[5] Bildnis einer schmerzerfüllten Stadt
Albert Brödersdorff, Wer heute nach einer zehnjährigen staatlichen Selbständigkeit Danzigs an die Tage der Abtrennung zurückdenkt, dem hebt sich aus dem Novemberdämmer dieser Erinnerung das Antlitz einer leidvollen Stadt. Nach den Entbehrungen und seelischen Erschütterungen des Krieges war der geradsinnige und schaffensfrohe Oberbürgermeister Danzigs, Heinrich Scholz, nach kurzer Amtsperiode am 8. Oktober 1918 gestorben. Es war wie ein Symbol, das Hinscheiden dieses Führers, hinter dem seine Stadt in der Ungewißheit ihres Schicksals zurückblieb. Noch in die letzten Tage dieses Lebens waren Nachrichten über eine Losreißung westpreußischen Gebietes von Deutschland durch Machtspruch und über eine Abtretung an Polen hineingeklungen. Immer stärker verdichteten sich diese Gerüchte. Der 20. Oktober 1918 sah eine leidenschaftliche Versammlung in der Sporthalle, die gegen ein Abtrennungsschicksal erregt protestierte. Da warf in den Tagen des 10. und 12. November die Revolution ihre Welle über Danzig. In den dumpf erregten massengefüllten Stunden des Revolutionssonntages strömten Tausende von Menschen auf den Heumarkt, die Arbeiterkolonnen in Zügen formiert, mit roten Abzeichen geschmückt. In Eile wurden zwei Tafelwagen auf das holperige Pflaster des Platzes gefahren und von dieser improvisierten Tribüne aus verkündeten der damalige Parteisekretär Gehl und Frau Käthe Leu in Ansprachen an die Menge die Ausrufung der Republik. Die ganze Kette der Änderungen, die die Revolution mit sich brachte, die Umstellung der Behörden, die Auflösung des Generalkommandos, die Bildung der Bürgerwehr, eines Arbeiter- und Soldatenrates, eines Volksrates, zieht vorüber. Tage, gefüllt mit Sitzungen, Abende mit leidenschaftlichen Debatten, Werden und Vergehen neuer und alter Parteien, Sorge in den Betrieben, bei den Unternehmern wie bei den Arbeitern und Angestellten, – das ist die Signatur dieser Tage. Immer aber kehren sich zwei Dinge als das unverwischbare Zeichen der erregten Fülle dieser Zeit hervor und quälen Volk und Stadt bis zum letzten: Hunger – und Sorge um das deutsche Schicksal Danzigs. Die Rüstungsbetriebe müssen sich umstellen auf Friedensarbeit. Aber in die gesamte Wirtschaft ist ein Riß gekommen. Die Brotversorgung gerät ins Stocken, Streiks brechen aus, Ausschreitungen zeigen, daß der Geist des Krieges die Moral des Friedens verwischt hat und die Not größer ist als das Gefühl für Recht. So senkt sich das Jahr 1918 über die leidende Stadt. So bricht das Jahr 1919 an.
Amerikanische Lebensmitteltransporte für das benachbarte hungernde Polen treffen ein, und der Hunger in Danzig, der nach diesen Lebensmitteln greifen möchte, muß mit nachdrücklichen Warnungen und bewaffneten Drohungen hart zurückgewiesen werden. In diesen Monaten, da Hunger und Elend das Volk heimsuchen, da die Rückkehr der Danziger Truppen und ihr späterer Wiederauszug aus Danzig die Bevölkerung schmerzlich erschüttern, da Erregungen revolutionärer und gegenrevolutionärer Zwischen- [6] fälle, das Abreißen roter, das Aufziehen schwarz-weiß-roter Fahnen zu folgenreichen Zusammenstößen führen und das Gedenken dieser Tage mit Blut färben – Tage, in denen der seelische Widerstand der Bevölkerung unter unerträglichen Druck gerät –, dringen immer neue Gerüchte über ein ungewisses Schicksal Danzigs heran und martern die Bevölkerung. Am 25. Dezember 1918 landet der berühmte polnische Klaviervirtuose Paderewski, einer der begeistert zum Führer des polnischen Volkes Erkorenen, auf einem englischen Kreuzer in Danzig. Ihm zu Ehren wird ein Begrüßungsempfang durch Danziger Polen im Hotel "Danziger Hof" gegeben. Allerlei Gerüchte über eine dort gehaltene Ansprache, daß Danzig an Polen ausgeliefert werden solle, durchkreisen die Stadt. Sie werden zunächst dementiert. Aber das Dementi ist ungewiß und wird bald abgelöst durch Gerüchte, die an Inhalt und Form zwar voneinander abweichen, aber immer wieder und immer bestimmter von einer Abtrennung Danzigs und von einer Auslieferung an Polen sprechen. Als eine immer stärkere Betonung sich zu der angstvollen Gewißheit formt, daß Danzig das Objekt polnischen Anspruches werden soll, marschiert am 23. März 1919 jene imposante Kundgebung der Danziger Bevölkerung in den Straßen Danzigs auf, an der 70 000 Menschen teilnehmen, zu der auch Abgeordnete der gesamten Volksräte Westpreußens in Danzig zusammenströmen und die deutsche Studentenschaft der Danziger Technischen Hochschule geschlossen erscheint. In ergreifenden Worten ertönt der Schrei dieser gewaltigen Menge in den Resolutionen dieses Tages wieder. Der Danziger Generalsuperintendent Reinhard wiederholt eindringlich diesen Schmerzensruf der Danziger Not in seiner bemerkenswerten Rede als Abgeordneter in der preußischen Landesversammlung. Reichskommissar Winnig trifft zu Besprechungen wegen der Polenfrage Ende März in Danzig ein. Die Provinz Ostpreußen richtet einen einstimmigen Protest gegen eine Vergewaltigung Danzigs an das Gewissen des gesamten Europas und am 24. April 1919 strömt noch einmal die Bevölkerung der ganzen Stadt in noch größeren Massen als in der Märzkundgebung auf den Straßen zusammen, um gegen einen Gewaltfrieden, der Danzig vom Reiche losreißen und an Polen ausliefern soll, zu protestieren. 80 000 Teilnehmer bekunden ihren Schmerz und ihre Trauer über eine solche Planung und eine gewaltige Welle des Protestes schlägt empor. Ein Mal seelischer Not, steht diese Stunde im Schicksalsbuche Danzigs. Wer sie erlebte, empfindet sie heute noch in Ergriffenheit.
Es verschwinden die Vorfälle und Aufregungen sonstiger Art, die an dem seelischen Widerstand der Bevölkerung in jener Zeit zerren, gegenüber den großen physischen Sorgen und Entbehrungen, mit denen diese Tage noch immer beladen sind, und gegenüber dem Schmerz, vom deutschen Mutterlande losgerissen zu werden, einem ungewissen Schicksal ausgeliefert zu sein. Amerikanische Lebensmittel, die im März eintreffen, erleichtern etwas die jämmerliche Ernährungslage. Der 7. Mai 1919 bringt in Danzig die Kenntnis der Friedensbedingungen und das Wissen um die Neuordnung, die auch mit unserer Stadt beabsichtigt ist. Noch einmal gehen am 21. Mai die Frauen und Kinder Danzigs zum Protest gegen diesen Frieden auf die Straße. Ihre [7] Absicht, das Herz ausländischer Vertreter, die zu dieser Zeit in Danzig weilen, zu rühren, ist vergeblich. Das Eintreten Lloyd Georges in den Pariser Zirkeln des Friedensvertrages aber verhindert wenigstens, daß Danzig, wie es der Wunsch weitgreifender polnischer Pläne war, an Polen ausgeliefert wird.
Aus der Hingabe des Schmerzes und der Trauer, die alle noch dumpf umfängt, löst sich allmählich der Pflichtgedanke des Zwanges zur Gestaltung einer neuen Zukunft. Die Grundlagen der kommenden Selbständigkeit werden untersucht. Mit den Verfassungsbestrebungen im Reich gehen Verfassungsbestrebungen in Danzig parallel. Ein Verfassungsdezernat wird beim Magistrat in den ersten Tagen des Juli 1919 geschaffen, das Stadtrat Dr. Schwarz übertragen wird. Der in der Stadtverordnetensitzung vom 8. Juli nach einer Rede des Oberbürgermeisters Sahm eingesetzte Verfassungsausschuß beginnt seine Tagungen und trifft die Vorbereitung zur Wahl der Landesversammlung, der späteren Verfassunggebenden Versammlung. Von verschiedenen Parteien werden Entwürfe einer Verfassung vorgelegt. Inzwischen trifft Anfang Juli 1919 eine englische Militärkommission in Danzig zum Studium der Unterbringung der Besatzung ein. Ihr folgt am 30. Juli eine Entente-Marinekommission zur Besichtigung der Danziger Werft und der im Hafen liegenden deutschen Kriegsschiffe. Eine Danziger Studienkommission wiederum begibt sich zum Studium der Verfassungseinrichtungen nach Hamburg, Lübeck und Bremen. Ein von der Danziger Wirtschaft gebildeter Wirtschaftsausschuß richtet an das Sécretariat Permanent du Conseil des Alliés in Paris das telegraphische Ersuchen, die Konstituierung der Freien Stadt möglichst unverzüglich in die Wege zu leiten, um einem gesetzlosen Zustande und einer allgemeinen wirtschaftlichen Verwirrung beim Inkrafttreten des Versailler Vertrages vorzubeugen. Das war Ende September 1919. Wohnungsnot, Kohlennot, Arbeitsnot, Geldnot heißen die Zeichen dieses Jahres. 30 Millionen Mark müssen am 8. Oktober von den Stadtverordneten für Lebensmittelankäufe bewilligt werden. Noch ist die Ostsee in ihren Häfen für deutsche Schiffe blockiert, noch patrouilliert als Blockade-Kontrollboot am 18. Oktober 1919 ein englischer Zerstörer in der Danziger Bucht. Der Handel über See ist nach anfänglichem Wiedererwachen erneut lahmgelegt. Doch allmählich haben die Tatkraft der Danziger Wirtschaft, der energische Wille unserer Bevölkerung das Gefühl der tiefen Niedergeschlagenheit überwunden. Die nächstliegenden Aufgaben verlangen zielbewußtes Handeln, wenn nicht neue Nachteile die schwergeprüfte Stadt und ihre Bevölkerung bedrücken sollen. Langsam hat die Wirtschaft aus den zerrüttenden Folgen des Krieges, aus der Hemmung der Revolution sich aufgerichtet und beginnt die neuen Unterlagen für ihr Wirken zu schaffen. Am 27. Oktober wird eine Erleichterung der Ostsee-Blockade durch Freigabe der Hoheitsgewässer erreicht. Die Ordnung in der inneren Stadt nach dem Abzuge des Militärs und nach der Auflösung einer anfänglich gegründeten Bürgerwehr wird durch Errichtung einer Einwohnerwehr verstärkt. Ausgang Oktober 1919 weiß die Presse von der voraussichtlichen Ernennung Sir Reginald Towers zum interimistischen Kommissar der Alliierten in Danzig zu melden. Seine provisorische Ernennung erfolgt am 13. November. Am 21. des gleichen Monats trifft [8] er bereits zu einer zweitägigen inoffiziellen Information in Danzig ein. Ihm folgt zum gleichen Zweck am 22. November Dr. von Bisiadecki, der von der polnischen Regierung zum diplomatischen Vertreter Polens in Danzig ernannt worden ist. Mitte Dezember ist die Errichtung des ersten ausländischen Konsulates in Danzig zu verzeichnen, eines Konsulates der Vereinigten Staaten von Amerika. Ihr schließt sich die Ernennung des Regierungspräsidenten Förster zum deutschen Reichs- und preußischen Staatskommissar für das abzutretende Gebiet der Freien Stadt Danzig an. Bereits in den ersten Tagen des November war eine Abordnung des Danziger Wirtschaftsausschusses unter Führung von Kommerzienrat Wieler nach Warschau gefahren, um auf Einladung der polnischen Regierung mit den polnischen Wirtschaftsbehörden Fühlung zu nehmen. Die ersten Beziehungen internationaler Art waren hergestellt. Das neue selbständige Leben Danzigs begann.
Der Übergang vom werdenden Gebilde zum eigenstaatlichen Dasein vollzog sich langsam. Aber während man an den amtlichen Stellen und in der Danziger Wirtschaft sich bemüht, mit loyalem Willen die Bedingungen zu erfüllen, die ein schweres Geschick mit der Abtrennung Danzigs vom Mutterlande über unsere Stadt ausgesprochen hatte, während die Militärmusik englischer und französischer Besatzungsbataillone das Begleitkonzert zu innerer Trauer und bitter errungener Bereitschaft zu loyaler Friedensarbeit gibt, schlägt auf der polnischen Seite in der Presse wie in chauvinistischen Kreisen der polnischen Bevölkerung eine Flamme des Hasses hoch, die ungeheuerlich ist. Ende Dezember 1919 wird im Pariser Temps von polnischer Seite Einspruch gegen die Anwesenheit des Danziger Oberbürgermeisters Sahm als technischer Beirat der deutschen Friedenskommission in Paris erhoben mit der Begründung, daß Sahm auf der Liste der an Polen auszuliefernden Kriegsverbrecher stehe. Und etwa zur selben Zeit mag es gewesen sein, als die Gazeta Gdanska, das langjährig in Danzig bestehende polnische Blatt, jene denkwürdigen Worte des Hasses als angeblichen Ausdruck der polnischen Stimmung schrieb, daß die pommerellischen Wälder wohl Holz genug haben würden, um die Särge zu zimmern für die Danziger Bevölkerung, die man erschlagen oder verhungern lassen sollte. Überflammt von dieser Fackel wildester Haßausbrüche öffnete sich der Weg Danzigs zu einer neuen Zukunft, auf dessen so überlohte Anfänge wir heute nach einem zehnjährigen Abschnitt des Erlebens zurückblicken. [Scriptorium merkt an: derartige Haßausbrüche der polnischen Presse waren nicht auf Danzig beschränkt; mehr zu diesem Thema finden Sie hier.]
Ohne Mitgift für seine Existenz, in den unausbleiblichen Streitigkeiten mit
seinen mächtigen Nachbarn nur auf den Schiedsspruch des
Völkerbundes angewiesen, dessen Fundamente das Vertrauen der
Völker, die Empfindung der Gerechtigkeit und die Achtung des
Selbstbestimmungsrechtes der Nationen sein sollten, begleitet von den
Verwünschungen polnischer Fanatiker, umgeben von keinem Zeichen der
Aufmunterung oder eines verheißungsvollen Ausblickes, arm an Mitteln,
belastet mit
Forderungen – so trat Danzig in den Januartagen 1920 den Weg
einer neuen geschichtlichen Entwicklung an. |