampf um das Dominium maris Balticí vor, der erst mit dem Ende des Nordischen Krieges (1721) gegen Schweden entschieden werden sollte. Es ging Polen in diesen Kriegen nicht darum, als Seemacht hinauszuziehen auf das Meer. Wie man in Polen schon zuvor einmal ausgesprochen hatte, genügte es den polnischen Adligen, ihre Pferde an der Meeresküste tränken zu können. Wenn Polen eine Flottenpolitik betrieb, so bediente es sich dazu Danzigs, seiner Schiffe, Matrosen und Kapitäne. Der Kampf, der über ein Jahrhundert das Verhältnis Polens zu Schweden beherrschte und in seinen Rückwirkungen so bedeutsam für das Schicksal des Weichsellandes wurde, entsprang daher auch nicht einem ursprünglichen Gegensatze der beiden Länder im Kampfe um die Beherrschung der See sondern einer dynastischen Wurzel.

Dreimal im Laufe eines Jahrhunderts trug Schweden den Krieg auf das Festland südlich der Ostsee hinüber. Das Weichselland war die naturgegebene Einbruchspforte für die siegreichen schwedischen Heere, von denen Königlich Preußen ebenso wie der Herzogliche Landesteil mehrfach besetzt wurde. Im Jahre 1626 landete Gustav Adolf in Pillau, setzte sich für mehrere Jahre in Elbing fest und unterwarf das Mündungsgebiet der Weichsel bis Marienburg und Dirschau. Auch die westlichen Teile des Herzogtums Preußen wurden besetzt. Hatte dann der Waffenstillstand von Altmark 1629, der zwischen Polen, Schweden, Danzig und Brandenburg geschlossen wurde, die Schweden im Besitz der preußischen Küste von Elbing bis Memel gelassen, so mußten diese in dem für sechsundzwanzig Jahre abgeschlossenen Waffenstillstand von Stuhmsdorf einige Jahre nach dem Tode Gustav Adolfs auf die Eroberungen in Preußen wieder verzichten.

Als dann Karl X. Gustav von Schweden im Jahre 1655 den Kampf wieder aufnahm, strebte er gleichfalls nach dem Besitz des Weichsellandes, das in den Kämpfen dieser Jahre schwer litt. Jetzt aber war für den großen Kurfürsten die Zeit gekommen, zwischen Polen und Schweden die politische Unabhängigkeit des Herzogtums Preußen wiederherzustellen. Nachdem sie neben anderen, später wieder aufgegebenen Rechten zunächst von Schweden im Vertrage von Labiau (1656) zugesichert war, wurde sie im Vertrage von Wehlau (1657) auch von Polen anerkannt und im Frieden von Oliva (1660) von den europäischen Großmächten verbürgt. Der Große Kurfürst war damit souveräner Herr in seinem preußischen Herzogtum geworden. Wenigstens das östliche Preußen hatte die Fesseln abgeworfen, die ihm der Frieden von Thorn 1466 auferlegt hatte. Eine neue Entwicklung konnte beginnen. Ihr äußerlich bedeutendster Ausdruck wurde (1701) die Annahme des preußischen Königtitels durch den Sohn des Großen Kurfürsten, der sich König Friedrich I. nannte. Bald sollte das preußische Königtum der Gesamtmonarchie der Hohenzollern den Namen geben und damit auch die Verbindung zwischen Brandenburg und dem östlichen Preußen über das polnisch beherrschte "Königlich Preußen" hinweg immer enger werden.

Wie Gustav Adolf und Karl Gustav, so benutzte auch Karl XII. das Weichselland als Einfallstor gegen Polen. Im Jahre 1703 belagerte und eroberte er Thorn. Gelang es den [106] Schweden auch weder hier noch besonders in Danzig, sich für die Dauer festzusetzen, so bestätigten die schwedisch-polnischen Kriege doch wieder, daß das Weichselland geschichtlich nicht in einer organischen Verbindung mit Polen stand sondern diesem als selbständiger politischer Körper vorgelagert war, der in einen ganz anderen Zusammenhang, in den des Ostseeraumes, hineingehörte. So waren diese Kriege, auch wenn sie dem westlichen Preußen nicht wie dem östlichen die Freiheit brachten, doch auch für jenes von großer grundsätzlicher Bedeutung.

Der Verfall der polnischen Adelsrepublik führte dann endlich auch das Weichselland in seinen eigentlichen geschichtlichen Lebenskreis zurück. Polen war so schwach, daß es Königlich Preußen nicht mehr zu halten und nach außen zu verteidigen vermochte. Das Elbinger Territorium, das schon 1657 an den Großen Kurfürsten verpfändet worden war, wurde nicht mehr von Polen eingelöst sondern blieb 1698 bis 1700 und seit 1703 unter brandenburgisch-preußischer Pfandherrschaft, bis es 1772 mit dem übrigen Westpreußen endgültig in den preußischen Staat zurückkehrte. Wie Karl XII. versucht hatte, Danzig zu gewinnen, so bemühte sich nach der Niederlage des schwedischen Königs der russische Zar Peter der Große darum, Danzig in seine Hand zu bringen.

Die polnische Adelsrepublik erlag dem Andringen Rußlands fast ohne Widerstand. Dieses benutzte die Frage der Dissidenten, das heißt der Nichtkatholiken, zu ständigen Einmischungen in die polnische Innenpolitik. Daß russische Truppen ohne Rücksicht auf die Neutralitat Polens im Siebenjährigen Kriege Ostpreußen besetzte, blieb für Friedrich den Großen eine unvergeßliche Lehre. Wenn es im Jahre 1772 zur sogenannten ersten polnischen Teilung kam, so war [107]
Westpreußen und der Netzedistrikt im
Brandenburgisch-Preußischen Staat
Westpreußen und der Netzedistrikt im Brandenburgisch-Preußischen
Staat
diese für den preußischen König nicht eine billige Gelegenheit, einen schwachen Nachbarn zu berauben sondern eine politische Notwendigkeit gegenüber dem gefährlichen Vordringen Rußlands nach Westen, das die schwache polnische Adelsrepublik nicht mehr abzuwehren vermochte. Es bezeichnet das Gewicht des russischen Problems, wenn Preußen zwar Königlich Preußen und den Netzedistrikt gewann, doch mit Ausnahme von Danzig und Thorn, deren Abtretung durch Rußland verhindert wurde. Sie kamen erst 1793 in der sogenannten zweiten Teilung zu Preußen. Erst mit diesem Jahre war daher das Unrecht von 1466 und 1569 wiedergutgemacht.

[108] Auf die völkische Bedeutung der Rückkehr des Weichsellandes unter deutsche Herrschaft soll hier nicht eingegangen werden. Doch darauf muß hingewiesen werden, daß sowohl von der politischen Geschichte wie von den Volkstumsverhältnissen her der Begriff einer ersten Teilung Polens im Jahre 1772 falsch und irreführend ist. Nicht vom polnischen
Die Einheit des Preußenlandes
in der Napoleonischen Zeit
Die Einheit des Preußenlandes in der Napoleonischen Zeit
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Staaten wurden wesentliche Gebiete abgetrennt, sondern ein autonomes, wenn auch zwei Jahrhunderte hindurch vergewaltigtes Land kam zur preußischen Monarchie. Von jetzt an nannte sich Friedrich der Große nicht mehr, wie seine beiden Vorgänger, König in Preußen, sondern König von Preußen, denn das ganze Preußenland war wieder unter seiner Krone vereint.

Beide Provinzen, Ostpreußen wie Westpreußen, erlebten in den folgenden Jahrzehnten eine reiche wirtschaftliche Blüte, die durch wirksame Verwaltungsmaßnahmen gefördert wurde. Da griff Napoleon mit seinem Siegeszuge durch die preußische Monarchie auch in das Schicksal des Weichsellandes ein. Obgleich sich die preußischen Truppen in der Schlacht bei Preußisch-Eylau (8. Februar 1807) erfolgreich gegen das sieggewohnte französische Heer hielten, endete die Schlacht bei Heilsberg ergebnislos und die bei Friedland mit einer Niederlage der mit Preußen verbündeten Russen. Danzig mußte nach tapferer Gegenwehr kapitulieren. Der Friede von Tilsit (1807) zerschlug den preußischen Staat und zerriß auch das erst vor einem Menschenalter wiedervereinte deutsche Weichselland. Preußen mußte das Kulmerland einschließlich der Stadt Thorn, doch ohne Graudenz und den größeren Teil des Netzedistrikes abtreten, die mit den übrigen Gewinnen Preußens aus den Teilungen Polens (Südpreußen und Neuostpreußen) zum Herzogtum Warschau verbunden wurden. Danzig wurde Freistaat, seine alte Verfassung aus der Zeit vor 1793 wurde in der Hauptsache wiederhergestellt. Preußen und Sachsen sollten die Schutzhoheit über Danzig ausüben. Doch was Napoleon in Wirklichkeit mit der Einrichtung Danzigs als Freistaat beabsichtigte, hat Talleyrand einmal in die Worte gefaßt: "Wenn der Kaiser die Stadt einnimmt, so behält er sie für sich, um von hier aus Herr der Ostsee zu sein." Nicht als notwendig für Polen, das Napoleon in den Grenzen, die ihm die Rücksicht auf den russischen Zaren auferlegte, im Herzogtum Warschau wiederherstellte, sah der Kaiser den Besitz Danzigs an, sondern er erkannte seinen Wert innerhalb des Ostseeraumes selbst, den er sich durch den Freistaat zu sichern gedachte. Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, daß der Kaiser der Franzosen, der Königreiche verteilte und Grenzen mit einem Federstrich änderte, nicht daran dachte, Ostpreußen von den übrigen Resten des preußischen Staates zu trennen und das Herzogtum Warschau durch einen Korridor mit der Ostsee zu verbinden. Er sah selbst für das verkleinerte Preußen den Landzusammenhang zwischen Berlin und Königsberg als selbstverständlich und berechtigt an.

Westpreußen und Posen
im Schutz der Grenzen des
Reiches von 1871 bis 1918
Westpreußen und Posen im Schutz der Grenzen des 
Reiches von 1871 bis 1918
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Der Freiheitskrieg, der von Ostpreußen seinen Ausgang nahm, stellte wenige Jahre später die politische Ordnung im Weichsellande, die Napoleon gestört hatte, wieder her. Das Kulmerland wurde 1815 wieder mit der Provinz Westpreußen vereint, auch die 1807 nicht verlorenen Teile des Netzedistriktes, Teile der Kreise Deutsch-Krone und Flatow, blieben bei ihr, während der übrige, größere Teil des Netzedistriktes zu der neuen Provinz Posen geschlagen wurde.

An die Spitze der neugeordneten Provinz Westpreußen wurde im Jahre 1816 Theodor von Schön gestellt. Auf seinen Wunsch wurde ihm, dem gebürtigen Ostpreußen, acht Jahre später auch die Leitung seiner Heimatprovinz anvertraut. In den achtzehn Jahren seiner Verwaltungsarbeit wurde er der getreue Eckart des wieder vereinten alten Ordenslandes, dessen geschichtliche Eigenart gleich seinen praktischen Lebensbedürfnissen von Theodor von Schön in Liebe und Treue gehütet wurde. Erst im Jahre 1878 wurde Westpreußen wieder zu einer selbständigen Provinz gemacht mit dem Sitz der Regierung in Danzig.

[109] Der Verrat der preußischen Stände und das Versagen von Kaiser und Reich hatten dazu geführt, daß das Ordensland in seinen beiden Teilen nach 1454/1466 dem Reiche verloren war. Es gehörte daher auch nach der Wiedergewinnung der Souveränität Herzöglich Preußens 1660 und nach der Rückkehr des westlichen Preußens 1772 und 1793 wohl zum preußischen Staate, doch nicht mehr zum alten deutschen Reich. Als dieses dann zerfallen war und nach den Freiheitskriegen der Deutsche Bund einen lockeren Ersatz für die alte staatliche Einheit Deutschlands bilden sollte, da gehörten Ost- und Westpreußen wie auch die Provinz Posen diesem nicht an. [110] Erst im Norddeutschen Bund und dann durch die Bismarcksche Reichsgründung wurden die beiden nordöstlichen Provinzen Deutschlands auch wieder in die große staatliche Einheit des Deutschen Reiches hineingenommen.

Das preußische Selbstbewußtsein ihrer Bewohner, das sie auch im Kampfe um ihre ständische Freiheit immer gegen Polen gewahrt hatten, war längst in einem deutschem Bewußtsein eingeschmolzen worden, seit Ostpreußen die Flamme des Freiheitskrieges gegen Napoleon entfacht hatte. Das Weichselland war ein volles Jahrhundert hindurch ein vollwertiges und selbstverständliches Stück Deutschland, das sich im Schutze des Bismarckreiches sicher fühlte vor allen Gefahren. Da wurde es durch das Diktat von Versailles wieder zertrümmert und aus seinen lebendigen Zusammenhängen herausgerissen. Doch heute kämpfen die Deutschen, die von Volk und Reich getrennt wurden, nicht mehr um ständische Freiheit und staatliches Eigenwesen - heute kämpfen sie und mit ihnen ihr ganzes Volk um ihr völkisches Recht und um den Lebensraum, der seit Jahrtausenden unlöslich mit germanischem und deutschem Wesen verknüpft ist. Getrost können sie die Stunde der Befreiung erwarten. Denn für das deutsche Recht an den Weichselraum zeugt dessen große politische Geschichte. Es verschwinden die kurzen Jahre zur Zeit Boleslaw Schiefmunds im zwölften Jahrhundert, zur Zeit Przemyslaws II. und Wladyslaw Ellenlangs um die Wende des dreizehnten Jahrhunderts und die zwei Jahrhunderte der Gewaltherrschaft in Königlich Preußen von 1569 bis 1772 - es verschwinden erst recht die zwanzig Jahre seit Versailles vor den langen Jahrhunderten germanischer Geschichte im Weichselraum, vor der Zeit der Unabhängigkeit Ostpommerns als eines eigenen Staates, vor der Ordenszeit von 1309 bis 1454/1466, der Zeit ständischer Autonomie von diesen Jahren bis 1569 und den anderthalb Jahrhunderten von 1772 bis 1919. Denn es galt und gilt im politischen Schicksal des Weichsellandes doch nur eines: die germanisch-deutsche Lebens- und Raumeinheit.


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