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Mitteldeutschland - Hermann Goern

Thüringen

Vom Kyffhäuser aus ist an klaren Tagen fern am südlichen Horizont als höchster Punkt der Ketten des Thüringer Waldes der blaue Schatten des Inselberges zu erkennen. Dazwischen liegt - deutlich begrenzt vom Tale der unteren Unstrut, der oberen Saale und der Werra -, das Thüringer Land. Beim Klange seines Namens wacht Reisesehnsucht auf nach einem der anmutigsten Gaue unseres Vaterlandes, nach seinem Herzland. Wo die Wälder heimlicher rauschen und die Wiesen lieblicher duften, wo die Bäche munterer von den Bergen springen und die Lerchen jubelnder über den wogenden Feldern hängen. Wo die vielen Burgen über den stillen Tälern stehen und alle überragt werden vom Stolz der Wartburg. Klänge kommen herübergeweht vom Frühling des Minnesanges, von treu bewahrten Volksweisen auf abendlichen Dorfstraßen unter blühenden Linden. Aufjubelt die sorglose Fröhlichkeit ländlicher Feste am blumigen Anger und in den Kirchen brausen die Orgeln zu den weltfrohen Lobgesängen Bachscher Kantaten. Städte unvergeßlicher mittelalterlicher Pracht sammeln sich um ragende Dome, und die Sitze der Fürsten sind geweiht durch den Adel hoher Geisteskultur, - alle überstrahlt vom Musenhof zu Weimar. Und wo sind die Menschen freundlicher, wo fühlt man sich schneller heimisch als hier? Ein klingender Zauber ist um dieses bunte Ländchen der Versöhnung und des Ausgleiches zwischen dem Norden und dem Süden, zwischen Osten und Westen des Reiches, wo noch der Hastigste dem Locken zum Verweilen nachgibt, ehe er den großartigeren und ausgeprägteren Schönheiten der anderen Landschaften zustrebt. Durchgangsland und daher Fremdenland in vielerlei Bedeutung, hat es sich dennoch die friedvolle Geborgenheit des Binnenraumes bewahrt wie kaum ein anderer Gau.

Die Fruchtbarkeit des von der Inlandvereisung nicht berührten Bodens - besonders des mittelthüringischen Keuperbeckens um Erfurt herum -, hat hier [559] schon in früher vorgeschichtlicher Zeit Ackerbau und Viehzucht begünstigt. Ein alter Stabreim preist seinen Segen an Wiesen und Weiden, Wässern und Wäldern, Waid und Wein, Wolle und Weizen. Zur Römerzeit war die Pferdezucht des Landes berühmt. Der Name des Hörselgaues (Horsa-Gau), geprägt von den hier ausässigen Angeln, weist darauf hin und in den noch heute gepflegten ländlichen Reiterfesten hat sich die Erinnerung daran wach gehalten. Uraltes Siedelland ist es, im Schein der Morgenröte der Menschheit, von der die Feuersteingeräte und Schädelfunde von Ilm-Neandertaler-Leuten der Altsteinzeit aus den Steinbrüchen von Taubach-Ehringsdorf bei Weimar berichten.

Die Kämpfe um den natürlichen "Burghof" Thüringen, hinter dessen Bergmauern sich so gut hausen ließ, sind seit grauer Vorzeit nie abgebrochen. Am stärksten und schon in geschichtliche Zeit hineinragend hebt sich das Ringen zwischen den von Südwesten durch das Werrator und über die Pässe des Thüringer Waldes einströmenden Kelten und den von Norden her durch das Mittelelbtor zwischen Harz und Fläming vordrängenden Germanen ab. Noch um 500 v. Chr. stehen die Germanen vor den mit keltischen Gipfelburgen (Monra- und Hasenburg) bewehrten Höhenzügen der Hainleite, Schmücke und Finne, die ihnen den Zugang zum inneren Thüringen versperren und legen auf dem Questenberg eine Wallburg an. 200 Jahre später erst sind die Germanen die Herren des lockenden Landes und die Kelten ziehen sich über den Thüringer Wald nach Franken, - wo die Steinsburg bei Römhild ihre gewaltigste Festung aus der Eisenzeit ist -, und zur Rhön zurück. Das Tor nach Süden ist für die Germanen aufgestoßen. Aber die Germanisierung des Landes ist nicht die Leistung eines einzigen Stammes gewesen. Den Hauptanteil daran haben freilich die suebischen Hermunduren, von denen die Duren, die Thüringer, schließlich den Namen bekamen. Zu ihnen stießen von der Weser her den Harz umgreifend die Cherusker, zu denen als wichtigster rassischer Bestandteil im zweiten nachchristlichen Jahrhundert von Schleswig-Holstein her sich die Angeln und Warnen gesellen. Am deutlichsten läßt sich die Zuwanderung der Angeln verfolgen, deren Weg von Hadersleben durch die Lüneburger Heide und Magdeburger Börde an den vielen Ortsnamen auf ‑leben bis zum Thüringer Wald gekennzeichnet ist. Auf bestem Boden um Erfurt und Gotha herum sind diese Namen am häufigsten zu finden. Das in karolingischer Zeit aufgezeichnete Volksrecht der Thüringer heißt "Das Recht der Angeln und Warnen, d. h. der Thüringer" und bewahrt damit die Erinnerung an die stammliche Mischung. Ihr im 3. Jahrhundert gebildetes blühendes Reich ist 531 dem Ansturm der Franken und Niedersachsen erlegen.

Mit den Franken, deren zahlreiche meist in günstiger Verkehrslage befindlichen Ortsgründungen an der Endung auf ‑hausen zu erkennen sind, kommen auch die Friesen und Flamen ins Land. Haben sich die Franken besonders um die Rodung der Waldgebiete verdient gemacht, so ist den Flamen die Entsumpfung der Flußtäler und die Pflege der Landwirtschaft mit dem hochentwickelten berühmten Thüringer Gemüsebau zu danken. In dies schon ohnehin bunte stammliche Bild bringen die seit der Völkerwanderungszeit andrängenden Slawen den Fremdklang. Konnte auch die Saalelinie im großen [560] und ganzen gegen sie als Grenze gehalten werden, so sind doch auf friedlichem Wege große Scharen von ihnen als Kolonisten und Hörige von den Grundherren ins linkssaalische Land geholt worden. Wenn sie auch zunächst meist von den Deutschen gesondert saßen - ihre Siedlungen sind an den mit den Vorsilben Klein-, Wenigen- und Windisch- zusammengesetzten Namen zu erkennen -, so war für die Dauer eine Blutmischung natürlich kaum zu vermeiden. Übertreibend zwar, aber doch den Kern der Frage treffend, hat man die jeder klaren Bestimmung sich entziehende Vieldeutigkeit im Charakterbild des Thüringers auf das "Blutchaos" bei der Stammesbildung zurückgeführt, wenn dann überhaupt noch von Stamm geredet werden darf. Lebendigkeit und äußeren Einflüssen schnell erliegende Reizbarkeit sind die am stärksten hervortretenden Züge. Nietzsche, an der Grenze der Landschaft geboren und ihr in vieler Beziehung zugehörend, nennt Thüringen und Sachsen "die gefährlichste Gegend in Deutschland, nirgends gibt es mehr geistige Rührigkeit und Menschenkenntnis nebst Freigeisterei", und wenn sein sächsischer Landsmann, der große Historiker Treitschke, von "friedlichen Anarchisten" spricht, so meint er schließlich dasselbe. Ihre Zuvorkommenheit und Liebenswürdigkeit, ihre bis zum Bekenntnis sich steigernde Offenheit und Vertrauensseligkeit sind sprichwörtlich geworden. Sie tragen wirklich ihr Herz auf den Lippen, und nirgends ist deshalb die Geselligkeit so ausgebildet wie hier im "Lande der Vereinsmeierei". Von seiner liebenswürdigsten Seite aber lernt man den Thüringer beim Festefeiern kennen, die so oft sie fallen, mit Hingabe und Aufwand bis zur Neige ausgekostet werden. Sei es nun zur Kirmes, zu den Märkten oder zum "Vogelschießen". Die dabei oft über die Stränge schlagende unbändige Lebenslust und die innige Freude am handfesten Schmausen und Zechen, "Fettlebe", wie man hier dazu sagt, wird gern dem Tropfen slawischen Blutes zugeschrieben, wenn freilich auch der Norddeutsche und Oberdeutsche diesen erquicklichen Dingen kaum weniger zugeneigt ist. Auch die hohe musikalische Begabung des Thüringers, die mit der Freude am Tanz und lyrischer Gestaltungsfähigkeit Hand in Hand geht, wird damit in Zusammenhang gebracht. Kurz gesagt, das Gemüt geht hier vor dem Verstand. Freude und Schmerz wird hier vom Herzen gesungen, wo das Volkslied wirklich noch im Volke lebt, unterstützt von den vielen Gesangvereinen, Kirchenchören und Kurrenden. Was Wunder, daß Bach hier zum Vater aller Kantoren geboren wurde und Luther so gern und schön zur Laute sang. Von hier aus ist auch die Liebe zum Vogellied verständlich. Besonders "auf dem Walde" trifft man überall in den kleinen Stübchen der Heimarbeiter die zärtlich gepflegten gefiederten Sänger, und sommers hängen die Käfige oft reihenweise vor den Fenstern.

Daß aber die oft als kindlich belächelte Daseinsfreude kein tatenloses Genießen ist, sondern, den harten Arbeitstag verschönend, arteigene Lebenskunst darstellt, das erfährt jeder, der einmal auf dem Walde bei den Glasbläsern und Spielzeugmachern oder den Forstarbeitern eingekehrt ist. Die Arbeit ist schwer, der Verdienst schmal, und der hungrigen Mäuler sind viele. Aber wie selten begegnet man da einem verdrossenen und zersorgten Gesicht. Heiter sind sie am Schaffen, [561-568=Fotos] [569] um einen treffenden Witz nie verlegen und von einer Gastlichkeit, die meist im umgekehrten Verhältnis zum spärlichen Einkommen steht. Die Kargheit des Bodens im Gebirge gibt ja meist kaum mehr als Kartoffeln her. Was und wo wäre der Wäldler ohne sie, die oft das teure Brot ersetzen muß und zu jeder Mahlzeit als anderes Gericht erscheint. Berühmt sind die rohen Klöße, die "Hütes". Groß wie Kindsköpfe müssen sie sein, weiß wie Schnee und locker wie Wolle. Wo aber, wie um Gotha, Arnstadt, Erfurt, Apolda und Weimar, die Gegend eine reiche Viehhaltung erlaubt, da beruht auf der Schweinemästerei die Fabrikation der berühmten Thüringer Wurstwaren, die in den duftenden, kastanienbraunen, von Fett triefenden Rostbratwürsten einen nicht nur für den Eingeborenen unübertreffbaren Genuß bilden. Darüber freilich zu reden, ist das Hochdeutsch nicht die geeignete Sprache. Das gehört in die Atmosphäre der nicht leicht zu verstehenden, dafür aber oft von Stadt zu Stadt wechselnden, sprachschöpferisch so sehr erfindungsreichen Dialekte, die sich am besten an Markttagen und auf den Hinterhöfen entthronter Patrizierhäuser belauschen lassen. Otto Kürstens Erfurter "Schnerzchen und Schnozeln" und Anton Sommers Rudolfstädter Gedichte sind dafür sehr aufschlußreich. Doch wer von Würsten spricht, darf die Kuchen nicht verschweigen. Denn Thüringen ist nun einmal das Land der Kuchen. Alle Arten von Obst- und Beerenkuchen, das sind die "nassen" und dann die übrigen vom "Bienenstich" abwärts, das sind die "trockenen", gehören hier sozusagen zum täglichen Brot. An Kirmestagen werden sie bergeweise verspeist. Dickbäuchige, unerschöpfliche braune irdene Kannen spenden den unentbehrlichen Kaffee dazu, dessen Bliemchencharakter freilich oft an die Nähe Sachsens denken läßt. Kuchenfresser hießen die thüringischen Regimenter im Weltkriege. Sie haben aber außerdem ihre Pflicht so gut und gern getan wie die anderen.

Die "geistige Rührigkeit" des Thüringers, die ihn dem freilich noch beweglicheren Obersachsen so naherückt und ihn so leicht und schnell mit der Zeit gehen läßt, seine Fortschrittlichkeit hat allerdings auch ihre Nachteile. Sie hat ihn am zähen Festhalten überlieferten Gutes gehindert. Der Thüringer ist ganz und gar nicht konservativ. Das hebt ihn grundsätzlich von seinem westlichen Stammesnachbarn, dem Hessen, ab. Am aufschlußreichsten für diesen Charakterzug ist das Verhältnis zur Tracht. Aus Büchern und Museen weiß man von vielgestaltigen bunten und reichen thüringischen Trachten. Aber ihre Zeit ist längst vorbei, und verwundert schaut man den Frauen nach, die als einziges Überbleibsel davon - selten genug noch - ihr Kind im weiten bunten Radmantel tragen. Nur dem "Heidlappen", einem haubenartig gebundenen Kopftuch, begegnet man noch häufiger. Da ist es kein Wunder, daß auch das Brauchtum fast ganz erloschen ist. Freilich wird noch zuweilen die erste Garbe "für die Engel" hinter das Scheunentor gelegt, und aus der gleichen Erinnerung an uralten Opferdienst bleibt die letzte Garbe als "Alte" oder "Muhme" auf den Feldern stehen. Wenn sich auch die Eisenacher ihr lärmendes Frühlings-Volksfest des "Todaustreibens" und "Sommergewinns" bewahrt haben, so wird wohl bald zum letzten Male nach dem Tode des Hausherrn den Tieren im Stalle zugerufen werden: [570] "Laß es dir gesagt sein, der Herr ist gestorben." Was sich der Thüringer aber in alle Zukunft erhalten wird als liebenswürdigste Eigenschaft, das ist seine Liebe zu den Blumen, die schließlich Erfurt mit seinen riesigen Gärtnereien zur Blumenstadt des Reiches gemacht hat. In den Haufendörfern auf dem Lande, die sich zwanglos meist um Anger und Teich ordnen, gibt es wohl kein Haus, das nicht nach der Straße hin seinen kleinen umzäunten "Straußgarten" hätte, worin es bunt und wuchernd blüht und wo an der weißgetünchten Sonnenwand der Weinstock sich ums Spalier rankt. Selbst das Mauerwerk über der Torfahrt ist noch mit leuchteudem Steinbrech und Zwerglilien besetzt, und wie herrlich bunt blüht es gar auf dem "Gottesacker" um die Kirche herum. Die Dorfkirchen haben oft wehrhaften Charakter und sind, besonders wenn sie auf einem Hügel stehen, mit Wällen umgeben. Überhaupt fällt in Thüringen die Häufigkeit befestigter Dorfanlagen auf, vor allem in der Erfurter und Weimarer Gegend.

Der Hauptfluß des Thüringer Beckens, der seinen nördlichen Teil in weitgeschwungener Mäanderlinie durchzieht, ist die Unstrut. Außer der Hörsel, die am Gebirge entlang sich der Werra zuwendet und der Ilm, die von der Schranke des Ettersberges zur Saale hingewiesen wird, nimmt die Unstrut alle Wasser auf, die von den Randhöhen durch viele Täler in die flachgehöhlte Mulde hinabfließen. Dieses engmaschige Netz von Wasseradern auf fruchtbarem Keuperboden hat zwischen Erfurt und der Sachsenburg, im tiefsten Teil der Mulde, eine hochentwickelte Landwirtschaft mit Hauptanbau von Roggen, Gerste, Weizen und Gemüse entstehen lassen. Weite Felderfluren und üppige Wiesen, in denen der Lauf der Flüsse schon von weitem durch Erlen- und Weidenreihen erkennbar ist, mit wohlhabenden Dörfern und beschaulichen Landstädten darin, geben ein Bild friedlicher Geborgenheit, das umrahmt wird von den flachen Hügelwellen der oft mit schönem Buchenwald bestandenen unfruchtbaren Muschelkalkplatten, die ihren Bewohnern nur ein karges Leben gewähren. Durch die mit den beiden Sachsenburgen gesicherte enge thüringische Pforte zwischen Hainleite und Schmücke zwängt sich die Unstrut, vorbei an Heldrungen, der einst so mächtigen mansfeldischen Festung, wo Münzer gefangen saß, zur Goldenen Aue durch, um ihren nordgewandten Lauf bei Artern nach Osten, der Saale zu, abzubiegen.

Wer vom Harz heruntersteigt, kann keinen bezeichnenderen Zugang nach Thüringen finden als durch Deutschlands schönsten und größten Rosengarten in Sangerhausen am Ostrande der Goldenen Aue. Aus der Liebe zu den Blumen ist die einzigartige Schöpfung entstanden, und für diesen besonderen Wesenszug des thüringischen Menschen sollte die Rose in seinem Wappen stehen. Die Rose aber ist der Sänger Preis, und auch für ihre hohe Kunst zu singen und zu sagen, was zutiefst bewegt, die seit den Wartburgtagen Thüringen vor anderen Gauen ausgezeichnet hat, ist in der Nähe am Harzrande eine geweihte Stätte. Von dort, wo die Burg seines Namens steht, ist Heinrich von Morungen ausgegangen, der leidenschaftlichste und zugleich zarteste der Minnesänger, der an Schönheit der Sprache selbst seinen Zeitgenossen Walther von der Vogelweide übertrifft. So bringen Blumen und Dichter den Willkomm der Landschaft, die Deutschlands geistige Mitte ist.

[571] Freilich mußte der Boden dafür auch hier mit dem Schwert bereitet werden. Erst in den jüngsten Tagen ist das abseits vom thüringischen Hauptverkehrsweg gelegene Unstruttal, das bisher fast zum "unbekannten Deutschland" gehörte, durch die Gedenkfeiern für Heinrich I. wieder in die Ehrenstellung gerückt worden, die ihm nach seiner großen geschichtlichen Vergangenheit gebührt. Denn nicht immer ist es hier so still und friedlich gewesen wie heute. Zur Zeit der Sachsenkaiser, die um den Harz herum und besonders an der unteren Unstrut großen Familienbesitz hatten, ist das Reich von hier aus regiert worden. Das erste Deutsche Reich, das König Heinrich durch Einigung der Stämme zur Nation gegründet hatte. Aus dieser Einheit kam die Kraft zum Widerstand gegen den Reichsfeind, kam die Stärke, das schmachvolle Ungarnjoch abzuschütteln und die gefürchteten Reiterheere, die raubend und mordend schon bis nach Bremen vorgestoßen waren, aus dem Lande zu jagen. Als Heinrich ihnen statt des schuldigen Tributes einen räudigen Hund schickte, da kam es 933 hier irgendwo in den friedlichen Gefilden zur Schlacht bei Riade, in der die Ungarn so vernichtend geschlagen wurden, daß sie das Wiederkommen für immer vergaßen. Im Schutze des Wendelsteins, der als heute verwitterter Burgklotz auf senkrecht zum Fluß abstürzendem Felsen in die lyrische Strophe des Tales einen fremden und harten Klang bringt, liegt die Kaiserpfalz Memleben. Ein ungefüger Torbau mit einer Mauerstärke von 5 Metern ist das einzige, was von der eigentlichen Pfalz übriggeblieben ist. Hier starb der Vogler nach seinem letzten in Erfurt abgehaltenen Reichstag und wurde in Quedlinburg begraben. Hier starb Otto der Große und wurde nach Magdeburg in seinen Dom überführt. Aber sein Herz blieb hier in der Krypta der zur Ruine gewordenen stattlichen Kirche, die Otto II. zum Andenken seines Vaters in Memleben erbauen ließ und die heute wunderlich vereinsamt in dem dörflichen Winkel steht. Aber unter den kraftvollen Bögen ist es noch feierlich genug, und im kühlen Dämmer der säulengetragenen romanischen Krypta steht ehrfürchtiges Schweigen über dem Herzen des mächtigen Kaisers.

Memleben. Ehemalige Kaiserpfalz.
[511]      Memleben. Ehemalige Kaiserpfalz.

Ist es wohl mehr als ein freundlicher Zufall, wenn in dem von den weiten Schritten großer Geschichte durchmessenen Tal auch einer der größten deutschen Geschichtsschreiber geboren wurde? Drüben an den waldigen Hängen der Schrecke im kleinen Städtchen Wiehe mit der alten Reichsburg darüber steht das Vaterhaus Leopold von Rankes, dessen neunzigjährigem Leben wir unter einer Reihe anderer umfangreicher Werke die zwölf Bände Preußische Geschichte verdanken.

Hinter Memleben rücken die Rotsandsteinhöhen bis zu dem malerischen Bergstädtchen Nebra zusammen und geben nur noch schmalen Wiesenstreifen Raum. Fast über jedem Ort dieses Tales thront eine Burg, und dahinter auf der Hochfläche dehnen sich weite Laubwälder. Der schönste weit herum ist wohl der Ziegelrodaer Forst, durch den ein Abstecher nach Querfurt auf der rübentragenden Hochebene lohnt. Fast unbekannt ist das imponierende mittelalterliche Stadtbild der einst zum Schutze der Goldenen Aue gegen die Sorben angelegten Abwehrstellung, deren Kern und Krone die Burg mit den uralten klotzigen Türmen ist. Von ihr aus nahm Brun, der Freund Ottos III., seinen [572] Weg zu den heidnischen Preußen und besiegelte das Missionswerk mit dem Märtyrertod in Litauen. Der Wiesenmarkt zu seinen Ehren hält die Erinnerung an den kühnen Bekehrer bis heute wach. Noch weiter zurückdenken muß man beim Anblick von Burgscheidungen, wo auf der beherrschenden Höhe mitten im Tal der Unstrut die strahlende Burg der thüringischen Könige gestanden haben soll und wo in blutigem Ringen mit den Sachsen und Franken 531 das einzige Großreich Mitteldeutschlands zerschlagen wurde. Heute grüßt vom Berge herab über breite Parkterrassen ein prächtiges Barockschloß mit festlichen Fronten, das der sardinische Generalfeldzeugmeister von der Schulenburg erbauen ließ. Der jüngsten Gegenwart aber gehören die Steilhänge bei Laucha, deren günstige Startverhältnisse für Segelflugzeuge dort oben ein großes Fliegerlager entstehen ließen. Junges Leben ist auch auf der Neuenburg über Freyburg eingezogen, seit sich die Gauführerinnenschule des BDM. dort eingerichtet hat. Die Burg, deren riesiger romanischer Rundturm das weithin sichtbare Wahrzeichen für das ganze Tal ist, bildete mit der Wartburg den wichtigsten Stützpunkt thüringischer Landgrafenmacht, wo Ludwig der Eiserne auf dem Edelacker seine übermütigen Vasallen vor den Pflug spannte und für seinen kaiserlichen Schwager, den Rotbart, die "lebende Mauer" gewappneter Ritter Mann neben Mann um die Burg stellen ließ. Von der Pracht ihrer einstigen Ausstattung redet die romanische Doppelkapelle, die zu dem Schönsten gehört, was die Kunst der Stauferzeit auf deutschem Boden hinterlassen hat.

Freyburg (Unstrut) mit der Neuenburg.
[512]      Freyburg (Unstrut) mit der Neuenburg.

In Freyburg selbst mahnt die prachtvolle romanische Kirche an die Nähe von Naumburg, so getreu sind ihre Bauformen dem Dome dort drüben abgeschrieben. Auf dem Marktplatz der mit steilen Straßen den Berg hinansteigenden sehr altertümlichen und malerischen Stadt haben sich die Bürger für 20 Taler das Reiterdenkmal ihres Landesvaters aus der Barockzeit aufgestellt, das sich der auf seinen Nachruhm sehr bedachte Herr schon zu Lebzeiten auf der Neuenburg setzen ließ und Serenissimus, über den Neid hinwegreitend, darstellt. Bescheidener war der Turnvater Jahn, der die letzten Jahre des ihm aufgezwungenen Ruhestandes hier verbrachte. Deshalb erfüllte sich auch an ihm sein Wort: "Die Nachwelt setzt jeden in sein Ehrenrecht!" Heute steht es über der Gedächtnishalle für den großen Vorkämpfer nationaler Erneuerung.

Mit Freyburg ist aber auch der Name Kloß und Förster verbunden, deren Sektkellereien zu einem großen Teil an der deutschen Schaumweinerzeugung beteiligt sind. Weinbau in Thüringen. Winzerfest in Freyburg! Es klingt rheinisch, und beim Anblick der Rebengärten, die bis zum Fluß hinab die besonnten Hänge der Kalksteinhöhen am linken Ufer bedecken, glaubt man in einem der berühmten Seitentäler des Rheins oder der Mosel zu sein. Rebstock an Rebstock, Terrasse über Terrasse mit steilen Treppchen dazwischen, Weinberghäuser - oft in den schönen Formen des Barock und Klassizismus -, burgenüberragt und im blitzenden Fluß schlanke Paddelboote mit fröhlichen Menschen darin. Die Rebkultur in Thüringen, mit der Einführung des Christentums in unserem Gebiet zusammengehend, reicht tatsächlich bis ins 10. Jahrhundert zurück, und verwundert liest man, daß es im 16. Jahrhundert hier [573] weit über 400 Weinorte gab. Noch im Zeitalter des Barock gehörte es für die begüterten Familien zum guten Ton, hier in den Weinbergen ein ländliches Refugium zu besitzen. Als aber dann günstigere Verkehrsverhältnisse die Weinzufuhr aus dem Westen steigerten, kam der Niedergang der hiesigen Kulturen, und die Reblaus gab ihnen schließlich den Rest. Erst in den letzten Jahren ist die Freyburger Weinbau-Lehr- und Versuchsanstalt mit großem Erfolg an den Wiederaufbau herangegangen, so daß sich neben den vorzüglichen Speisetrauben und Süßmosten die gutgepflegten Sorten aus den thüringischen "Wärmeinseln" wachsenden Zuspruchs erfreuen.

Weida, Thüringen. Predigerkanzel auf einem Friedhof.
[455]      Weida (Thüringen).
Predigerkanzel auf einem Friedhof.
Die thüringischen Hauptorte Weißenfels, Naumburg, Apolda, Weimar, Erfurt, Gotha und Eisenach sind alle an dem Lebensnerv des Landes, der Berlin–Frankfurter Hauptstrecke aufgereiht und so bekannt in ihrer Eigenart, daß jeder mit ihren Namen sofort eine bestimmte und unverrückbare Vorstellung verbindet. Apolda ist die Stadt der Wirkwaren, vor allem der Strümpfe und gehört wirtschaftsgeographisch in Verbindung mit den ostthüringischen Webstädten Gera, Weida, Zeulenroda, Pößneck, Ronneburg und Greiz als dessen westlichster Vorort noch zum obersächsischen Textilgebiet. Im 16. Jahrhundert wurde die Kunst des Strümpfestrickens - wahrscheinlich aus dem Elsaß - nach Apolda gebracht, wo die Bauern der Umgegend die Wolle der damals reichen Schafbestände selbst verwerten konnten und ihnen die Mode der langen Strümpfe für die männliche Kleidung entgegenkam. Sehr bald schon arbeiteten sie über den eigenen Bedarf hinaus und beschickten die Leipziger Messe. In steter Entwicklung und zum größten Teile auf die Heimarbeit in weitem Umkreise gestützt hat es die Stadt bei 27 000 Einwohnern (1932) auf rund 800 Wirkerei-Kleinbetriebe und 150 Wollwarenfabriken gebracht. Nicht minder bekannt sind die Glockengießereien von Ulrich und Schilling. Allein die Firma Schilling goß seit 1826 mehr als 12 000 Bronzeglocken, die auch in außereuropäischen Ländern einen "guten Klang" haben. In der Ulrichschen Gießerei hat Schiller die Studien für sein Glockenlied gesammelt, und vom Kölner Dom kündet die "Deutsche Glocke am Rhein" mit ihrem dröhnenden Ruf von der meisterlichen Kunst Apoldaer Glockengießer.

Unter den vielen seit 1485 durch Erbteilungen innerhalb des Ernestinischen Wettinerhauses entstandenen Fürstentümern, die die Wirrnis der einstigen politischen Grenzen im Lande Thüringen bestimmten, verdankt die kleine Residenzstadt Weimar ihren unvergänglich hohen Rang in der Weltgeschichte des menschlichen Geistes zunächst der tatkräftigen Umsicht einer Frau, der ebenso klugen wie kunstsinnigen Herzogin-Witwe Anna Amalia. Weil sie es war, die von der Erfurter Universität den Professor der Philosophie Wieland zum Erzieher für den jungen Herzog Carl August herüberholte und damit den Boden bereitete für die Ankunft Goethes. Denn er ist die eigentliche Mitte Thüringens, von dem alle Straßen des Landes reden und zu dessen breitbehäbigem Haus am Frauenplan die Pilgerströme aus der ganzen Welt ziehen. In der Gestalt dieses Einmaligen und Unvergleichbaren suchen und finden sie den Begriff deutscher Universalität am reinsten verkörpert und zum Symbol unvergänglichen [574] deutschen Wesens überhaupt erhoben, dem nur noch - freilich in anderem Sinne - der einsame Kämpfer von Sanssouci zur Seite gestellt werden kann. Doch Potsdam ist Preußen, aber Weimar ist Deutschland. Nicht als Staat, sondern als das Heiligste, das der Staat zu schützen hat: den Genius des Volkes, verkörpert im überragenden Einzelnen und seinem Werk für die Allgemeinheit. Dieses Werk aber des unermüdlich Schaffenden und Strebenden ist so riesengroß, unabsehbar und allgemeingültig, daß es der ganzen Welt gehört - und deshalb ist Weimar das Herz Deutschlands. Nirgends sonst hört man seinen Schlag so ruhig und rein wie hier.

So konnte es auch kein tieferes Mißverstehen geistiger Ordnungen geben, als 1919 die Nationalversammlung hier einzuberufen. Damals standen im Wittumspalais der Herzogin Anna Amalia, in den heiteren Räumen ihrer geistvollen Tischgesellschaften die Maschinengewehre der Reichswehr, um im Nationaltheater gegenüber die Abgeordneten zu schützen. Wie ein

Weimar. Goethes Wohnhaus am Frauenplan.
[530]      Weimar. Goethes Wohnhaus am Frauenplan.

Weimar. Im Garten von Goethes Wohnhaus am Frauenplan.
[530]      Weimar. Im Garten von Goethes Wohnhaus am Frauenplan.
Spuk ist das alles fortgeweht, Weimar ist es erspart geblieben Reichshauptstadt zu werden, und der Geist der Großen lenkt die Schritte der Besucher wieder durch die friedliche Stille der vielen geweihten Bezirke. Wenn man aus dem Ansturm der Gefühle beim Durchwandern der mit gediegener Wohlhabenheit ausgestatteten Räume des Goethe-Hauses angesichts der verwirrenden Fülle der Sammlungen die Erkenntnis mitnimmt, daß ein einziger Mensch dies alles unablässig forschend durchdrang, daneben noch Staatsmann und Dichter war, das gesamte Bildungsgut seiner Zeit beherrschte und einen weiten Umkreis ergiebiger Freundschaften pflegte, dann ist das Begreifen der Möglichkeit, das einzelne Leben zum Ganzen ausrunden, es wirklich gestalten zu können, das Tröstlichste, was der Herr des Hauses als Gastgeschenk mitzugeben vermag. So geräuschvoll es auch bei den Führungen zugeht, sehr still wird es im bescheidenen Arbeitszimmer, der innersten Zelle des weiträumigen Hauses, wo vom Tasso bis zur letzten Zeile seiner Hand das riesige Werk aufgebaut wurde. Alles steht hier unberührt am gleichen Ort, so wie er es verließ, um nebenan in der engen Kammer auf immer sich von aller Tätigkeit zu lösen. Auf dem Tisch steht bedeutungsvoll noch der Teller mit Erde, den er kurz vor seinem Tode untersuchte.

Mit der gleichen Ehrfurcht betritt man das Haus seines größten und ebenbürtigsten Freundes, den der Tod zu früh aus einem Leben stolzen Kampfes und glühender Begeisterung riß. In Schillers Sterbezimmer scheinen noch die Schemen der geplanten Werke wie unerlöste Seelen gestaltlos den schmalen Schreibtisch zu umdrängen, von dem er mitten im Ringen um seinen "Demetrius" in die Unsterblichkeit abgerufen wurde.

Weimar. Musikzimmer der Maria Pawlowna im Schloß.
[533]      Weimar. Musikzimmer der Maria Pawlowna im Schloß.

Weimar. Haus der Frau von Stein.
[531]      Weimar. Haus der Frau von Stein.

Weimar. Goethes Gartenhaus im Park.
[529]      Weimar. Goethes Gartenhaus im Park.
Dort an der Schloßkirche war Bach neun Jahre lang Organist, in der Stadtkirche mit dem riesigen steilen Dach hat Herder als Generalsuperintendent gepredigt, und an der Jakobskirche ruht beim Grabmal Lukas Cranachs Christiane Goethe, geborene Vulpius, neben Musäus, dem wir Die Volksmärchen der Deutschen verdanken. Goethe wurde, wie schließlich auch Schiller, durch Beisetzung in der Fürstengruft geehrt, und die darauf bezügliche Bemerkung der Fürstin "Die Ehre ist für uns viel größer als für ihn" soll hier nicht verschwiegen werden.

[575] Im weiten sorgsam gepflegten Park über die eilige Ilm hinweg führen viele besinnliche Umwege vom Haus der Frau von Stein mit den kugeligen Orangenbäumen davor zu Goethes Gartenhaus an der großen lichten Wiese, wo er die ersten sechs glücklichen Weimarer Jahre verbrachte. Und nun die Sommerschlösser draußen vor der Stadt. Alle sehr einfach, ohne den Prunk, den reichere Fürsten wohl daran verschwendet hätten, aber alle noch im warmen Glanz des großen Leuchtens, das immer über den Lebensbezirken bedeutender Menschen liegt. Ilmabwärts Tiefurt, das zarte Märchen aus Wiesen und rauschendem Wasser am Bergeshang, wo sich um Anna Amalia der vertrauteste Freundeskreis zwanglos zusammenfand und Goethes "Fischerin" draußen unter den Uferbäumen die erste und schönste Aufführung erlebte. Ettersburg, das wohnliche Jagdschloß des Herzogs über dem Berge nach Norden, inmitten der golddurchzitterten Dämmerung herrlicher Buchengründe, war der andere Schauplatz der fürstlichen Liebhaberaufführungen. Wo Goethe selbst den Orest seiner Iphigenie spielte, war die ganze Hofgesellschaft höchst aktiv mitbeteiligt, am lebhaftesten aber die Herzogin. Wenn das geniale Treiben des Musenhofes von den Zeitgenossen nicht immer wohlmeinend beurteilt wurde, so schreibt die Fürstin in ihrer scharmanten Art: "Sie wissen, (an Merk) daß die Schloß-Ettersburger Nation nicht in dem besten Gerücht ist; und um sich kein dementi zu geben, so fahren wir in unserm Lebensplan fort. Alles, was hier auf den Berg kommt, muß sich einer Probe unterwerfen.... ich selbst habe mich produziert; doch sind wir ziemlich mit Ehren davon gekommen.... und wir spielten zum großen Gaudium aller Anwesenden." Der schönste Park aber breitet sich um das fröhliche Rokokoschlößchen des Belvedere mit den pagodenähnlichen Kavaliershäusern und dem festlichen brunnendurchplätscherten Gartenhof der Orangerie, wo man hinter den Hecken des Naturtheaters noch das Kichern der gepuderten Schönen zu hören vermeint, die vor einem kecken Kavalier trippelnd über den knirschenden Kies flüchten.

Weimar. Das Lustschloß Belvedere.
[534]      Weimar. Das Lustschloß Belvedere.

Weimar. Hof des Kirms-Krackow-Hauses.
[532]      Weimar. Hof des Kirms-Krackow-Hauses.
Jenseits der mit viel Bedacht und glücklicher Hand der Landschaft eingefügten Parke um die nie genug gerühmte lebhaft freundliche Stadt (die durchaus nicht auf den Lorbeerkränzen ihrer Großen eingeschlafen ist und nicht nur mit Klassikerandenken handelt) bleibt das ganze Weimarer Ländchen nach Süden hin selbst ein einziger großer Park, ein lachender Gottesgarten mit der stillen Musik seiner Hügel, um die das Wogen der Felder streicht, mit den schmucken Dörfern, wohlig geborgen unter geschieferten Zwiebeltürmen, mit den singenden Bächen zwischen veilchenduftenden Ufern und den Verschwiegenheiten primelüberschütteter Triften in stundenweit gedehnten Buchenforsten. "Meine Ufer sind arm, doch höret die leisere Welle, führt der Strom sie vorbei, manches unsterbliche Lied", so singt der Fluß dieser Landschaft, die Ilm. Von Belvedere aus muß man ihrem Lauf nachgehen, in Buchfart über die uralte überdachte Holzbrücke schreiten und dann als Ziel des mühelosen Wanderns - alles ist ja hier ein Spazierengehen zu immer neuen Schönheiten - das anmutige Bad Berka haben oder Kranichfeld mit seinen beiden stolzen Schlössern. Den weitesten und schönsten Blick über das ganze Gebiet hat man von seinem höchsten Punkt [576] (510 Meter), dem Riechheimer Berge aus. Vor ihm breitet sich der blaue Zug des Thüringer Waldes in ganzer Länge aus mit seinen kulissenartig zusammengeschobenen Ketten und den breitruhenden Kuppen der Gipfel darüber.

Nach Norden hinter den weiten Wäldern tief im Tale liegt Erfurt, der geographische und wirtschaftliche Mittelpunkt Thüringens, seine einzige Großstadt und eigentliche Hauptstadt, wenn auch freilich auf einem inselartig eingesprengten preußischen Gebietsteil. Unter dem Schicksal der politischen Zerrissenheit des seiner natürlichen Beschaffenheit nach so rund geschlossenen thüringischen Raumes hat Erfurt am schwersten dadurch zu leiden gehabt, daß es - ein König ohne Land - das Kraftzentrum eines Gebietes war, das ihm nicht gehörte. Das silberne Rad im roten Felde seines Wappens kennzeichnet seine kirchliche Zugehörigkeit zum Erzbistum Mainz, das mit den thüringischen Landgrafen als Schutzherren oft genug um die politischen Hoheitsrechte über den wichtigen Platz im Streite lag. Daß es trotz dieser schwierigen Zwischenstellung die mächtigste Stadt im weiten Umkreise wurde, verdankt es seiner günstigen Lage an der "Hohen Straße", dem Haupthandelsweg Deutschlands im Mittelalter von Osten nach Westen. Der Handel hatte die älteste Stadt nördlich des Mains so wohlhabend gemacht, daß sie 1392 aus eigenen Mitteln eine Universität gründen konnte, die als erste in Europa alle vier Fakultäten in sich vereinigte. Während des Humanismus war sie die führende Hochschule Deutschlands "gegen die alle andern für kleine Schützenschulen angesehen wurden", wie Luther es bezeugt. Mit Melanchthon und Hutten in ihren Mauern wurde sie zur Hochburg des unwiderstehlich durchbrechenden Geistes der Neuzeit. Und schließlich ist hier die Reformation geboren worden, wo Luther während der langen Jahre seines Mönchtums im Augustinerkloster die Grundlagen zur Erneuerung des Glaubenslebens fand.

Von einer der Höhen aus sollte man die in fruchtbarer Mulde sicher geborgene Stadt zum ersten Male erblicken, um zu erfahren, daß sie die schönste in Thüringen, neben Köln aber die türmereichste Stadt Deutschlands überhaupt ist. Die "Schmalzgrube", wie sie Luther auf gut deutsch nannte, von der sich nach dem Chronisten "ganz Thüringen nährte und wärmte", war zugleich eine der volkreichsten Städte, und der Reichtum ihrer Patrizier, der manchem Fürsten aus der Verlegenheit half, war sprichwörtlich. Seine ergiebigste Quelle, die "fürnembste Nahrung" nicht nur der Stadt, sondern ganz Thüringens war der Waid, jene Farbpflanze, die bis zur Einführung des Indigo den begehrten Blaustoff lieferte. Erfurt war der Hauptstapelplatz dafür, und noch zu Anfang des 17. Jahrhunderts betrug der Umsatz drei Tonnen Goldes, eine Million Mark. Von der Prachtliebe der Waidjunker reden die Renaissancepaläste in der Altstadt deutlich genug. Freilich hatte die Herrlichkeit ein jähes Ende, als in Holland 1631 die ersten sieben Schiffe mit ostindischem Indigo landeten. Da mußten dann die Waidmühlen stillestehen, und nur die zahnradähnlichen Mühlsteine in manchen Dörfern erinnern mit den Namen von Plätzen und Straßen noch an das blühende Gewerbe. Aber schon gegen Ende des Mittelalters war die Blütezeit Erfurts vorüber. Das "tolle Jahr" 1509, als die unzufriedenen Massen in hellem Auf- [577] stande das übermütige Patriziat stürzten, hätte die Stadt noch überwinden können, wenn nicht die Leipziger Messen gewesen wären, die, vom Kaiser privilegiert, den Handel mehr und mehr vom thüringischen Zentrum ablenkten. Nach dem Dreißigjährigen Kriege war es schließlich zu einer kleinen Landstadt herabgesunken, wo auch die Universität, die längst ihren Ruhm an Wittenberg abgetreten hatte, nur noch ein Schattendasein führte.

Die Kräfte zu neuem Wohlstande hat die Stadt aus der Erde selbst genommen, aus dem fetten Boden des Geratales, wo schon die ersten Benediktinermönche vom Peterskloster auf dem Berge die Grundlagen für Erfurts Land- und Gartenbau geschaffen hatten. Wenn die Stadt auch bereits im Mittelalter "des heiligen römischen Reiches Gärtner" genannt wurde, so setzt die berühmte Gemüsekultur doch erst im 18. Jahrhundert unter dem Ratsmeister Reichart ein, der durch geschickte Bewässerung das riesige Dreienbrunnenfeld in einen einzigen Mustergarten verwandelte. Der aus Cypern eingeführte Blumenkohl und die - dank der warmen Quellen auch im Winter geerntete - Brunnenkresse werden über ganz Deutschland verschickt. Zum Weltruhm aber haben Erfurts Namen seine Blumenzüchtereien verholfen, deren Blumenfelder sich draußen vor der Stadt in allen erdenklichen Farbenabstufungen, soweit der Blick reicht, ausbreiten wie ein vom Himmel gefallener Regenbogen. So sehr daneben für die besonders in letzter Zeit mächtig aufstrebende Stadt ihre Maschinenindustrie und die vielen Schuhfabriken maßgeblich sind, der Fremde wird in ihr vor allem die Kunststadt suchen und betroffen sein von dem alle Erwartungen weit übersteigenden Reichtum an mittelalterlicher Kunst. Nur Köln und Nürnberg lassen sich damit vergleichen.

Erfurt. Der Dom.
[535]      Erfurt. Der Dom.
Die riesige Baugruppe vom Dom und der Severikirche aber, die sich über der verschwenderisch breiten Flucht von 70 Stufen wie ein Gebirge aufbaut, gibt es nur einmal. Den drei nadelschlanken, patinagrünen Spitzen der fünfschiffigen Hallenkirche von St. Severi antworten die drei mächtigeren steinernen des Domes mit der ungeheuren Gloriosa-Glocke, deren orgelgleiches Dröhnen an den höchsten Feiertagen weit übers Land hallt. Für den Bau des Domchores mußte durch kühn angelegte Bogenstellungen künstliches Fundament geschaffen werden. Sein turmhoher Innenraum birgt die bedeutendste Leistung thüringischer Kunst neben den Naumburger Stifterfiguren: den Zyklus der riesigen Glasbilder, die wie aus funkelnden Edelsteinen gewirkte Teppiche zwischen die schlanken Pfeiler gespannt sind. Unmöglich aber ist es, die Gestaltenfülle der bildhauerischen Werke in Stein, Holz und Bronze auch nur einer der vielen Kirchen hier flüchtig zu beschreiben. Selbst die berühmtesten bloß zu nennen, bereitet schon Verlegenheit. Sei es nun die bronzene lebensgroße Leuchterfigur des "Wolfram" aus romanischer Zeit, der Inbegriff grausigen Schmerzes in der Pieta der Ursulinerinnen oder der prunkvolle Hochaltar mit den Grünewald sehr nahestehenden Gemälden in der Reglerkirche. Wo die ganze Stadt ein einziges riesiges Kunstwerk ist, braucht der Kunstfreund lange Tage intensivsten Schauens, um sich nur einen ungefähren Überblick der Einzelheiten zu verschaffen. Im Mittelalter nannte man Erfurt das Rom Thüringens, und wenn man in der [578] Altstadt sieht, wie jede Straße auf eine Kirche zuführt und jeder Blick von steilen Türmen in die Höhe gerissen wird, so spürt man, daß dieser Vergleich vielleicht doch nicht zu hoch gegriffen ist. Außer am Domhügel drängen sich die Kunstwerke am dichtesten in den beiden straßenlangen Predigtkirchen der Franziskaner und Dominikaner zusammen, die - ohne Türme - wie riesige mastenlose Schiffsleiber inmitten des Gewirrs der Gassen festgemacht haben. Diese beiden basilikalen Räume in ihrer nüchtern-strengen Einfachheit mit den feierlichen Fluchten von Pfeilern und Bögen sind neben dem Wunder der strahlendlichten Halle von St. Severi mit ihrem Pfeilerwald die edelsten Werke gotischer Baukunst in Erfurt.

Der Reiz des mittelalterlichen Stadtbildes im innersten Bezirk um das Collegium maius der alten Universität herum wird durch das Netz verschiedener Flußarme erhöht, in die sich hier die Gera aufteilt. Breit fließt sie dahin am Junkersand, stürzt sich über Wehre, um strudelnd unter den mächtigen Bögen der Krämerbrücke zu verschwinden, deren Wölbung einen ganzen Straßenzug eng ineinander geschachtelter Häuser über das Wasser führt. Treppchen steigen hinunter zum "Venedig", wie man den von vielen Kanälen durchzogenen Stadtteil bezeichnenderweise genannt hat, wo an den Waschbrettern hinter den Häusern die Boote liegen und Angler auf Forellen warten. Oder Brückchen und Stege geleiten zu Inseln, wo ragende Pappeln einen lichtgrünen Raum um sich bauen. Eben noch in friedvollen Winkeln, wo sich das häusliche Leben auf grasübergrünten holprigen Vorplätzen abspielt, findet man sich wie im Märchen plötzlich auf dem Anger, der Hauptstraße mit hastendem Großstadtverkehr, wo einst die Waidjunker die kostbare Fracht Hunderter von Wagen verhandelten. Wie ein Palast fürstlicher Herren steht dort die überreich geschmückte Barockfront des alten Packhofes mit den erlesenen Kunstsammlungen der Stadt. Gewiß ist Erfurt Großstadt mit all den Vorzügen, die man dabei erwarten kann, aber das Liebenswerte, ihr eigentlicher Vorzug ist, daß die große und kunstreiche Vergangenheit sich so freundlich mit der Gegenwart versöhnt hat. Immer auf der Brücke zwischen gestern und heute findet man gut den Maßstab für beides, worauf das Gefühl ruhiger Sicherheit sich gründet. Seinen beredtesten Ausdruck wird es im bewahrten Brauchtum finden. Gemeint ist hier weniger der siebentägige Jahrmarktstrubel des Vogelschießens draußen vor der Stadt, als vielmehr das Martinsfest der Lutherstadt, wo der Kirchenheilige mit dem Reformator zugleich und von beiden Konfessionen einträchtiglich miteinander gefeiert wird. Alt und Jung wandert dann abends mit Stocklaternen zum Dom, wo das riesige Geviert des Marktes davor und die Freitreppe hinauf bis zum letzten Fleckchen mit einer vieltausendköpfigen frohen Menschenmenge sich füllt, die geduldig in der Novemberkälte wartet, bis droben auf der Galerie die Choräle aufklingen und dann alle Stimmen sich einen zum brausenden Lied der Reformation, das über die bunten Monde der Lampions hinaufsteigt zum besternten Himmel.

Mühlhausens Brunnenfeste dagegen sind so alt, daß ihr Ursprung völlig im Dunkel liegt. Die Stadt, deren Name ja schon ihre Abhängigkeit vom Wasser verrät, sah besonders in ihm das nährende Element, und so ist es natür- [579] lich, daß die Quellen durch kultische Verehrung ausgezeichnet wurden. Sommerfeste sind es, an denen die ganze Einwohnerschaft zur Popperoder und Breitsülzenquelle hinauszieht, wo die Jugend unter feierlichen Liedern ihr Blumenopfer bringt und die bunten Sträuße in die kristallklare Tiefe der blaugrün leuchtenden Gewässer versenkt. Die größte Quelle aber Europas ist der Rhumesprung bei Duderstadt, dessen Wasserreichtum (45 Hektoliter in der Sekunde) stark genug ist, um unmittelbar nach Verlassen des Quellteiches die Treibkraft für eine große Fabrikanlage abzugeben. Auf andere quellende Schätze, die gerade heute besondere Beachtung verdienen, ist man durch große Gasausbrüche in den Kalischächten von Volkenroda bei Mühlhausen aufmerksam gemacht worden. Bei Bohrungen wurden dort in großer Tiefe Erdölvorkommen angeschnitten, die gegenwärtig eine Ausbeute von täglich 30 Tonnen gewährleisten. Sollten die auch an anderen Stellen veranstalteten Bohrungen erfolgreich sein, so könnte die Treibstoffversorgung Deutschlands zum großen Teile von Thüringen bestritten werden. Mühlhausen selbst, im oberen Unstruttale an den sanften Waldhängen des Hainich, hat durch seine abseitige Lage von den heutigen Hauptverkehrswegen viel von der Bedeutung der einstigen freien Reichsstadt eingebüßt. Als man im Mittelalter einen doppelten Mauergürtel um die Stadt legte, von dem außer dem trutzigen Frauentor noch bedeutende Teile erhalten sind und die beiden mächtigen Kirchen von St. Marien und St. Blasius aufführte, da gingen die Tuche und Laken der Hansestadt weit hinaus und waren besonders beliebt auf den russischen Märkten. Wenn auch von der früher blühenden Schafzucht nur wenig übriggeblieben ist, so hat sich doch die Wollweberei erhalten, die zusammen mit einer bedeutenden Fahrradindustrie und Tabakverarbeitung das Wirtschaftsleben der Stadt bestimmt.

Von den thüringischen Residenzen zeichnet sich keine durch besondere Pracht aus. Dazu waren die Ländchen der kleinen Fürsten zu arm. Was sie sich aber alle durch gewandelte Zeitläufte bewahrt haben, das ist ihre vornehm-stille Beschaulichkeit. Wie könnte auch auf gewundenen Parkwegen um empfindsame Tempelchen und verträumte Teiche mit der silbernen Spur von Schwänen die Hast aufkommen! Gediegene Kultur ist der Vorzug der im bestimmten Sinne zeitlosen Städtchen, an denen der ungestüme Fortschritt meist vorübergeeilt ist. Es bleibt dann auch gleichgültig, von welcher Art Handel und Gewerbe sich die Bewohner nähren. Nur die Atmosphäre, in der sich ihr Leben vollzieht, ist wichtig als das einzige, was sich dem Besucher mitteilt. Sondershausen mit 10 000 Einwohnern, im engen Tal der Wipper zwischen den Höhenzügen der vom Kyffhäuser herüberstreichenden Windleite und der Hainleite, mit dem mächtigen Renaissanceschloß auf breitgeschwungener Terrasse verdankt den guten Klang seines Namens weniger der Kaliindustrie der Gegend, als vielmehr seiner Musikpflege, die im Konservatorium und den berühmten Lohkonzerten ihren Ausdruck findet. Mit einem Hoftheater, vielen Anekdoten von schrulligen und freigebigen Landesherren und einem Jagdschloß auf dem Possen inmitten der tiefen Wälder der steilen Hainleite ist es eine eng umfriedete Welt für sich.

Meiningen. Das Hoftheater.
[536]      Meiningen. Das Hoftheater.
[580] Was Weimar für das deutsche Theater in der Klassikerzeit gewesen ist, das bedeutet Meiningen am Ende des 19. Jahrhunderts für den Naturalismus in der Schauspielkunst, als der Herzog Georg II. seine Stücke bis zum letzten Gamaschenknopf historisch getreu inszenierte und eine auch noch die kleinste Geste beseelende Gesamtleistung aller Kräfte auf die Bühne stellte, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte. Ihr beispielloser Erfolg in Deutschland begleitete die "Meininger" auch bei ihren Gastspielreisen durch alle Hauptstädte Europas bis nach Rußland hinein, und für den Ruf seines Orchesters - unter Hans von Bülow, Richard Strauß und Max Reger - gibt es keinen besseren Beweis, als daß Wagner es sich zur Erstaufführung seines Nibelungenringes nach Bayreuth erbat. Auch die schönen Parkanlagen um das Hoftheater und das Schloß (mit der reichen Gemäldesammlung), die der Stadt an der Werra zwischen Thüringer Wald und Rhön so viel Anmut verleihen, verdanken ihre Gestalt dem gütigen alten Herrn, der als ein rechter Landesvater die Fürstengruft verschmähte, um auch im Tode noch unter seinen Bürgern zu sein, denen seine Kunstpflege als ein großartiger und geglückter Versuch der Erziehung zur Kunst schließlich doch allein galt.

Auch Gotha, auf halbem Wege zwischen Erfurt und Eisenach, hat sich durchaus den Charakter der ehemaligen Residenzstadt bewahrt. Sehr zu Unrecht eilt der Fremdenstrom meist an ihr vorüber der Wartburg oder Weimar zu. Denn das von ausgedehnten Parkanlagen umgebene riesige Geviert des Schlosses, das in der Stadtmitte von beherrschender Höhe aus die Regelmäßigkeit des Straßennetzes bestimmt, gehört mit dem Wahrzeichen der beiden klotzigen würfelförmigen Türme auch in Thüringen zu den einmaligen Eindrücken imponierender Größe. An Stelle der Landgrafenburg Grimmenstein erbaute Herzog Ernst der Fromme gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges hier seinen Friedenstein und legte damit in Deutschlands traurigster Zeit den Grund zu neuem Aufstieg. Unter dem Einfluß des großen thüringischen Pädagogen Ratichius entstand damals ein Schulwesen, das nach zeitgenössischem Urteil die Bauern so klug machte wie anderswo die Edelleute. Der heiteren Seite des Lebens huldigte man unten im Schloß Friedrichstal, das die geistvolle Herzogin Luise Dorothea im 18. Jahrhundert zu einer Pflegstätte französischer Bildung machte. Dort und im nahen Sommerschloß Friedrichswerth spielte sich unter der Devise "Vive la joie" der Mummenschanz des Eremitenlebens der Hofgesellschaft ab. Auch nach Molsdorf, dem Landsitz des verschwenderischen Grafen Gotter im Geratal bei Erfurt, zogen die Brüder und Schwestern des fröhlichen Ordens mit Pilgerstab und Schäferhut hinüber. Der herrliche Park, als kühle Oase eigensinnig inmitten sonniger Felder angelegt, ist längst verwildert, und die ausgelassene Pracht des Rokokoschlößchens verstaubt hinter geschlossenen Fensterläden.

Was aber den Wandel der Zeiten überdauert hat und heute allein schon den Besuch Gothas lohnt, das ist sein Museum, in dessen weiträumigen Sälen die Kunstschätze der Ernestiner untergebracht sind und wo alle heimischen und fremden Werke von einem mittelalterlichen Tafelbild übertroffen werden - vom Liebespaar des deutschen Hausbuchmeisters. Sonst ist Gotha vor allem die Stadt der Atlanten und Landkarten, wo Perthes seit 1785 Deutschlands größte und älteste [581] geographische Anstalt unterhält, und gleich am Bahnhof erinnern die Paläste der Feuer- und Lebensversicherungsbank an Arnoldi, der hier vor über 100 Jahren den Grundstein zum deutschen Versicherungswesen legte. Den Weg nach Arnstadt sollte man zu Fuß über die steil aufgerichtete Sandsteinklippe des Seeberges und über die in deutschen Landen unvergleichliche Burgengruppe der Drei Gleichen nehmen. Wo Gustav Freytag die trotzige Mühlburg zum "Nest der Zaunkönige" machte, wo auf Schloß Gleichen die schöne Sage vom Grafen mit den beiden Frauen lebendig ist und wo die tausendjährige Wachsenburg mit ihren reichen historischen Sammlungen auf steilem Kegel einen bezaubernden Rundblick über die bunte Hügelanmut des innersten Thüringen bietet. Arnstadt im Geratal am Eingang zum Thüringer Wald faßt, auf engem Raum gedrängt, noch einmal die städtebaulichen Schönheiten des Landes zusammen. Die Türme und Tore des einstigen Mauergürtels erinnern an Mühlhausen, in dem edlen Bauwerk der Liebfrauenkirche aus dem 13. Jahrhundert spürt man die Welt des Naumburger Domes, der Marktplatz mit dem offenen Laubengang und dem schönen Renaissance-Rathaus könnte in Gotha oder Jena sein, und die Fröhlichkeit der Rokokoräume im Schloß läßt an Molsdorf und Friedrichswerth oder irgendeine andere der graziösen Residenzen zurückdenken. Der junge Bach fand hier seine erste Anstellung und wurde drüben im nahen Dornheim mit seiner Base Maria Barbara getraut. Die Marlitt schrieb hier ihre gefühlvollen Romane, von denen das Geheimnis der alten Mamsell das schöne Patrizierhaus zum Güldenen Greifen umwebt. Hügelauf und ab laufen die Straßen, kriechen unter den Spitzbögen wappengeschmückter, schroffer Tortürme hindurch, münden auf Plätze mit plätschernden Brunnen, verweilen neugierig am Marktbetrieb mit seinen bunten Blumen- und Gemüseständen und führen schließlich zum Schloßgarten mit seiner herrlichen Allee uralter Linden, wo der riesige Rundturm der Neidecksburg die Wache über das liebenswürdige Städtchen hält. Wenn sich mit dem Reichtum gotischer Kunstwerke in der Liebfrauenkirche Arnstadt auch nur gleichwertig den anderen thüringischen Städten einreiht, so hat es doch in der in den Sälen des Schlosses aufgestellten Puppenstadt Mon plaisir ein einmaliges Schaustück, das an Fülle und künstlerischer Qualität der Figuren von keiner ähnlichen Schöpfung wieder erreicht wird. In dieser graziösen Spielerei der Fürstin Augusta Dorothea, einer Kulturgeschichte des Rokoko in lebenden Bildern, findet die echt thüringische Freude am Bunten und Kleinen und die erstaunliche Geschicklichkeit der erfinderischen Hand, gepaart mit der scharfen Beobachtungsgabe des lebenslustigen Stammes, ihren liebenswürdigsten Ausdruck. Was hier eine anmutige Fürstenlaune hervorgebracht hat, das wurde droben in der Spielwarenprovinz des Gebirges zur Lebensgrundlage für Städte und Dörfer.

Die Fülle der über das Herzland des Reiches ausgestreuten landschaftlichen Schönheiten findet im Thüringer Wald ihre Krönung. Gleich dem Harz, der gegen den Andrang der Ebenen nach Norden vorgeschobenen Bastion, ist auch "der Wald" - wie das Gebirge hier überall genannt wird - eine echte Horstbildung mit Steilabfällen nach beiden Seiten der von SO nach NW [582] ausgerichteten etwa 120 Kilometer langen Kette, die sich in der Breite nur bis 30 Kilometer ausdehnt. Mit einer mittleren Höhe von über 700 Metern überragt er das fränkische und thüringische Hochebenen-Vorland etwa um 500 Meter und bildet damit eine mauerartig trennende Schranke, auf deren Kammlinie der uralte Grenzweg des Rennstieges die Stammesgrenze zwischen Franken und Thüringen, zwischen Mittel- und Süddeutschland bezeichnet. Nach SO zu geht das Gebirge weit ausladend mit breitgelagerten Tonschieferrücken unmerklich in den Frankenwald über. Sonst aber laufen die Nebenketten dicht am Hauptzuge hin und geben dem Gebirge jenes kraftvoll zusammengefaßte klare Profil, das bei jedem Rundblick von den bis 1000 Meter ansteigenden Hauptgipfeln (Beerberg, Inselsberg, Schneekopf und Finsterberg) immer wieder überrascht. Nur ihre aus hartem Rotliegenden, Granit und Porphyr gemauerten Massive bringen in die sonst berückend liebliche Anmut der in langen geologischen Zeiträumen durch Abtragungen sanft gerundeten Vielformigkeit des Berglandes einen Zug ernster Größe.

Die für den Ackerbau ungünstigen kühlen Sommer und langen Winter haben das Gebirge lange unbesiedelt gelassen. Erst im 14. Jahrhundert hat der Mensch, durch das Vorkommen von Eisen, Kupfer und Silber angelockt, seine Scheu vor der urwaldähnlichen Bergwildnis überwunden und den Wald aber zugleich so durch Raubbau verwüstet, daß schon die mittelalterlichen Herren des Gebietes um seinen Weiterbestand ernstlich besorgt waren. Rücksichtslos wurden die Wälder abgeholzt und vermeilert, um dadurch die für den Hüttenbetrieb notwendigen Kohlen zu gewinnen. Wird doch aus dem 16. Jahrhundert berichtet, daß eine Hütte bei Tabarz mit 14 Bergwerken jahrelang stilliegen mußte, weil die völlig abgekohlte Umgegend kein Holz mehr liefern konnte! Wütende, vielbejammerte Waldbrände kamen dazu, und nur der im 18. Jahrhundert aufkommenden planmäßigen Forstwirtschaft ist es zu danken, daß der Wald sich wieder erholt hat. Sein Wildbestand war so ungeheuer, daß die waidfrohen Herren ihn nur mit Mühe ausrotten konnten und sich kein Käufer mehr für das Überangebot an Wildpret fand. Bezeichnend für die späte Besiedlung ist das Vorkommen von Wolfsrudeln und Bären als Standwild noch durch das ganze 18. Jahrhundert. Wie ein Märchen klingt das alles aus der Ferne herüber, wo heute aus den üppigen Wiesentälern zwischen tiefen Waldungen die Siedlungen fast überall bis zum Kamm hinaufsteigen (Oberhof 825 Meter, Schmücke 911 Meter), wo der einst blühende Bergbau längst einer vielseitigen, meist auf Heimarbeit gegründeten Industrie gewichen ist und die den Kamm bei Oberhof im Brandleite-Tunnel überschreitende Hauptstrecke sommers und winters einen nie abreißenden Fremdenstrom nach den berühmten Kur- und Sportplätzen des Gebirges bringt.

Der alte Rennstieg ist noch immer der unübertroffene Wanderweg durchs Gebirge. Sein 171 Kilometer langes Bergauf und Bergab von Blankenstein a. d. Sa. im Frankenwald bis nach Hörschel an der Werra hinüber führt bald als kaum erkennbarer Pfad durch dichtes Heidelbeergestrüpp menschenleerer Einsamkeiten, bald über die gepflegten Autostraßen der Fremdenbezirke, über versteckte Unterkunftshütten und vorbei an den breiten Fronten der großen Hotels. [583] Von dieser Längsverbindung zweigen die vielen Quertäler ab, worin die klaren Wasser der Schwarza, Ilm, Gera usw. ins Thüringer Land hinuntereilen, oder als Steinach, Itz, Werra, Schleuse, Hasel ins Land der Franken führen. Wer vom Frankenwald über den Wetzstein herüberkommt, gerät in Neuhaus, Ernstthal und Lauscha bis nach Steinach hinab ins Reich der Glasmacher, in die Werkstatt des Christkindes. Seit im 16. Jahrhundert böhmische Exulanten die Kunst des Glasmachens dort eingeführt haben, ist sie von Generation zu Generation weitervererbt worden und hat sich zu einem blühenden Zweig erfindungsreicher Volkskunst entwickelt. Was alles von den bunten und glitzernden Herrlichkeiten der Kugeln, Sterne, Vögel und Schmetterlinge an unseren Weihnachtsbäumen Jung und Alt dann lichterselig macht, das kommt aus den tiefverschneiten Dörfern am Rennstieg, wo in den Schieferhäusern fast überall "der Gas rauscht" und die ganze Familie am Blastisch beschäftigt ist. Wirkliche Künstler z. B. sind die "Hirschlebläser", unter deren geschickten Händen über der Gasflamme aus einer einfachen Glasröhre die wundervollen Gruppen kämpfender Hirsche hervorgehen. An Fertigkeit übertroffen werden sie nur noch von den Herstellern künstlicher Augen. Eine wahre Wunderkammer ist das Museum für Glaskunst in Lauscha mit seiner bunten Musterschau heimischer Erzeugnisse. Aber auch die kompliziertesten Glasapparate entstehen hier, wo neben Glühlampen Glaswolle, Glastapeten und die neuartigen Isolationsstoffe aus Glas hergestellt werden. Da ist es nicht weiter verwunderlich, daß in Neuhaus der Erfinder der Geißlerschen Röhren geboren wurde. Durch den Verlust des Auslandsmarktes ist die Not auch hier groß geworden und so sind denn weit im Reich herum hausierende Glasbläser anzutreffen, die sich mühen, wenigstens den Inlandsabsatz für ihre bunten und so billigen Herrlichkeiten zu erhöhen. Daß aber dem Wäldler bei seinem harten Kampf ums Dasein die Freude an Sang und Klang nicht verloren gegangen ist, davon zeugen die Lauschaer Musikfeste, die sich einen weithin bekannten Namen erworben haben.

Das Paradies der Kinder ist die Spielwarenprovinz am Fuße des Gebirges um Sonneberg herum, wo sich aus der Herstellung vielartiger Holzgeräte zunächst nach Vorbildern Nürnberger Tands das liebenswürdige Gewerbe so entfaltete, daß es Nürnberg bald überflügelte und schon 1729 an 12 000 Zentner Ware verfrachten konnte. Die humorvollen Sonneberger Erzeugnisse des Schnitzmessers und der Drehbank haben sich die Welt erobert und die kürzlich veranstaltete Märchenschau und die Schätze des deutschen Spielzeugmuseums zeigen den Erfindungsgeist der Gebirgler auf bisher nicht erreichter Höhe. Beruht die Herstellung in diesem Revier zumeist auf Heimarbeit, so geschieht die Anfertigung der Puppen in Waltershausen rein fabrikmäßig. Ilmenau liefert hauptsächlich Wollspielwaren, Ohrdruf Schaukelpferde und Kinderfahrzeuge, während Manebach und Crawinkel sich das Monopol für Masken und die unzähligen Karnevalsartikel gesichert haben. Am Nordhang des Gebirges im tiefen Lichtetal dagegen ist eine künstlerisch hochwertige Porzellanindustrie zu Hause, deren Tradition - wie die lange Reihe der vielen anderen Thüringer Manufakturen, in denen fast die Hälfte des gesamten deutschen [584] Porzellans hergestellt wird, - bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückreicht. Damals erfanden der junge Theologe Macheleid in Sitzendorf und der Glasmeister Greiner im Limbach unabhängig voneinander das Porzellan und hüteten ihre Rezepte genau so sorgsam wie in Meißen.

Schwarzburg, Thüringen.
[537]      Schwarzburg (Thüringen).

Unter den zahllosen von kristallklaren und forellenreichen Wassern durcheilten Tälern des Gebirges ist das Schwarzatal unbestritten das schönste. Besonders der Abschnitt zwischen Schwarzburg und Blankenburg, wo die breitgelagerten Waldberge bis dicht an den über blankgewaschene Felstrümmer schäumenden Fluß herantreten. Unvergleichlich ist der Blick vom Trippstein herab auf Schwarzburg mit der stolzen Krone seines Schlosses, in dessen Hof an Sommernächten die Serenaden aufklingen. Umhegt von Wäldern und Gärten ist Blankenburg unter der mächtigen Ruine des Greifensteines vor allem die Stadt der Villen und beschaulicher Erholung. Hier eröffnete der im nahen Oberweißbach geborene Pädagoge Friedrich Fröbel 1837 den ersten Kindergarten und leitete damit unter seinem Wahlspruche "Laßt uns unsern Kindern leben" ein neues Zeitalter der Erziehung überhaupt ein.

Unweit davon birgt der stille Waldgrund des Rottenbachtales ein erlesenes Werk romanischer Baukunst aus dem 12. Jahrhundert - die Klosterruine Paulinzella. Kommt man durch Wiesen heran, sieht man den grauen Turm über Wipfeln ragen und steht verwundert vor der Wucht eines gewaltigen Portales, das Zutritt gewährt zu einem Bezirk, der längst seiner kultischen Bestimmung entzogen ist, aber unvergängliche Weihe durch die edle Harmonie seiner Maßverhältnisse und durch die strenge Formenschönheit seiner Bauglieder erhält.

Ilmenau ist zunächst als Mittelpunkt der Thermometerindustrie, durch seine Porzellanfabriken und sein Technikum bekannt. Was aber dem "anmutigen Tal" die besondere Weihe gibt, sind seine Goethe-Erinnerungen. Der einst hier blühende Bergbau auf silberhaltigen Kupferschiefer war durch Wassereinbruch zum Erliegen gekommen. Goethe mit seinem nüchternen Sinn fürs Praktische sah da eine willkommene Möglichkeit durch Wiederbelebung der Anlagen dem Ländchen seines fürstlichen Freundes eine Einnahmequelle zu erschließen und eröffnete 1784 die Arbeiten, denen allerdings durch mancherlei Ungunst der erhoffte Erfolg versagt blieb. Aber immer wieder ist er gern hier eingekehrt, um schließlich im "Löwen" auch seinen letzten Geburtstag in aller Stille mit seinen Enkeln zu feiern. Da ist der alte Mann auch noch einmal zum Kickelhahn hinaufgestiegen und hat am Borkenhäuschen das Bleistiftgekritzel "rekognosziert", mit dem er 50 Jahre früher den Frieden eines Septemberabends in unvergängliche Worte faßte:

    "Über allen Gipfeln
    Ist Ruh,
    In allen Wipfeln
    Spürest du
    Kaum einen Hauch;
    Die Vögelein schweigen im Walde.
    Warte nur, balde
    Ruhest du auch."

[585-592=Fotos] [593] Nun, unter scheidendem Blick, mit dem er die geliebte Landschaft umfing, war die Mahnung bedeutsamer. Da mag sein Auge unten im Tal Manebach gesucht haben, wo aus "Kantors Gärtchen" so mancher Zettel zur geliebten Frau nach Weimar hinüberflatterte, die nun auch schon tot war. Und drüben ragte der Schwalbenstein, wo er an einem glücklichen Märzentage 1799 den vierten Akt seiner Iphigenie schrieb. Die alten Linden stehen noch, die er unten im Städtchen in der Hauptstraße anpflanzen ließ, und ihr Duft weht zum Friedhof, wo Corona Schröter begraben liegt.

Im Ilmtal steigt die alte Erfurter Straße über Stützerbach zum Rennstieg hinauf. Wo heute der kleine Bahnhof steht, überquerten einst während der Glaubenskriege und unter dem Alten Fritz die Heere das Gebirge. Hier ist auch das Gipfelgebiet, wo der Finsterberg, Beerberg und Schneekopf dicht nebeneinander liegen und an die 1000 Meter-Grenze reichen. Endlose Fichtenwälder, Bergwiesen übersät von den goldenen Sternen der Arnika, Hänge der Kahlschläge in Erdbeeren- und Himbeerduft, überloht von den Purpurflammen mannshoher Fingerhutstauden und weite Rundblicke von stillen Höhen aus. Von der Plattform des Schneekopfturmes, dem höchsten Punkt des Thüringer Landes, reicht der Blick bis zum Brocken hinüber. In der kühlgrünen Dämmerung des Schneetiegels nach Gehlberg hinab, wo die großen Wedel üppiger Farne den übermütigen Lauf der vielen Bäche bezeichnen, die aus den felsigen Flanken sprudeln, wird das Suchen im Porphyrgeröll oft mit dem Funde einer Schneekopfskugel belohnt, die sich beim Aufschlagen als ein Schatzkästlein von Amethysten und Bergkristallen erweist. In der Mitte dieses Hochrevieres zieht die schönste Bleibe des Gebirges, die Schmücke, von weither Wanderer und Fahrer zusammen und Oberhof nahebei ist im Winter noch stärker besucht als im Sommer. Zug auf Zug führt dann von allen Seiten die Sportbegeisterten herauf in die glitzernde Märchenpracht, die hier oben noch lange anhält, wenn unten schon der Frühling sich vorbereitet.

Talwärts am Südhange berührt die Stuttgarter Hauptstrecke mit Zella-Mehlis und Suhl die alte Waffenschmiede des Reiches. Abgesehen von der Herstellung von Schreibmaschinen, Fahrrädern und Autos, sowie einer bedeutenden Kleineisen- und Porzellanindustrie ist der ganze Bezirk seiner weit zurückgreifenden Tradition treugeblieben und auch heute noch der Mittelpunkt der deutschen Feuerwaffenindustrie. Begünstigt durch das Vorkommen eines besonders guten Eisens hatten im Mittelalter die Waffenschmiede hier ihre weithin berühmten Werkstätten aufgeschlagen, die vor allem die süddeutsche Ritterschaft versorgten und Suhl zum "deutschen Damaskus" machten. Mit dem Aufkommen der Feuerwaffen im 16. Jahrhundert stellten sie sich auf diese neue Nachfrage um und erzielten durch eine schon damals weitgehende Arbeitsteilung eine Qualitätsware, die sie - besonders nach der Nürnberger Erfindung des Radschlosses - zum Waffenlieferanten aller kriegführenden Staaten Europas werden ließ. Mit den Heeresaufträgen für Mausergewehre setzte später eine neue Blütezeit für die Fabrikation ein, die über den Inlandbedarf hinaus auch das Ausland in hohem Maße mit Jagd- und Luxuswaffen beliefert. Wenn [594] auch freilich die Industrie das Gesicht der zwischen Bergen bevorzugt gelegenen Stadt bestimmt, so hat sie doch neben einer Reihe alter Bürgerbauten zwei stattliche Barockkirchen und ein mittelalterliches Schloß aufzuweisen und vom Reichtum der damaligen Waffenherren bekommt man durch den ins Erfurter Museum überführten Saal des Palais Spangenberg (des Suhler Krupp) mit seiner fürstlichen Rokoko-Ausstattung eine gute Vorstellung.

Auf uralten Bergbau geht auch die bedeutende Kleineisen- und Stahlwarenindustrie Schmalkaldens zurück, das vom Inselsberg beherrscht, am Rande des Gebirges im Grabfeldgau sich ausbreitet. Aber hier hat die Industrie den durchaus mittelalterlichen Charakter des Stadtbildes nicht beeinträchtigt. So umschließt der fast ganz erhaltene doppelte Mauerzug die Stadt, in deren Herrschaft die hessischen Landgrafen mit den Hennebergern sich teilten. Für die protestantische Welt hat sie durch die in ihr abgehaltenen Konvente des Schmalkaldischen Bundes einen Namen von hohem Klang. Damals traten unter Führung des Landgrafen von Hessen und der Reformatoren die Großen des Reiches und ausländische Fürsten hier zusammen, um den evangelischen Glauben gegen Kaiser Karl V. zu verteidigen. So hütet die schöne doppeltürmige spätgotische Hallenkirche von St. Georg, das stattliche Renaissanceschloß der Wilhelmsburg mit den reichen Sammlungen alter Volkskultur und die vielen alten Bürgerbauten einen Schatz großer Erinnerungen an die Zeit des Glaubenskampfes. Im Bannkreis der Wartburg aber steht mit seinen Wandbildern der Iweinsage aus dem 13. Jahrhundert der Hessenhof, wo Landgraf Ludwig von der heiligen Elisabeth Abschied nahm, als er zum Kreuzzug aufbrach, um nicht wiederzukehren.

Als ältestes Bad Thüringens kann sich Liebenstein rühmen, das sich inmitten einer wundervollen Parklandschaft im Angesicht der Rhön ausbreitet. Schon im 16. Jahrhundert war die Heilkraft seiner kohlensäurehaltigen Eisenquellen bekannt, und die Meininger Herzöge haben im 19. Jahrhundert in großzügiger Weise dem klimatisch hervorragend gelegenen Ort seinen vornehmen Charakter gegeben, der es zum beliebtesten thüringischen Heilbad überhaupt werden ließ. Dicht dabei hat die Romantikerzeit um das Sommerschloß Altenstein die abwechslungsreiche Waldlandschaft mit ihren Felsen und Klippen darin zu einem herrlich weiten Park mit immer neuen Überraschungen für das Auge umgeschaffen.

Breit und mächtig aufgebaut, alle Berge in weitem Umkreis überschauend, lockt das Massiv des Inselberges zu jeder Jahreszeit den Wanderer herbei. Kein anderer Punkt des mit berückenden Landschaftsbildern so reich gesegneten Gebirges bietet eine gleiche umfassende Aussicht über das in Fruchtbarkeit prangende Thüringer Becken. Wer nach Franken oder Hessen weiter will, der sollte immer hier oben von der Fülle des in Thüringen Geschauten Abschied nehmen, denn nirgends wird es ihm schwerer werden als hier, wo er mit einem Blick alles umfängt. In seinem Schutze an der Nordseite sind Friedrichroda und Tabarz die besuchtesten Kurorte, deren Glanzpunkt Schloß Reinhardsbrunn bildet. An seiner Stelle stand einst das von Ludwig dem Springer im elften Jahrhundert gegründete mächtige Benediktinerkloster, in dessen Frieden [595] die thüringer Landgrafen ihre letzte Ruhe fanden. Als 1827 das Schloß erbaut wurde, schuf man hier um die alten waldumgebenen Klosterteiche herum unter kluger Ausnutzung des prächtigen Baumbestandes die lächelnde Anmut eines berühmten Parkes. Die Grabsteine in der Schloßkirche mit den Bildern der Wartburgherren sind das einzige, was die Wut der Bauern 1525 übrig ließ, als sie das Kloster in Schutt und Asche legten genau so wie drüben in Georgenthal das Zisterzienserkloster, dessen Prachtbau sich aus den letzten kostbaren Trümmern noch erahnen läßt und an Thüringens glänzendste Zeit erinnert.

Für die Lebenstüchtigkeit des Thüringers, die sich besonders in seiner schnellen Anpassungsfähigkeit gewandelten Verhältnissen gegenüber äußert, ist das lehrreichste Beispiel die Entwicklung des Städtchens Ruhla, das sich um ein ursprüngliches Straßendorf von stundenlanger Ausdehnung in einem engen Tal unterm Schutze der Wartburg ausbreitet. Zur Landgrafenzeit saßen hier in "der Ruhl" berühmte Waffenschmiede, von denen einer der Sage nach seinen zu gutmütigen und darum von der Ritterschaft verhöhnten Landesherren so hart schmiedete, daß man den also Gewandelten dann den "Eisernen" nannte. Seit dem 15. Jahrhundert wurden hier an Stelle der Waffen die Messer für ganz Deutschland geschmiedet. Als aber die Messerschmiede 1747 nach Eberswalde zu Friedrich dem Großen auswanderten - der, um seine eigene Industrie aufzubauen, die Einfuhr Ruhlaer Erzeugnisse verbot -, machte man sich an die Herstellung von Pfeifendeckeln, ‑ringen und ‑kettchen. Hieraus hat sich dann eine Tabakpfeifen- und Zigarrenspitzen-Industrie entwickelt, mit deren Erzeugnissen die ganze Welt beliefert wird und für die der Meerschaum aus Kleinasien, die Zedern vom Libanon, die Birken aus Schweden, das Brujèreholz aus den Pyrenäen, das Weichselholz aus dem Wienerwald und der Bernstein von der Ostsee kommt. Nicht minder bekannt ist daneben seine Uhrenindustrie, die seiner Zeit in Massenfabrikation die erste billige Taschenuhr herausbrachte. Auf dem Zifferblatt zeigte sie den im Takte des Werkes hämmernden Ruhlaer Schmied und war für drei Mark in aller Herren Länder der konkurrenzlose Schlager.

Von der lebhaften Textil- und Fahrzeug-Industrie, die auch Eisenach außer dem ungeheuren Fremdenstrom beherbergt, ist nicht viel zu sehen. Die ist weiter draußen untergebracht und stört nicht das anmutige Bild der gemütlichen Stadt, die sich mit Villen und Gärten, Kuranlagen und Hotels in die Täler des Wartburgberges schmiegt. Wenn auch gleich am Bahnhof das romanische Nikolaitor und die Kirche daneben sich zu einer kraftvollen Baugruppe vereinigen, so ist außer ein paar Wehrtürmen im Stadtbild weniger vom Mittelalter zu spüren, als man nach diesem Auftakt erwarten sollte. Und doch lebt es noch überall in der Stadt, ungreifbar als Abglanz und Ahnung der ragenden Veste darüber. Es gehört nun einmal dazu genau so wie der würzige Duft der über Holzkohlenglut auf dem Rost gebratenen Würste.

Diese Stadt an der Hörsel, die an günstiger Marktlage im Schutze der Burg im zwölften Jahrhundert entstand, ist geweiht durch die Erinnerung an zwei große Männer, in denen thüringische Stammesart sich zur Weltgeltung aufgerichtet [596] hat: Luther und Bach. Der Reformator hat hier im Hause der Frau von Cotta als Lateinschüler wohlbehütete Jugendjahre verbracht und als er im schwarzen Mäntelchen der Kurrendesänger durch die Gassen zog, ahnte er noch nicht, daß er es einst mit einer Mönchskutte vertauschen würde oder gar mit einem ritterlichen Wams, das dann droben auf der Burg für den geheimnisvollen Junker Jörg bereit lag. Am Frauenplan steht ein schlichtes Bürgerhaus, in dem am 21. März 1685 Johann Sebastian Bach als achtes Kind seiner Eltern geboren wurde. Wenn Beethoven von ihm sagte, daß er nicht Bach, sondern Meer hätte heißen müssen, so ist diese bewundernde Äußerung nicht bloß ein liebenswürdiges Wortspiel. Das Geschlecht der Bache war zahlreich im Thüringischen und seit dem 16. Jahrhundert ist die besondere Musikalität seiner Sprossen nachweisbar. Aus Dorfmusikanten wurden sie Stadtpfeifer, und da es meist Bache waren, die hier im Gau dieses Amt versahen, wurde - wie z. B. in Erfurt - ihr Familienname zur Berufsbezeichnung. Zweihundert Jahre lang gaben Väter den Söhnen das immer mehr angereicherte Erbe der Begabung weiter, bis es schließlich gesammelt an ihn kam, der durch das Zusammenfließen der vielen Bäche nun wirklich zum Meere werden sollte. Keiner wieder hat von der Orgelbank aus im Brausen des königlichsten aller Instrumente das Evangelium so machtvoll und weltfreudig verkündet wie er, den Söderblom darum den fünften Evangelisten nannte und unübertrefflich in seiner allgemeinen Gültigkeit steht ein Ausspruch Goethes aus seinen letzten Lebensjahren: "Mir ist es bei Bach, als ob die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sichs etwa in Gottes Busen kurz vor der Schöpfung mag zugetragen haben." Sein Lebenswerk, für das Arnstadt, Mühlhausen, Weimar, Köthen und Leipzig die Stationen sind, ist selbst für die Barockzeit gewaltig. Sind doch außer den großen Chor- und Orchestermusiken, außer den vielen Klavierwerken allein 300 Kantaten auf uns gekommen, in denen thüringische Sangesfreudigkeit "zu Gottes Ehre und zur Rekreation des Gemüts" sich ihr unvergänglichstes Denkmal gesetzt hat.

Als Stätte festlichen Singens und Klingens, wundersam bekränzt von Sage und Geschichte, ragt die schimmernde Veste der Wartburg weitschauend über die rauschenden Wälder, über die prangenden Fluren der Ebene. Wer an Fritz Reuters heller Villa, vorüber durch die moosgrünen tropfenden Felsenwände der düsteren Drachenschlucht, zwischen den silbergrauen Säulen der lichten Buchenhallen hinangestiegen ist und nun von den Zinnen des Bergfrieds das beglückte Auge auf dem Wipfelmeer der Waldgründe sich ausruhen läßt, der hat das Schönste vorweggenommen, was die Burg an bleibenden Eindrücken zu verschenken hat. Es ist das Erlebnis der ewigen Landschaft, an dem Goethe hier oben von Krankheit genas, als er an Frau Charlotte nach Weimar schrieb: "Wenn ich Ihnen nur diesen Blick, der mich nur kostet, aufzustehen vom Stuhl, hinübersegnen könnte. In dem grausen linden Dämmer des Mondes die tiefen Gründe, Wieschen, Büsche, Wälder und Waldblößen, die Felsenabhänge davor, und hinten die Wände, und wie der Schatten des Schloßberges und Schlosses unten alles finster hält und drüben an lichten Wänden sich noch anfaßt, wie die nackten Felsensspitzen im Monde röten und die lieblichen Auen und Täler [597] ferner hinunter und das weite Thüringen hinterwärts im Dämmer sich dem Himmel mischt..... denn die Natur ist zuweit herrlich hier auf jeden Blick hinaus!"

Die Wartburg von Osten.
[538]      Die Wartburg von Osten.

Die Gründer der Burg freilich, wie jener Ludwig der Springer im zwölften Jahrhundert, sahen nur die hervorragend strategische Lage des Berges, der seinen Besitzer zum natürlichen Herrn von Thüringen und Hessen zugleich vorbestimmte. Als der Thüringer Landgraf 1180 nun wirklich auch Hessen noch in seine Hand bekommt, hebt die eigentliche Glanzzeit der Wartburg an, die den älteren Stützpunkten thüringischer Macht, der Neuenburg a. U. und der Eckartsburg den Vorrang abnimmt. Der Adel des Reiches, von Art und Haltung der Naumburger Stifterfiguren, hat damals die Hallen hier oben mit leidenschaftlichem und herrischem Leben erfüllt. Ob sich das prunkende Schauspiel des Sängerkrieges nun wirklich vollzogen hat oder nicht, ist gleichgültig gegenüber der höheren Wirklichkeit von Sage und Märchen, die als Wunschbild einen der tiefsten Wesenszüge thüringischen Stammestumes verklären, - seine Musikalität. Die alten langvergessenen Liederhandschriften mit ihren bunten Miniaturen, die Dichtungen Walthers und Wolframs und der vielen anderen Sänger und das namenlose Märchengut des Volkes dazu, aus dem die Zeit der Romantik die Kraft zur völkischen Wiedergeburt holte und mit der Fremdherrschaft den Fremdgeist vertrieb, - sie sind nun alle durch die Wandbilder Schwinds, durch Wagners Tannhäuser und Scheffels Dichtung hier oben beheimatet worden. Weil die deutsche Seele hier am wundersamsten sich selbst nachlauschen kann, ist die Wartburg über alle anderen Burgen des Reiches erhoben worden und selbst wer sie noch nie betrat, weiß von ihr seit frühesten Kindheitstagen, als er in dem Raunen der Sagen das Ahnen weiter und großer Herkunft zu spüren begann.

Deshalb war es auch eine wahrhaft nationale Tat, als der Großherzog Carl Alexander die dem sicheren Verfall preisgegebene Stammburg seines Geschlechts in der Mitte des 19. Jahrhunderts neu erstehen ließ. Die Vorburg mit ihren - wie oft gemalten - bunten Fachwerkgiebeln und Galerien steht im Zeichen des Reformators, der auf dem Rückwege vom Wormser Reichstag im Auftrage Friedrichs des Weisen nach der damals fast vergessenen Waldburg entführt wurde, um dadurch den Nachstellungen seiner Feinde entzogen zu sein. Zehn Monate hat er hier als Junker Jörg gehaust, der die Burg nicht eher verlassen durfte, bis ihm die Tonsur wieder zugewachsen war. Landsknechtsmäßig umwirren Bart und Haupthaar das knochige Gesicht, aus dem seltsam forschend und bekümmert, die klugen schräggestellten Augen schauen. So hat ihn der Freund Lukas Cranach auf einem seiner schönsten Holzschnitte festgehalten. Die unfreiwillige Muße auf "Patmos", in der "Region der Vögel", - wie seine Briefe das Exil geheimnisvoll nennen, nutzte er zur Übersetzung des Neuen Testamentes aus, und als der Teufel ihn dabei stören kam, warf er gewaltig nach ihm mit dem Tintenfaß.

Weltlicher ging es drüben im Palas zu, wo die vielgerühmte "milte" des Landgrafen Hermann die Fahrenden aus aller Herren Länder herbeilockte. Wer in den Ohren siech sei, der meide Thüringens Hof, so ging ein zeitgenössischer [598] Spruch, und Herr Walther berichtet, daß dort oben eines Ritters Becher nie leer stünde, auch wenn das Fuder Weines tausend Pfund koste. Die Dichter aber sahen im Landgrafen vor allem den verständnisvollen Förderer ihrer Kunst. Was der Weimarische Musenhof für die Goethezeit bedeutete, das war die Wartburg unter Hermann für die Landgrafenzeit, als Walther von der Vogelweide sang: "Der andern Lob verwelket wie der Klee, Thüringens Blume leuchtet durch den Schnee."

Aber dann blühte unterm Schutze ihres Gemahls Ludwig, den man den Heiligen nannte, eine zartere Blume hier oben. Das war die ungarische Königstochter Elisabeth, in deren Händen sich die Brotspende für die Armen im tiefsten Winter zu duftenden Rosen verwandelte. Zugleich verehrt und verspottet wegen ihrer streng geübten franziskanischen Tugenden mied sie die Lautheit der Feste und lebte im Dienst für die Armen und Kranken ein stilles opfervolles Leben. Als ihr Gemahl auf dem Kreuzzuge starb, wurde die nun Schutzlose mit ihren jungen Kindern in Eis und Schnee grausam von der Burg verstoßen, so wie es Schwind auf seinem Wandbilde gemalt hat. Bald ist sie dann gestorben und die im Leben all ihren fürstlichen Schmuck verschenkt hatte, empfing dafür schon kurz nach ihrem Tode die Krone der Heiligen, und über dem goldenen Schrein mit ihren wunderwirkenden Gebeinen erhob sich der stolze Bau von St. Elisabeth zu Marburg.

Glanzzeiten sind kurze Zeiten. Mit dem Ende des 13. Jahrhunderts erlosch auch der Stern der Wartburg. Nur einmal noch nach langen Jahrhunderten ging von der verödeten Veste ein großes Strahlen der Verheißung übers ganze deutsche Land. Das waren 1817 die Fackeln und Flammenstöße der Burschenschafter aus allen Gauen des Reiches, die ihre Waffenbrüderschaft von 1813 zur Feier der 300jährigen Wiederkehr der Reformation erneuerten. Von der Universität Jena ging dieser herrliche Frühling begeisterter Jugend aus, deren Hoffnung auf ein einiges Vaterland durch die bald darauf einsetzende Reaktion so schmählich getäuscht werden sollte. Aber unvergessen und wohl von keiner Zeit besser verstanden als der unsrigen, bleiben die flammenden Reden, die mit der Lohe des Feuers zu den Sternen stiegen und die Fürsten mahnten, das versprochene "einige Vaterland der Gerechtigkeit" zu schaffen. Denn "nur ein Fürst hat fürstlich sein Wort gelöst, allen anderen ein Vorbild, allen Deutschen ein wahrhaft deutscher Mann", unter dessen Schutz sie zusammengekommen waren, "um auf dem freiesten deutschen Boden ein freies deutsches Wort zu wechseln." Dieser Fürst aber, den die Trinksprüche beim Festmahl im Minnesängersaal feierten, war Carl August von Weimar, der seinem Land als erster deutscher Fürst 1816 eine Verfassung gab. So ist die Burg seiner Väter, die Krone überm Lande Thüringen, zum Symbol für die Ströme geistzeugenden Lebens geworden, die von der Herzkammer aus je und je das Reich durchpulsten, und für alle Zukunft die Stätte weihevoller Begehung.

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Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat, das Kapitel "Thüringen".

Das Buch der deutschen Heimat
Hermann Goern, Georg Hoeltje, Eberhard Lutze und Max Wocke