[6] Die Himmelfahrt des "Col di Sangue"
Dum sanctis patriae, legibus
obsequimur. Von den wuchtigen Felsmassiven der Marmolata, Boè und Settsaß umstanden, liegt der Col di Lana wie ein felsiger Keil im Talschluß des Val Cordevole. An seinem Fuße kleben an den Steilhängen die kleinen Orte des ladinischen Buchensteiner Landes, durch welche die Dolomitenstraße vom Pordoijoch zum Falzaregopaß zieht. Unscheinbar und unbeachtet lag der Col di Lana neben seinen großen und schönen Nachbarn, bis er im Weltkrieg berühmter und berüchtigter wurde als alle Berge der Dolomiten, bis er zum "Col di Sangue", zum "Blutberg" der Dolomiten wurde.
Im winterlichen Morgendunkel des 16. Dezember 1915 zerschellten die letzten großen Angriffe der Italiener in diesem Jahre gegen den Col di Lana, 2462 m, die mit Einsatz von 12 Infanterie- und 14 Alpinikompagnien und heftiger Wucht geführt worden waren. Die furchtbaren Verluste der Truppen, die unter übermenschlichen Anstrengungen durch meterhohen Schnee über die Steilhänge den Angriff vorzutragen versuchten, führten beim italienischen Kommando zur Einsicht, daß der Col di Lana (Abb. 55, 56 u. 57) für normale Angriffsarten uneinnehmbar sei. Damals erhielt der Col di Lana von den italienischen Soldaten den Namen: "Col di Sangue", der "Blutberg". Generalleutnant Rossi, der Kommandant des am Col di Lana operierenden Corps, erstattete an seinen Armeekommandanten General di Robilant die Meldung, daß er wegen der Hartnäckigkeit des Gegners und Unbilden der Witterung darauf verzichten müsse, den Col di Lana mit lebender Kraft zu nehmen. Die Lawinen forderten im steilen Gehänge die ersten Opfer. In eineinhalb Monaten verloren die italienischen Truppen am Col di Lana durch Lawinenstürze 278 Mann an Toten, 97 Verwundete, 63 Mann blieben vermißt. Ein italienischer Leutnant, Ingenieur Caetani, dem der Ausbau der italienischen Stellungen mit Kavernen und unterirdischen Verbindungs- und Zugangsgräben über- [7] tragen war, kam auf den Gedanken, in den Wintermonaten einen Stollen bis unter die österreichischen Stellungen vorzutreiben und den Gipfel des Berges in die Luft zu sprengen. In seiner Denkschrift hierüber an sein vorgesetztes Kommando legte er dar, daß wohl auch nach der Schneeschmelze im Frühjahr kaum eine Möglichkeit bestehen würde, den Col di Lana zu erstürmen, weil gegen den schmalen Gipfel zu die Entwicklung einer größeren Truppenmacht nicht möglich sei. Außerdem sei damit zu rechnen, daß die Gipfelstellung von den Österreichern in der Zwischenzeit noch mehr befestigt und ausgebaut würde. Der Plan des Leutnants Caetani fand die Zustimmung der italienischen Kommanden. Noch im Dezember begannen unter seiner Leitung die Arbeiten am Stollen. Mit großer Umsicht wurden die Arbeiten gefördert. Es galt vor allem die Arbeiten so geheim durchzuführen, damit man beim Feinde auch nicht das Geringste von der Absicht der Italiener merke. Man war sich darüber klar, daß das Bekanntwerden der Sprengungsabsicht bei den Österreichern sofort Gegenarbeiten auslösen würde, die den Plan der Italiener leicht vereiteln konnten. Wegen der ungeheuren Transportschwierigkeiten im winterlichen Berggelände und des Motorengeräusches, das leicht hätte zum Verräter werden können, wurde keine Bohrmaschine eingesetzt, sondern die Arbeiten nur mit der Handbohrmaschine und mit Bohrstange und Schlägel bewältigt. Zwei Mann nur arbeiteten jeweils in dem schmalen, dumpfen Gang, in rascher Folge wurden die Leute in ihrer schweren Arbeit abgelöst. Ohne Unterbrechung wurde Tag und Nacht gebohrt. In braver Pflichterfüllung, angespornt von dem Wunsche, diesen furchtbaren Berg ohne Verluste durch die Sprengung zu nehmen und nicht mehr über seine steilen Flanken in den sicheren Tod stürmen zu müssen, belohnt durch eine tägliche Lohnzulage, taten die italienischen Mineure ihren harten Dienst. Mit besonderem Geschick verschleierte Leutnant Caetani die tägliche Sprengung der Bohrlöcher. Auf die Sekunde genau legte die italienische Artillerie gleichzeitig mit der Sprengung Feuer auf den Gipfel, Handgranaten wurden geworfen. Und der Feind oben auf dem Gipfel überhörte neben dem Krachen der Granaten um ihn die kurzen, leise und dumpf klingenden Sprengungen der Bohrlöcher tief im Innern des Berges.
In mühsamer Arbeit wurde der Stollen täglich um einen Meter vorgetrieben. Die bei der Arbeit beschäftigte Mannschaft und die kommandierenden Offiziere waren unter Ehrenwort verpflichtet, auch ihren Kameraden gegenüber strengstes Stillschweigen über die Arbeiten am Stollen zu bewahren. Die Berichte an das Kommando wurden von den Offizieren nur mündlich überbracht. Anfangs März war der Stollen bis in die Mitte zwischen den beiden Drahtverhauen vorgetrieben worden.
[8] Trotz aller Verschleierung wurde man aber auf der österreichischen Seite bald gewahr, daß sich in der vordersten italienischen Stellung unter dem Gipfel des Col di Lana etwas Außergewöhnliches vorbereite. Schon Anfang Januar 1916 meldete ein Artilleriebeobachter vom Pordoijoch, der von der Flanke guten Einblick in die italienischen Stellungen hatte, daß unter diesen große Schuttablagerungen zu sehen seien. Und schon auf diese Meldung hin besorgte man bei den österreichischen Kommanden die Möglichkeit der Unterminierung des Gipfels des Col di Lana. Der ungeheure Auswurf aus dem Berge, der die steilen Schneehänge verunzierte, konnte unmöglich nur vom Bau von Kavernen stammen. Sofort setzten auf dem Gipfel des Col die Lana genaue Untersuchungen über die Mineurtätigkeit der Italiener ein. Die angestellten Beobachtungen und Abhorchungen brachten jedoch kein festes Ergebnis. Man stellte zwar schwache Bohrgeräusche fest, doch schien es noch immer möglich, daß diese nur von einem größeren Kavernenbau stammten. Vorbeugend wurde ein ununterbrochener Horchdienst eingerichtet, eine Sappeurkompagnie in der Stellung belassen und eine Bohrmaschine bereitgestellt. Aber die Bohrgeräusche waren nur schwach hörbar und verstummten zeitweilig. Erst Mitte März 1916 wurden die Bohrgeräusche der Italiener immer deutlicher auf der Spitze hörbar. Nun bestand kein Zweifel mehr, daß die Spitzenstellung unterminiert wurde. Es begann eine furchtbare Zeit für die österreichische Besatzung des Col di Lana. In dumpfer Eintönigkeit erklangen die Bohrgeräusche und Sprengschüsse immer näher. Wie eine schleichende Krankheit grub sich das unheimliche Geräusch aus dem Innern des Berges in die Nerven dieser Männer, die in den höchsten Gefahren des offenen Kampfes nie ihre Kaltblütigkeit verloren hatten. Und auf der wunderbar freien, weit hinausragenden Warte dieses Berges, unter der im steilsten Sturz 1000 m tief die schattigen dunklen Täler zogen, waren sie wie in einem fürchterlichen Gefängnis, aus dem es in schneidigem Kampf kein Entrinnen gab, unter dem der Feind die Eingeweide des Berges mit Dynamit lud. Umsonst wurde versucht, durch kühne Ausfälle die Arbeit des Italieners zu stören. Der meterhohe Schnee erstickte jeden Angriff in seinen Anfängen. Nur eine Möglichkeit schien es zu geben, um die Sprengung abzuwenden: Fieberhaft wurde mit dem Bau eines Gegenstollens begonnen, den man aus der Gipfelkaverne gegen den feindlichen Stollen vortrieb. Der Kampf im Innern des Berges hatte begonnen. Alle Hoffnungen der Besatzung klammerten sich daran, daß es vielleicht gelingen würde, den eigenen Stollen rechtzeitig so weit vorzutreiben, um durch eine Sprengung den feindlichen Stollen zum Einsturz zu bringen und so die Gefahr auf lange Zeit hinaus zu bannen. Während der Arbeiten am letzten Stück ihres Stollens hörten die italienischen Mineure dumpfe Schläge von oben. Die Arbeiten wurden unterbrochen und bald konnte festgestellt werden, daß nun auch von der österreichischen Seite gebohrt wurde. Kurz dar- [9] auf wurde auch ein telefonischer Befehl der österreichischen Division "Pustertal" abgehorcht, der die Wendung enthielt: "Der Feind findet nicht den Mut zu weiteren Angriffen, sondern verlegt sich ganz auf die Arbeit an einem Minengang unter der Spitze." Nun war man sich im italienischen Lager darüber klar, daß die Absicht der Sprengung entdeckt war. Alle Maskierung der Arbeit wurde fallen gelassen und diese mit höchster Energie ihrem Ende zugetrieben. Gleichzeitig legte die italienische Artillerie fast tagtäglich schwerstes Feuer auf den Gipfel, um die Arbeiten der Österreicher am Gegenstollen zu stören. Am 5. April waren die Arbeiten an der österreichischen Gegenmine vollendet. Ihre Explosion hatte jedoch nicht die beabsichtigte Wirkung, die Arbeiten des Feindes erlitten nur wenig Schaden. Der Minenkrieg unter der Erde hat begonnen. In unermüdlicher Arbeit werden noch zahlreiche, kleinere Minengänge vorgetrieben und gesprengt. Die furchtbare Erwartung der Gipfelbesatzung steigert sich fast zum lähmenden Entsetzen. Die Offiziere der Besatzung baten ihre vorgesetzten Kommanden, die Stellung räumen zu dürfen. Offiziere und Mannschaft verpflichteten sich mit ihrem heiligsten Ehrenwort, den Col di Lana nach der Sprengung wieder zu stürmen, koste es, was es wolle, und sei er vom Teufel selber verteidigt. Man möge ihnen nur dieses Schildwachstehen auf dem Vulkan ersparen, das mit jedem Tag mehr aus den kaltblütigsten Leuten ein zitterndes Nervenbündel mache. Die Kommanden lehnten ab. Der Besitz des Col di Lana war bei den österreichischen wie bei den italienischen Kommanden zur strategischen Fixidee geworden.
Mit größtmöglichster Verstärkung an Menschen und Material setzten die Italiener ihre Arbeiten am Minengang fort. Über weitere Abwehrmaßnahmen der Österreicher war nichts bekannt, man mußte sich aber auf alles gefaßt machen, da man wußte, daß den Österreichern die Absicht der Sprengung bekannt war. Nur wenige Minuten Verspätung konnten das Gelingen der ganzen Aktion in Frage stellen. Am 12. April war die fieberhaft betriebene Arbeit am italienischen Stollen beendet. Der Hauptstollen hatte eine Länge von 52 m, die Gesamtlänge der Stollen mit allen Abzweigungen betrug 105 m. Am äußersten Ende des Stollens waren zwei Zweige in U-Form gegen die beiden Gipfel des Col di Lana gebohrt worden. Auch der Zweigstollen "Trieste", der in der Mitte unter den Drahtverhauen vom Hauptstollen abzweigend 30 m nach der Seite und gegen die Oberfläche vorgetrieben worden war, war beendet. Nach der Sprengung sollte die dünne Decke dieses Stollens zur Oberfläche gesprengt werden und durch die Öffnung zwei Kompagnien zum Sturm auf den Trichter ansetzen. [10] Die Ladung der beiden Minenkammern begann. 5000 kg Nitrogelatine wurden in die Minenkammern getragen, jede von ihnen erhielt 100 Rollen Schießbaumwolle und 100 Sprengkapseln, um eine sichere Zündung zu ermöglichen. In einer einzigen Nacht – vom 15. auf den 16. April – wurde das Einstauen der Sprengmittel bewerkstelligt, trotzdem die Leute in den engen Stollen durch die giftigen Ausströmungen der Nitrogelatine sehr litten und vielfach von Übelkeit befallen wurden. Das Panzerkabel für eine doppelte elektrische Zündung wurde gelegt und die Verdammung der beiden Minenkammern durch Sandsäcke und Eisentraversen durchgeführt. Am Abend des 17. April erging an das italienische Kommando die Meldung, daß die Mine sprengbereit sei. Die Bereitstellung der Sturmtruppen erfolgte. Zwei Bataillone bezogen die gedeckten Galerien am Beginn des Sprengstollens. Um 22 Uhr begann die Zurückziehung der vordersten Truppen in die Kavernen. Die mitwirkende italienische Artillerie bestand aus 111 Geschützen mittleren und 28 schweren Kalibers. Von diesen 139 Geschützen schoß der Großteil auf die Spitze des Col di Lana, auf ein Flächenausmaß, auf dem kaum ein größeres Haus Platz hatte. Schon seit 14 Tagen schossen sich alle diese Batterien auf ihr Ziel ein und zerstörten hiebei mehrmals bis auf den Grund die immer wieder errichteten Grabenbefestigungen der Verteidiger.
Dicht gedrängt und auf ihre Waffen gestützt warteten die italienischen Soldaten in den Kavernen und Galerien auf den Augenblick der Sprengung und des Vorbrechens. Es herrschte jene unheimliche, erwartungsvolle Ruhe vor dem Sturm, in der man in Beklemmung das Herz schlagen hört... Die Sprengung war für 23 Uhr 30 Min. des 17. April 1916 festgesetzt. Die Himmelfahrt des verfluchten "Col di Sangue" konnte beginnen. Schlag 23 Uhr 30 Min. des 17. April 1916 näherte sich ein leicht bebender Finger des Leutnants Caetani dem elektrischen Taster...
"Wir zählen zu den Besten, Solang' die Treu besteht." Kaiserjägerlied. Auf diesem Berge, so himmelnahe, wurden die letzten Tage vor der Sprengung zur furchtbarsten Hölle. Das Bohren im Innern des Berges hatte aufgehört. Nun wußte jeder Einzelne der österreichischen Besatzung auf dem Col di Lana, daß die letzten Stunden geschlagen hatten. Solange man den Feind noch bohren, hämmern und sprengen hörte, war immer noch eine Rettung möglich, man konnte noch immer auf ein unerwartetes Ereignis hoffen, das vielleicht noch im letzten Augenblick die entsetzlichen Absichten des Feindes zuschanden machen würde. [11] Die Stunden, die Minuten der Hoffnung bröckelten immer rascher ab, wie das Geröll, das die feindlichen Granaten aus den zerwühlten Felsen des Gipfels fetzten und in hohen Fontänen über die Steilhänge des Berges warfen. Und die Herzen dieser armen Menschen auf dem Gipfel wurden dumpf und schwer. Die Geräusche im Innern des Berges waren einem unbeschreiblich gewaltigen Höllenkonzert gewichen, das nunmehr von allen Seiten auf den Col di Lana und seine angrenzenden Stellungen niederging. In verschärftem Ausmaße hagelten die eineinhalbhundert Geschütze ihre Geschosse auf den Berg. In den letzten drei Tagen vor der Sprengung, am 15., 16. und 17. April erreichte die Beschießung eine vernichtende Heftigkeit. Täglich sausten aus einem Halbkreis an die 2000 Geschosse – davon ein Gutteil schweren Kalibers – über die tiefen Täler gegen den Felskörper des Col di Lana. Alle Stellungen waren an diesen drei Tagen abends immer wieder zu einem Trümmerhaufen zusammengeschossen. Der Kampfgraben, der eine Tiefe von 2 Meter hatte, war eingedeckt und ebenerdig. Die Besatzung, welche abwechselnd sechs Stunden Dienst und sechs Stunden Rast hatte, arbeitete rastlos im Verein mit einer Anzahl von Pionieren und Sappeuren die Nächte hindurch an der Wiederherstellung der Kampfanlagen. Abend für Abend mußten sie von neuem die Spaten in den gleichen Trümmerhaufen stoßen und unverzagt die Arbeit von vorne beginnen. In der Nacht vom 16. auf den 17. April wurde die vollkommen erschöpfte 5. Kompagnie des 2. Regiments der Tiroler Kaiserjäger unter ihrem Kommandanten Hauptmann Adalbert Homa abgelöst. Die Ablösung ging wunderbarerweise glücklich vonstatten. Jetzt saß die 6. Kompagnie desselben Regiments unter Oberleutnant Toni von Tschurtschenthaler auf dem Gipfel, 10 m unter sich 5000 kg Sprenggelatine, rings um sich auf allen Höhen 140 speiende Geschützrohre. Am 17. begann das feindliche Artilleriefeuer mit großer Heftigkeit schon in den frühesten Morgenstunden. Schon der erste Schuß aus Kaliber 21 cm explodierte im Zentrum der Stellung. Die Beschießung nahm stetig an Heftigkeit zu, unter die in regelmäßigen Zeitabständen krepierenden 21er mengten sich Granaten und Schrapnells aller Kaliber. In den Vormittagsstunden trommelte die feindliche Artillerie, was aus den Rohren herausging. Der Kommandant verfügte die Räumung aller Unterstände, die gesamte Mannschaft, die nicht im Dienst war, begab sich in die große Kaverne der Reservestellung. Die Posten der Stellung wurden auf die geringste Anzahl, die möglich war, vermindert, die übrige Mannschaft war mit den Waffen in der Hand bereit, bei einem Angriff der Italiener in die Kampfgräben zu eilen. Gegen 9 Uhr vormittag krepierte eine schwere Granate knapp vor dem großen Holz- [12] unterstand, gleich darauf zertrümmerte eine zweite durch einen Volltreffer die Alarmstiege, den wichtigsten Zugang zu den Kampfgräben. Gegen 11 Uhr erreichte eine Granate den Kaverneneingang und zerschellte knapp oberhalb an den Felsen, wodurch der Kaverneneingang mit Balken, Felsblöcken und abrutschendem Material vollkommen verlegt wurde. Der Durchgang konnte zwar bald wieder hergestellt werden, doch wurde einem Übel abgeholfen, einem anderen, schlimmeren aber Vorschub geleistet. Durch die vor der Kaverne erfolgte Explosion drangen die Pulvergase in das Innere der Kaverne, die nicht ventilierbar war, und erfüllten den Raum derart, daß die Atmung fast unmöglich wurde. Mehrere Leute fielen in Ohnmacht. Es mußten dringend andere Verhältnisse geschaffen werden, um das Unglück nicht größer werden zu lassen. Ein Teil der 100 Mann, die in der Kaverne untergebracht waren, mußte in andere, allerdings weit weniger sichere Unterstände beordert werden. Durch fortgesetztes Schwingen großer Decken konnte ein geringer, etwas befreiender Luftwechsel geschaffen werden, der das Atmen wieder erleichterte. Wegen der immer wieder eindringenden Gase neuer Explosionen mußte diese mühevolle Arbeit bis in die Nacht fortgesetzt werden. Kaum war ein Teil der Mannschaft in den anderen Unterständen untergebracht, verschüttete ein Volltreffer wiederum den Eingang zur Kaverne und schuf die gleichen Verhältnisse wie früher. Den ganzen Nachmittag über hielt die Beschießung in verstärktem Maße an. Pflichttreu und aufopfernd tat die Besatzung ihren schweren Dienst. Die Verluste an Toten und Verwundeten, die nicht fortgebracht werden konnten und mit der übrigen Mannschaft in diesem grausigen Käfig gefangen saßen, drückten schwer auf die Stimmung der Leute. Das Gefühl unbedingter Ohnmacht wich erst, als um 21 Uhr der letzte Schuß fiel. Endlich war auf das Höllenfeuer während des ganzen Tages Ruhe, wohltuende und verdächtige Ruhe eingetreten. Die gesamte Mannschaft ging mit den Sappeuren und Pionieren unverzüglich an die Arbeit, um aus dem zusammengeschossenen Trümmerhaufen ein stellungsähnliches Provisorium zu schaffen, und Angriffe in der Nacht bestehen zu können. Die telefonische Verbindung zum Kampfabschnitts-Kommando im Lager Alpenrose war seit dem frühen Morgen unterbrochen. Am späten Abend langt durch einen Meldegänger, der von einer Granate verschüttet worden war, die erste schriftliche Meldung von der Col di Lana-Spitze beim Kommando ein:
"K. u. k. Baonskommando: Bald darauf konnte die telefonische Verbindung wieder hergestellt werden. Oberleutnant von Tschurtschenthaler meldete sich beim Kommando und referierte nochmals über den Verlauf des Tages. Er erhielt die Zusicherung, daß ihm Unterstützung in weitgehendstem Maße zukommen werde. Um 22 Uhr 30 Min. erstattete ein Unteroffizier aus dem Kampfgraben durch Zuruf die Meldung: "Die Italiener kriechen vor!" Alarm! Die ganze Mannschaft kletterte, in einer Hand das Gewehr, in der anderen Handgranaten, in die Gräben. In wenigen Augenblicken war die Stellung dicht besetzt. Kopf an Kopf erwartete hinter Trümmern und Felsblöcken, zwischen Erdschollen und zerschossenen Hindernissen die Besatzung den feindlichen Angriff, der endlich die Entspannung auf das tagelange, zermürbende Warten bringen sollte. An das Abschnittskommando erging die telefonische Meldung: "Die Sache wird ernst, es bereitet sich etwas vor." Dieses gab an die Artilleriekommanden die Weisung, ihre Batterien bereitzuhalten. Die ganze Front war alarmiert, von der Spitze der Marmolata bis zum Falzaregopaß lagen die Grabenbesatzungen hinter den schußbereiten Gewehren, neben sich Stapel von Handgranaten, die Reserven lehnten dicht gedrängt in den Sappen, die Kanoniere saßen an den geladenen Rohren, die Telefonisten hingen mit gesenkten Köpfen an den Kopfhörern, Hunderte von Beobachteraugen versuchten die finstere Nacht zu durchdringen, dorthin, wo wie ein ungeheures Raubtier, von schmutzigen Schneeflecken und schwarzen Einschlägen getigert, der Col di Lana lag, der "Col di Sangue", der Vulkan... Hüben wie drüben, Freund und Feind, der ganze Frontabschnitt wartete und lauerte. Die Nacht war finster wie ein Schlund. Voll Vertrauen und Kraft, ja voll froher [14] Hoffnung lag die Besatzung auf dem Col di Lana in dem aufgewühlten, gefrorenen Dreck ihrer Trümmerstellung. Es war beißend kalt. Mit leisem Knacken schoben zeitweilig die Leute den Verschluß ihrer Gewehre auf, um zu verhindern, daß er einfriere. Totenstille herrschte im ganzen Frontabschnitt, die unheimliche Ruhe vor dem Sturm. Plötzlich begannen die italienischen Scheinwerfer aufzuleuchten. In leichtem Spiel tanzten die grellen Kegel über den Leib des Berges, über schwarzschmutzige Granatfelder, über weiße Schneefelder und vereiste, glitzernde Felsgrate. Von allen Bergspitzen quollen neue Lichter auf, spielten und tanzten um den unheimlichen, schwarzen Berg... Die Totenlichter des "Col di Sangue"... Der Kommandant oben auf der Spitze wußte nun, daß im Licht der Scheinwerfer kaum ein feindlicher Angriff vorgetragen würde. Wohl aber befürchtete er einen Artillerieüberfall, der für die dichtgedrängten Verteidiger auf der Spitze von unheilvollen Folgen sein mußte. Die Hälfte der Grabenbesatzung wurde in die Kavernen zurückbefohlen. Zwei Züge der Kompagnie mit ihren Offizieren blieben in der Stellung. Noch ein kurzes Telefongespräch zum Kampfabschnittskommando und dessen Versicherung, daß die gesamte Artillerie des Abschnitts nur auf den Schußbefehl vom Col di Lana warte. Dann begab sich auch der Kommandant der Stellung in die große Kaverne. Die unheimliche Ruhe dauerte weiter an, die Scheinwerfer spielten, die Front wartete. Eine Hand drückte auf einen elektrischen Taster... Es war 23 Uhr 30 Min.
Da öffnete sich der unheimliche Berg, eine ungeheure, grellgelbe Flamme schoß hinauf zu den kaltglitzernden Sternen des Dolomitenhimmels, 10 000 Tonnen Felsblöcke wirbelten durch die Luft, zerfetzte Menschenleiber mitten drin und 140 Geschütze donnerten auf einen Schlag ihren Granathagel über die österreichischen Schützengräben. Das war die Himmelfahrt des "Col di Sangue". Wie von einer Riesenfaust gerüttelt flogen die Leute in der großen Kaverne durcheinander, ein furchtbarer Krach erfolgte, der Berg erzitterte, als wollte er in sich selbst zusammenstürzen. Alles sprang auf und drängte in wilder Hast zum Ausgang der Kaverne. Aber es gab keinen Ausgang mehr, die Kaverne war durch Felsblöcke und Gestein verrammelt, ihre Insassen im Berg gefangen. Durch einen schmalen Schlitz drangen in das Innere der Kaverne die teuflischen Laute der Hölle auf diesem Berg: Steinlawinen donnerten mit dem Trommelfeuer um [15] die Wette, die Hilferufe gräßlich Verstümmelter aus der Siefschlucht durchrissen in abgehackten Schreien das Toben dieses Hexenkessels. Fieberhaft wurde an der Freilegung des Kavernenausganges gearbeitet. Als es aber endlich so weit war, da konnte kein Mann nur einen Fuß hinaussetzen, so fürchterlich lag das Trommelfeuer auf jedem Quadratfuß Boden. Über 80 feindliche Geschütze hielten den 100 m breiten Trichter, der jetzt auf der Spitze war, die Zugänge zum Berg und die Kaverneneingänge unter rasendem Feuer. Da mengte sich plötzlich unter das dumpfe Krachen helles Gewehrfeuer. Die Feldwachen des linken Flügels, die von der Sprengung verschont geblieben waren, kämpften einen letzten verzweifelten Kampf gegen die anspringenden, italienischen Sturmtruppen. Für die Italiener war es leicht, diese wenigen Männer zu überrennen. Mit einem Schlag verstummte das Artilleriefeuer und blitzschnell flutete die erste Angriffswelle des Feindes über den Berg herein. Nun hielt der Feind mit leichter Mühe durch Gewehrschüsse und Handgranaten von oben herab alles nieder, was sich in der Reservestellung rührte. Die ersten Gewehrschüsse begannen in die Kaverne zu krachen. Die Sturmtrupps hatten bereits den der Kaverne gegenüberliegenden Zugangstunnel erreicht und die dort befindlichen Reste der Besatzung ausgehoben. Die Hoffnung auf Hilfe war für die Besatzung geschwunden, sie mußte sich auf das Ernsteste gefaßt machen. Und für diese braven Soldaten folgten nun die schwersten Momente, die ein Mensch durchleben kann. Ihre Lage hatte den furchtbarsten Höhepunkt erreicht. In bebender Erregung befürchtete die Mannschaft, daß der vor der Falle stehende Feind Sprengpatronen oder Handgranaten durch den schmalen Eingang in die überfüllte Kaverne werfen würde. Das Gewehrfeuer in die Kaverne wurde starker, die Erregung steigerte sich aufs höchste. Vom Eingang bis in den hintersten Winkel der Kaverne begann ein wildes Hin- und Herwogen, Jammern tönte von den schwarzen Wänden dieser Felsenfalle zurück, lautes Gedenken an Frauen und Kinder wurde hörbar. Die Offiziere boten alles auf, die Gemüter zu beruhigen. Die Luft in der Kaverne wurde immer schlechter. Noch mehr als an den vorhergehenden Tagen hatten die Gase der explodierenden Geschosse den Raum erfüllt. Die Atmung wurde immer schwieriger, die Kerzenflammen wurden immer kleiner und erloschen endlich ganz. Die Finsternis wirkte entsetzlich. Jetzt stand der Kommandant vor der Wahl: Ersticken oder Übergabe! Vorsichtig wagten sich italienische Soldaten bis zum Kaverneneingang heran und forderten die Besatzung auf, die Kaverne zu verlassen. Tiefes Schweigen erfüllte den Raum. Nach einem stummen Händedruck verließen zuerst die Mannschaft, dann die Offiziere den letzten Flecken österreichischen Bodens am [16] Col di Lana, der, überwältigt von unwiderstehlicher Macht, dem Feinde überlassen werden mußte. Nach dem Austritt aus der Kaverne schleuderte jeder – Mann für Mann – seine Waffen über die steilen Wände in die tiefe Siefschlucht, dann stiegen sie schweren Herzens zur Spitze empor und wurden vom Kampfplatz abgeführt. Die alte Verteidigungsstellung war bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Dort, wo die braven Kaiserjäger und Sappeure bis zum letzten Augenblick heldenhaft ihre Pflicht getan hatten, klaffte ein tiefer Krater, der im Bruchteil einer Sekunde an die 200 Männer verschlungen hatte. Nur ein Mann der Besatzung entging dem Tod und der Gefangenschaft: Hunderte von Metern weit flog er durch den Luftdruck der Mine in die Siefschlucht hinab und kämpfte sich in unsäglicher Mühe in fast zweitägigem Kriechen bis in die eigenen Linien zurück. Aber er konnte nichts berichten, denn der Schrecken hatte ihm die Sprache genommen.
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