[Bd. 1 S. 5]
Wie für den einzelnen Menschen die Kenntnis der leiblichen Vorfahren und die Versenkung in ihr geistiges Antlitz, in ihr Leben den erzieherischen Wert hat, daß er sich selber findet und nun hinter seinen Ahnen nicht zurückzubleiben trachtet, so ist es zur Erziehung eines Volkes, damit es sich auf der Höhe seiner Leistung halte, ja sie steigere, notwendig, daß sich jeder auf die Vorfahren, die das Volk schaffend gestaltet haben, besinne. An ihrem Leben lernt er, sein eigenes Dasein nutzbringend und für das Ganze fruchtbar zu machen. Zumal große Umwälzungen, die nach Zeiten des Niederganges der Anfang neuen Aufstiegs werden, fordern gebieterisch von der Gegenwart Rechenschaft über alle lebendigen Erscheinungen der Vergangenheit, um ohne Einseitigkeit und Enge den Strom voller flutender Entwicklung in die kommenden Jahrhunderte hinüberzuleiten. So wird jedes Geschlecht, wenn es nicht erstarrt oder abendlich müde geworden ist, aus seiner Geschichte die Erkenntnis gewinnen, wie vielfältig und umfassend seine Aufgaben sind. Dabei wird es, indem es sein Geschichtsbild neu gestaltet, das ewige Ringen um Wahrheit in den eigenen Schöpferdrang einmünden lassen. Lebensnahe, nicht nur sachlich zutreffende, sondern von neuem Wollen beseelte Geschichtsschreibung ist einer der verheißungsvollsten Wege in die Zukunft, gleich den Wegen über die Erde: von weither kommend, weithin führend. Wer seinem Volke durch die Tat dienen will, muß diese Straße einschlagen; auf ihr füllt sich wie bei Wanderungen durch das Vaterland der Sinn allmählich mit feuriger Begeisterung, mit hingebender Bereitschaft, und der Schreitende sieht Ziele vor sich erstehen. Eine Brücke aus der Vergangenheit in die Zukunft bauen helfen will das vorliegende Werk, das sich seine erzieherische und bildende Aufgabe in vaterländischem Sinne gestellt hat. Wenn sich dabei der Dichter mit dem Geschichtsforscher vereint, so geschieht es, weil ursprünglich, ehe es den Historiker gab, auch die Erzählung der Schicksale seines Volkes dem Dichter oblag. Von dieser Vorzeit her hat die Geschichtsschreibung im Gegensatz zu anderen Wissenschaften stets nicht nur nach Wahrhaftigkeit, sondern ebenso nach Farbe, nach Anschauung, bildhaften Charakteren und fesselnder Darstellung gestrebt. Die Gestalten des Historikers müssen wie die des Dichters das Herzblut ihres Schöpfers trinken, damit sie nicht Schatten der Unterwelt bleiben, sondern ins helle Licht des Tages neben uns treten und Sprache gewinnen. [6] Eine Neue Deutsche Biographie, die dem gegenwärtigen Stande der Forschung entspricht, aber auch von innerer Lebendigkeit leuchtet, soll dem deutschen Volke die Persönlichkeiten nahebringen, die unserer zweitausendjährigen Entwicklung Strom und Kraft, Reichtum und geistige Ufer gegeben haben. Im schlichten Adel volkstümlicher Anschaulichkeit sollen die großen Deutschen wiedererstehen, die in allen Bereichen menschlichen Schaffens als Führer voranschritten, in Wesen und Handeln unser Schicksal gestaltend. Wie von selbst entrollt sich in diesen Charakterbildern auch ein Bild deutscher Geschichte. Daß sie in einem Zeitpunkt gewaltiger Umbildung nicht der bloßen Tatsachenforschung und der genießenden Betrachtung diene, sondern uns allen, namentlich aber der Jugend in ihrem Suchen und Ringen die Leitsterne zeige, zu denen sie aufschauen will, daß uns der Sinn dafür aufgehe, wo die Kraftquellen der Nation fließen, ist höchstes Ziel dieses Werkes. Wenn es auch die Lebenden nicht einbeziehen kann und will, so leitet es doch überall zur Schwelle der Gegenwart hin und läßt auch in den Erlebnissen und Kämpfen früherer Jahrhunderte den schicksalsvollen Ernst und die alles aufwühlende Bewegtheit der Gegenwart ahnen. Wer am Beispiel großer Menschen sehen gelernt hat, wie die verantwortliche Persönlichkeit handelt, wenn Gefahr für Volk und Heimat aufsteigt, wenn neue Wegrichtungen und Entscheidungen in schwerer Lage gefunden werden müssen, wenn sich in Zeiten der Mattigkeit und Erstarrung ein umstürzender Geist kühnen Durchbruch erzwingt, wenn der Mann als Führer für alle sich zu bewähren hat – der kann dem heißen und stürmischen Geschehen, das durch unsere Tage rauscht, nicht blind und taub gegenübertreten. In den verschiedenartigen Menschen aber, deren Geist wir auf den folgenden Blättern beschwören, wird mit dem starken, unvergänglichen Eigenwesen und der inneren Einheit unseres Volkstums auch dessen Vielfältigkeit aufleben: der unendliche Reichtum all dieser Großen, die aus germanischer Wurzel und deutschem Geblüt hervorgingen, so unterschiedlich sie auch sind durch Herkunft und Stand, nach Landschaft, Boden, Staat und Stammesart, nach Wollen und Vollbringen. Halbvergessene, an denen die Geschichte Unrecht gutzumachen hat, und solche, die ihren Glanz nie verloren – alle aber Glieder in der unendlichen Reihe ewiger und letzter Gemeinschaft, die wir mit den beiden zauberhaften, nie ganz auszuschöpfenden Worten "Deutsches Volk" zu sagen versuchen. Ihr zu dienen in Ehrfurcht und Entschlossenheit, ist der bescheidene und stolze Sinn des Werkes, dem diese Worte das Geleit geben.
Heidelberg und Konstanz im August 1935.
Willy Andreas Wilhelm von Scholz
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