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Nordwestdeutschland - Georg Hoeltje
Einleitung
Der erste Teil unseres Buches handelt von Nordwestdeutschland. Dieses Gebiet
muß begrenzt werden.
Im Norden und im Westen fallen seine Grenzen mit denen des Reiches
zusammen. Aber wo soll man im Osten und im Süden die Grenze
ziehen? Küsten und Zollschranken sind nur im Norden und Westen zu
finden. Nach Osten dehnt sich das Land ohne Grenze.
Es dehnt sich. Seine Horizonte sind ruhig. Seine Wasser strömen breit und
langsam. Seine Städte liegen flach in der Ebene: Hamburg, Hannover,
Emden und Magdeburg. Und zwischen ihnen dehnt sich das norddeutsche
Tiefland. Ja, es dehnt sich als Tiefland noch über die östlichen
Grenzen des Reiches hinaus: ein Teil der Steppe, die "vom Jenissei bis zur
Nordsee" (Ratzel) Europa mit Asien verbindet.
Grenzen setzt hier nur die Besiedlung. Sie scheidet den deutschen Raum aus dem
allgemeinen Tiefland aus, als von uns bewohntes Land. Und nicht von unser
einem oder zweien, sondern von unserm Volk und seinen
Stämmen bewohntes Land.
Aber die Stämme scheiden nicht nur zwischen Osten und Westen, sie sind
auch die mächtigen Klammern, die sich quer über die Grenze
von Tiefland und Bergland legen. Ihre Wohnsitze ziehen sich aus der Ebene
nach Süden in die Täler des Gebirges hinein, den
Flußbetten folgend. So verknüpfen sie Landschaften, die einander so
fremd sind wie die Steppen Asiens und die vielfach zerteilte kleinkammerige Welt
Mitteleuropas.
Deutschlands innerer Reichtum ist in der Versöhnung dieses Gegensatzes
begründet.
Im Osten herrscht die Steppe allein: da ist Rußland und Asien. Im Westen
kennt man die weiten Flächen des Tieflandes nicht: da ist Frankreich. Weite
des Blicks und trauliche Täler zugleich aber hat Deutschland.
Diesen lebendigen Reichtum würden wir zerschneiden, wenn wir die
Grenze des nordwestdeutschen Raumes gegen den mitteldeutschen dorthin legen
wollten, wo das Tiefland aufhört und das Mittelgebirge beginnt.
[2] Untrennbar zum Tiefland
gehört der nördliche Rand der Mittelgebirge, so wie die Küste
das Meer nicht nur begrenzt, sondern zu ihm gehört kraft des Lebens, das in
ihren Bewohnern täglich von einem Element auf das andere
übergreift. Wir werden an der Verbreitung der Mundart wie der Hausform
eine Art von "Küstenstreifen" kennenlernen, auf dem das Volk des
Tieflandes in die bergige Landschaft hineingedrungen ist.
Je weiter aber diese Menschen in den Verästelungen der Täler
emporsteigen, um so dünner zerteilt sich ihre im Tiefland geschlossene
Masse. Und wo ihr Vordringen schließlich endet, da stehen sie nicht mehr
wie eine Wand fremdem Stammestum gegenüber. In den feinen
Verfaserungen dieser gebirgigen Welt werden Einflüsse gierig aufgesaugt.
Hausform und Mundart und was uns sonst an äußeren Zeichen
für die Verschiedenheiten der Stämme zur Verfügung steht,
weist hier allmählich Übergänge und Mischformen auf, und
wenn wir eine Grenze ziehen wollen, müssen wir wieder
zurückgreifen auf die reine unvermischte Form, wie wir sie in den
ursprünglichen Wohnsitzen des Stammes, im Tiefland finden.
So sind die Niedersachsen der Stamm des nordwestdeutschen
Tieflandes. Von Holstein bis in die Lüneburger Heide reicht noch heute das
Gebiet des reinsten Sachsentums. Wir brauchen den Namen Sachsen hier immer
in seinem alten echten Sinne, also gleichbedeutend mit den heutigen
Niedersachsen. Aber nicht nur im flachen Lande, nach Westen bis an die heutige
deutsch-holländische Grenze, haben sie sich ausgebreitet, sondern bis an
die Ränder des Harzes, und zwischen dem Harz und den Weserbergen sind
sie dem Leinetal aufwärts folgend bis Göttingen vorgedrungen. Das
enge und gewundene Tal der Weser ist ihrer Ausbreitung weniger günstig
gewesen. Aber das nördliche Weserbergland haben sie noch in Besitz
genommen, und von der Weser aus nach Westen etwa der Diemel folgend, und
aus der Westfälischen Bucht in die Täler von Ruhr und Lenne und
Möhne eindringend, sind sie zum Volk der Sauerländer geworden
und haben die südliche Grenze des Niedersachsenstammes bis an das
Rothaargebirge vorgeschoben.
Und erst wenn wir die Vielfalt der Landschaften, die dieser eine Stamm heute
bewohnt, zusammen sehen lernen, erschließt sich uns in ihrem geheimen
Zusammenklang ein einheitlich gewachsenes Stück unserer deutschen
Heimat, die so verwirrend reich an inneren Gegensätzen ist und doch eines
Geistes durch das Volk, das sie bewohnt.
Und so, als Heimat des Sachsenstammes verstanden, schließt sich der Raum
Nordwestdeutschland, der uns auf den ersten Blick ohne Grenzen schien, nicht
nur nach Süden, sondern auch nach Osten.
Der Harz springt wie eine Bastion aus der Küstenlinie des Mittelgebirges
ins flache Land. Gleich östlich hinter ihm weicht der Gebirgsrand nach
Süden zurück. Und wenn auch das Erzgebirge wieder etwas an
Höhe gewinnt, so entscheidet sich doch, was am Harz beginnt, mit dem
südöstlichen Abknicken der Sudeten endgültig: die Ebene
wird Alleinherrscherin im östlichen Europa.
[3] Die deutsche
Nordseeküste zwischen Emden und Hamburg ist vom Gebirgsrand
zwischen Duisburg und Magdeburg knapp 200 Kilometer oder drei
D-Zugstunden entfernt. Das heißt: das Tiefland zwischen Meer und Gebirge
ist nur in enger Verbindung mit beiden zu denken.
Jenseits der Elbe wird das anders. Nicht nur das Gebirge zieht sich nach
Süden zurück, zugleich weicht die Küste nach Norden aus, so
daß die Ebene immer breiter wird und immer mächtiger in ihrem
eigenen Sinne wirken kann, zumal das angrenzende Meer, die Ostsee, als
Binnenmeer nicht entfernt die gleichen Wirkungen, weder klimatisch noch im
Verkehr, auf ihr Hinterland ausüben kann wie die Nordsee.
Im selben Maße, wie dieser Raum das eigenartige deutsche
Verhältnis zwischen Tiefland und Mittelgebirge verliert, hat er das
Eindringen östlicher Völker, der Slawen, begünstigt. Die
westliche Grenze ihres Vordringens in Norddeutschland liegt an der Elbe, oder
besser gesagt auf der Verbindungslinie zwischen Magdeburg und Hamburg,
ungefähr auf der Wasserscheide der Elbe gegen die
Aller-Weser.
Hier hat sich der Sachsenstamm dem Slawentum in den Weg gestellt. Und hier hat
er wie eine Mauer gestanden. Noch heute heißt das Stück Land, das
die Slawen westlich der Elbe besiedeln, das hannoversche Wendland. Und noch
heute zieht sich hier, an der ehemaligen Grenze zwischen Slawen und
Germanentum die dichte Reihe der Rundlingdörfer entlang.
Bei Lauenburg etwa überschreitet diese Grenze die Elbe und erreicht bei
Kiel die Ostküste
Schleswig-Holsteins und schließt damit die ältesten Sitze des
Sachsenstammes gegen die Slawen ab.
Zwischen Eider, Schlei und Elbemündung finden wir die Sachsen schon
vor der Völkerwanderung. Zwischen Eider, Schlei und der
Elbemündung aber sitzen sie auch nach der Völkerwanderung noch.
Sie sind nicht zu europäischen Wanderungen aufgebrochen wie die
Langobarden südlich von ihnen. Sie sind auch nicht aufgerieben worden
wie die Cherusker, die das Leinetal und die Weserberge bewohnten und deren
Name nach der Völkerwanderungszeit einfach verschwindet. Sie bleiben
aber auch nicht unbeweglich sitzen wie die Friesen in ihren Küstenstrichen,
sondern ganz allmählich und ohne ihre alte Heimat aufzugeben schieben sie
sich von der Kimbrischen Halbinsel, der Brücke aller
Nordgermanenstämme, in die breite Tiefebene hinein.
Sie sind in Deutschland in dieser Art ihrer Ausbreitung die einzigen ernsthaften
Rivalen der Franken. Und es ist einer der wichtigsten Augenblicke in
Deutschlands Geschichte gewesen, als im 8. Jahrhundert die Expansion der
Sachsen zusammenstieß mit dem Reich der Franken, die inzwischen,
teilweise mit sächsischer Hilfe, alle anderen Stämme in Deutschland:
Hessen, Thüringer, Bayern und Alemannen unterworfen hatten.
Die Sachsen wurden damals geschlagen. Hätten sie gesiegt, vielleicht
hätte die deutsche Geschichte ein geschlossenes norddeutsches Reich
entstehen sehen, zu dem als Vervollständigung unbedingt auch die
große Tieflandsbucht gehört hätte, durch die der Rhein,
nachdem er das Gebirge verlassen hat, in breiten Windungen [4] strömt.
Andererseits aber würde sich solch ein Gebilde wahrscheinlich entlang der
Barre, die das Mittelgebirge in ostwestlicher Richtung quer durch Deutschland
legt, vom deutschen Süden getrennt haben. Und das ist gewiß ein
großer Erfolg des fränkischen Sieges, daß eine solche in der
Landschaft vorgebildete Isolierung eines norddeutschen
Tiefebenen-Staates unmöglich gemacht worden ist.
Zunächst um den Preis der politischen Abhängigkeit der Sachsen.
Wie gering aber die schädlichen Wirkungen dieser kurzen
Unselbständigkeit waren, zeigt am besten die Tatsache, daß rund
hundert Jahre nach der endgültigen Unterwerfung eine neue Blüte
nun des gesamten deutschen Reiches unter der Führung des
Sachsenstammes entstand. Die deutsche "Residenz" stand damals in Goslar, am
Harz, an der nach Osten gegen die Slawen und zugleich nach Süden gegen
das übrige Deutschland vorgeschobenen Bastion der sächsischen
Landschaft.
Von hier aus haben die Sachsenkaiser vor tausend Jahren das Reich geschaffen,
das wir heute Deutschland nennen. Und im tausendjährigen Reich steht
tausendjährig die sächsische Landschaft, deren Grenzen wir jetzt, mit
dem Eckpfeiler des Harzes, auch nach Süden und Osten festgestellt
haben.
Innerhalb des so umrissenen nordwestdeutschen Raumes bleiben nur zwei
nichtsächsische Gebiete, die friesischen Küsten und Inseln, die aber
neben der überragenden Bedeutung des Sachsentums zurücktreten,
und der fränkische Niederrhein mit seinen Randlandschaften.
Eine natürliche Grenze Niedersachsens gegen den Niederrhein besteht
nicht. Bei der Elbe ist das anders. Die norddeutschen Flüsse bekommen im
Tiefland ihre Zuflüsse ganz überwiegend von Osten. Und nicht nur
die Zahl überwiegt, sondern auch die Reichweite der Zuflüsse.
Deshalb liegt die Wasserscheide zwischen Weser und Elbe ganz nahe der Elbe,
und deshalb wird die Elbe für einen von Westen her sich ausbreitenden
Stamm zur Grenze, während der von Osten kommende sie zu
überschreiten sucht.
Ganz ebenso müßte es am Rhein sein. Lippe, Emscher, Ruhr, um nur
die wichtigsten zu nennen, ziehen den Zustrom von Osten her ins Rheintal hinein,
und es ist nur der politische Zufall der sächsischen Niederlage gewesen, der
schließlich die sächsische Expansion überall
etwa 20 - 30 Kilometer vor dem Rhein zum Stillstand gebracht
hat.
Schon einmal war von den Römern der Rhein zur künstlichen
Grenze gemacht worden. Was damals als Notbehelf an Stelle eines
weitergesteckten bis zur Elbe reichenden Plans zustande gekommen war, wird
800 Jahre später unter den Karolingern nicht sinnvoller. Nur die
Schärfe des Schnittes ist weniger spürbar, nachdem aus der
römischen Festungslinie die binnengermanische Stammesgrenze geworden
ist.
Und so fühlen wir uns berechtigt, mit einer Schilderung
Nordwestdeutschlands als der Heimat der Sachsen auch den Niederrhein, die
Kölner Bucht und ihren Uferrand, das Schiefergebirge eng zu
verknüpfen.
Nachdem auf diese Weise der Umfang und der Inhalt unserer Aufgabe
einigermaßen klar geworden sein dürften, sind noch ein paar Worte
über die Art unserer Darstellung vorauszuschicken.
[5] Wir werden die
nordwestdeutsche Landschaft in erster Linie auf die fördernden und
einschränkenden Kräfte hin betrachten, durch die sie das Entstehen
von Staaten, Gemeinschaften und Kulturen beeinflußt.
Dies Land hat wenig von dem Zauber, den der naive Betrachter in den
anmutigeren Gegenden des deutschen Südens findet. Erst das vergangene
Jahrhundert hat in der Einsamkeit der Heide und der Unendlichkeit des Meeres
Stimmungswerte entdeckt, von denen auch wir nicht schweigen werden. Die
Menschen dieses Landes sind nicht offen, sind von sich aus keine Freunde der
bildenden Kunst und für die Reize des Anschaulichen im Grunde
unempfindlich. Denker und Grübler finden wir mehr unter ihnen, und in
den Künsten sind sie der Musik am ehesten zugeneigt. Vor allem aber
stammen aus dem norddeutschen Tiefland Deutschlands Offiziere und
Geschichtsschreiber. Und eine Beschreibung ihrer Heimat wird von ihrem Geiste
etwas in sich tragen müssen.
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