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[Bd. 3 S. 385]
Otto von Bismarck, 1815-1898, von Arnold Oskar Meyer

Otto von Bismarck.
[384a]      Otto von Bismarck.   [farbig]
Gemälde von Franz von Lenbach,
Ende der 80er Jahre.
Otto von Bismarck ist ein Sohn niedersächsischer Erde und ein Sproß altmärkischen Adels. Das freie, erdverbundene Leben des Landedelmanns war sein wertvollstes Erbgut von Urväterzeit her. Nur widerstrebend hat das trotzige Herrengeschlecht sich in die straffe Ordnung des Hohenzollernstaates eingefügt und ist ihm völlig, in treuem Friedens-, lieber noch in tapferem Kriegsdienst, erst im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts zu eigen geworden. Niedersächsischer Herkunft waren auch die mütterlichen Vorfahren, die Mencken, ein weitverzweigtes Bürgergeschlecht von stark akademischem Gepräge. Geistige Güter, gelehrte Bildung, Stadtkultur bestimmten hier die Lebensform, bis in dem Höchstgestiegenen der Mencken, dem Vater von Bismarcks kluger und kühler Mutter, die politische Laufbahn das Akademische zurückdrängt: er steigt auf zum Kabinettssekretär Friedrichs des Großen und seiner Nachfolger.

Bismarcks Geburtstag, der 1. April 1815, fällt in die bewegten Tage, als die europäischen Mächte zum letzten, entscheidenden Schlage gegen Napoleon rüsteten. Sieben Träger seines Namens kämpften in den Freiheitskriegen mit, drei gaben ihr Leben hin, die anderen vier kehrten mit dem Eisernen Kreuz heim. Sein Geburtsort war das Ahnenschloß Schönhausen an der Elbe; zur Stätte seiner Kindheit wurde ihm vom zweiten bis zum siebenten Jahre das pommersche Gut Kniephof (im Kreise Naugard), und die leicht gewellte Landschaft Hinterpommerns, mit Heide, Busch und Seen, Feldern und Wäldern, blieb ihm stets die liebste von allen. Er war Landkind und in tiefster Seele naturverbunden. "Wenn ich die Bäume nicht so liebte, so wüßte ich nicht, wie ich leben sollte", hat er im Alter gesagt. Menschen ohne Naturliebe waren ihm eine Enttäuschung und beinahe verdächtig. Die Natur war ihm nicht, wie dem Stadtkinde, nur eine Stätte der Erholung, der Freude für das Auge und die Sinne, sie war ihm Lebensgrundlage, gottgewollte Ordnung dieses kampferfüllten Daseins, Gleichnis des Ewigen wie des Vergänglichen, Lehrerin, Freundin, Urquell seiner Kraft. Er brauchte die Berührung mit ihr, auch in der Stadt, auch im Drange der Arbeit, weil er selber nur ein Stück von ihr war. Keiner der großen Staatsmänner unserer Geschichte ist in seinem Denken und Fühlen so wenig zeitgebunden und so tief erdverbunden gewesen wie Bismarck.

Was seine Zeit dem Knaben und Jüngling an geistigen Werten mitgeben konnte, zunächst die Bildung des humanistischen Gymnasiums, hat er zwar willig und mühelos aufgenommen, hat auch den [386] Wert dieser Bildung stets zu schätzen gewußt; aber sein Wesen ist dadurch nicht geformt worden. Auch der Religionsunterricht, den er in seinem fünfzehnten Lebensjahr, als Vorbereitung zur Einsegnung, durch den größten evangelischen Theologen der Zeit, Schleiermacher, erhielt, blieb ohne tiefere Einwirkung: das Abendmahl, das der Konfirmand an seinem sechzehnten Geburtstag zum erstenmal empfing, blieb auf lange Zeit sein letztes. Zwei Jahre später verließ er die Schule als Pantheist oder Atheist, wie er, ohne Unterscheidung der beiden Begriffe, später rückblickend erzählte. Wie der Glaube an die göttliche waren ihm auch Wert und Recht der irdischen Autorität ins Wanken geraten: er sah keinen Grund, warum der König Macht über die Menschen haben sollte, und hielt die Republik für die vernünftigste Staatsform. "Ich hatte immer einen furchtbaren Freiheitsdrang und Gleichheitsschwindel." Dieser Drang zur Freiheit, die Abneigung, sich unterzuordnen, die Unfähigkeit, zu

Bismarck als Korpsstudent in Göttingen.
[387]      Bismarck als Korpsstudent in Göttingen.
Silhouette, 1832.
verehren, zu Menschen als Vorbildern aufzublicken, waren der natürliche Ausfluß einer geborenen Herrschernatur, die sich selber früh erkannte und zu Großem berufen fühlte. "Ich werde entweder der größte Lump oder der erste Mann Preußens", sagte der Göttinger Student zu seinem Korpsbruder Scharlach.

Die Universität hat so wenig wie Schule und Kirche ihren Geist dem jungen Bismarck aufprägen können. Göttingen, im achtzehnten Jahrhundert führend in den Geschichts- und Staatswissenschaften und daher die hohe Schule des jungen deutschen Adels für den Staatsdienst, pflegte noch immer seine große Überlieferung, und durch den letzten der alten Schule, den greisen Geschichtschreiber Heeren, hat auch Bismarck sich in die Länder- und Völkerkunde einführen lassen. Doch er suchte nicht Wissenschaft, nicht akademische Bildung: er wollte die Bühne kennen lernen, zu der es ihn damals schon zog, und auf die Frage, was er studiere, gab er die Antwort: "Diplomatie". Nicht sein Fachstudium, die Rechtswissenschaft, sondern die Geschichte zog ihn an, damals und zeitlebens, doch nicht um ihrer selbst willen, sondern weil aus ihr zu lernen war für das politische Handeln. Und noch mehr als aus Büchern und Atlanten fand der Student am lebendigen Menschen zu lernen. Göttingen bot seinem jungen Leben zum erstenmal den Blick in fremde Welten: der Umgang mit angelsächsischen Kommilitonen, mit adligen Standesgenossen aus dem Baltenlande, mit flüchtigen polnischen Politikern öffnete ihm neue und weitere Horizonte, als er sie bisher überschaut hatte. Über dem allen aber steht leuchtend, stärker als aller Wissensdrang, die Freude an der Freiheit, die der bisher Strenggehaltene nun in vollen Zügen trinken durfte, brausend von Jugendkraft und doch immer beherrscht, ein fröhlicher Zecher und schneidiger Reiter, auf dem Fechtboden gefürchtet als unüberwindlich, bereit zu allem Übermut und doch in tiefstem Grunde ernst, schon im Kreise seines Korps ein Leiter seiner Gefährten. Seine seelische Entwicklung ging auf dem Wege zur Skepsis weiter "bis zum Extrem", wie der Jugend- und Lebensfreund Graf Alexander Keyserling bezeugt. Den Leidenschaften des [387] Naturtriebes gab er die Bahn frei bis zu der Grenze, die Lebensklugheit und angeborener ritterlicher Sinn ihm zogen.

Der faustische Trieb zum Genuß und zur Tat, der Hunger nach Leben wurden in den nächsten Jahren nur immer stärker, und als der Aachener Regierungsreferendar in die geselligen Strudel des vornehmen Weltbades geriet, da riß ihn sein heißes, gegen Frauenschönheit wehrloses Herz doch um ein Haar aus der Bahn, die ihm Klugheit und Ehrgeiz zugleich vorgezeichnet hatten. Sein Ziel war damals der Aufstieg im Staatsdienst; er wollte auf dem kürzesten Wege in die diplomatische Laufbahn hinein. Fleiß, Leistung und persönliche Beziehungen sollten ihn emportragen. Auch im günstigsten Falle aber führte der Weg nur langsam zu dem lockenden Ziel, Stufe um Stufe, ging durch Amtszimmer und Stadtluft: ein Schreiberseelendasein. Der junge Bismarck grollte daher dem alten bürokratischen preußischen Staate, der den Adlerflug seiner Wünsche hemmte. Er sehnte den Staat mit freier Verfassung herbei, nicht so sehr aus liberalen Grundsätzen als wegen der Möglichkeit rascheren Aufstiegs, die sich dann dem Talente bot. Vielleicht schlug auch für Preußen noch die Stunde der Verfassung – er rechnete im stillen damit. Zunächst aber hat er dem Staate den Rücken gewandt: die Freiheitsliebe siegte über den Ehrgeiz. Das Erbgut der Väter wog schwerer als das von der Mutter herstammende und durch mütterlichen Ehrgeiz verstärkte: Bismarck kehrte aufs Land zurück (1839).

Schloß Schönhausen.
[389]      Schloß Schönhausen. Holzschnitt von Ludwig Pietsch.

Was er als Landwirt nun leistete, die schwerverschuldeten väterlichen Güter durch sparsame Wirtschaft und Neuerungen wieder hoch bringend, wie er in der ländlichen Selbstverwaltung, als Kreisdeputierter in Pommern, als Deichhauptmann in Schönhausen, tätig war, Mitarbeiter auch an der Reform der gutsherrlichen Gerichtsbarkeit: das alles würde ein Durchschnittsleben voll ausgefüllt haben – ihn ließ es innerlich leer. Er hat in jenen Jahren, in denen er "nichts zu tun hatte", unendlich viel gelesen, vor allem historische, geographische und politische Werke, doch auch philosophische und theologische, Spinoza, Voltaire, D. F. Strauß, Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer, dazu deutsche und englische Literatur, mit starker Vorliebe für Shakespeare und Byron. Viel von dem Wissen, das er damals erwarb, ist später dem Redner und Staatsmann fruchtbar geworden, seiner Kunst des treffenden geschichtlichen Beispiels und Vergleichs, seiner seltenen Gabe, aus der Geschichte zu lernen. Aber der Hunger nach Leben und Tat, der in ihm brannte, war aus Büchern so wenig zu stillen wie durch nächtliche Gelage mit Freunden und Nachbarn oder durch wilde Ritte, in denen der "tolle Bismarck" mit seiner überschäumenden Kraft bis zur Verwegenheit spielte. Auch [388] auf Reisen trieb es den Ruhelosen: nach Schottland, England, Frankreich – ja er dachte daran, "einige Jahre Asiat zu spielen", nach Ägypten, Syrien, vielleicht noch weiter zu gehen und in Indien unter englischen Fahnen Kriegsdienste zu nehmen – nur um seinem Leben mehr Inhalt zu geben, als das Landjunkerdasein ihm bot. Dreifach war die Leere, die ihn quälte: kein Glaube an einen tieferen Sinn dieses Lebens; kein Beruf, der ihn ausfüllte; kein Weib, das ihm die ersehnte Häuslichkeit schenkte.

Es ist ein wunderbares Schauspiel, wie im Laufe weniger Jahre, in innerem Zusammenhang miteinander, alle drei Fragen Klärung und Lösung fanden. Aus der Skepsis, die keine ewigen Werte anerkannte, rang der angehende Dreißiger sich allmählich los, nicht durch Vernunftschlüsse, sondern kraft seines Willens zum schaffenden Leben: der zur Tat Bestimmte konnte seiner Bestimmung nur genügen, wenn er an einen Sinn des Handelns in dieser Welt glaubte, wenn das Menschenleben ihm mehr war als "nur ein beiläufiger Ausfluß der Schöpfung, der entsteht und vergeht wie Staub vom Rollen der Räder". Er brauchte den Sinn – darum begann er zu glauben. Der Eintritt in den pietistischen Kreis des Hauses Thadden auf Trieglaff, der Anblick von Menschen, die kraft ihres Glaubens wurzelfest dastanden, die Seelenfreundschaft mit Marie von Thadden, der frühvollendeten Gattin seines Jugendfreundes Moritz von Blanckenburg: all das führte den des Zweifels Müden dem Christentum näher, half ihm mit zum Glauben an den persönlichen Gott, an Jenseits und Erlösung. Das Entscheidende aber war der Wille: los vom Zweifel! Als ihn nach Jahren sein philosophischer Freund Keyserling fragte, wodurch er seinen radikalen Unglauben überwunden habe, da gab er, dem sein Glaube auch später kein kampfloser Besitz war, die eindeutige Antwort: "Den

Johanna von Puttkamer.
Johanna von Puttkamer,
die spätere Frau von Otto von Bismarck. 1855 nach einer Pastellskizze von Jakob Becker.
[Nach wikipedia.org.]
Vortrab meiner Zweifel, der sich zu weit hinauswagt, rufe ich zurück." Der Wille war die beherrschende Seelenkraft in ihm, die, wenn es nottat, den Einspruch des Verstandes zum Schweigen bringen konnte. Aus seiner innersten Natur also entsprang der Durchbruch des Religiösen in Bismarck; vollendet aber wurde er durch seine Liebe zu der unbefangen-gläubigen Johanna von Puttkamer, die im Juli 1847 seine Gattin wurde: ein naturgewachsenes Landkind, tief an Gemüt und von sonnigem Humor, leidenschaftlich im Lieben und Hassen, voll Güte des Herzens, ganz Weib wie er ganz Mann. Der Pietismus ihrer Umwelt nahm weder sie noch ihn gefangen. Mit Buchstabengläubigkeit und dogmatischen Sätzen hatte Bismarcks Christentum nichts gemein. Ihm genügte der Glaube an Gott und Christi Heilswerk. Er wahrte sich auch der Schrift gegenüber die protestantische Freiheit der persönlichen Auslegung und verwarf jedes kirchliche Glaubensgericht.

Zwei der großen Lebensfragen waren nun gleichzeitig gelöst. Die dritte, der Weg zu dem einzigen Beruf, der ihn ausfüllen konnte, zu dem des Staatsmannes, gewann ein neues Gesicht, als Preußen im April 1847 durch Zusammentritt des Vereinigten Landtags den ersten Schritt in die Reihe der Verfassungsstaaten tat. [389] Neben die Beamtenlaufbahn trat jetzt die parlamentarische als Weg zum politischen Wirken. Bismarck hat dem Ersten und dem Zweiten Vereinigten Landtag, vom April 1848, angehört; er wurde im Februar 1849 in die Zweite Kammer des neu geschaffenen Preußischen Landtags gewählt, im März 1850 auch in das Deutsche Parlament zu Erfurt. Vom ersten Augenblick seines Auftretens an, und immer wieder von neuem, zwang in diesen Parlamenten sein Kämpfergeist die Blicke der Freunde und vor allem die Pfeile der Gegner auf seine Gestalt. Kein anderer wirkte so wie er als Ritter des Preußentums und des monarchischen Gedankens. Immer schwamm er gegen den Strom, war immer in der Minderheit und doch immer der Überlegene. Kein Redner im üblichen (ihm verächtlichen) Sinn des Wortes, wirkte er durch die logische Kraft und die scharf geschliffene Form des Gedankens, durch die Bildkraft seiner Sprache, durch schlagenden Witz und ätzenden Spott. Hinter allem, was er sagte, stand Kenntnis des Lebens und der Geschichte. Völlig unabhängig nach oben wie nach unten und völlig furchtlos kämpfte er nicht für Ideen oder Parteiziele, auch noch nicht für den deutschen Gedanken, der damals die Besten der Nation erfüllte, sondern für die äußere Freiheit und die innere Festigkeit des preußischen Staates. Wohl lebte in ihm ein urwüchsiges deutsches Nationalgefühl, das ihm von Jugend auf allem fremden Wesen gegenüber eine nie versagende selbstbewußte Sicherheit gab. Es lebte in ihm ein starker Glaube an die Kraft und den Wert seines Volkes, ein Glaube, der später, zugleich mit dem Erstarken seiner Gottverbundenheit, einen religiösen Klang annahm: als Glaube, daß Gott "diese deutsche Nation zu etwas Gutem [390] und Großem bestimmt hätte". Doch sein Nationalgefühl war nur der mütterliche Erdboden, dessen Berührung ihm stets neue Kraft lieh, gleich der Natur selber – richtunggebend für den Staatsmann war und konnte nur sein der Träger der politischen Macht: der Staat. Und daß Bismarck es wagte, vom Rechte des staatlichen Egoismus einem Geschlechte zu reden, dem am höchsten der Begriff der Nation stand, einem Geschlechte, das die staatliche Macht zugunsten der bürgerlichen Freiheit einschränken wollte, daß er weiterhin eine deutsche Einheit ablehnte, die Preußens staatliches Eigenleben bedrohte: das machte ihn für den Liberalismus, nach Beckeraths Wort, zum verlorenen Sohn des großen deutschen Vaterlandes.

Bismarck ist schon als Student mit dem Amerikaner Coffin eine Wette eingegangen, daß Deutschland binnen fünfundzwanzig Jahren einig sein werde. Aber an das Gelingen des Frankfurter Einigungs- und Verfassungswerks von 1848/1849, das das lebendige Leben aller Einzelstaaten einem Deutschen Reichstag unterwerfen wollte, hat er weder geglaubt noch es gewünscht. "Die Frankfurter Krone mag sehr glänzend sein, aber das Gold, welches dem Glanze Wahrheit verleiht, soll erst durch das Einschmelzen der preußischen Krone gewonnen werden, und ich habe kein Vertrauen, daß der Umguß mit der Form dieser Verfassung gelingen werde." Dazu erkannte er, was den wenigsten Männern der Paulskirche klar zum Bewußtsein kam: welch Wagnis voll europäischer Gefahren die Einigung Deutschlands darstellte. Jene sahen wohl, daß ein gesamtdeutsches Reich nur möglich war, wenn Österreich sich entschloß, seine deutschen Länder aus der staatlichen Gemeinschaft mit den nichtdeutschen zu lösen und zwischen beiden nur das lockere Band der Personalunion bestehen zu lassen. Doch Österreichs Weigerung, das zu tun, zwang zur Beschränkung auf ein kleindeutsches Reich unter preußischer Führung. Dieses Reich wiederum konnte nur werden, wenn Österreich auf seine geschichtliche Stellung in Deutschland verzichtete, und ehe es das tat, war es entschlossen, die Entscheidung der Waffen anzurufen. Damit drohte ein deutscher Krieg inmitten feindlicher Nachbarn, die kein starkes Deutschland wünschten und obendrein, als Teilhaber an den Wiener Verträgen von 1815, bei einer Änderung der deutschen Bundesverfassung mitreden durften. Ein solcher Krieg führte an Abgründen vorbei, in denen das Chaos lauerte. Zweimal hat ein Verzicht König Friedrich Wilhelms IV. den Gefahren dieses Krieges vorgebeugt: der Verzicht auf die von der Frankfurter Nationalversammlung angebotene Kaiserkrone im April 1849 und der Verzicht auch auf den bescheidenen Plan einer "Union" norddeutscher Mittel- und Kleinstaaten unter preußischer Führung im November 1850.

Der zweite Verzicht, besiegelt im Vertrage von Olmütz, bedeutete den Zusammenbruch der deutschen Politik Preußens. Bismarck, der diese Politik von Grund aus verworfen hatte und daher ihr Scheitern begrüßte, nahm es auf sich, die als tiefe Schmach empfundene Unterwerfung von Olmütz im Preußischen Landtag zu verteidigen. Seine Rede, diplomatisch und wuchtig zugleich, voll preußischen [391] Stolzes und schneidender Verachtung der Demokratie, stellte ihn so entschieden in die vorderste Reihe der Konservativen Partei, die für friedliche Zusammenarbeit Preußens und Österreichs arbeitete, daß der Generaladjutant des Königs, Leopold von Gerlach, es wagen konnte, seinem Herrn den erst fünfunddreißigjährigen Abgeordneten für den damals wichtigsten Posten der preußischen Diplomatie vorzuschlagen, für die Gesandtschaft am Bundestag zu Frankfurt a. M.

So war das ersehnte Ziel des jungen Bismarck, der Eintritt in die diplomatische Laufbahn, ohne sein Zutun erreicht, als Frucht seines parlamentarischen Wirkens. Der Gedanke an die Trennung vom Landleben und aus seinem norddeutschen Lebenskreise wurde ihm zwar sehr schwer: "Mir ist, als sollten wir auswandern nach Amerika und aus allen lieben Gewohnheiten scheiden." Doch zögerte er keinen Augenblick, den Ruf anzunehmen, und mahnte die bekümmerte Gattin: "Lichte die Anker Deiner Seele und bereite Dich, den heimischen Hafen zu verlassen... ich bin Gottes Soldat, und wo er mich hinschickt, da muß ich gehn, und ich glaube, daß er mich schickt und mein Leben zuschnitzt, wie er es braucht." Die acht Frankfurter Jahre, die nun folgten, vom Mai 1851 bis Februar 1859, wurden für ihn wie für seine Gattin vielleicht die glücklichsten des Lebens: Jahre, in denen noch nicht unter dem Druck einer fast übermenschlichen Arbeitslast das häusliche Leben und die Freude an den Kindern zu leiden hatten, Jahre noch unerschütterter "Löwengesundheit" (wie Johanna von ihrem Gatten rühmte), reich an froher Geselligkeit, an freundschaftlichen Beziehungen, die fürs Leben geknüpft wurden. In ihrer Villa an der Bockenheimer Landstraße, damals eine Viertelstunde vor der Stadt gelegen, lebten sie wie auf dem Lande. Bismarck ging viel auf die Jagd, machte Ausflüge, genoß die schöne Rheinlandschaft. "Ich lebe hier wie Gott in Frankfurt", schrieb er übermütig an Gerlach, "und dieses Gemisch von Regensburger Zopf, Eisenbahn, Landjunker (bei Bockenheim), diplomatischem Republikaner und kammermäßigem Bundestags-Gezänk behagt mir so, daß ich auf dieser Welt höchstens mit meinem allergnädigsten Herrn den Platz tauschen würde, wenn mich die Königliche Familie mit unerträglicher Dringlichkeit darum bäte."

Politisch bedeuteten diese acht Jahre für ihn eine Schule, wie es für die Erkenntnis der deutschen Frage keine bessere gab. Der Bundestag, bis 1848 die Stätte einträchtiger Zusammenarbeit der beiden deutschen Großmächte, die sich über alle wichtigen Anträge an die Versammlung vorher untereinander verständigten, drohte jetzt, bei dem ungleich höheren Ansehen des Kaiserstaates, zum Hebel der österreichischen Vorherrschaft in Gesamtdeutschland zu werden. Blieb Preußen so fügsam wie in Olmütz, so wurde der Deutsche Bund unter Fürst Schwarzenbergs fester Leitung leicht zu einem verlängerten Österreich, und Preußens vorläufiger Verzicht auf seine deutsche Sendung wurde endgültig, ohne daß doch Österreich, der Nationalitätenstaat, imstande gewesen wäre, die deutsche Sehnsucht nach dem Nationalstaate zu erfüllen. Es ist Bismarcks Werk, daß das gedemütigte Preußen, [392] obwohl am Bundestag nur durch eine zaghafte Minderheit unterstützt, dennoch von Anfang an jedem Versuch einer Ausdehnung der Bundesgewalt auf Kosten der einzelstaatlichen Rechte erfolgreich widerstand. Bismarck hat die mehrmals drohende Gefahr einer Niederstimmung Preußens in grundsätzlichen Fragen mit allen Mitteln beschworen, hat nötigenfalls auf eigene Faust mit Bundesbruch gedroht und dabei die Vorstellung zu wecken gewußt, hinter seiner Drohung stehe der entschlossene Kampfeswille der preußischen Regierung.

In Wahrheit war es Bismarck, der diesen Willen verkörperte: er ging sehr bald aus der Verteidigung zum Angriff über. Seiner kampfscheuen Regierung aber wußte er sich selbst nur als den wachsamen Hüter der bedrohten preußischen Souveränität hinzustellen, während er auch das in die Verteidigung gedrängte Österreich stets in der Rolle des Angreifers zu zeigen verstand. Bismarck war Diplomat auch seiner eigenen Regierung gegenüber und wurde durch die zwingende Gedankenkraft seiner Berichterstattung zum eigentlichen Leiter der preußischen Bundespolitik. Dreimal ist es ihm auch gelungen, die zeitweilige Führung am Bundestag zu erlangen und Österreich in die Minderheit zu drängen: im Kampf um eine neue Geschäftsordnung, die die präsidialen Machtbefugnisse stark einschränkte, im Kampf gegen Österreichs Versuch, während des Krimkrieges den Deutschen Bund aus seiner Neutralität herauszulocken und an Österreichs Seite gegen Rußland ins Feld zu führen: hier war Preußen den Mittel- und Kleinstaaten unschätzbar als Bollwerk des Friedens gegen die Gefahr eines Krieges für deutsch-fremde Belange der Donaumonarchie. Ein drittes Mal endlich führte Bismarck siegreich die Mehrheit, als es darum ging, die durch den österreichischen Präsidialgesandten allzusehr überschattete Stellung der übrigen Bundestagsgesandten zu heben und ihre Gleichberechtigung auch den fremden Diplomaten gegenüber zur Geltung zu bringen.

Allein seine Erfolge konnten ihn nicht darüber täuschen, daß auf die Dauer Österreich, als Präsidialmacht, doch stärker im Bunde war als das mit vielfachem Mißtrauen beobachtete, weil als Macht noch nicht gesättigte Preußen. Für Preußen war der Deutsche Bund eine Schranke seiner Bewegungsfreiheit und seines Wachstums, für die Mittel- und Kleinstaaten ein Schutzdach gegen äußere und innere Sturmgefahr. Kein Staat hatte von der Zerschlagung des Bundes weniger zu fürchten und mehr zu hoffen als Preußen, dessen europäische Stellung seit dem Krimkrieg der österreichischen weit überlegen war. Österreich war mit Rußland zerfallen, hatte Frankreich zu fürchten, von England nichts zu hoffen. Preußen war mit allen drei Mächten befreundet, von Frankreich geradezu umworben. Bismarck zog den Schluß, Preußen müsse Österreichs europäische Schwierigkeiten nutzen, um ihm Zugeständnisse in Deutschland abzuringen, das heißt den Verzicht auf jeden nicht vorher von Preußen gutgeheißenen Antrag an den Bundestag. Er ging so weit, seinem österreichischen Kollegen, dem Grafen Rechberg, im Juni 1857 zu drohen, wenn Österreich dieses Entgegenkommen verweigere, werde es im Falle eines europäischen Krieges Preußen auf seiten von [393] Österreichs Gegnern finden! Es war die Drohung, die Bismarck als Ministerpräsident im Dezember 1862 wiederholte und 1866 wahrmachte. Wäre es nach ihm gegangen, so würde Preußen schon im Frühsommer 1859, als Österreich im Kriege mit Frankreich und Sardinien lag, die Gelegenheit genutzt haben, um Österreich aus Deutschland hinauszudrängen, die preußischen Grenzpfähle bis zum Bodensee zu tragen und ein "Königreich Deutschland" zu begründen. Doch so friderizianisch dachte man in Berlin nicht, und der neue Herr, Prinzregent Wilhelm, hatte kurz zuvor, im November 1858, seine "Neue Ära" mit dem feierlichen Bekenntnis eingeleitet, in Deutschland müsse Preußen moralische Eroberungen machen. Als Opfer dieses Willens zum deutschen Frieden mußte der Mann weichen, der im Kriege das Mittel sah, die deutsche Uhr richtig zu stellen: im Februar 1859, kurz vor Ausbruch des italienischen Krieges, wurde Bismarck nach St. Petersburg versetzt, "an der Newa kaltgestellt".

Noch drei und ein halbes Jahr hat Bismarck warten müssen, bis ihm der Hammer der Macht zufiel, den kein anderer hätte schwingen können gleich ihm. Von gewöhnlichem Ehrgeiz war nichts in ihm – der Wille zur Macht war der Wille des Künstlers zu seinem Werk. "Ja, wenn man so über das Ganze disponieren könnte!" stieß er gegen Robert von Keudell hervor, der den Frankfurter Kämpfer im Mai 1857, kurz vor jener Drohung an Rechberg, besucht hatte. "Tag und Nacht Träume von Portefeuille!" war das Bild, das Kurd von Schlözer, Bismarcks Legationssekretär in St. Petersburg, von seinem Chef gewann. Die reichlich drei Jahre an der Newa und die vier Monate an der Seine, die sich anschlossen, waren eine Zeit, während der Bismarck, jetzt fast ohne Einfluß in Berlin, die preußische Außenpolitik aus dem Strome der großen Gelegenheiten abtreiben und anscheinend hoffnungslos auf Sand laufen sah. Weder in der deutschen Frage, genannt Bundesreform, noch in der schleswig-holsteinischen, dem wundesten Ehrenpunkt Preußens, ein fruchtbarer Gedanke, ein wagender Schritt. Es hätte nahegelegen, zur Belebung der festgefahrenen Außenpolitik den kundigsten Diplomaten, über den Preußen gebot, ins Ministerium zu berufen. Und doch war es nicht das außenpolitische Bedürfnis, was den König und seinen Staatsmann endlich zusammenführte, sondern die aufs höchste gestiegene innere Not. König Wilhelm, politisch ungeschult, aber militärisch durch und durch Fachmann, war mit seinen gesunden Gedanken über Heeresreform auf den hartnäckigen Widerstand des im Abgeordnetenhause herrschenden liberalen Bürgertums gestoßen. Der Konflikt steigerte sich schließlich zum Kampf um die Macht im Staate und gipfelte in der Frage: monarchische Führung oder parlamentarische Regierung? Preußen stand an einem Scheideweg von unermeßlicher Bedeutung. Der Glaube an Wert und Sinn der monarchischen Staatsform war weithin erschüttert. Ein so konservativ denkender Mann wie Ranke meinte, der Sinn für wirkliches Königtum sei so gut wie erloschen. Der Erbe der preußischen Krone und seine englische Gemahlin standen im Lager des Liberalismus. Der König sah sich [394] fast allein; aber er blieb fest. Nachzugeben verbot ihm ebenso sein militärisches Gewissen wie seine religiöse Auffassung der Königspflicht. Fand er keinen Minister, der den Konflikt mit der Volksvertretung durchzukämpfen bereit war, so sah er nur einen Ausweg: die Abdankung.

Otto von Bismarck.
[392b]      Otto von Bismarck.
Photographie, 1862.
Es war das Verdienst des unermüdlich drängenden Kriegsministers von Roon, daß der König sich in letzter Stunde entschloß, seine Scheu vor dem dämonischen Manne zu überwinden und einen Versuch mit Bismarck zu machen. Dieser gewann in den Babelsberger Gesprächen vom 22./23. September 1862 das Vertrauen des Monarchen dadurch, daß er sich ihm vorbehaltlos zur Verfügung stellte, "nicht als konstitutioneller Minister in der üblichen Bedeutung des Wortes", sondern "wie ein kurbrandenburgischer Vasall, der seinen Lehnsherrn in Gefahr sieht". Auf einem persönlichen Treuverhältnis ruhte der Bund der beiden Männer, der zur Wiedergeburt deutscher Größe führen sollte. Germanische Gefolgschaftstreue, christlicher Glaube an das gottgewollte Herrscherrecht seines Monarchen, Liebe zu dem starken und tapferen Geiste des geborenen Königs vereinten sich in Bismarcks stolzer Herrennatur, um ihn zu dem treuen deutschen Diener seines Herrn zu machen, als den er sich noch in seiner Grabschrift bekennt. Auch für ihn gilt das Bekenntnis von Goethes Tasso:

      "Der Mensch ist nicht geboren, frei zu sein,
      Und für den Edlen ist kein schöner Glück,
      Als einem Fürsten, den er ehrt, zu dienen."

Und wenn der Diener auch durch seine überlegene Geisteskraft zum Führer geworden ist, so hat er doch rückblickend dankbar bekannt: "Die Treue des Herrschers erzeugt und erhält die Treue seiner Diener."

Bismarck war überzeugt, daß unter einem tapferen König die preußische Monarchie stark genug sei, dem Parlamentarismus zu widerstehen, und daß der innere Konflikt durch Erfüllung der deutschen Sendung Preußens überwunden werden könne. Die deutsche Frage aber war eine europäische Frage, lösbar nur bei einer Mächtegruppierung, die Preußen gegen feindliche Eingriffe des Auslandes schützte. Damit war der Primat der Außenpolitik über die Innenpolitik gegeben. Einst, in den Tagen von Olmütz, hatte Rußland hinter Österreich gestanden und wesentlich dadurch die Unterwerfung Preußens entschieden. Jetzt stand das Zarenreich Preußen näher als Österreich, und Bismarck nahm die erste Gelegenheit wahr, um die Annäherung zu verstärken. Er benutzte den polnischen Aufstand von 1863, um durch die Alvenslebensche Militärkonvention das Band zwischen Preußen und Rußland fester zu knüpfen: die Grenztruppen beider Mächte sollten einander bei Niederkämpfung des Aufstandes in die Hand arbeiten, nötigenfalls die Grenze überschreiten dürfen. Der tiefere Sinn der Konvention lag jedoch im Politischen, nicht im Militärischen: die liberale, polen- und zugleich franzosenfreundliche Richtung in Rußland wurde dadurch zurückgedrängt (was Frankreich [395] sofort sehr übel vermerkte), und der Zar, Alexander II., wurde bestärkt in seiner Überzeugung, daß er an Preußen den besten Freund habe, die starke Stütze des monarchischen Gedankens. Bismarck nennt daher die Konvention einen gelungenen Schachzug, der die Partie entschied. Die Gefahr einer Autonomie für Russisch-Polen, die verhängnisvoll auf die polnischen Untertanen Preußens zurückgewirkt haben würde, war ebenso beschworen wie die Gefahr einer russisch-französischen Annäherung.

Die Entrüstung der Westmächte, besonders Frankreichs, über diese Politik wurde jedoch leidenschaftlich geteilt durch die preußischen Liberalen. Ihnen ging der liberale Staatsgedanke über alles; sie wurden, bewußt oder unbewußt, beherrscht durch den Primat der Innenpolitik und suchten ihre außenpolitische Orientierung im Anschluß an die liberalen Mächte, vor allem an England, obwohl dessen Freundschaft nicht von ferne den Wert für die Bewegungsfreiheit Preußens in Deutschland und Mitteleuropa hatte wie die russische Freundschaft. Das absolut regierte Rußland war ihnen verhaßt, und Bismarck erschien ihnen als Diener und Helfer der russischen Knute. Sie sahen nicht, daß erst die Sicherung des russischen Wohlwollens die außenpolitische Voraussetzung für die Lösung der deutschen Frage durch Preußen schuf. Bismarck aber, unverstanden selbst von seinen Ministerkollegen, befehdet von der königlichen Familie, beschimpft durch die Mehrheitsparteien des Abgeordnetenhauses, blieb all diesen inneren Anfeindungen gegenüber ebenso unbeugsam wie gegenüber dem diplomatischen Druck der Westmächte. Nur einer stand hinter ihm: sein König.

Im November 1863 begann die erste große Probe auf die Stärke der europäischen Stellung Preußens. Friedrich VII. von Dänemark starb, der letzte vom königlichen Mannsstamm des Hauses Oldenburg, und die Krone des Gesamtstaats ging an Christian IX. von der weiblichen (Glücksburger) Linie über. So hatten es die Mächte im Londoner Protokoll von 1852 bestimmt, ohne Rücksicht auf das alte Landesrecht Schleswig-Holsteins, nach dem die jüngere männliche (Augustenburger) Linie erbberechtigt war. König Christian unterzeichnete unter dem Druck der dänischen Volksstimmung das neue Grundgesetz für Dänemark und Schleswig, die "Novemberverfassung", die das alte Band zwischen Schleswig und Holstein zerschnitt. So wurde Erb- und Verfassungsrecht der Herzogtümer gleichzeitig gebrochen. Ganz Deutschland aber sah die Rettung in der Erhebung des Erbprinzen Friedrich von Augustenburg auf den Herzogsthron. Wieder, und jetzt in einer Herzensfrage des deutschen Volksempfindens, warf Bismarck sich der Strömung entgegen. Hätte er die schleswig-holsteinische Frage beim Erbrecht angefaßt, so würde er nicht nur seinem Staate den Weg zum Erwerbe der Herzogtümer verbaut, sondern obendrein Preußen als Partner des Londoner Protokolls vertragsbrüchig gemacht und in Europa isoliert haben. Griff er sie bei dem durch Dänemark verletzten Verfassungsrecht an, so war seine Stellung völkerrechtlich unantastbar, doch das Ziel der nationalen Wünsche, die Lösung der Herzogtümer von Dänemark, scheinbar verleugnet. Allein Bismarck rechnete mit [396] dem dänischen Starrsinn, der auf den einmal verlassenen Boden des Verfassungsrechtes nicht zurücklenken und ihm damit den Weg für höhere Ziele frei machen würde. "Der Krieg hebt bekanntlich alle Verträge auf", erklärte er vielsagend schon im Dezember 1863. Der erste Gewinn dieser Politik, die sich nicht die geringste völkerrechtliche Blöße gab, war das Bündnis mit Österreich – eine tiefe Enttäuschung für Dänemark, eine Überraschung für Europa. Eben noch, im August 1863, hatte Preußen den österreichischen Plan einer deutschen Bundesreform vereitelt, dem der Frankfurter Fürstentag unter Vorsitz des Kaisers Franz Josef Gestalt geben sollte: der Plan zerrann in nichts, weil König Wilhelm dem Fürstentag fernblieb, anfangs aus eigenem Entschluß, zuletzt nur unter Bismarcks Druck der dringend wiederholten Einladung sich versagend.

Und dennoch versagte Österreich sich nicht, als Bismarck es einlud, zusammen mit Preußen über die Eider zu ziehen? Es würde seine Geltung als deutsche Macht verspielt haben, wenn es Preußen allein die Ehre des Kampfes für das gute Recht Schleswig-Holsteins überließ. In diesem Kampfe aber waren jetzt, dank Bismarck, anders als in den Jahren 1848 bis 1850, die europäischen Schachfiguren so gestellt, daß nicht wieder Preußen, sondern diesmal Dänemark auf der schwächeren Seite stand. Rußlands eben neu befestigte Freundschaft mit Preußen wirkte sich als wohlwollende Neutralität aus; Frankreich aber begünstigte Bismarcks Ziel der Erwerbung Schleswig-Holsteins, weil es sich von einer Vergrößerung Preußens auch eigenen Gewinn versprach und in Bismarck den Partner sah, der gern mit ihm zusammenarbeiten würde. Österreich war der wenn auch zögernde Bundesgenosse seines alten Nebenbuhlers und Nachbarn. So blieb auf Dänemarks Seite nur England, und ihm bot die völkerrechtlich einwandfreie Politik des preußischen Staatsmannes keine Handhabe, seinem dänischen Schützling zu helfen. Die Londoner Konferenz der Unterzeichner des Protokolls von 1852 unterbrach nur auf einige Wochen den siegreichen Krieg der beiden deutschen Mächte, konnte ihnen aber den Siegespreis, die Herzogtümer, nicht mehr entwinden.

Brief Bismarcks vom 9. Juni 1866.
[399]    Brief Bismarcks vom 9. Juni 1866
an Edwin von Manteuffel, den Generalgouverneur von Schleswig. Das "Wallenstein"-Zitat sollte dem Schillerkenner Manteuffel die Unvermeidlichkeit des Krieges mit Österreich dartun.
Berlin, Geheimes Staatsarchiv.
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So hatten Klugheit und Kraft vereint die verwickeltste der europäischen Fragen gelöst, und das Joch war gebrochen, das mit Schleswig-Holstein ganz Deutschland schmerzlich bedrückt hatte. Und dennoch folgte auf den äußeren Sieg kein innerer in Preußen. Unversöhnt kämpften die alten Gegner, Liberale und Demokraten, weiter gegen den Mann, der durch Befreiung der Nordmark eine alte Ehrenschuld eingelöst und die Führung der deutschen Dinge endlich für Preußen gewonnen hatte. Eins aber hatte alle Parteidoktrin nicht ersticken können: den preußischen Ehrgeiz, der die deutsche Einheit schaffen wollte. Der Kleinstaaterei in Schleswig-Holstein einen neuen Stützpunkt zu geben, waren auch die Demokraten nicht gewillt. Daher wandelte sich ihre Stimmung gegenüber dem Augustenburger Erbrecht, das sie zu Beginn der schleswig-holsteinischen Krise nur als Mittel zur Lösung der Herzogtümer von Dänemark begrüßt hatten, nicht aus Eifer für den Gedanken der Legitimität. So gewann Bismarck in der öffentlichen Meinung [397] Preußens einen Bundesgenossen in seinem Kampfe für Einverleibung der Herzogtümer. Österreich aber nahm Partei für eine verlorene Sache, als es nun den Prätendenten unter seinen Schutz nahm und ihm den Rücken gegen Bismarck stärkte. Der Zwist, der damit über das künftige Schicksal der befreiten Lande zwischen ihren Befreiern ausbrach, führte im Mai 1865 bis hart an die Schwelle des Krieges. Der Friede blieb nur darum erhalten, weil König Wilhelm ihn ohne zwingende Not nicht brechen wollte und weil nach Bismarcks Willen der deutsche Krieg, wenn er kommen mußte, nicht aus einem Streit um die Beute, sondern aus der deutschen Frage entstehen sollte. Der Gasteiner Vertrag vertagte daher im August 1865 die Entscheidung über die Herzogtümer und brachte eine Zwischenlösung, die Bismarck Zeit ließ, das größte seiner Wagnisse diplomatisch vorzubereiten.

Einst, in den Tagen von Olmütz, hatte er selber gemeint, bei einem Kriege zwischen Preußen und Österreich könne es nicht anders sein, als daß die Geschicke Deutschlands in die Hände der Fremden gelegt würden. Und das war auch im Jahre 1866 die – nur zu begreifliche – allgemeine Überzeugung. Die Geschichte wie die geographische Lage warnt kein Volk ernster vor innerem Zwist als das deutsche, das Volk der europäischen Mitte. Auch Bismarck hat daher jede Möglichkeit einer friedlichen Lösung des deutschen Dualismus, den Gedanken einer Teilung mit Österreich in die Macht über Deutschland, ernstlich erwogen. Nur die Tatsache, daß Österreich seinen geschichtlichen Anspruch auf den ersten Platz in Deutschland kampflos nicht preisgeben wollte, zwang ihn, den gefährlichsten Weg zu gehen, die Waffenentscheidung zu wagen. Sein sicheres Gefühl für die lebendigen Kräfte der Staaten gab ihm das Vertrauen auf den militärischen Sieg Preußens. Unberechenbar aber blieb die größte politische Gefahr, die der Einmischung Frankreichs, das nur auf die Stunde des deutschen Bruderkrieges lauerte, um dann wieder, wie zur Zeit des ersten Napoleon, seine Rosse am Rheine zu tränken. Die beste, aber keine volle Sicherung gegen diese Gefahr bot ein Bündnis mit Frankreichs Schützling Italien, dessen Blicke auf das noch österreichische Venetien gerichtet waren. Das Bündnis brachte zugleich militärischen Gewinn, zwang Österreich, seine Streitkräfte zu teilen. Damit war ausgeglichen, daß auch Preußen auf zwei Kriegsschauplätzen, dem böhmischen und dem deutschen, zu kämpfen haben würde. Am Tage nach Abschluß des Bündnisses, am 9. April 1866, legte Preußen auf den Tisch des Bundestages zu Frankfurt den Vorschlag einer Bundesreform, der den Gedanken der Paulskirche wieder aufnahm: ein deutsches Parlament aus direkten Wahlen und allgemeinem Stimmrecht. Das bedeutete die Bereitschaft Preußens, den Bund mit dem nationalen Geiste Deutschlands zu schließen; es bedeutete zugleich aber die Herausforderung Österreichs, das als Nationalitätenstaat den Weg zum nationalen Parlament nicht mitgehen konnte. Und es bedeutete schließlich eine Warnung Frankreichs vor den schlummernden Kräften der deutschen Revolution. König Wilhelm war anfangs über das verwegene Spiel seines Ministers tief bestürzt gewesen: "Aber [398] das ist ja die Revolution, was Sie mir vorschlagen!" Bismarck scheute den damals als revolutionär empfundenen Gedanken des demokratischen Wahlrechts nicht, weil er auf den monarchischen Sinn des deutschen Volkes vertraute und sich von der großen Masse der ländlichen Wähler sogar eher eine Stärkung des konservativen Gedankens und des gemäßigten Liberalismus versprach. Die ersten Erfahrungen mit dem neuen Wahlrecht sollten ihm auch recht geben.

In den zwei Monaten, die bis zum Kriegsausbruch noch hingingen, stieg der Haß gegen Bismarck in Preußen und noch mehr außerhalb Preußens aufs höchste. Dieser Mann, der die preußische Verfassung ständig verletzte, vermaß sich, Deutschland eine Verfassung zu geben? War dieser Entfesseler des Bruderkrieges nicht ein gewissenloser Spieler, der aus den Wirrnissen seiner inneren Politik keinen anderen Ausweg mehr sah als das Würfelspiel des Krieges? War er nicht vielleicht gar ein Volksverräter, der die Neutralität Napoleons erkauft hatte durch heimliche Preisgabe süddeutschen Grenzlandes an den Erbfeind? Niemand konnte ahnen, wie tief gottverbunden und gottvertrauend der einsame Kämpfer diese Zeit nervenzerreißender Spannung durchlebte. Am 7. Mai entging er wie durch ein Wunder einem Attentat auf sein Leben. Vor seinem Hause brachte eine bewegte Menge die ersten Hochrufe auf den Geretteten aus – ihn erfreute die Huldigung; doch was ihn am Abend des Tages am tiefsten bewegte, war die Frage an sein Gewissen, ob er imstande sei, die fünfte Bitte des Vaterunsers mit dem Bekenntnis "wie wir vergeben unseren Schuldigern" heute zu beten wie sonst. Dann las er in seinem Andachtsbuch unter dem Datum des Tages das Wort Christi an seine Jünger: "Ihr müsset gehasset werden von jedermann um meines Namens willen." Sein vertrauter Rat, Robert von Keudell, erzählt: "Die Folge des Attentats war eine gehobene Stimmung Bismarcks. Mehrmals hatte ich den Eindruck, daß er sich jetzt als Gottes auserwähltes Rüstzeug fühlte, um seinem Vaterlande Segen zu bringen. Ausgesprochen aber hat er das nicht."

Scriptorium merkt an:
eine äußerst umfassende und detaillierte Untersuchung der Regierungsjahre Wilhelm I.–Bismarck finden Sie hier:
Das Deutsche Reich unter der Staatsleitung Bismarcks 1871–1890
Nie ist Bismarck, als Mensch und als Staatsmann, größer gewesen als in diesem Schicksalsjahr der deutschen Frage. Kein Mittel, das er nicht geprüft hätte, kein Weg, den er nicht gegangen wäre, wenn er nur zum Ziele führte. War er 1859 bereit gewesen, mit Frankreich gegen Österreich zu gehen, so erwog er im Frühjahr 1866, noch im Waffenlärm der Mobilmachung, den Gedanken eines deutschen Nationalkrieges gemeinsam mit Österreich gegen Frankreich: Eroberung des Elsaß und Zwieherrschaft der Sieger über ein mitteleuropäisches Großreich, das die österreichischen Fremdvölker eingeschlossen, auch die Herrschaft Habsburgs über Venetien gesichert hätte. Und dann ging er doch den entgegengesetzten Weg des Bundes mit Italien gegen Österreich: alle Mächte waren ihm nur Werkzeuge, die benutzt und wieder weggeworfen wurden. Aber dieser dämonische Wille zum Gebrauch aller irdischen Waffen war kein frevles Spiel um die Macht, sondern blieb gebändigt durch ein tiefes Bewußtsein der Verantwortung vor Gott und Volk. Als die Entscheidung gefallen war, Preußen auf dem böhmischen wie auf [399] dem deutschen Kriegsschauplatz vollen Sieg gewann, da erst zeigte sich die größte Kunst des Staatsmanns, die Mäßigung im Siege. Jeder Gedanke an Vergeltung, wie er den König gegenüber Österreich und Sachsen als den angeblich Hauptschuldigen bewegte, lag dem politischen Denken Bismarcks ebenso fern wie seinem religiösen Empfinden: "Die Rache ist nicht unser." Wir hätten nicht eines Richteramts zu walten, sondern deutsche Politik zu treiben, mahnte er den König, Österreichs Rivalitätskampf gegen uns sei nicht strafbarer als der unsrige gegen Österreich. [400] Seine Mäßigung war politisch zunächst durch die Möglichkeit französischer Einmischung geboten, weiterhin durch den Wunsch, die Feindschaft mit Österreich zu begraben, nachdem ihr Grund, die Nebenbuhlerschaft in Deutschland, beseitigt war. Den norddeutschen Gegnern Preußens kamen solche Rücksichten nicht zugut. Mitleidlos wurden die Dynastien ausgelöscht, deren Länder die westlichen Provinzen Preußens von den östlichen trennten. So heilig Bismarck die Krone seines angestammten Königs hielt – "Ich glaube Gott zu dienen, indem ich meinem Könige diene" –, allen anderen Monarchen gegenüber fühlte er "in keinem Blutstropfen eine Spur von Verbindlichkeit, den Finger für sie aufzuheben". Nicht die Logik des Götzen Legitimität, sondern der Staatsgedanke gab seinem Handeln das Gesetz.

Als Frankreich in letzter Stunde noch mit Gelüsten nach deutschem Lande hervortrat, das Saargebiet, die Pfalz und Rheinhessen begehrte, da wies Bismarck es drohend zurück und zeigte damit den preußischen Staat seinen süddeutschen Gegnern als den Wächter am Rhein, den Beschützer auch der Südstaaten. So gelang das für unmöglich Gehaltene: der Deutsche Krieg zerriß nicht Nord und Süd, sondern führte sie zusammen. Die Mainlinie des Prager Friedens – ein Zugeständnis an Napoleon –, die den Norddeutschen Bund von den Südstaaten trennen sollte, war tatsächlich schon überschritten, als der Prager Friede unterzeichnet wurde: geheime Schutz- und Trutzbündnisse verbanden Süd und Nord zur Einheit gegen den äußeren Feind. Das wichtigste und schwerste Stück der deutschen Frage, Preußens Vorherrschaft und die Gewinnung Süddeutschlands, war also in einem einzigen Wurf von unerhörter Kühnheit gelungen. An Abgründen von Gefahren entlang, mit hellseherischem Blick für die Grenzen des Möglichen, hat Bismarck sein Volk zur Einheit geführt. Den Sieg des Schwertes und der Diplomatie aber sollte der Friede im Innern krönen und festigen: Bismarck suchte nach und erhielt Bewilligung der Indemnität für die vier Jahre lang ohne Staatshaushaltsgesetz geführte Regierung. Nach vier Jahren des Druckes, der Spannung, des verständnislosen Hasses teilte sich jetzt überall das Gewölk: Bewunderung, Dank, Liebe trugen den großen Sieger empor. Und mit Deutschland begann die Welt in dem Manne, den sie für einen politischen Abenteurer gehalten hatte, den staatsmännischen Genius seiner Zeit zu erkennen. Er selber aber blieb frei von aller Überhebung. Nie, weder damals noch später, hat er rühmend von seinem Werke gesprochen, und wer in den Wochen nach der weltgeschichtlichen Entscheidung, die er herbeigeführt, im Zwiegespräch mit ihm zusammenkam, fand in dem Gewaltigen "kindliche Liebenswürdigkeit", "unermüdliche Geduld", "fast verklärte Heiterkeit". Wir wissen es aus den intimsten Zeugnissen seines Innenlebens, aus seinen Andachtsbüchern: es war seine Demut vor Gott, die ihn vor Überhebung bewahrte.

Otto von Bismarck.
Otto von Bismarck.
Gemälde von Franz von Lenbach.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 327.]
Die Verfassung, die Bismarck dem Norddeutschen Bunde gab, war aus dem Geiste des preußischen Staatsgedankens geboren: parlamentarische Gesetzgebung, [401] aber keine parlamentarische Ministerverantwortlichkeit. Der Hebel der Macht blieb in Bismarcks Hand. Und nie fand der große Führer so willige Gefolgschaft im Reichstag wie jetzt, da das Werk den Meister offenbart hatte. Gefahren drohten von außen, von der Möglichkeit eines französisch-österreichisch-italienischen Dreibundes gegen Preußen. Gelang es dem österreichischen Revancheminister Grafen Beust, die schleichende orientalische Krisis zum Ausbruch zu bringen, so konnte leicht auch England sich zu den drei Mächten gesellen, und dann stand Preußen mit Rußland isoliert in Europa. Bismarck hat daher in den folgenden Jahren den Orient scharf beobachtet und damals schon seine Meisterschaft in der Verhütung eines von dorther genährten Völkerbrandes bewiesen. Er hat für Erhaltung des Friedens aber auch dann gearbeitet, als sich – während der luxemburgischen Krisis im Frühjahr 1867 – Gelegenheit bot, Deutschlands Norden und Süden im Bunde gegen ein isoliertes Frankreich zu führen und im Feuer des Nationalkrieges die Einheit des Reiches zu schmieden. Alles Forschen nach außen- und innerpolitischen Gründen, die für seine Friedenspolitik damals den Ausschlag gegeben hätten, hat schließlich doch nur den entscheidenden Grund um so heller herausgehoben: solange Bismarck den Krieg nicht für notwendig hielt, konnte er ihn vor Gott nicht verantworten. "Man darf nicht Krieg führen, wenn es mit Ehren zu vermeiden ist. Die Chance günstigen Erfolges ist keine gerechte Ursache, einen großen Krieg anzufangen." Erst als er erkennen mußte, daß Frankreich die friedliche Vollendung der deutschen Einheit unter keinen Umständen zulassen würde, daß es nur auf einen Kriegsgrund wartete, der Preußen allein verletzte und Hoffnung auf Süddeutschlands Neutralität bot, erst da hat er den hingeworfenen Handschuh aufgehoben und die französische Herausforderung so schneidend durch die Emser Depesche pariert, daß ganz Deutschland jubelte, erlöst von der Sorge, Preußen könne als Hüter seiner und der deutschen Ehre versagen. So wurde Frankreichs Hoffnung zuschanden, die Frage der spanischen Thronkandidatur eines Hohenzollern werde den Süden nicht berühren, sondern ihn vom Norden wieder trennen.

Nur Bismarck ist zu danken, daß das Gegenteil Wirklichkeit wurde, nur der unfehlbaren Sicherheit, mit der er damals jene unwägbaren Werte der Politik, die er für wichtiger hielt als die materiellen Waffen, in ganz Deutschland wachrief: das Gefühl für nationale Ehre und Würde, die Entrüstung über Frankreichs Anmaßung und frivoles Spiel mit dem Frieden – eine Entrüstung, die weit über Deutschlands Grenzen hinausging und Frankreich auch moralisch in Europa isolierte. Politisch war es isoliert, weil Österreich die wichtigste Voraussetzung für sein Zusammengehen mit Frankreich nicht erfüllt sah: die Neutralität seiner süddeutschen Bundesgenossen von 1866. Auch die deutschfreundliche Haltung des Zaren hielt den österreichischen Degen in der Scheide. So gelang nach dem Wunder von 1866, nach einem deutschen Krieg, in den Europa nicht eingriff, auch das zweite Wunder: zum erstenmal in seiner Geschichte konnte Deutschland mit dem alten Erbfeinde abrechnen, ohne daß seine geographische Mittellage ihm zum [402] Verhängnis wurde und ohne daß ein Kongreß der Neutralen bei dem Friedensschluß mitsprach. Wie Zuschauer im Zirkus blickten die Mächte gespannt auf den Ausgang des gewaltigen Zweikampfes; doch keine Hand rührte sich, zu helfen, als Frankreich blutend im Sande lag.

Bismarck geleitet den gefangenen Kaiser Napoleon III. am 2. September 1870 nach der Schlacht bei Sedan zu König Wilhelm.
[392a]      Bismarck geleitet den gefangenen Kaiser Napoleon III. am 2. September 1870 nach der Schlacht bei Sedan zu König Wilhelm. Gemälde von Wilhelm Camphausen, 1876.
München, Bayerisches Armeemuseum. M. Gen. d. Photogr. Ges. Berlin.

[Bildquelle: Photographische Gesellschaft, Berlin.]

Der schönste Siegespreis war die Vollendung des Reiches, das Kaiser-Hoch im Spiegelsaal Ludwigs XIV. Aber auch der andere Preis, dessen wir heute nur mit Wehmut gedenken, die Heimführung Elsaß-Lothringens, die ganz Deutschland verlangte und die Mehrheit Europas als billig erkannte, war nur ein Gebot nationaler Sicherheit und Ehre und bestand völkisch zu Recht. Welche Nation würde in gleicher Lage darauf verzichtet haben, ein verlorenes Glied zurückzugewinnen? Auch im Frankfurter Frieden hat Bismarck die Grenze weisen Maßes nicht überschritten; er hat jeder Versuchung widerstanden, dem Besiegten entehrende Bedingungen, wie Rüstungsbeschränkung, aufzuerlegen, und hat auch diesmal so wenig wie 1866 Politik mit Strafjustiz verwechselt. Er hat Frankreich nur genommen, was es ohne Schaden an Ehre und Lebensraum entbehren konnte. Er hat Deutschland nur gegeben, was ihm zukam und seiner Sicherung diente. Kein Volk hat seine nationale Einheit schwerer erkämpft als das deutsche; aber in keines Volkes Einigungsgeschichte klingt ein ähnlich Hohes Lied von staatsmännischer Weisheit und kriegerischer Größe wie in der deutschen. [Scriptorium merkt an: man vergleiche die "Friedens"bestimmungen und die jedem Begriff von Ehrlichkeit und Anstand spottenden Behauptungen der Sieger des Ersten Weltkriegs!]

Der Mann, der in sieben Jahren die größte Aufgabe unserer politischen Geschichte gelöst, dem Volke der Dichter und Denker Kaiser und Reich geschenkt hat, der dann in den beiden Jahrzehnten, die er noch wirken durfte, das Vertrauen und die friedliche Führung Europas gewonnen hat wie kein Staatsmann vor ihm oder nach ihm – er ist dennoch über eins nicht Sieger geworden: über die inneren Gegensätze, die unser Volk in Parteien zerklüfteten. Im Kulturkampf stieg aus dem Erbe alter Vergangenheit, aus der religiösen Spaltung des deutschen Volkes, neuer Hader empor. Die katholische Kirche erlebte damals eine innere Erneuerung und kämpfte zugleich gegen die alten Mächte der Reformation und gegen die neuen des Liberalismus und der naturwissenschaftlichen Weltanschauung. Im Siege Preußens über das katholische Österreich und vollends im Aufstieg eines protestantischen Kaisertums zur stärksten Macht des Kontinents sah sie eine Gefahr für die katholische Sache, der nur durch politischen Zusammenschluß der religiösen Kräfte begegnet werden konnte. Aus den Reihen des politischen Katholizismus, die sich in der Zentrumspartei sammelten, blitzten schon im ersten Deutschen Reichstag drohende Wetterzeichen. Bismarck hat den unvermeidlichen Kampf nicht entzündet, doch er hat ihn als Angreifer geführt und über Gebühr verschärft. Und nun sah der Sieggewohnte sich zum erstenmal vor einen nicht faßbaren, weil innerlich ihm fremden Gegner gestellt, vergriff sich in den Mitteln des Kampfes und schlug seinem Staate tiefere Wunden als der katholischen Kirche. Wenn er auch schließlich die Hand zum Frieden bot und unhaltbare Stellungen preisgab, so blieb doch als dauernde Belastung des Reiches die unnatürliche Erstarkung des [403] politischen Katholizismus, der das Gefühl der bedrohten konfessionellen Minderheit nie mehr ganz verlor und das protestantische Kaisertum zwar nicht verneinte, aber doch nie ganz freudig bejahte.

Bedrohlicher noch war, daß es nicht gelang, die großen Massen der Industriearbeiter für den Staat zu gewinnen. In ihnen war ein Stand emporgekommen, den das agrarische Deutschland aus Bismarcks Jugendzeit noch nicht kannte, ein Stand, dessen naturferne Lebens- und Denkweise dem Landkinde Bismarck ebenso fremd blieb wie die katholische Weltanschauung seiner freien protestantischen Glaubens- und Gedankenwelt. Und nun schuf die Reichsgründung, vollends nach dem Übergang zum Schutzzoll im Jahre 1879, Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten für die deutsche Industrie, die zu einem nur mit amerikanischem Wachstum vergleichbaren Aufschwunge führten. Die riesigen Arbeitermassen, die nun die Großstädte füllten und ungesund aufblähten, entglitten dem Staate, weil der gemeinsame Boden der Weltanschauung hier noch mehr fehlte als zwischen dem katholischen Zentrum und dem preußisch-protestantischen Kaisertum. Bismarck hat die Gefahr erkannt und bekämpfte sie mit allen Mitteln, die damals im Bereich des Möglichen lagen. Unter dem Eindruck der Attentate auf den greisen Kaiser suchte er "die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" durch das Sozialistengesetz von 1878 niederzuhalten. Doch neben das negative stellte er das positive Mittel einer sozialen Gesetzgebung, die den "Soldaten der Arbeit" – das Wort stammt von Bismarck – gegen die Sorgen der Krankheit, des Alters und der Erwerbsunfähigkeit sichern sollte. Diese Gesetzgebung, bei der Bismarck mehr als auf irgendeinem anderen Gebiete der Innenpolitik der führende, schöpferische Geist war, hat zwar in die Nachtseiten der übersteigerten Industrialisierung Deutschlands so viel Licht gebracht, daß der deutsche Arbeiter besser versorgt und geschützt war als sein Berufsgenosse in den übrigen großen Industriestaaten; aber die Seele des deutschen Arbeiters, der dem Evangelium des internationalen Verbrüderungswahnes verfallen war, hat diese Gesetzgebung nicht erobert. Sie entsprang dem patriarchalischen Geiste des preußischen Königtums und verzichtete auf den Kampf mit weltanschaulichen Waffen, mußte auf ihn verzichten, weil es in dem parteienzerrissenen Deutschland keine große, werbende, die Nation tragende Weltanschauung gab. Bismarck stand hier vor einer unlösbaren Aufgabe.

In der Sorge um sein Werk stärkte ihn vor allem seine Überzeugung von der überragenden Bedeutung der Außenpolitik, die geschichtliche Erkenntnis, daß noch jedes große Volk, das nach außen stark war und gesicherten Lebensraum hatte, schließlich auch aller inneren Gegensätze Herr geworden und mit der Zeit zu immer festerer Einheit zusammengewachsen ist. In der Außenpolitik liegt daher auch nach der Reichsgründung das Schwergewicht von Bismarcks staatsmännischer Leistung. Sicherung der deutschen Macht gegen die Gefahr von Koalitionen war sein vornehmstes Ziel. Die bisher bewährte russische Freundschaft verlor an Zuverlässigkeit mit dem Erstarken des Panslawismus, der zunächst die unter [404] österreichischer und türkischer Herrschaft lebenden Slawen befreien wollte, weiterhin aber auch die polnischen Gebiete Preußens ins Auge faßte. Nur der monarchische Gedanke konnte noch als Bindeglied zwischen den drei Kaisern dienen, und er führte 1873 auch wirklich zu einem Einvernehmen der Souveräne. Bismarck hat stets vorausgesagt, daß bei einem Zusammenstoß zwischen den Kaiserreichen die Monarchie alles zu verlieren, nichts zu gewinnen habe. Aber diese konservativ-dynastische Politik erhielt in den siebziger und achtziger Jahren immer neue und gefährlichere Stöße von den vulkanischen Brandherden auf dem Balkan. Entzündete sich aus diesen ein Krieg, so stand die Großmachtstellung Österreichs auf dem Spiele. Dem durfte Deutschland nicht ruhig zusehen, da es sonst Gefahr lief, zwischen einem übermächtigen Rußland und einem revanchelüsternen Frankreich allein zu stehen. Es konnte also in die Lage kommen, um Österreichs willen in einen Zweifrontenkrieg eintreten zu müssen, der ihm kein anderes Kriegsziel bot als das der Selbsterhaltung.

Bismarck sah daher mit Recht in der gütlichen Beilegung jeder Balkankrise ein Gebot der deutschen Politik. So wurde er seit dem Berliner Kongreß (1878) zum anerkannten Hüter des europäischen Friedens, zum Vermittler zwischen Rußland einer-, Österreich und England andrerseits. Die Kraft seiner Stellung lag darin, daß Deutschland allein keine eigenen Ziele im Orient verfolgte und daher die anderen Mächte, je nach Bedarf, durch Gewährung oder Verfügung seiner Gunst fördern oder hemmen konnte. Auf Bismarck richteten sich so in zunehmendem Maße die Blicke aller europäischen Staatsmänner, zunächst in den orientalischen, bald auch in anderen Fragen. Odo Russell, der englische Botschafter in Berlin, schrieb 1880: "In Sankt Petersburg ist sein Wort Evangelium ebenso wie in Paris und Rom, wo seine Aussprüche Achtung, sein Schweigen Besorgnis einflößen." Sogar in der größten kolonialen Frage der Zeit, der Aufteilung Afrikas, gewann Deutschland – zum Erstaunen Englands in enger Zusammenarbeit mit Frankreich – die anerkannte Führung: in Berlin, wo über die Machtverteilung im Orient entschieden worden war, wurde auf der von vierzehn Mächten beschickten Kolonialkonferenz (1884/1885) auch das Problem der Aufteilung Mittelafrikas gelöst. Die Landmacht Deutschland gewann ein wertvolles Kolonialreich, das an Umfang das Mutterland um das Fünffache übertraf.

Ein Bündnissystem, allmählich ausgebaut in den Jahren 1879 bis 1887, wie es kunstvoller und zugleich heilsamer für Europa niemals bestanden hat, deckte nicht nur Deutschland nach allen Seiten, sondern wurde in Bismarcks Hand auch zum Hebel für die Leitung der fremden Kabinette, machte ihn zum "Minister Europas". Der Dreibund bildete das Kernstück, ein Bollwerk gegen Ost und West, in der Ostfront verstärkt durch Rumäniens Beitritt, zuletzt (seit 1887) auch der englischen Unterstützung gewiß in allen Streitfällen, die aus einer orientalischen oder Mittelmeerfrage mit Rußland oder Frankreich entstehen konnten. Da jede der fünf Mächte durch die Verträge in lebenswichtigen Fragen gedeckt wurde, [405] keine aber Gefahr lief, für fremde Belange kämpfen zu müssen, so war die Haltbarkeit der Verträge bis zur Grenze des Möglichen verbürgt. Daneben aber hat Bismarck die Brücke nach Rußland offen gehalten, zuerst (1881) in Gestalt eines erneuerten Drei-Kaiser-Abkommens, und als dieses in der großen Orientkrisis von 1885/1887 zerbrach, in Gestalt der deutsch-russischen Rückversicherung. Diese war in der Hauptsache ein Neutralitätsabkommen für den Fall des Angriffs einer dritten Macht auf eine der beiden vertragschließenden, widersprach also nicht dem nur zur Verteidigung geschlossenen deutsch-österreichischen Bündnis. Wohl aber hielt der deutsch-russische Vertrag Frankreich in Schach und verriegelte die letzte

Otto von Bismarck.
Otto von Bismarck.
Bronzerelief von Adolf v. Hildebrand, 1893.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 326.]

Otto von Bismarck.
[392d]      Otto von Bismarck.
Photographie, 1894.

[Bildquelle: Sammlung Dr. Hermann Handke, Berlin.]

Otto von Bismarck mit Charlotte von Sachsen-Meiningen in Friedrichsruh, 1895.
[392c]      Otto von Bismarck
mit Charlotte von Sachsen-Meiningen
in Friedrichsruh, 1895.
noch offene Möglichkeit einer gegen Deutschland gerichteten Koalition. Im Orient kam Bismarck den russischen Wünschen bis dicht an die für Österreich und England erträgliche Grenze entgegen, versagte ihnen aber jede Unterstützung darüber hinaus. Sein ganzes, vielfach verschlungenes Bündnissystem, wie seine Außenpolitik überhaupt, erstrebte ein Verhältnis der Staaten zueinander, bei dem keiner ungestraft in die Lebensnotwendigkeiten eines anderen hinübergreifen konnte. Der Gedanke ist einfach – seine Verwirklichung war unendlich schwer. Nur ein ganz großer Staatsmann, von weltweitem Horizont, von klarem Blick für die Daseinsbedingungen auch des Gegners und dazu von Verständnis auch für fremde nationale Gefühlswerte, im Besitz der größten Macht, aber gefeit gegen ihren Rausch, weil ganz durchdrungen vom Bewußtsein einer Verantwortung ohnegleichen, kurz – nur ein Bismarck vermochte nach diesem großen Gedanken, der Politik und Ethik zur Einheit verschmilzt, die zerklüftete europäische Staatengemeinschaft aufzubauen und zu lenken. Die uralte Frage, ob staatlicher Egoismus und Sittengesetz miteinander vereinbar sind, ist durch Bismarck in praktischer Arbeit bejaht worden, nicht nur seinem eigenen Staate, sondern allen zum Segen.

Es war ein unsagbar trauriges Schicksal, für Deutschland wie für Europa, daß dieser Mann durch einen unreifen Herrscher, dem jedes Verständnis für seine Unersetzlichkeit abging, vor der Zeit vom Amte gedrängt und daß gleichzeitig dem einzigen, der in Bismarcks Gedankenwelt lebte und einen Funken seines Geistes in sich trug, seinem Sohne Herbert, die Nachfolge versagt und auch die bloße Mitarbeit moralisch unmöglich gemacht wurde. Jählings brach die Tradition ab. Stein um Stein aus dem stolzen Bau wurde gelöst oder gelockert, und den Gestürzten traf der bitterste Schmerz, der einen schöpferischen Menschengeist treffen kann: er sah sein Werk zerfallen. "Ich bin traurig wie am Bett geliebter, aber hoffnungsloser Kranker, denen ich nicht helfen kann, auch wenn ich der geschickteste Arzt wäre." Der Jubel unzähliger Huldigungsfahrten des Deutschtums der gesamten Welt nach Friedrichsruh war schwacher Trost für so unheilbaren Schmerz. "Die Trompete ist durchschossen, sie gibt keinen Ton mehr." Der Greis hatte noch einmal, wie einst der reifende Mann, um seinen Glauben zu ringen, und die Bitte im Vaterunser "Dein Wille geschehe!" fiel ihm schwer wie nie. In den "Losungen und Lehrtexten der Brüdergemeine", die Bismarck auch jetzt noch täglich las wie [406] einst im Amte, strich er einmal den Spruch an: "Wie kann ich zusehen dem Übel, das mein Volk treffen würde!" Er hat auch diesen letzten Kampf in seinem Innern siegreich zu Ende gekämpft und hat auch den Glauben an das deutsche Volk nicht verloren. Die Macht des Reiches und die Krone des Kaisers sah er im Geiste zerfallen, nicht aber die deutsche Einheit. Seine Gedanken gehörten Deutschland bis in die Fieberphantasien seiner Todeskrankheit. Und Deutschlands gedachte er in seinem letzten Gebet, das seine Tochter gehört hat: "O Gott, nimm mein schweres Leiden von mir, oder nimm mich auf in dein himmlisches Reich. Behüte meine Geliebten und behüte auch mein Land und laß es nicht verlorengehen!"

Otto von Bismarck.
Otto von Bismarck.
Gipsbüste von Reinhold Begas.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 325.]
Am Abend des 30. Juli 1898 ging er zur ewigen Ruhe ein. –

In Bismarck, dem größten Staatsmann unseres Volkes, ist Urgestein germanischer Art wieder lebendig geworden. Tiefe Natur- und Gottverbundenheit, unbändige Kraft und unfaßbare List, Leidenschaft der Liebe und des Hasses, Herrschergewalt und hingebende Treue im Dienst, ritterliche Großmut und unversöhnliche Feindschaft, Zartsinn und Härte, Menschenverachtung und Herzensgüte – all das sind Züge in Bismarcks Charakter, die bald an diesen, bald an jenen Helden der germanischen Sage und frühen Geschichte erinnern. Es sind zugleich Züge, von denen manche in ihrer vulkanischen Kraft nicht selten über menschliches Maß hinauszugehen scheinen und Naturgewalten gleichen. Es sind Züge, die sich zwar trotz der Spannung stärkster Widersprüche zu einem Charakterbilde von eherner Geschlossenheit verbinden, die aber jeden Gedanken an friedliche Harmonie der Seele, an innere Loslösung von den Kämpfen dieser Erde ausschließen. Es gab kein stilles Ausruhen, kein schmerzloses Verzichten für dieses Titanenleben – Kämpfer zu sein bis zuletzt war Bismarcks Schicksal, Kämpfer mit der Welt und mit sich selbst: das Schicksal des Deutschen.

Bismarcks Friedensschlüsse

Das Deutsche Reich unter der Staatsleitung Bismarcks 1871–1890
(Kap. 2, Bd. 9 von "Der Weltkampf um Ehre und Recht")





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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz