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Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil


Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

Kapitel 1: Das Deutsche Reich
unter Kaiser Wilhelm II. (1890 - 1909)
  (Forts.)

3. Die Entscheidung des englischen Bündnisproblems (1898 - 1904).   (Forts.)

Es war von allen dramatischen Verschiebungen dieser Jahre wohl die aufregendste, die jetzt mit einem Male den Blick der Mächte von Afrika ablenkte: der plötzliche Ausbruch einer national-revolutionären Bewegung in China, die in der Belagerung der europäischen Gesandtschaften in Peking und in der Ermordung des deutschen Gesandten Freiherrn von Ketteler (20. Juni 1900) gipfelte. Damit war unter den ungünstigsten Aspekten der große Rivalitätskampf der Mächte um China von neuem eröffnet, und im besonderen: die Frage eines Einvernehmens zwischen England und Deutschland mußte von jetzt an [508] auf dem dafür gefährlichsten weltpolitischen Hintergrunde, dem ostasiatischen, fortgesetzt werden.

Der unglückliche Zufall wollte, daß gerade Deutschland, das vermöge seiner Interessen und Ansprüche auf chinesischem Boden doch erst in zweiter Linie stand, durch das tragische Geschick seines Vertreters in die vorderste Reihe der beteiligten Mächte gedrängt schien. Von vornherein lag hier ein Widerspruch zwischen der leidenschaftlichen persönlichen Aufwallung, die den Kaiser trug, und der Staatsräson, die Bülow zu vertreten hatte. Der Kaiser wünschte vor allem eine große gemeinsame, am liebsten europäische Militäraktion, womöglich unter deutscher Führung mit dem Endziel, Peking dem Erdboden gleichzumachen - denn die ihm geläufige Vorstellung, es ist der Kampf Asiens gegen Europa, hatte wieder von seiner Seele Beschlag genommen. Bülow dagegen war besorgt, wenn Deutschland in Ostasien vorzeitig zu sehr in den Vordergrund träte, könnten sich bei der Eifersucht der Russen, der latenten Feindschaft der Franzosen und der Unzuverlässigkeit der englischen Politik die anderen Mächte gegen uns zusammenschließen.

Vom ersten Augenblick an war jede erdenkliche Sonderfrage, die Stärke der Beteiligung der einzelnen Nationen, der Umfang und das Ziel des militärischen Unternehmens, die Übertragung des Oberbefehls bis zu der Frage der chinesischen Sühne- und Strafbedingungen, den Entschädigungsverhandlungen und schließlich dem Termin des Abmarsches, alles und jedes war hochpolitischer Natur und infolgedessen Gegenstand eines zähen und verschlagenen Ringens unter den Mächten. Und zwar ging es dabei nicht allein um die große Realität der Macht, die mit dem Schicksal ganz Ostasiens in Fluß und zur Entscheidung kommen konnte, sondern ebensogut um den Schein, um das Prestige, das jeder selbst vor den Chinesen zu wahren, dem andern aber womöglich zu stören trachtete - auch wenn das Ganze nur eine in sich selbst ablaufende Episode blieb, konnten doch tiefe Eindrücke in der Seele des fernen Ostens zurückbleiben. Die deutsche Auffassung ging schon vor Beginn der Krisis dahin, sich möglichst nicht in das Vordertreffen zu drängen, und auch als man durch den Ausbruch der Krisis nach vorne geschoben wurde, blieb man entschlossen - trotz aller starken und unglücklichen Worte des Kaisers, die nur an den äußeren Hergang rührten, die politischen Konsequenzen in möglichst engen Grenzen zu halten. Das deutsche Programm lautete: "unnötige Erschütterung oder gar eine Aufteilung der chinesischen Länder ist als unseren Interessen nicht entsprechend zu vermeiden" (30. Juni).103 In der von Intriguen und Mißtrauen überladenen Atmosphäre war es für die deutsche Politik schon an sich sehr schwer, ihren Weg zwischen Rußland und England zu gehen. Den Russen mit ihren weitreichenden Plänen [509] kam die chinesische Revolution so unerwünscht wie möglich. Sie wollten nicht die Europäer zusammen mit dem Japaner auf dem Boden Chinas auftreten sehen und ließen sich nur mit Widerstreben zu einem Unternehmen gegen Peking bereitfinden. Die Engländer dagegen neigten von vornherein dazu, in der Krisis mit Deutschland zusammen den Russen entgegenzutreten; noch stark in Südafrika beschäftigt, traten sie für eine kräftige militärische Mitwirkung der Japaner ein und waren verstimmt, als die deutsche Diplomatie sich nicht dafür in Petersburg einsetzen wollte;104 Salisbury erfüllte sich bald mit der Sorge, daß die Deutschen, wenn es sich um eine gemeinsame Politik in Peking handle, die Engländer im Stiche lassen würden, um es mit den Russen nicht zu verderben. Im Grunde war es die russisch-englische Rivalität, die dazu führte, daß man schließlich in Petersburg und in London den wenig erwünschten Oberbefehl des Grafen Waldersee annahm. Zwar gelang es dem Kaiser, am 6. August dem Zaren durch den Eventualvorschlag Waldersee die Zustimmung abzuringen und damit auch das Einverständnis aller übrigen Mächte herbeizuführen.105 Aber als nach kurzer Frist die Nachricht von der Einnahme Pekings am 17. August eintraf, ließ der Russe sofort die Erklärung folgen, daß der Vormarsch nunmehr unnötig geworden sei; als Graf Waldersee in Neapel an Bord ging (22. August), lief bereits von Petersburg ein Wort des Zaren in den europäischen Kabinetten um, daß das Militär nicht mehr die Entscheidung habe, daß das Wort an die Diplomatie übergehe. Kaiser Wilhelm, der vor allen anderen seine Ehre verpfändet sah, nahm es mit Erbitterung auf, daß die russische Politik so herausfordernd seine Bahnen kreuzte und schon den Antrag auf Räumung Pekings stellte; es war, als wenn man in Petersburg es zu einer weiterreichenden Strafexpedition und einer Verwirklichung des Oberkommandos überhaupt nicht kommen lassen wollte. Von dieser Unaufrichtigkeit und Rücksichtslosigkeit abgestoßen,106 begann der Kaiser eine engere Fühlung mit England zu suchen, das ein Eingehen auf den russisch-französischen [510] Antrag auf Räumung Pekings abgelehnt hatte. In einer Besprechung mit dem Prinzen von Wales und dem englischen Botschafter am 22. August in Wilhelmshöhe einigte man sich nicht nur darüber, daß der Krieg noch nicht zu Ende sei, die Diplomatie noch Schweigen bewahren und die Sache den Generalen überlassen solle, sondern auch darüber, daß die Offenhaltung des Jangtse-Gebietes unter gleichen Bedingungen für alle, sowohl für England wie für Deutschland ein Gebot der politischen Notwendigkeit sei. Von dieser Verständigung nahmen die Verhandlungen ihren Ausgang, die zum Abschluß des deutsch-englischen Abkommens vom 16. Oktober 1900 führten.

Die deutsche Politik war davon ausgegangen, den freien Verkehr im Jangtse-Gebiet, als ein gemeinsames Interesse aller, gemeinsam mit England zu schützen. Der geschickten Verhandlungstechnik Salisburys gelang es jedoch, das deutsche Entgegenkommen für eine weitergesagte und fast mehrdeutige Vertragsgrundlage zu gewinnen. Die grundsätzliche Offenhaltung des freien Verkehrs wurde auf alle Häfen an den Flüssen und Seeufern Chinas ausgedehnt; dementsprechend sollte sich die Verpflichtung der beiden Mächte auf die Aufrechterhaltung der Verkehrsfreiheit auf das ganze chinesische Territorium, "soweit sie Einfluß ausüben können", erstrecken; daß dabei die Mandschurei nicht mit einbezogen werden sollte, ergibt sich einwandfrei aus der Entstehungsgeschichte des Vertrages.107 Sodann verpflichteten Großbritannien und Deutschland sich, die Wirren nicht zu benutzen, um sich irgendwelche territorialen Vorteile in chinesischem Gebiet anzueignen, und ihre Politik auf die unverminderte Erhaltung des Chinesischen Reiches zu richten; nur für den Fall, daß eine andre Macht solche Vorteile sich aneignete, behielten sie sich eine gemeinsame Verständigung über ihre Interessen vor. Als der Vertrag abgeschlossen war, genügte er der englischen Aktionspartei doch nicht ganz, weil sie besorgte, die Deutschen würden es niemals darauf ankommen lassen, Rußland gegenüber eine energische Haltung einzunehmen, wodurch für sie der eigentliche Zweck des Abkommens völlig vereitelt werde. Zunächst stimmten Rußland, über die Mandschurei beruhigt, und die übrigen Mächte dem Vertrage zu, aber es war vorauszusehen, daß er seine eigentliche Probe noch würde zu bestehen haben.

Die Politik des Grafen Bülow, der an dem Tage nach dem Vertragsabschluß zum Reichskanzler ernannt wurde, ging also dazu über, den Ablauf [511] der chinesischen Expedition in erster Linie durch die Fühlung mit England sicherzustellen. Wenn man tiefer in die Entstehungsgeschichte dieses Vertrages und die Differenzen um seine richtige Interpretation eindringt, so erkennt man jedoch, daß eine restlose Option auf diesem Schauplatze von der deutschen Seite noch nicht vollzogen war. Es stellte sich heraus, daß der Deutsche in der Anwendung des Vertrages vielleicht doch nicht so weit gehen wollte, wie es für die Engländer, um die Kluft gegen Rußland zu vertiefen, der eigentliche Vertragszweck war, und es blieben dann wieder diplomatische Situationen nicht aus, in denen das Einvernehmen vom 16. Oktober, weil es verschieden ausgelegt wurde, geradezu eine Nichteinigkeit zwischen den beiden Partnern auslöste.

Vor allem sei auf die eine gewichtige Tatsache aufmerksam gemacht, daß von dem chinesischen Machtschauplatze, der für die deutschen Interessen an sich nur eine sekundäre Bedeutung besaß, immer wieder die stärksten Rückwirkungen auf das Verhältnis der Reichspolitik zu Rußland und England ausgingen und daß das ungelöste Lebensproblem des englischen Bündnisses fortan seine eigentliche Nahrung aus den wechselnden Konstellationen im fernen Osten bezog.

Bald nach dem Abschlusse des deutsch-englischen Chinavertrages ging die Leitung der englischen Außenpolitik in andere Hände über: am 12. November 1900 trat an die Stelle Salisburys, der sich fortan auf die Ministerpräsidentschaft zurückzog, der bisherige Kriegsminister Marqueß of Lansdowne. Der neue Außenminister war in seiner politischen Laufbahn von früh auf in die weiten Horizonte des Imperiums hineingestellt worden; er hatte bereits die Würde eines Generalgouverneurs von Kanada und dann jahrelang die eines Vizekönigs von Indien bekleidet. Innerhalb des Foreign Office besaß er vielleicht noch keine unmittelbare Amtserfahrung, um gegen die überragende Autorität Salisburys aufzukommen; dafür war er von den neuen Voreingenommenheiten und Empfindlichkeiten dieser Behörde frei. Persönlich ein großer Herr von ausgesprochen loyaler Haltung und liebenswürdiger Bestimmtheit, stand er in der Frage des Bündnisproblems der Gruppe Chamberlain - Devonshire nahe und war bereit, einer sachlichen Behandlung nicht aus dem Wege zu gehen - immerhin lagen die Aussichten für eine Verständigung geschäftlich günstiger als seit langer Zeit.108 Aus welchem Anlasse es sein mochte,109 jedenfalls entschloß sich die deutschfreundliche Gruppe des Kabinetts, nunmehr das Gespräch mit der deutschen Seite wieder aufzunehmen. Um Mitte Januar ließ Chamberlain auf dem Landsitze [512] des Herzogs von Devonshire vor dem Baron Eckardstein sein bekanntes Programm vernehmen. Die Zeit der glänzenden Isolierung sei vorüber und man müsse sich nach Bundesgenossen umsehen; sowohl im Kabinett wie im Volke seien Stimmen, die zur Anknüpfung mit dem Zweibunde rieten; er selbst sei der Überzeugung, daß der Anschluß an den Dreibund vorzuziehen sei. Und zwar sei er zunächst für ein Geheimabkommen über Marokko auf der früher erörterten Grundlage. Erweise sich das Bündnis als nicht möglich, so werde er auch einen Abschluß mit Rußland befürworten. Es war noch die Melodie von 1898, vielleicht die russische Unterstimme schon ein wenig vernehmlicher instrumentiert.

Der deutsche Botschafter war, wenn auch der Allianzgedanke noch verfrüht sei, doch der Meinung, man solle sich die Zuwegung über Marokko gefallen lassen. Bülow, der damals den Portugal-Vertrag empfindlicher zu nehmen begann, wollte immerhin den Engländern die Initiative überlassen und die Verstimmung der öffentlichen Meinung nicht verschwiegen sehen. In diesem Augenblicke aber erkrankte die greise Königin sehr schwer, und Kaiser Wilhelm entschloß sich, zu dem Sterbelager seiner Großmutter hinüberzueilen. Damit war die Konstellation für ein neues Bündnisgespräch mit einem Male verschoben.

Jetzt hielt der Reichskanzler es vollends für angezeigt, dem Kaiser, wenn es zu einer politischen Besprechung kommen sollte, Zurückhaltung statt der Beeiferung ans Herz zu legen. Er kannte die dem Eindruck der Stunde stürmisch sich hingebende Persönlichkeit Wilhelms II. allzu gut, um es darauf ankommen zu lassen, daß er, hingerissen von dem feierlichen weltgeschichtlichen Augenblick, weitgehend sich binde. Er einigte sich mit dem Kaiser darüber, daß jetzt alles darauf ankomme, die Engländer weder zu entmutigen noch sich vorzeitig von ihnen festlegen zu lassen: ein wahrer Meistercoup wäre auszuführen, wenn es gelänge, "den maßgebenden Engländern die Hoffnung auf ein zukünftiges, festes Verhältnis mit uns zu lassen, ohne sich jetzt schon verfrüht zu binden oder festzulegen." Daß er die Stärke der deutschen Karte im englischen Spiel überschätzte und zuviel von der wachsenden Verlegenheit Englands für seine Trümpfe erwartete, hatte er mit Holstein gemein;110 aber daß beide die Brücke zu schlagen gewillt waren, kann keinem Zweifel unterliegen. Der Kaiser vollends war von der Verantwortlichkeit der Stunde, der er entgegenging, tief erfüllt. "Gott gebe mir die richtigen Worte, daß ich sie richtig zu fassen verstehe und zum Wohl beider Länder ausfalle, was wir beredet" - telegraphierte er dem Kanzler, als er nach stürmischer Überfahrt in London den Boden der Insel betreten hatte.

[513] Der Besuch des Kaisers verlief harmonisch. Man nahm es in London doch mit dankbarem Verständnis auf, daß er sich am Totenbett der Königin Victoria und in den ersten Tagen der Thronbesteigung König Eduards VII. wie ein Glied in die große Familie füge. Der Berliner Absicht entsprechend, gewann der Besuch keinen politischen Charakter. Wenngleich Eduard VII. sich zum Kaiser in den schärfsten Worten gegen den Zweibund aussprach, vermied dieser verabredetermaßen von Allianz zu sprechen; er beschränkte sich bei dem König und den Ministern auf das Thema der Notwendigkeit für England, mit den Kontinentalmächten zusammenzugehen. In seiner akademischen Unterhaltung mit Lansdowne blieb er allerdings zu lebhaft, um den andern zum Sprechen zu nötigen, und verriet durch seine Gesprächigkeit eher, daß er nicht abwarten könne.

Die Ereignisse des fernen Ostens begannen schon jetzt mit steigendem Druck auf die Entschließungen der Mächte einzuwirken. Die Russen hatten am 24. Januar 1901 in Tientsin eine Gebietsaneignung für eine Niederlassung vorgenommen, die nach englischer Auffassung unberechtigt und in Widerspruch zu dem von Rußland anerkannten deutsch-englischen Abkommen stand; auf die englische Frage nach der deutschen Stellungnahme gab man in Berlin zunächst eine ausweichende Antwort, die in London eine gewisse Mißstimmung hervorrief; diese jedoch flaute rasch ab, als man erkannte, daß der deutsche Partner sich seinen Verpflichtungen keineswegs zu entziehen beabsichtige.111 Bezeichnend war, wie die Leiter der deutschen Politik sich zu der Gewissensfrage, die leicht größere Dimensionen annehmen konnte, stellten. Der Kaiser war in seiner damaligen Erbitterung gegen Rußland im Grunde dafür, den Engländern möglichst entgegenzukommen, ohne die Russen allzu stark zu verletzen.112 Er fühlte sich, in dem Gedränge der Trauerfeierlichkeiten in Windsor, unter besonders schwierigen Umständen in den russisch-englischen Weltgegensatz eingeklemmt und hielt, in einem immer wieder durchbrechenden richtigen Instinkt für die Wirklichkeit, seinem Berater entgegen: er könne doch nicht immerzu zwischen Russen und Engländern schwanken, er würde sich dann schließlich zwischen zwei Stühle setzen.113 Der [514] Reichskanzler vermißte stärker, daß England "bei Erwägung etwaiger Abmachungen mit uns die Eventualität größerer beiderseitiger Verpflichtungen ins Auge gefaßt habe", mit der einzigen Annahme der Chamberlain-Episode von 1898. Salisbury dagegen habe durch sein regelmäßiges Ausweichen tatsächlich verhindert, daß "ein Vertrag mit breiterer Grundlage, welcher England die deutsche Rückendeckung unter gewissen Voraussetzungen sicherte", vereinbart oder selbst nur beraten worden sei.114 Offenbar strebte er auf einen solchen Vertrag mit breiterer Grundlage hin.

Die Situation sollte nach diesem ersten Auftakt immer verschärfter wiederkehren. Im Laufe des Januars hatten sich die Nachrichten gehäuft, daß Rußland und China ein Abkommen über die Mandschurei miteinander geschlossen hätten. Am 7. Februar eröffnete Lansdowne dem deutschen Vertreter, daß Japan, von England unterstützt, mit Warnungen in Peking vorzugehen gedächte und daß eine Zurückweisung seines Antrags die schwersten Folgen haben werde. In solcher Voraussicht stellte er die Frage, ob die Reichsregierung ebenfalls gewillt sei, auf den japanischen Antrag einzugehen: von ihren Entschlüssen hänge es im wesentlichen ab, "ob England es weiter für lohnend halten werde, seine bisherige Chinapolitik fortzusetzen". Das war eine Wendung, die unabsehbare Folgen nach sich ziehen, ja, in kurzer Zeit die deutsche Außenpolitik an den Kreuzweg prinzipiellster Entscheidung versetzen konnte.115 Indem sie sich in Peking den Erklärungen gegen jede chinesische Veräußerung anschloß, stellte sie sich zum ersten Male auf die antirussische Seite. So war man im Auswärtigen Amte sofort entschlossen,116 jeden weiteren Schritt auf diesem Wege mit der Erörterung des Bündnisproblems zu verbinden, da man wegen der Mandschurei an sich in keinen Gegensatz zu einer Großmacht zu geraten gedachte117 und weitausschauende Verpflichtungen nur bei genügender Gegenleistung und Sicherheit übernehmen könnte.118 Man wollte also auf ein Bündnis hinauskommen. Dabei legte die Taktik Holsteins einmal Wert darauf, daß das Angebot eines Bündnisses und die [515] Forderung von Gegenleistungen nicht von Deutschland ausgehen könne; und zweitens glaubte man "angesichts der akuten antienglischen Stimmung in Deutschland" auch nur auf einen Defensivvertrag sich einlassen zu können, der, abgesehen von einer nach Möglichkeit gesicherten Gegenseitigkeit, unmittelbare direkte Vorteile für Deutschland, keine bloßen Versprechungen mit sich brächte, sei es in Form von Gewähren oder von Zulassen.119 Man wollte sich diesmal anders als beim Portugal-Vertrage vor dem Burenkriege, auch vor der öffentlichen Meinung nur teuer und sicher verkaufen. Da die englische Regierung, die an sich von der deutschen amtlichen Erklärung sehr befriedigt war, die Frage einer weitergehenden Verständigung mit Deutschland zunächst nicht berührte, blieb die Gelegenheit ungenutzt.

In der ersten Hälfte des März stieg der russisch-englische Konflikt auf den Höhepunkt. Beide Teile zogen Verstärkungen an sich, und schon hieß es, daß die englische Flotte von der Jangtsemündung unterwegs sei; in Tientsin standen Kosaken und englische Wachen einander hart gegenüber und betrachteten sich feindselig. Offen gab man in London zu, wenn man nicht 200 000 Mann in Afrika zu stehen hätte, würde man ganz anders auftreten. Nachdem China die Vermittlung der Mächte gegen die russische Anforderung angerufen hatte, rückte die Möglichkeit eines kriegerischen Ausbruches näher - "welch eine interessante Lage", schrieb der Kaiser am 5. März. Nur der Tatenscheu Salisburys wollte man es in Berlin zuschreiben, wenn es nicht zu gewaltsamer Entladung kam.120

Am 7. März 1901 sondierte Lansdowne die deutsche Regierung, ob Deutschland geneigt sein würde, für den Fall eines russisch-japanischen Konflikts in Gemeinschaft mit England in Paris eine Erklärung abzugeben, daß beide Mächte im Interesse des europäischen Friedens die Lokalisierung eines Krieges in Ostasien wünschten und selbst strikte Neutralität bewahren würden. Gegenüber diesem einseitigen Festlegungsversuch entschied der Reichskanzler mit Recht: "Das können wir in London und Tokio, nicht aber in Paris erklären." Grundsätzlich war man gegenüber allen englischen Versuchen, Deutschland zu binden, ent- [516] schlossen, eine solche Bindung ohne ein vertragsmäßiges Einvernehmen auf breiterer Grundlage zu vermeiden.121 Von neuem versteifte sich Holstein auf seinen Standpunkt: die Gegenleistung für eine deutsche Unterstützung in Ostasien könne nur das englische Bündnis zur Deckung gegen einen Doppelangriff bieten.

Und so geschah es, daß an diese sich immer weiter komplizierende Fragestellung die eigentliche und zugleich letzte deutsch-englische Bündnisverhandlung anknüpfte. Man hat lange Zeit angenommen, daß Lord Lansdowne am 18. März in einer Unterhaltung mit dem Freiherrn von Eckardstein die Bündnisanregung, und zwar in der von Berlin her gewünschten Form: Bündnis gegen Doppelangriff auf einen der Verbündeten, gegeben habe. Von diesem "Angebot" auf englischer Seite aus sind dann die Vorgänge der folgenden Monate erläutert und beurteilt worden. In Wahrheit liegt die Sache so, daß Eckardstein, trotz der strengsten Anweisung Holsteins, nicht den ersten Schritt zu tun,122 instruktionswidrig, augenscheinlich in dem Glauben, die Sache dadurch zu fördern, seinerseits mit dem Angebot herausgeplatzt ist.123 Aus allen späteren englischen Erörterungen geht hervor, daß man sich einem deutschen Bündnisangebot gegenübersehe; insbesondere hat Lansdowne selber niemals eine andere Vorstellung von dem Hergange gehabt.124 Indem man in Berlin aus der unzuverlässigen Berichterstattung Eckardsteins ein falsches Bild von einem aktiven Bündniswillen der anderen Seite bekam, war man von vornherein in eine unrichtige Stellung hineinmanövriert. Schon nach wenigen Tagen, am 29. März, sah sich Lansdowne in der Lage, Eckardsteins Illusionen erbarmungslos zu zerstören: seine Kollegen wären einem allgemeinen Defensivbündnis an Stelle eines Spezialabkommens über China durchaus abgeneigt, Salisbury sei krank, und ohne ihn könne nichts entschieden werden.

Die in diesem Moment plötzlich eintretende Abkühlung hing einmal allem Anschein nach mit Äußerungen des Kaisers zusammen, der von dem Geheimnis der Verhandlung ausgeschlossen war und gewissen Verstimmungen (in der Frage der chinesischen Kriegsentschädigung und der südafrikanischen Reklamationen) [517] allzusehr nachgab, doch hat diese Episode keine tiefere Bedeutung, da ohnehin die Verhandlung unterbrochen war. Dazu kam, daß fast gleichzeitig der unmittelbare Zwang zur Entschließung für die Engländer wegfiel. Nachdem China seinen Rücktritt aus dem Mandschureivertrage verkündigt hatte, gab auch Rußland am 5. April bekannt, daß es seinerseits von dem Vertrage zurücktrete. Als daher Lansdowne mit seinen Freunden im Laufe des April die schwebende Bündnisverhandlung formell wiederaufnahm, geschah es, ohne daß der mächtige Druck der ostasiatischen Krisis der Maschine noch merkbaren Dampf zuführte. In Fluß kam auch jetzt die Verhandlung erst nach der Rückkehr Salisburys aus seinem Urlaub (28. März bis 10. Mai), und wenn man der optimistischen Darstellung Eckardsteins trauen soll, waren Lansdowne, Chamberlain und Devonshire immer noch geneigt, den schon fast zu lange beredeten Bündnisgedanken zu verwirklichen.

Um Mitte Mai waren die Dinge so weit gediehen, daß Lansdowne eine schriftliche Niederlegung der beiderseitigen Vorschläge wünschte, um die Frage einer förmlichen Beratung im Kabinett zu unterwerfen. Zu diesem Zwecke suchte er am 23. Mai 1901 den schwerleidenden deutschen Botschafter auf, der in den letzten Monaten die Geschäftsführung zum Schaden der Sache Herrn von Eckardstein überlassen hatte. Und Hatzfeldt schuf wenigstens für die Verhandlung eine sachliche Grundlage. Er verschwieg nicht die Schwierigkeiten, die von der öffentlichen Meinung Deutschlands her dem Bündnis entgegenständen. Aber er verlangte Klarheit über den entscheidenden Punkt, über die Frage, ob England den Deutschen aktiv beispringen würde, wenn der einzige wahrscheinliche Fall eines zweiseitigen Angriffes eintreten sollte: wenn Rußland den Österreicher angriffe, wir aber genötigt wären, dem Dreibundgenossen beizustehen und nunmehr mit dieser Bündnispflicht den russisch-französischen Doppelangriff auf uns zu ziehen. Wenn England diese Frage mit "Ja" beantworte, dann sei Deutschland bereit, das britische Imperium gegen einen zweiseitigen Angriff in allen seinen Kolonien zu verteidigen.125 Das war eine unabsehbar weitgehende Verpflichtung. Aber das Auswärtige Amt, das Hatzfeldts Vorgehen billigte, glaubte das Risiko tragen zu können, weil, wenn das englische Imperium ernstlich in seinem Bestande bedroht sei, es sich dann nicht mehr um die Frage der einzelnen Dominions handle, sondern um die Erhaltung des Gleichgewichts der Mächte auf dem Erdball. Dann gelte es auch für die deutsche Politik, nicht Indien und Australien zu schützen, sondern die russisch-französische Weltherrschaft zu verhindern - daran aber habe Deutschland ein unmittelbares Lebensinteresse.

Lansdowne unterbreitete den Bündnisvorschlag Hatzfeldts, nachdem er ihn, um eine greifbare Unterlage der Besprechung zu haben, in dem Entwurf einer [518] Konvention hatte zusammenfassen lassen,126 zunächst dem Ministerpräsidenten. So ist Salisburys Memorandum über den deutschen Antrag (in der Formulierung Hatzfeldts) vom 29. Mai entstanden. Dieses politische Dokument ersten Ranges lief auf eine völlige Verwerfung hinaus. Schon der wuchtig einsetzende erste Satz: "Dies ist der Vorschlag, England in die Schranken des Dreibundes einzubeziehen" wirkte wie eine Brandmarkung der politischen Absichten, die Salisbury selbst immer wieder durchkreuzt hatte. Seine Kritik setzte damit ein, daß er, die tatsächliche deutsche Hilfsverpflichtung verengend (was auch Lansdowne sogleich beanstandete), mit aller Schärfe eine angebliche Ungleichheit feststellte: "Die Verpflichtung, die deutschen und österreichischen Grenzen gegen Rußland verteidigen zu müssen, wiegt schwerer als die Verpflichtung, die britischen Inseln gegen Frankreich verteidigen zu müssen." Auf Grund dieser Antithese kam er zum Schluß, daß der Handel selbst in seiner nacktesten Gestalt ungünstig für Großbritannien sei. Die Notwendigkeit, der Gefahr der Isolierung entgehen zu müssen, wies er von oben herab zurück: "Haben wir diese Gefahr jemals verspürt?" Nicht einmal im Revolutionskrieg und sonst waren wir je in Gefahr. Es sei daher nicht klug, Verpflichtungen zu übernehmen "zum Schutze gegen eine Gefahr, an deren Bestehen zu glauben wir keinen geschichtlichen Grund haben." Die gewichtigsten Bedenken waren für den Schluß aufgespart. Beide Regierungen seien nicht berechtigt, sich so weitgehende Versprechungen zu machen. "Die britische Regierung kann sich nicht verpflichten, zu irgendeinem Zwecke den Krieg zu erklären, es sei denn zu einem Zweck, den die Wähler unseres Landes billigen würden." Eine Vorlage an das Parlament werde einigermaßen entlasten, habe aber auch sehr ernste Bedenken. Dasselbe Bedenken gelte auch für Deutschland, auch wenn der Reichstag der Exekutive mehr Beachtung schenke. "Aber das Versprechen eines Defensivbündnisses würde ein zorniges Murren in allen Klassen der deutschen Gesellschaft erregen - nach dem Erlebnis der beiden letzten Jahre." Damit versah er das verworfene Bündnis noch mit dem doppelten Stigma, keinen festen Grund in dem lebendigen Willen und der öffentlichen Meinung der beiden Völker zu besitzen. Wenn er überhaupt seine Blicke auf das Bündnisproblem richtete, so liefen sie in anderer Richtung. Allgemein bekannt waren seine französischen Sympathien. Und einige Monate später schrieb er an Lansdowne: "Ich bin der Meinung - und ich habe sie schon lange vertreten - daß engere freundschaftliche Beziehungen zu Rußland zweckmäßig wären. Die Staatsmänner anderer Länder wissen sehr wohl, daß eine wahre Sympathie [519] zwischen Rußland und England die anderen Mächte in eine untergeordnete Stellung drängen würde." Unter den anderen Mächten war in erster Linie die eine Macht zu verstehen, deren Bündnis er verwarf.

Mit diesem Votum des Ministerpräsidenten war in Wirklichkeit die Debatte geschlossen. Ob es zu einer Besprechung im Kabinett gekommen ist, ist nicht erkennbar und nicht wahrscheinlich.127 Man hört von keiner Stimme, die sich dagegen erhöbe, und es ist kein Zufall, daß eine Reihe von Zufällen sich vereinte, den Fortgang der Verhandlung zu unterbrechen und schließlich stillzulegen. Schon in diesem Augenblick, ohne daß man sich dessen im deutschen Lager bewußt werden konnte, stehen wir an der entscheidenden Wendung nicht nur dieser laufenden Unterhandlung, sondern an einer Wende der Zeiten.

Die englische Staatsräson, in dem siebzigjährigen Salisbury verkörpert, hatte das deutsche Bündnisproblem vom dynamischen Standpunkt gewogen und zu leicht befunden. Wie in der Lösung eines Rechenexempels kam Salisbury zu dem Ergebnis: der Deutsche braucht das englische Bündnis mehr als der Engländer das deutsche Bündnis, denn das Ganze des Dreibundes ist gefährdeter als das Ganze des Imperiums. Also lehnte er die ihm wohlbekannte Argumentation der deutschen Seite ab, daß England im eigenen Interesse Anschluß an den Dreibund suchen müsse - die große Tradition eines Jahrhunderts führte er mit hohem Selbstgefühl ohne große Worte ins Feld. Wenn diese Grundauffassung zu Recht bestand, dann mußte vom englischen Standpunkt aus die herkömmliche deutsche Politik der Forderungen und leisen Nötigungen allerdings unberechtigt erscheinen, und diese Überzeugung hatte sich als das Ergebnis vieler Erfahrungen im Foreign Office festgesetzt. Die ersten Konflikte der Jahre 1884/85 mochten vergessen sein, denn sie fielen noch in die Zeit Bismarcks. Aber im letzten Jahrzehnt glaubte man immer wieder die Erfahrung gemacht zu haben, daß der Deutsche eigentlich sehr anspruchsvoll, ohne zureichenden Grund anspruchsvoll sei. Daß in den einzelnen Streitigkeiten der Deutsche, schon in der Kongostaat-Sache von 1894, formell im Rechte gewesen war, daß man ihn auch kürzlich in der Portugal-Angelegenheit hinterhältig und in der Samoa-Frage unfreundlich behandelt hatte, rechnete man dem Partner schon deswegen nicht recht an, weil man ihm die volle Parität auf allen weltpolitischen Schauplätzen nicht zubilligte. Der Deutsche dagegen sah sich, häufig mit Recht, kürzer und verständnisloser behandelt, als er es für angemessen hielt. Zumal der Kaiser kam gern auf das Thema zurück: den Engländern werde sich nie wieder eine solche Gelegenheit bieten, denn nie wieder werde ein Enkel der Königin von Großbritannien auf [520] dem deutschen Throne sitzen.128 Und wenn das Inselreich nicht mit beiden Händen zugriff, dann mußte - das ist doch auch des sehr englandfreundlichen Grafen Hatzfeldt letzte Weisheit gewesen - dann mußte es mit realistischen Methoden und dem kühlen Nachweis, daß man auch anders könne, allmählich zu einem besseren Verständnis erzogen werden. Man braucht in dem zähen Ringen um Einzelfragen, das wir immer wieder beobachteten, dem Deutschen diese Taktik nicht zu einem schweren Vorwurf zu machen, aber sollte sich doch das nachdenkliche Urteil Metternichs durch den Kopf gehen lassen: es würden während der letzten Jahrzehnte manche Verstimmungen vermieden worden sein, wenn man sich häufiger die Frage vorgelegt hätte: "Würdest du mit Rußland ebenso verfahren, wie du jetzt mit England verfahren willst."129 Den Engländern war in diesen Streitigkeiten kraft Tradition und Temperament der längere Atem verliehen, und sie empfanden bei dem Deutschen, der sich mit Heißhunger an die Krippe drängte, nur die unstillbare Begehrlichkeit - sie waren nicht im Recht so zu empfinden, aber sie waren in der Macht. Und wenn umgekehrt auf der deutschen Seite, vor allem auch in der Marine, die englische Art als ein System des nur durch Tatsachen belehrbaren brutalen Egoismus verrufen war, so war man ebensowenig im Recht, sondern drückte nur ein brennend empfundenes Machtverhältnis auf seine Weise aus.

Es handelte sich um Machtfragen. Die Frage war vielleicht nicht, ob Deutschland stark genug war, überhaupt auf diesem Fuße wie Macht mit Macht mit England zu verkehren, sondern ob es gegenüber dem englischen Weltreiche mit seinem System von Machtmitteln und politischen Möglichkeiten diese Sprache in allen Lebenslagen behaupten werde. Gewiß, die Macht des Deutschen Reiches war ausreichend, seine dominierende Stellung in der Mitte Europas auch gegen Koalitionen festzuhalten und mit diesem Schwergewicht auch seinen älteren Kolonialbestand mittelbar zu decken. Aber durfte man als die stärkste Macht auf dem Kontinent von der nicht ungefährdeten Europamitte aus eine aktive Weltpolitik auf fast allen noch offenen Schauplätzen betreiben? Es war im Auswärtigen Amte in Berlin ein beliebtes Argument, daß England seine Weltpolitik auf die Dauer isoliert nicht würde fortsetzen können - in London war man eher der Meinung, der Deutsche überziehe schon das Ganze seines Weltkredits. Und wenn man in Berlin den Schluß zog, dann die für diese Politik noch erforderlichen Machtmittel zur See zu verstärken, so mußte man sich eines Tages in London fragen, wieweit eine solche Verstärkung im englischen Interesse liege. Einstweilen sah man unter Führung der deutschen Kolonialpolitiker und Marineoffiziere nur die Ansprüche derer wachsen, die stimmungsmäßig von der Idee eines friedlichen Wettkampfes mit England lebten.

Wie kam es jedoch, daß jeder deutsch-englische Verhandlungskomplex immer wieder einen Zustand der Spannung unter den Beteiligten hervorrief? Einige [521] Jahre später, als der große Umschwung sich längst vollzogen hatte, gab König Eduard VII. das Stichwort: "Es handelt sich gar nicht um Friktionen, es handelt sich um Rivalität." In gewissem Sinne gilt das schon von den Jahren, in denen wir stehen. Diese Rivalität besitzt kein konkretes Kampfgebiet, auf dem um dieselben Ziele gerungen würde; weder in der kolonialen Welt noch im Wettkampf der maritimen Machtmittel kann von rivalisierenden Interessen die Rede sein, die nicht nebeneinander bestehen könnten. Es handelt sich nicht um Athen und Sparta, die mit ihren Machtbereichen auf der ganzen Linie der allgriechischen Rivalität aufeinanderstoßen und unaufhaltsam auf die große Machtprobe hintreiben. Aber es regt sich das Vorgefühl, daß die Entwicklung eines Tages in eine wirkliche Rivalität hineinwachsen könne. In der Geschichte der Vergangenheit fehlte es an jedem Anreiz, an aller feindlichen Tradition, wie sie zwischen England und Frankreich die Jahrhunderte füllte - aber schien nicht die Gegenwart eine andere Sprache zu sprechen?

Welch ein Anblick weltgeschichtlicher Energien in beiden Lagern! Sie hatten auf der einen Seite dieses einzigartige imperiale Gebäude in der Dreieinigkeit von Kolonialmacht, Seemacht und Wirtschaftsmacht über die Welt hin geschaffen und trieben auf der anderen Seite die jüngere Großmacht an, mit einer noch angespannteren Bewußtheit in die Rennbahn nach ähnlichen Zielen hinabzusteigen - dieses Nebeneinander mußte ein Vorgefühl der Rivalität erzeugen. Das Deutsche Reich war, nach den in ihm verkörperten Energien beurteilt, in diesen Jahren in der stärksten Geschwindigkeit des Aufstiegs. Es schien auf dem Wege, nach seiner kontinentalen Befestigung und Sicherung auch noch das letzte nachzuholen, was es in seiner Entwicklung der neueren Jahrhunderte versäumt hatte: eine Weltstellung über den Meeren vorzubereiten. Aber Tempo und Richtung dieses Aufstiegs ließen das englische Imperium in dem Deutschen nicht gerade den empfehlenswerten Bundesgenossen erblicken. Man begann vielmehr in England den geschichtlichen Aufstieg des Reiches und die Art und Weise, in der es von seiner Macht Gebrauch machte, mit immer kritischeren Augen anzusehen. Schon im November 1901 ging aus dem Foreign Office ein historisches Porträt Neudeutschlands hervor, das eigentlich bereits alle Charakterzüge der später von Haß durchzogenen historisch-politischen Denkschriften von Sir Eyre Crowe enthält,130 und in den führenden Organen der öffentlichen Meinung fanden die Gedankengänge Salisburys eine immer nachdrücklichere Unterstützung.131

[522] Auf dem Hintergrunde des Erlebnisses des Burenkrieges beginnt sich das Vorgefühl der Rivalität zu verdichten. Der elementare Durchbruch der Burensympathien auf der deutschen Seite, der noch hemmungslosere und viel politischere Widerhall später auf der englischen Seite konnten nicht anders als Öl in das Feuer gießen. Eine weitausschauende deutsche Politik hätte, eben weil sie das englische Bündnis wollte, die Zügel in der Burenfrage auf jede Gefahr der Unpopularität straffer halten müssen, um die Bündnismöglichkeit nicht der englischen öffentlichen Meinung zu verleiden.

Gewiß, auch die englische Regierung war hernach außerstande, ihre Presse auch nur der Person des Kaisers gegenüber auf der Linie der Mäßigung zu halten,132 und auch sie sollte viel weiter getrieben werden, als sie ursprünglich gewollt hatte. Allmählich verschob sich in dem Lärm der Zeitungen die Streitlust. Noch im Juni 1900 meinte Metternich feststellen zu dürfen: "Trotzdem ist in England viel mehr guter Wille gegenüber Deutschland zu finden, als in Deutschland gegenüber England. Ich meine hiermit die Völker, nicht die Regierungen."133 Es war kein Jahr vergangen, da traf dieses Urteil nicht mehr zu. Diejenigen, die in Deutschland töricht genug ihr volles Herz nicht wahrten (nicht zum ersten und nicht zum letzten Male in dem öffentlichen Leben unseres Volkes), hatten ihren Leidenschaften so lange freien Lauf gelassen, bis sie sich eines Tages einem anderen England gegenübersahen, das, mit Stolz, Erfahrung und Bitterkeit aus dem Burenkriege emporgestiegen, aus einer noch tiefer sitzenden Leidenschaft heraus zu antworten begann.

Man hat wohl die Fehler der deutschen Verhandlungstaktik im einzelnen bemängelt, spröde Zugeknöpftheit und hinterhältiges Lavieren, aber das Nichtzustandekommen des Bündnisses darf man nicht auf dieses technische Beiwerk der Diplomaten schieben. Man kann jene Methoden sogar zugeben, muß dann aber zugleich darauf bestehen, daß die Engländer durch ausweichendes Lavieren, Zweideutigkeiten und Mangel guten Willens dieselben Fehler begangen haben - denn man sollte den "Fehler" nicht nur von der einen Seite her bloßlegen. Man darf auch die allzu geringe Beweglichkeit kritisieren, mit der die deutsche Diplomatie an ihren Thesen (wie dem Dogma, England werde den Weg zu Rußland nicht finden, oder der Risikotheorie, die den Flottenbau immer weiter treibt, ohne einen politischen Generalangriff zu besorgen) festhält, aber der Kern des Bündnisproblems wird damit nicht berührt.

Der deutsche Bundesgenosse, so wie er sich in diesen Jahren darstellt, war für Englands Weltbedürfnis zu gefährdet und zu beunruhigend, er war für seine Begehrlichkeit zu stark und doch wieder da nicht stark genug, wo England ihn [523] gebraucht haben würde - er war nicht diejenige dynamische Ergänzung, die die englische Weltmacht damals zu brauchen glaubte. Die Frage war nur, ob die "andere" dynamische Ergänzung, die sie nach Verwerfung der ersteren wählte und wählen mußte, auf die Dauer nicht viel gefährlichere Erschütterungen für den Bestand des Imperiums in sich schloß.


103 [1/508]Vorübergehend auftauchende Absichten einer Besetzung (Tschifu) sind sogleich wieder fallen gelassen worden. ...zurück...

104 [1/509]Lascelles sprach noch am 31. Juli von der "Enttäuschung und Entmutigung, welche bei den englischen Staatsmännern, auch bei solchen, welche, wie Mr. Chamberlain, deutschfreundlich waren", durch die Haltung in der ostasiatischen Frage (Nichtunterstützung des japanischen Antrages) hervorgerufen seien. ...zurück...

105 [2/509]Da die englische Zustimmung sich verzögerte, riet Bülow am 10. August zu einem Schreiben des Kaisers an die Königin Victoria mit dem ernsten Hinweis, daß eine englische Ablehnung nicht nur eine für die staatlichen Beziehungen zwischen Deutschland und England folgenschwere politische Unfreundlichkeit bedeuten würde, sondern auch eine persönliche Kränkung für den Kaiser, die dieser durch seine Haltung im Kriege nicht verdient habe. Aber an demselben 10. August lief die englische Zustimmung ein. ...zurück...

106 [3/509]Kaiser Wilhelm II. an das Auswärtige Amt 21. August 1900: "Die russischen Nachrichten klingen sehr bedenklich nach Schamade und zeugen von großer Unaufrichtigkeit und Rücksichtslosigkeit. Diese unerhörte Zumutung muß ihnen mit der gebührenden Deutlichkeit zurückgewiesen werden". Für seine Stimmung ist charakteristisch seine Randbemerkung vom 7. Oktober: "Hier guckt der Russe in seiner unverfälschten Gemeinheit, List und Heimtücke heraus." ...zurück...

107 [1/510]Als Salisbury die ihm nicht genügende Formel (Jangtse-Gebiet) auf eine allgemeinere auszudehnen wünschte, erklärte man deutscherseits, daß dann die Mandschurei, Port Arthur usw. ausdrücklich ausgenommen werden müßten. Salisbury war zur Festlegung solcher Ausnahmen (Amurgebiet) bereit, beschränkte sich dann aber, statt die einzelnen Ausnahmen konkret zu bezeichnen, darauf, die Geltung des Vertrages "nur südlich vom 38. Breitengrade" in Kraft treten zu lassen; damit erklärten sich die Deutschen einverstanden. Schließlich aber ließ Salisbury, unter Berufung auf Widerspruch im Kabinett, die von ihm selbst erfundene Fassung wieder fallen und ersetzte sie durch die als gleichbedeutend angesehene, aber doch der Mißdeutung ausgesetzte Formel "as far as they can exercise influence". ...zurück...

108 [1/511]Bald nach Antritt seines Amtes äußerte Lansdowne, am 14. Dezember 1900 zu Hatzfeldt, er freue sich sehr zu erfahren, daß man in Deutschland Vertrauen zu ihm habe, und er könne nur wiederholt versichern, daß er ehrlich bestrebt sein werde, in allen auswärtigen Fragen, welche ein mit Deutschland gemeinsames Interesse berührten, mit uns loyal und fest zusammenzugehen. ...zurück...

109 [2/511]Man könnte einen Anstoß in dem Meinungsaustausch zwischen Lansdowne und Eckardstein am 20./21. Dezember über den portugiesischen Kolonialvertrag (s. o. S. 488 f.) erblicken. Die Einladung Eckardsteins erfolgte am 9. Januar 1901. ...zurück...

110 [1/512]Holstein 21. Januar 1901: "Ein vernünftiges Abkommen mit England läßt sich meines Erachtens erst dann erreichen, wenn das Gefühl der Zwangslage in England allgemeiner als heute geworden ist". Wenn Bülow dazu für den Kaiser bemerkte: "Das den Engländern freundlich aber deutlich unter die Nase zu reiben, werden S. M. gewiß verstehen", so hört man mehr die Sprache des Höflings als des staatsmännischen Beraters. ...zurück...

111 [1/513]Hatzfeldt an Ausw. Amt am 1. Februar 1801. V. Eckardstein 1. Februar 1901. Bülow hatte anfangs das Ganze für einen ziemlich plumpen Versuch gehalten, "uns mit Rußland zu verhetzen, ohne daß England sich seinerseits bindet", betonte dann aber, daß man jeder Vertragsverpflichtung, sobald der Tatbestand einwandfrei festgestellt sei, pünktlich nachkommen werde. ...zurück...

112 [2/513]Eckardstein an Holstein 2. Februar 1901. Große Politik 16, S. 290 ff.: "Die Erbitterung gegen Rußland ist bei dem Kaiser gegenwärtig ganz enorm. Er erwähnte u a., daß Rußland durch sein perfides Verhalten ihm selbst und der deutschen Politik gegenüber die Brücken für eine Entente mit Deutschland hinter sich abgebrochen habe. Es schwebe ihm der Gedanke vor, zunächst einen Anschluß Englands an den Dreibund herbeizuführen." ...zurück...

113 [3/513]Metternich an Auswärtiges Amt 4. Februar 1902. - Die Tientsinfrage ist schließlich zwischen dem englischen und russischen Militär durch einen Schiedsspruch des Oberstkommandierenden Graf Waldersee am 21. März 1902 entschieden worden. ...zurück...

114 [1/514]Bülow an Metternich 3. Februar 1901. Große Politik 16, S. 294 f. ...zurück...

115 [2/514]Die amtliche Antwort der deutschen Reichsregierung vom 12. Februar war in der Formel enthalten: "Wir wünschen die Erhaltung des Weltfriedens, da wir selber in Frieden leben möchten. Sollte dieser Wunsch sich nicht erfüllen, so beabsichtigen wir neutral zu bleiben; wir können aber freilich nicht vorhersehen, welche Ausdehnung und Entwicklung der einmal begonnene Konflikt nehmen und welche Aufgaben infolgedessen die Sorge um die Wahrung des Gleichgewichts auf dem Erdball uns etwa stellen wird". Die Eventualformel: "indem England in einen Krieg mit einer dritten Macht gerät, machen wir uns England gegenüber anheischig, neutral zu bleiben", ist nicht zur Mitteilung gelangt. ...zurück...

116 [3/514]Holsteins Aufzeichnung vom 1. März 1901. Große Politik 16, S. 329 f. Im Auswärtigen Amt betonte der Unterstaatssekretär v. Richthofen scharf "die zwei Konzessionen allerersten Ranges, moralische Unterstützung in Peking gegen Rußland und Zusicherung wohlwollender Neutralität im englisch-russischen Konfliktsfalle, ohne jeden Reziprozitätsgedanken", ebenda S. 37. ...zurück...

117 [4/514]Die Akten: Große Politik 16, S. 311 bis 325; 17, S. 30 bis 39. ...zurück...

118 [5/514]Demgemäß erklärte Bülow am 17. Februar dem russischen Botschafter, man halte an allen früheren Erklärungen über die Mandschurei fest, man könne nur nicht zulassen, daß China in dem gegenwärtigen Stadium, wo die Entschädigungsfragen noch nicht erledigt seien, einseitige Verfügungen über sein Staatsvermögen treffe. ...zurück...

119 [1/515]Holstein an Hatzfeldt 11. Februar 1901. Er sagt von dem Mißtrauen in der deutschen öffentlichen Meinung "diese Überzeugung, welche Sie heute als Gemeingut von 99/100 des deutschen Volkes ansehen können, wird nicht durch Zusicherungen, sondern nur durch Tatsachen umzustimmen sein". Das Argument, mit dem Hatzfeldt noch am 23. Mai operierte, scheint für die englische Mentalität sehr wenig glücklich berechnet zu sein. ...zurück...

120 [2/515]Daß Bülow die Bündnisbesprechung, als das in dieser Krisis zu erstrebende Endziel, auch in der Zwischenzeit fest im Auge behielt, zeigt die Übersendung des Bismarck - Salisbury Briefwechsels von 1887 an Eckardstein, am 5. März 1905 (Große Politik 17, S. 39). Das Angebot Bismarcks an Salisbury von 1889 taucht (ob wegen seiner französischen Spitze?) in diesen retrospektiven Betrachtungen merkwürdigerweise niemals auf. ...zurück...

121 [1/516]Schon am 14. März folgt die weitere amtliche Frage in Berlin, wie man sich bei einem Kriege Englands und Japans mit Rußland stellen würde. Die Antwort lautete, daß man wohlwollende Neutralität beobachten würde, aber die Interpretation, die dieser vom heutigen Völkerrecht nicht mehr recht anerkannte Ausdruck fand, schien den Frager keineswegs zu befriedigen. ...zurück...

122 [2/516]Holstein an Eckardstein 9. März 1901: "Aber wie gesagt, dieses Bündnisthema dürfen Sie für jetzt nicht anregen, schon deshalb nicht, weil ich Lord Salisbury zutraue, daß er die Tatsache, daß eine solche Anregung erfolgte, in Petersburg verwertet." Desgleichen 17. März 1901: "Ihnen, lieber Freund, verbiete ich ausdrücklich, auch nur das leiseste Wort von Bündnis zu hauchen. Der geeignete Zeitpunkt, wenn er überhaupt kommt, ist jedenfalls nicht da." ...zurück...

123 [3/516]G. Ritter, Die Legende von der verschmähten englischen Freundschaft 1898 bis 1901, S. 30. ...zurück...

124 [4/516]Lansdowne an Lascelles 18. März 1901 (Brit. Dokumente 2, 1, S. 96 f.). Ebenso seine späteren Äußerungen 13. April, 24. Mai, 22. November, 19. Dezember (ebenda S. 100, 102, 121, 127). ...zurück...

125 [1/517]Holstein war über Hatzfeldts "meisterhafte Klarstellung" zunächst sehr befriedigt: wenn die Engländer sich jetzt nicht entschließen würden, dann müsse man die ganze Eventualität außer Berechnung lassen, da stärkere Druckmittel als die im Augenblick wirksamen (Marokko, Südchina, Persien) kaum vorstellbar seien (Holstein an Eckardstein 25. Mai 1901). ...zurück...

126 [1/518]So erkläre ich mir den von dem permanenten Unterstaatssekretär Sir T. H. Sanderson hergestellten Entwurf (Brit. Dokumente 2, 1, S. 166 f.). Es ist nicht etwa die "Meinung" von S. (dieser urteilt selber, daß sein Entwurf praktisch darauf hinauslaufe, Deutschland die in Frankreich eroberten Provinzen zu garantieren, und aus diesem Gesichtswinkel von den Franzosen betrachtet werden würde). Lansdowne hatte ursprünglich versucht, von der deutschen Botschaft ein Memorandum (sowie die Dreibundverträge) als "Unterlage" zu erhalten. ...zurück...

127 [1/519]Salisbury wollte den Entwurf mit Balfour, Hicks-Beach, Chamberlain, Devonshire und Lansdowne besprechen. Bezeichnenderweise ist irgendeine Gegenwirkung der alten deutsch-freundlichen Gruppe in den Akten nicht erkennbar. Wenn das Kabinett über den Entwurf gesprochen hätte, würde Lansdowne sich wohl später darauf berufen haben. ...zurück...

128 [1/520]Oberstleutnant Grierson an Lascelles 18. Januar 1898. Brit. Dokumente 1, S. 70. ...zurück...

129 [2/520]Aufzeichnung Metternichs 24. Juni 1900. Große Politik 17, S. 10. ...zurück...

130 [1/521]Memorandum Bertie 9. November 1901. Brit. Dokumente 2, 1, S. 116 bis 121. Über die Denkschrift Crowes vom 1. Januar 1907 s. u. Schluß des vierten Kapitels. ...zurück...

131 [2/521]So schrieb eben damals, im April 1901, die Fortnightly Review, die schon seit Ende August 1900 für den Anschluß an Rußland eintrat und die wirtschaftliche Rivalität Deutschlands bekämpfte: "Wollen wir es doch deutlich sagen, daß Deutschland das einzige Land in Europa ist, mit dem es für England ganz unmöglich ist, zu einem wirklichen Abkommen zu gelangen, das für beide vorteilhaft ist." ...zurück...

132 [1/522]Charakteristisch ist, daß sogar König Eduard VII. einen vergeblichen Versuch machte, mäßigend auf die Times einzuwirken, vgl. Sidney Lee, Eduard VII. ...zurück...

133 [2/522]Große Politik 17, S. 13. Dazu Bülow: "Diesen Eindruck hatte ich im November 1899 in hohem Grade. Alles das ist richtig." ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte