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Der Heldentod des Bergführers Sepp Innerkofler

Als am 24. Mai 1915 der Krieg mit Italien ausbrach, da standen in den Dolomitenbergen um Sexten kaum so viele Männer mit der Waffe in der Hand auf der bedrohten Grenze ihrer Heimat, wie an einem sommerschönen Tage Touristen in den Wänden dieser Berge geklettert und über die Pässe gewandert waren.

Aber der Kern dieser kleinen Trupps waren Leute besonderen Schlages, waren die Herren dieser Felswüsten mit ihren kirchturmglatten Wänden: Die Bergführer.

Sexten war die Heimat einer Bergführergilde, die zu den kühnsten und berühmtesten der ganzen Alpen zählte. In einem besonders allen anderen noch voraus: Die großen Meister des Kletterns.

Es war nicht anders denkbar, als daß dieses Tal, über dem die Dolomiten in fast unwirklich kühnen Formen aufragten, Männer hatte, die ihre Meisterschaft im Klettern zu einer Höhe entwickelten, daß sie Bezwinger und Besteiger ihrer Berge werden konnten.

Grabdenkmal für die Gefallenen einer Bergführerkompagnie.
[zwischen S. 88 u. 89]      [Vergrößern: Abbildung ist beschriftet!]
Abb. 51: Grabdenkmal für die Gefallenen einer Bergführerkompagnie im Val di San Nicolò (südl. Marmolatagruppe, Dolomiten). Links im Hintergrunde der Col Ombert, 2671 m, dessen Gipfelstellung nur über einen kühnen Kletterweg aus Eisenleitern zugänglich war.

Der beste unter ihnen war Sepp Innerkofler. Er war ein Mensch, in dem mit ungewöhnlicher Vollkommenheit die großen Tugenden des Mannes und Bergbewohners vereint waren. Eine fast beispiellose Führerlaufbahn lag hinter dem Fünfundvierzigjährigen, als er den Stutzen umschnallte und die Hand an die Felsen legte, um seine geliebte Bergheimat zu verteidigen.

Die allerschwersten Kletterwege seiner Heimatberge hatte Sepp Innerkofler als Erster begangen, durch die abschreckendsten Wände der Dolomiten kämpfte er sich zum Gipfel, da andere schon in Gedanken daran erschauerten.

Als er im Jahre 1890 die Nordwand der Kleinen Zinne zum erstenmal durchkletterte, jene Kirchturmmauer, die in ihrer schauerlichen Steilheit auf die Schuttreißen herabzustürzen scheint, da stand er als Könner und Pionier des Alpinismus wie nur wenige auf einsamer Höhe über Entwicklung und Allgemeinheit.

Kühnheit, Mut, Entschlossenheit und die Liebe zu den Bergen Gottes haben aus Sepp Innerkofler einen der berühmtesten Bergführer aller Zeiten gemacht. Maßlos verwegene Verachtung der Gefahr und des Todes, die Liebe zu seiner bedrohten Bergheimat, das im Herzen brennende Pflichtbewußtsein: Für Gott, Kaiser und Vaterland, schufen aus ihm einen der größten Kämpfer, die unsere Berge sahen. —

Der 24. Mai war gekommen und der Krieg. Der Feind stand hinter den wuchtigen Felsmassiven der Sextener Dolomiten.

Die wilde Felsbühne des Monte Piano.
[zwischen S. 56 u. 57]      [Vergrößern: Abbildung ist beschriftet!]
Abb. 35: Die wilde Felsbühne des Monte Piano, 2324 m (Dolomiten), auf dessen Gipfelhochfläche durch 2 Jahre erbitterte Nahkämpfe stattfanden. Vgl. Abb. 48.

[2] Man wußte nichts von diesem Feind. Man kannte seine Stärke nicht und seine Absichten.

Man wußte nur, daß man selbst über lächerlich geringe, bunt zusammengewürfelte Truppenkräfte verfügte, die kaum auslangten, um eine schüttere Schützenlinie über die wichtigsten Pässe zu ziehen.

Da wurde der Sepp Innerkofler zur Seele dieser ersten Abwehrkämpfe, zum stillen Befehlshaber und Retter.

Als Kommandant der "Fliegenden Patrouille" begann er einen Kleinkrieg in den noch tief verschneiten Sextener Bergen, hartnäckig und verbissen, dem Feinde, auf den er unerwartet und überraschend wie der Teufel aus den Bergen losbrach, ein Schrecken.

Die "Fliegende Patrouille" erkundete, täuschte, kämpfte. Sepp Innerkofler machte sich nicht viel Gedanken darüber, ob man den Krieg auch auf die Gipfel der Berge tragen könne, die sonst nur den gewiegten Alpinisten als Lösung einer großen, sportlichen Aufgabe zufielen. Er und seine Leute waren in den Eisrinnen und Schluchten, in den Rissen und Kaminen, in den Wänden und auf den Graten ihrer Berge daheim. Sie erkletterten die Gipfel über die allerschwersten Routen, wachten die kalten Nächte auf den Graten, durchforschten aufmerksam die sonnigen Frühlingstäler südlich der Berge, wo der Feind sich sammelte und die Felsfront abtastete.

Wenn es gut kam, dann pfiffen die ersten Grüße zu den schwarzhaarigen Alpini hinunter, die ersten Kriegsgrüße aus den Bergen Tirols.

Sepp Innerkofler strich unentwegt mit seiner Patrouille durch die Berge. Von den Drei Zinnen bis zum Kreuzbergsattel war er überall, tauchte überraschend auf den höchsten Gipfeln auf, schlich um die hohen Felsenscharten, beobachtete, benunruhigte, schoß.

Die Drei Zinnen lagen ihm besonders am Herzen. Dort war für den Feind das flachste Tor zum Durchbrechen der Paternsattel, 2457 m. Dort stand, im Norden der Drei Zinnen, auf dem Toblinger Riedel, 2438 m, seine Hütte, um die er bangte. Auch dem Feind schien der Paternsattel der geeignetste Punkt, um die Österreicher zu überrennen und in das Sextener Tal vorzudringen.

Den Paternsattel selbst konnten die österreichischen Truppen nicht halten. Fast einen Kilometer hätten sie vom Toblinger Riedel bis zum Sattel unter den Schüssen der Alpini, die auf den Zinnen saßen und auf dem Paßportenkopf, im freien, ungedeckten Gelände zurücklegen müssen. Auf dem Toblinger Riedel jedoch, wo die Hütte stand, zwischen dem zerrissenen Felsgerüst des Paternkofel, 2746 m, und dem klotzigen Sextner Stein, konnte man jedem Ansturm standhalten. Wenn die österreichische Stellung dort verlief, mußte der Feind den weiten, offenen Zugang vom Paternsattel herüber unter den Gewehren der Österreicher machen.

Drohend stand der Paternkofel über der Zinnenhütte (Abb. 48). So nahe, daß man von der Hütte aus mit bloßem Auge jeden Mann in seinen Felsen klettern sehen konnte. Wenn er österreichisch blieb, war er ein Pfeiler, unter dem kein Feind durchkonnte. Wenn [3] aber der Feind sich dort oben einnisten würde, dann sah es schlecht aus für den Verteidiger unten auf dem Sattel. Das erkannte der Sepp Innerkofler vom ersten Morgen an, den der Krieg geboren hatte. Der Paternkofel war die Felsburg, unter deren Schutz das Heimattal stand, er war die Felsbastion, an der sich Regimenter zuschanden stürmen konnten.

Monte Piano von Westen.
[zwischen S. 80 u. 81]      [Vergrößern: Abbildung ist beschriftet!]
Abb. 48: Monte Piano, 2324 m, von Westen. Darüber die Spitzen der Drei Zinnen, 2999 m.
Vgl. die Abb. 35 und 36 oben.

Das war die feste Überzeugung des Sepp und seiner Bergführer. Deshalb baten sie ihren Kommandanten, den Paternkofel halten zu dürfen. Der bergfremde Hauptmann aber war nicht allzuviel von der Wichtigkeit des Kofels überzeugt.

Wohl durfte der Sepp mit seiner Patrouille hinauf auf die Spitze. Er brachte die Meldung heim, daß der Kofel noch vom Feinde unbesetzt sei, er erzählte dem Hauptmann, wie frei und unbeschränkt man von der Spitze des Kofels aus den Feind niederhalten könne, wie nur wenige Männer von dort oben mehr wirken könnten, als eine ganze Kompagnie auf dem Sattel.

Der Hauptmann ließ sich nicht überzeugen und befahl, den Paternkofel zu räumen. Da wußte der Sepp, daß dieser Berg einmal schwere Stunden für die Verteidiger bringen würde. Er wußte, daß drüben unter den Alpinis die welschen Führer aus dem Auronzo waren, die wußten, wie hoch und beherrschend der Kofel über den österreichischen Stellungen stand und wie weit man von ihm in Tiroler Land hineinblicken könne, das sie erobern wollten.

Ohne Murren fügte sich der Sepp. Schon damals mag in ihm ohne Erschauern der Gedanke geworden sein, den Paternkofel zu stürmen, wenn es an der Zeit wäre und man bei den Kommanden erkannt hatte, daß ohne den Kofel die ganze Verteidigungslinie nicht zu halten sei.

Die ersten Kämpfe flatterten auf, die ersten Toten lagen als unheimlich schwarze Punkte auf den glitzernd grauen Schuttströmen unter den gigantischen Drei Zinnen und unter dem Kofel. Zähe und brav verteidigten die Sextener jeden Fußbreit ihrer kahlen Bergheimat. Die "Fliegende Patrouille" des Sepp Innerkofler geisterte weiter durch die Sextener Dolomiten, spähte dem Feind bis in die geheimsten Bergwinkel nach, beunruhigte ihn und überfiel seine Patrouillen.

Am 2. Juni erkletterte Sepp Innerkofler mit seinen Leuten den Elfer, 3092 m. Mit Schrecken sah der Feind, daß nunmehr auch die höchsten und ungangbaren dieser Felsfestungen von den Österreichern besetzt worden waren.

Fünf Tage später stand er auf der 3045 m hohen Hochbrunnerschneid, von der man durch die Täler hinaussah bis fast in die Ebene am Meer. Der Feind mußte erkennen, daß sich die Front auf den Dreitausendern zu einem uneinnehmbaren Ring schloß.

Am 18. Juni durchkletterte die "Fliegende Patrouille" noch einmal die gefährlichen Eisrinnen und Wände des Elfer, erzwang einen vorher noch nie begangenen Abstieg durch seine Felsflanken und über den Hängegletscher, um näher an die feindlichen Alpinipatrouillen heranzukommen, die sich von Süden in die Berge vorgeschoben hatten. Mit [4] zwei tollkühnen Feuerüberfällen aus den Felswänden heraus verjagte der Sepp die eingenisteten Patrouillen.

Nach seiner Rückkehr nach Sexten wurde ihm der erste Lohn für seine Taten: Er wurde befördert und der Oberstleutnant heftete ihm die Silberne Tapferkeitsmedaille zweiter Klasse an den Rock. Sein Heimattal war stolz auf ihn und voller Bewunderung.

Noch einmal machte der Sepp mit seiner Patrouille den Weg auf den Elfer, da es hieß, feindliche Patrouillen seien bis auf das Giralbajoch, 2433 m, vorgedrungen. Es kam zu scharfen Feuergefechten mit den Alpinis, denen die Kugeln der "Fliegenden Patrouille" wie Blitze aus heiterem Himmel aus den Felsen auf die Köpfe hinabpfiffen.

Für diese schneidige Tat wurde ihm die "Große Silberne".

Auch über die Gipfel des östlichen Riesen der Sextener, die 2955 m hohe Rotwand streifte die Patrouille des Sepp und sah, wie die Italiener hinter dem Kreuzbergsattel große Truppenmengen zusammenzogen.

Dann aber brauchte man ihn wieder in seiner engsten Felsheimat, bei den Drei Zinnen.

Was der Sepp befürchtet hatte, war eingetroffen. Droben auf dem Gipfel des Paternkofel wuchs eines Tages eine kleine Brustwehr aus den Felsen, und bald darauf krachten die ersten Schüsse auf die Verteidiger auf den Toblinger Riedel herunter: Der Paternkofel war vom Feinde besetzt.

Lästig und gefährlich lagen die Augen und Gewehre der italienischen Feldwache auf dem Kofel, jede helle Minute des Tages auf den Stellungen der Österreicher.

Es kam zu dem, was nie notwendig gewesen wäre, hätte man auf den Sepp und seine Leute gehört.

Der Paternkofel mußte erstürmt werden.

In der Nacht zum 4. Juli 1915 kletterte Sepp Innerkofler an der Spitze seiner Patrouille den schwierigen Nordwestgrat auf den Paternkofel hinauf.

Wie Geister, lautlos auf den weichen Sohlen der Kletterschuhe, schoben sich die verwegenen Männer an den unheimlich steilen Felsen des starr im fahlen Nachthimmel stehenden Grates empor.

Kein Steinchen fiel, kein Laut drang aus den Wänden zu den Kameraden unten in der Stellung, die mit bangenden Herzen dem Ausgange dieses tollkühnen Unternehmens entgegenharrten.

Als das erste Morgengrauen des 4. Juli um die Berge wob, fielen die österreichischen Batterien bellend über die Gipfelfelsen des Paternkofel her und die Garben der Maschinengewehre drängten sich pfeifend in die Flugbahn der Granaten.

[5] Hoch oben unter dem Gipfelgrat klebten dicht an die Felsen gepreßt die Männer der "Fliegenden Patrouille", warteten sprungbereit, daß der Schein im Osten heller werde. Die ersten goldenen Strahlen der Sonne sollten wieder um den österreichischen Paternkofel spielen.

Die Minuten vergingen, eine gelbe Fahne flog aus den dunklen Felsen und schlug in raschem Halbkreis herum.

Mit einem Schlage schwiegen Geschütze und Maschinengewehre, tödliche Stille lag wieder über den Bergen. Tausende von Augenpaaren, Freund und Feind, von allen Scharten und Pässen und Bergen ringsum, starrten zum Gipfel des Kofels empor, der hellumrissen im grauen Morgenhimmel stand.

Da löste sich eine dunkle Gestalt aus dem Felsen, richtete sich hoch auf und stand scharf abgezeichnet auf dem Grat. Mit weiten, ruhigen Kletterschritten stieg der Mann über die Felsen dem Gipfel zu.

Wenige Schritte vor dem höchsten Punkt sah man ihn halten und den Arm heben. In weitem Bogen flog eine Handgranate hinter das Mäuerchen der italienischen Feldwache. Dann eine zweite und dritte. Kein Krachen erschütterte die Luft, Stille war ringsum, als hätte der Fels die Handgranaten verschluckt. Und plötzlich sah man über der Mauer noch höher im Himmel die Umrisse einer anderen Gestalt, groß und stark.

Kein Kampfplatz hat je einen unheimlicheren Kampf gesehen. Der zweite Mann schwang mit mächtiger Wucht mit beiden Fäusten einen Felsblock über den Kopf und schmetterte den Feind in die Tiefe.

So endete dieser Zweikampf, der urgewaltig wie ein Sinnbild des ewigen Kampfes Mensch gegen Mensch aus grauer Vorzeit in den modernen Krieg des 20. Jahrhunderts hereingeleuchtet hatte.

So fiel Sepp Innerkofler als einer der Tapfersten für Gott, Kaiser und Vaterland.

Der Paternkofel blieb italienisch.

Der Kaiser verlieh dem großen Helden der Dolomiten, der aus seinen Bergen nicht mehr zurückgekehrt war, die Goldene Tapferkeitsmedaille.

Die italienischen Soldaten seilten unter unsäglichen Mühen die Leiche ihres großen Feindes aus den Felswänden auf die Spitze hinauf.

Auf dem Gipfel des Paternkofel wurde dem Sepp Innerkofler von den Italienern ein Felsengrab gesprengt, auf dem der Feind in ehrerbietigen Worten des Feindes gedachte.

In seinem Grab auf der Spitze seines Todesberges lag der Sepp Innerkofler zwei Jahre, bis sie ihn heimholten in die geweihte Erde seines Heimatdorfes.






Front in Fels und Eis
Der Weltkrieg im Hochgebirge

Gunther Langes