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[Bd. 2 S. 524]
Friedrich Ludwig Jahn, 1778 - 1852, von Konrad Dürre

Friedrich Ludwig Jahn.
[528a]      Friedrich Ludwig Jahn.
Gemälde von Friedrich Ludwig Heine, 1825.
Freyburg a. d. Unstrut, Jahn-Museum.
Wir erleben in unserer Zeit das Wunder einer Wiedergeburt der Deutschen aus dem Geiste ihres Volkstums! Der Glaube an ein Deutsches Reich Deutscher Nation erfüllt die Herzen.

Die Zeit ist gekommen, den Mann in sein geschichtliches Ehrenrecht einzusetzen, der das Wort sprach: "Staat und Volk in eins geben erst ein Reich, und dessen Erhaltungsgewalt bleibt das Volkstum!" – den Mann, der Deutschlands Einheit den "Traum seines erwachenden Lebens, das Morgenrot seiner Jugend, den Sonnenschein seiner Manneskraft" nannte und den "Abendstern, der ihm zur ewigen Ruhe winkte".

Die Zeit ist gekommen, Friedrich Ludwig Jahn in seiner wahren Größe zu zeigen und das Unrecht wiedergutzumachen, das Karl Immermann und nach ihm Heinrich von Treitschke an ihm begangen haben, die Jahn einen Eulenspiegel zu nennen wagten und ihn als groben, ungeschlachten, ewig polternden Naturburschen abtaten. Bedauerlicherweise hat sich Treitschke Immermanns böses Urteil über Jahn zu eigen gemacht, obwohl er wissen mußte, daß Immermann Jahn nur deshalb mit seinem Haß verfolgte, weil dieser es ablehnte, in einem Streite der Hallenser Burschenschaft Teutonia mit einem hausierenden jüdischen Studenten den Schiedsrichter zu spielen. Schlimmer als Treitschkes Fehlurteil, das bei der kanonischen Geltung seiner Deutschen Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts von allen Gebildeten nachgesprochen wurde, war die Verspießerung des "Turnvaters Jahn" durch das deutsche Bürgertum. Eine Sünde wider den deutschen Geist war es, sich so oberflächlich und so unleidenschaftlich mit einem der leidenschaftlichsten Deutschen und seiner Wesenserscheinung auseinanderzusetzen. Friedrich Ludwig Jahn ist mehr gewesen als der Gründer eines öffentlichen Turnplatzes auf der Hasenheide. Die Wiedererweckung der deutschen Turnkunst war nur einer seiner Pläne zur Kräftigung des Volkstums. Als Herold der deutschen Einheit, als Künder des deutschen Volkstums, als Meister und Mehrer der deutschen Sprache, als politischer Turner verdient der Mitbesieger Napoleons, der eigentliche Gründer der Lützower Freischaren und der deutschen Burschenschaft, einen Ehrenplatz in dem Lebensbuch großer deutscher Männer.

Friedrich Ludwig Jahn muß vom deutschen Volke neu erlebt werden! Jahn ist nicht mit dem wallenden Bart der in Turnhallen aufgestellten Gipsbüsten auf die Welt gekommen. Wenn wir den "Alten im Bart" betrachten, so sollten wir [525] stets vor dem alten den jungen Jahn sehen, mit dem Feuer seiner blauen Augen, mit seinem blonden Haar, mit der edlen Stirn, der scharfkantigen, kühnen Nase, mit dem eigenwilligen, trotzigen Mund – in allem, auch in seinem hohen, kraftvollen Wuchs das Urbild nordischer Jugend.

Einem vornehmen Engländer, der Jahns Körperbau bewunderte, das Ebenmaß seiner Glieder und die Spannkraft seiner Sehnen, sagte er: "Ich bin in Rüstkammern gewesen, wo ich manchen Harnisch gemustert, ehe ich einen fand, der mir paßte, aber der Rock Gustav Wasas auf der Bücherei zu Lübeck, in dem er vor dem Rat der Hansastadt stand, der sitzt mir wie angegossen."

Das klingt eitel, in Wirklichkeit ist es der Ausdruck echten Rassegefühls, das bei Jahn immer stärker aus dem Unterbewußtsein emporwuchs. Auf Grund seiner Rasse war Jahn der nordische "Leistungsmensch" zeit seines Lebens, war er der faustische, unruhige ewige Wanderer, der im Sturmschritt oft an siebzig Kilometer den Tag über hinter sich ließ, der nachts an die Hütten der Menschen pochte, um sie aus ihrem weltbürgerlichen Schlaf zu wecken, der alle Gaue des großen Vaterlandes durchquerte und darum wie keiner in allen Bezirken des deutschen Volkstums, namentlich aber im Bereiche der deutschen Sprache wahrhaft "bewandert" war. Er war der geborene Führer, ein Vordenker und Vortäter, ein Planer und Ausführer, ein Ideenträger und Ideenkämpfer unter rücksichtslosem Einsatz aller seiner Kräfte, erbarmungslos hart gegen sich, bedürfnislos, von heldischer Opferbereitschaft: "Für die Verwirklichung des Gedankens von der Einheit Deutschlands hätte ich mich lassen rädern können." Nordisch, also unbeirrbar, war auch sein Rechtsgefühl, seine Begeisterung für alles Starke, Gesunde und Ganze, seine Ehrfurcht vor den Taten und dem Geist der Vorfahren, seine Reinheit, seine Achtung vor echter Weiblichkeit, seine trotzige Eigenständigkeit und Selbstbehauptung, seine unwandelbare Treue.

Dennoch lassen sich aus dem nordischen Blutserbe allein nicht alle Wesenszüge Jahns erklären. Man muß diesem Manne auch als einem bestimmten Körperbautypus gerecht werden. Seinem athletischen Körperbau entsprach jener merkwürdige seelische Zwiespalt, in dem wir den Schlüssel zu so mancher einseitigen, harten Beurteilung Jahns besitzen. Selbst im Formkreis der reinen Idealisten – zu denen wir Jahn rechnen müssen – finden wir jenen schroffen Wechsel von hoher Empfindlichkeit und scheinbarer Gefühlskälte, von flammendem Jähzorn und rührender Geduld, von grotesker Verachtung jeder Form und sicherem Stilgefühl, von schonungsloser Grobheit und zarter Rücksichtnahme, von Beten und Fluchen, Hassen und Lieben, Ichsucht und Selbstentäußerung. Gemildert wird dieser dämonische Zwiespalt bei Jahn durch den Zuschuß einer Temperamentsanlage, wie sie etwa auch Blücher besaß, der heldenhaft und kindlich zugleich war, bieder und treuherzig, draufgängerisch, polternd, packend und derb und voll von "grobkörnigem Mutterwitz" – und gerade diesen Zügen verdankte Jahn seine ungewöhnliche Volkstümlichkeit und seine Vergötterung durch die Jugend.

Jahns Geburtshaus und Ehrenmal in Lenzen an der Elbe
Ansichtskarte (Ausschnitte) von Jahns Geburtshaus in Lenzen an der Elbe
und der Jahn-Jugendherberge.
[Bildarchiv Scriptorium.]
[526] Im strohgedeckten Pfarrhaus zu Lanz bei Lenzen an der Elbe wurde Friedrich Ludwig Jahn am 11. August 1778 geboren. Sein Vater, ein strenggläubiger, im Volke wurzelnder Landgeistlicher, stammte aus einem Geschlecht, das sich in der Westpriegnitz seit 1522 nachweisen läßt und sich durch Schulzen, Richter, Ratsherren und Pfarrer auszeichnete. Seine Mutter war eine Pfarrerstochter Schulz aus Lenzenwieschen. Von ihr hat Jahn entscheidende Charakterzüge geerbt, und dem biologischen Wert ihrer Sippe sollte die Wissenschaft einmal nachspüren. "Ich kann mir Jahn gar nicht vorstellen, ohne seine Mutter neben ihm zu sehen." Sie besaß große Willensstärke, war überempfindlich, leidenschaftlich in ihren Gefühlsausbrüchen. "Mir geht es so wie Luther", sagte sie einmal zu Christian Eduard Dürre, dem Turner, Lützower und Burschenschafter, einem der vertrautesten jungen Freunde ihres Sohnes, "ich kann nicht beten, ohne zu fluchen." War sie zornig, so pflegte sie sich mit besorgniserregender Heftigkeit vor die Brust zu schlagen. Von ihr erbte Jahn auch sein ausgezeichnetes Gedächtnis.

Aber das Erbbild der Eltern Jahns muß viel mehr enthalten haben als das, was wir aus den dürftigen uns übermittelten Einzelzügen ihres Erscheinungsbildes schließen können. Doch nicht nur die Erbanlage, auch die Umwelt baut die Persönlichkeit auf. Die offenbaren und geheimen Kräfte des Bodens und der Heimat sind es, die an der Ausprägung des Bluterbes Anteil haben: der mächtige Elbstrom, der diesen Teil der niederdeutschen Landschaft so kräftig bestimmt, die Heidedünen mit Kiefern, Wacholdern, uralten Eichen und Hünengräbern, die riesigen Wälder, die fruchtbaren Acker, die von Überschwemmungskatastrophen heimgesuchten Niederungen, die wiesenreichen niedersächsischen Dörfer, damals oft noch hinter hohen grünen Hopfenfeldern verborgen, die Wehrkirchen, Gutshöfe und Schlösser, die Hanseplätze und mittelalterlichen Kleinstädte mit ihren Rolanden, ihren Ratshäusern und Türmen.

Als einen wilden, von unbändigem Bewegungs- und Erlebnisdrang erfüllten Dorfjungen müssen wir uns den kleinen Jahn vorstellen, der von den zerschossenen und narbenbedeckten Veteranen des Alten Fritz Schießen, Fechten und Reiten, von einem Grönlandfahrer Schwimmen, von Schmugglern und Wilddieben Klettern, Fährtenlesen, Laufen und Springen lernte. Ohne diese wehrhaften Leibesübungen in frühester Jugend hätte es niemals den Kriegsturner Jahn gegeben. Und ohne die gewaltigen Bildungskräfte der Luthersprache auch nicht den sprachschöpferischen Jahn. Aus der Lutherbibel lernte er im vierten Lebensjahr auf dem Schoße der Mutter das Lesen.

Das zweite Buch, das ihm sein Vater in die Hand gab, waren Pufendorfs Taten des Großen Kurfürsten. Auf den Krieg bezogene Leibesübungen, Religion, Muttersprache und Geschichte – nur dies können die Grundlagen jeder deutschen Bildung sein. Unverbildet jedenfalls kam Jahn in die Stadt Albrechts des Bären – auf das Gymnasium zu Salzwedel – und machte wahrscheinlich deswegen seinen Lehrern viel Kopfzerbrechen. Aber schon damals zeigte sich sein Urselbst in [527] einem verblüffenden Ausspruch. Als er gefragt wurde, welcher von den großen Männern der Vergangenheit er gern hätte sein mögen, antwortete Jahn: "Keiner von allen! Nur ich selbst will ich sein! Ein anderer sein wollen ist sittlicher Selbstmord." Kann es einen schöneren Beweis für die Offenbarung der nordischen Rassenseele in einem jungen Deutschen geben? Einem Kerl von dieser Erkenntniskraft glauben wir, daß er schon als Gymnasiast das Wunschbild von Deutschlands Einheit in seinem Herzen trug und daß er sich, wenn sich seine hannoverschen, mecklenburgischen und preußischen Klassengenossen prügelten, als überparteiischer Deutscher auf das Katheder schwang und zusah.

In Halle sollte Jahn Theologie studieren, studierte daneben aber Sprache und Geschichtswissenschaft und rechnete sich stolz zu keiner der vier Fakultäten. Empört über den kindischen Kleinstaatendünkel der Landsmannschaften und Kränzchen, begann er mit verwegenem persönlichem Mute einen wilden Kampf gegen diesen Ungeist deutscher Zwietracht und Zerrissenheit. Mancher "Kränzianer" bekam damals seine harte Faust und seinen Ziegenhainer zu spüren. Als aber die Übermacht zu groß wurde, zog er sich für ein ganzes Semester vor den Hetzpeitschen und

Die Jahn-Höhle am Ufer der Saale in Halle (Saale).
Die Jahn-Höhle am Ufer der Saale in Halle (Saale).
[Nach wikipedia.org.]
Stoßdegen seiner Gegner in eine Felsenhöhle über der Saale unterhalb des Giebichensteins gegenüber Kröllwitz zurück. Bei einem Überfall erschien Jahn wie ein Urmensch über der Höhle und trieb seine Gegner durch Steinwürfe in die Flucht.

Die "Jahn-Höhle" ist heute noch vorhanden, und sie sollte für alle Zeiten erhalten bleiben, nicht zur Erinnerung an diesen Studentenkrieg, sondern weil sich Jahn in dieser Höhleneinsamkeit und Abgeschiedenheit seiner wahren Sendung bewußt wurde. Er hatte sich ein merkwürdiges Buch mitgenommen, den 1787 erschienenen Roman "Dya Na Sore" des Österreichers B. Fr. von Meyern, und über diesem Buche ging ihm eine neue Welt auf. Der Roman, den der Einundzwanzigjährige "ein Meisterstück des 18. Jahrhunderts" nennt, ist trotz aller literarischen Schwächen ein Hoheslied auf die Vaterlandsliebe. "Heil dem Geschlecht", so heißt es darin, "dem das angestammte Erbe seiner Ahnen zu einem Heiligtume wird!" und: "Der Mensch ist nur groß durch den Begriff eines Vaterlandes und durch den Begriff der Pflicht". Jahn hatte sein Glaubensbekenntnis gefunden: er legte ein Gelübde ab. "So will ich stets handeln – so werde ich handeln!" schrieb er einem Salzwedeler Freunde 1799 ins Stammbuch. Jahn handelte. 1800 erschien seine erste politische Schrift: "Über die Beförderung des Patriotismus im preußischen Reiche." Sie ist ein Vorläufer des Deutschen Volkstums und in ihrer Sprachgewalt ein Findling, den der große Sohn Preußens an die Pforte des neunzehnten Jahrhunderts wälzte. So deutsch war zu den Deutschen seit Luther noch nicht geredet worden. Eine neue deutsche Glocke ließ ihre Stimme erschallen, als fern in Italien unter den Kanonen des Ersten Konsuls das tausendjährige Deutsche Reich zusammenzubrechen begann.

Jahn setzte seine Studien, zum Teil unter falschem Namen – wegen seiner Fehden mit den Orden und Kränzchen – in Jena und Greifswald fort. In [528] Greifswald wollte er die nordischen Sprachen studieren. Ernst Moritz Arndt wurde sein Lehrer und Thomas Thorild, jener Mann, den Herder zum Ordner seines philosophischen Nachlasses bestimmte. Herder, der von Deutschland als der "ungewordenen Nation" sprach, der den Wert jeder Dichtung nur nach dem durch die nationale Sprache bedingten nationalen Gehalt beurteilte, kam Jahns Gedankenwelt wunderbar entgegen; nicht minder Ernst Moritz Arndt, dessen Freundschaft Jahn später gewann und nicht wieder verlor. Wegen Verhöhnung des Studentenkomments mußte Jahn Greifswald verlassen. Mehrere Jahre lebte er als Hauslehrer im Mecklenburgischen und begann hier seine später in Göttingen vollendete sprachwissenschaftliche Arbeit Bereicherung des hochdeutschen Sprachschatzes auf dem Gebiete der Sinnverwandtschaft. In Neubrandenburg und Torgelow begann er auch an einem Denkbuch für Deutsche und am Deutschen Volkstum zu arbeiten. Mit seinen Schülern, die für ihn durchs Feuer gingen, pflegte er damals schon jene bewußte, planvolle, wenn auch äußerlich völlig spielerische und freie Körperschulung durch Wandern und Schwimmen, Ringen und Springen, Stürmen und Verteidigen.

Immer drohender nahte sich Anfang des Jahrhunderts der französische Kriegsgott den preußischen Grenzen. Durch die Besetzung Hannovers kamen französische Truppen bis hart an Jahns Heimatdorf. 1804 ließ sich Napoleon als Kaiser huldigen. Nach der Schlacht bei Austerlitz legte der Kaiser von Österreich die deutsche Kaiserkrone nieder. Am 20. August 1806 wird der Nürnberger Buchhändler Palm auf Befehl Napoleons in Braunau am Inn erschossen. "Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung."

Die Unsitte, deutsche Sprache in welsche Schrift zu kleiden, ist eine vaterländische Abscheulichkeit.
Zitatkarte, Friedrich Ludwig Jahn.
"Die Unsitte, deutsche Sprache in welsche Schrift zu kleiden, ist eine vaterländische Abscheulichkeit."
[Nach delcampe.de.]
Im Sommer 1806 lebte Jahn in Jena, um sich auf die akademische Laufbahn vorzubereiten. Die gelehrten Anzeigen rühmten den ersten sprachwissenschaftlichen Versuch Jahns, der "mit so wenig Hilfsmitteln so viel habe leisten können". In der Tat war dieses Werk von einer bis dahin nicht gekannten schöpferischen Urtümlichkeit und Erneuerungskraft. Man kann hier von einer Aufartung des deutschen Spracherbes reden, von einem Versuch, der durch Welschsucht weibisch und bleichsüchtig gewordenen deutschen Sprache wieder Eisen ins Blut zu gießen.

Das scheinheilige Schutz-Trutz-Bündnis, das Napoleon mit Preußen abgeschlossen hatte, rettete das politisch damals wahrhaft erbärmlich geführte Land nicht vor dem Todesstoß, der ihm längst zugedacht war. Jahn wollte im Herbst 1806 von Jena über den Harz nach Göttingen wandern. In Goslar überraschte ihn das Kriegsgewitter. Im auflodernden Feuer seiner Vaterlandsliebe warf er die Feder weg, um das Schwert zu ergreifen. In Gewaltmärschen eilte er durch Sturm und Regengüsse nach Jena zurück. Er wird Zeuge der vernichtenden Niederlage des preußischen linken Flügels, der unter Napoleons persönlicher Führung zermalmt wird. Mit den Trümmern von mehr als zwanzig von ihren Offizieren verlassenen Regimentern kommt er nachts in Artern an. Die Versuche des "Zivilisten" Jahn, die Flüchtlinge zu sammeln und zu ermutigen, mißlingen. In dieser [529] furchtbaren Nacht ergraut dem Achtundzwanzigjährigen das Haupthaar. Er eilt weiter! Bei der Verteidigung Halles steht er auf der hohen Brücke im Kugelregen, er versucht, einen preußischen Artillerieoffizier auf einen Vorteil aufmerksam zu machen. "Sie haben hier wohl viel zu befehlen?" herrscht dieser ihn an. "Zu befehlen gar nichts", antwortete Jahn, "aber zu raten! Raten darf ein jeder, der ein Vaterland zu verlieren hat."

Jahns Absicht, sich nützlich zu machen, wird überall vereitelt. Er folgt Blücher, der sich nach Norden zurückgezogen hatte, gerät nach vielfacher Lebensgefahr auf das Schlachtfeld von Lübeck, verbirgt sich unter den Toten, schleicht sich auf dänisches Gebiet und erlebt Dinge, die ihm eine "Vorstellung von Attila" geben.

Schwerer als der grauenvolle Zusammenbruch des preußischen Heeres traf Jahn wie alle Vaterlandstreuen der Schmachfriede von Tilsit. Das Stammbuch der Wartburg, zu der er im gläubigen Vertrauen auf seinen Luthergott immer wieder wallfahrte, enthält einen Beweis von Jahns heldischer Überwindung der Mut- und Hoffnungslosigkeit jener Tage. "Es wird" – schreibt er 1807 – "ein anderes Zeitalter für Deutschland kommen und eine echte Deutschheit aufblühen."

Bei einem deutschen Biedermann fand er Unterschlupf. Von hier aus unternahm er zahlreiche Wanderungen und Reisen zu dem einzigen Zwecke, seinen unerschütterlichen Glauben an eine bessere Zukunft Deutschlands bei hoch und niedrig zu verbreiten, Haß und Verachtung gegen Welschsucht und inneren Hader zu predigen, zum Widerstand gegen den Todfeind des Vaterlandes aufzurufen. Niemals sprach er das Wort Napoleon aus. "Glückauf! Nieder mit ihm!" war sein Gruß. Bei seinem Gönner in Boitzenburg und auch bei seinen Eltern in Lanz schrieb Jahn aus dem Gedächtnis in großen Zügen noch einmal das Werk nieder, dessen Handschrift nach der Schlacht von Jena verlorengegangen war: Deutsches Volkstum. Die Wörter Volkstum, volkstümlich und Volkstümlichkeit hat es vor Friedrich Ludwig Jahn in der deutschen Sprache nicht gegeben. Sie sind die schönste Frucht seines sprachschöpferischen Geistes. Mit seinem Deutschen Volkstum ragt Jahn hoch hinaus über seine Zeit und tief hinein in die Gegenwart.

Wer das Deutsche Volkstum gelesen hat, der ist dem Urselbst Jahns begegnet. 1809 erließ er eine Voranzeige seines Buches. Aus ihr geht hervor, daß er unter "Volksseele" nichts anderes verstand als das, was wir heute Rassenseele nennen. Die Begriffe "Rasse" und "Volkstum" bedeuten ihm streng genommen ein und dasselbe. Jahn spricht von der bleibenden, nachartenden (also vererblichen) Schädelbildung, er spricht von der geistigen und sittlichen feststehenden Besonderheit. "Volkstum" ist ihm nicht nur eine weltgesetzliche "Einungskraft". "Es ist das Gemeinsame des Volkes, sein innewohnendes Wesen, sein Regen und Leben, seine Wiedererzeugungskraft, seine Fortpflanzungsfähigkeit." Gar nicht scharf genug kann sich Jahn gegen die Rassenmischung und Verbastardierung wenden. "Wer die Völker der Erde in eine einzige Herde zu bringen trachtet, ist in Gefahr, [530] bald über den verächtlichsten Auskehricht des Menschengeschlechtes zu herrschen." Die sich ins Negerige verlierenden Araber seien die Schande ihres Volkstums. "Wahre Teufelswesen sind die Bastarde in Afrika."

Jahn muß auf Grund seines Volkstums ein "universalistischer" Denker genannt werden, der Vertreter eines organischen Weltbildes, ein Mann, der die Ganzheitlehre sowohl wie die Gestaltlehre ahnend in sich trug. Er geht vom Primat der Volksgemeinschaft aus, und in der schöpferischen Wechselwirkung von Gemeinschaft und Einzelmensch, von Einzelseele und Volksseele sieht er die eigentliche Deutschheit.

Unübersehbar ist die Fülle seiner Erneuerungsvorschläge für die Einrichtung und Verwaltung eines neuen deutschen Reiches, für Volkserziehung durch Sprache, Geschichte und Leibesübungen, für Sitte und Brauchtum, für die Ehr- und Wehrhaftmachung des gesamten Volkes gegen den welschen Unterdrücker. Genial ist der Gedanke einer neu zu gründenden Deutschen Reichsstadt "Teutonia".

Die Vaterlandsfreunde nahmen das ungewöhnliche Buch des leidenschaftlichen Tatdenkers mit größter Begeisterung auf. Blücher nannte es "das deutscheste Wehrbüchlein", Fr. W. Thiersch "eines der köstlichsten Erzeugnisse deutschen Sinnes". Gneisenau sandte es an den Freund und Mitarbeiter des Freiherrn vom Stein, J. A. Sack, den späteren Oberpräsidenten Pommerns. Sack erwiderte ihm: "Sähe man von diesen kräftigen und trefflichen Ideen nur erst mehr in das Leben gebracht!" Der Bundestagsausschuß nennt Jahns Volkstum und Fichtes Reden an die deutsche Nation später "die geistigen Paten der neueren Deutschheit".

Ende 1809 sehen wir Jahn in Berlin. Als Lehrer der Plamannschen Anstalt trifft er mit einem der herrlichsten jungen Deutschen aller Zeiten zusammen, mit Friedrich Friesen, der für Volk und Vaterland gleich Jahn entflammt war und darauf brannte, sein Leben für die Befreiung Deutschlands einzusetzen. Mit Friesen gründet Jahn noch im Jahre 1810 den "Deutschen Bund", nachdem der in Königsberg begründete Tugendbund im Jahre 1809 aufgelöst war. Der nur den "Eidgenossen" dieses Bundes bekannte Erkennungsruf hieß: "Deutschland erwache!" Schutz und Schirm wider offenbare Knechtschaft, Kampf für die Einheit unseres zersplitterten und getrennten Volkes war sein Zweck. Nichts anderes war auch der Zweck der Gründung des Turnplatzes in der Hasenheide im Jahre 1811. Hier handelte es sich nicht wie bei Guts-Muths um eine philanthropische Angelegenheit, sondern um die Kriegsertüchtigung der verweichlichten, durch die französischen Sitten gefährdeten deutschen Jugend, darüber hinaus um die Verwirklichung der großen volkserzieherischen Gedanken des Deutschen Volkstums. Die Wörter: Turner, Turnen, Turnplatz stammen von Jahn, der das Turnier für eine deutsche Erfindung hielt.

Der erste Turnplatz in der Hasenheide im Jahre 1811.
Der erste Turnplatz in der Hasenheide, gegründet im Jahre 1811.
[Nach bz-berlin.de.]

Jahn, als dem Vorläufer der Germantik unserer Tage, verdanken wir auch die Einrichtung von Thingplätzen neben den eigentlichen Turnplätzen. Auf dem "Tie" versammelte er die "Turnmüden" unter schattigen Bäumen, und von einer [531] Erhöhung unter dem Thingbaum begeisterte er sie durch seine Redegewalt für das größere Vaterland, für Gemeinnutz, Freiheit, Sittenreinheit, Einfachheit und Selbstgenügsamkeit. Hier trug er ihnen in dem von ihm erfundenen "Wort-Sturmschritt" Gedichte von Klopstock, Seume und Arndt und Fouqués Verherrlichung des Sachsenherzogs Wittekind vor. Auf den Thingplätzen kamen nach 1813 auch die germanischen Höhenfeuer wieder zu Ehren.

Von denen, die im geheimen zum Krieg gegen Napoleon schürten, war Jahn einer der Unermüdlichsten. Die verwegensten Pläne wurden entworfen; wochenlang war er aus Berlin verschwunden, um als Sendbote der Regierung auch außerhalb Preußens die Erhebung vorzubereiten.

Im Sinne seines deutschen Bundes wünschte Jahn einen Zusammenschluß aller deutschen Studenten zu einer großen Burschenschaft. Mit Friesen arbeitete er die Satzungen für eine solche Gründung aus und trug sie dem Rektor der Berliner Universität, dem Philosophen Fichte, vor. In fieberhafter Spannung durchlebte Jahn das Jahr 1812; er rechnete fest mit einem Mißerfolg des Napoleonischen Feldzuges gegen Rußland. Von ihm stammt der Kehrreim: "Mit Mann und Roß und Wagen, so hat sie Gott geschlagen". Von ihm stammt wahrscheinlich auch das Schwertfegerlied, das Alexander von Blomberg, dem ersten Opfer der Befreiungskriege, zugeschrieben wird. "Die mächtige Wehr laßt denn uns erschaffen, den König der Waffen, den schrecklichen Speer."

Nicht ohne Lebensgefahr war dies Treiben unter den Augen der französischen Machthaber und der Französlinge möglich. Der Moniteur warnte vor dem "nommé Jahn". Hardenberg deckte ihn, und Gneisenau und Scharnhorst verteidigten den "Deutschen Bund" vor dem Könige. Der Gedanke der Aufstellung eines Freiwilligenkorps ging von Jahn aus, und ehe der Staatskanzler nach Breslau abreiste, mußte er Jahn in die Hand versprechen, Freiwillige für den bevorstehenden Krieg aufzurufen. Achtzehntausend Freiwillige traten in das Heer ein, darunter allein neuntausend aus Berlin, und unter ihnen alle wehrfähigen Turner Jahns. Bei der Vereidigung der Lützower in der Kirche zu Rogau am Zobten stand Jahn vor dem Altar, sein Schwert bildete mit dem eines Offiziers das Kreuz. Ein ganzes Bataillon brachte er allein zusammen, übte es ein, bewaffnete und kleidete es mit Hilfe seiner Freunde. Eine in der Vossischen Zeitung veröffentlichte, vom Zivil-Gouverneur Sack und dem bekannten Turnfreunde Bornemann unterzeichnete "Anzeige" quittiert über "2294 Thaler, die für das Lützower Corps in Berlin gesammelt" waren: "mit besonderer Beziehung auf Herrn Professor Jahn, jetzigem Chef des dritten Bataillons. Es war vorzüglich die Absicht, den Herrn Jahn in Stand zu setzen, den aus allen deutschen Ländern seinem Rufe folgenden für die deutsche Sache entflammten Jünglingen Unterstützung zu ihrer Ausrüstung gewähren zu können."

Für seine Kaltblütigkeit im Gefecht bei Mölln erhielt Jahn das Eiserne Kreuz und den Wladimir-Orden.

[532] Während des Waffenstillstandes im Sommer 1813 bezog er Quartier im Schloß Schönhausen und kam täglich mit der späteren Mutter Ottos von Bismarck zusammen, die bei Tisch "mit Anmut und Adel" den Vorsitz führte. Jahns Begeisterung für Deutschlands Einheit wird dabei oft das Tischgespräch bestimmt haben, und Jahnsches Geisteserbe wird auf Bismarcks Entwicklung nicht ohne Einfluß gewesen sein. Bismarck besuchte zudem später auch die Plamannsche Anstalt zu Berlin, an der Jahn und Friesen gewirkt hatten.

Nach der Schlacht von Leipzig und Napoleons Rückzug über den Rhein galt es, die befreiten Gebiete zum Anschluß an die Erhebung Preußens zu veranlassen. Jahn wurde zunächst in das frühere Königreich Westfalen geschickt, um auch dort mit seinen zündenden Aufrufen Begeisterung für den Freiheitskampf zu wecken; dann wurde er der Generalkommission für deutsche Bewaffnungsangelegenheiten in Frankfurt a. M. überwiesen. Diese Kommission sollte darüber wachen, ob die "Sonst-Rheinbundstaaten" ihre neu übernommenen Pflichten gegen das Vaterland auch gehörig erfüllten, Freiwillige aufriefen, Landwehren ausrüsteten und den Landsturm einrichteten. Den "separatistisch" gesinnten Deutschen am Rhein das Gewissen zu schärfen, war Jahn, der Verfasser der die Kleinstaaten und ihre Fürsten vernichtend treffenden "Runenblätter", der rechte Mann. Sein Vorgesetzter war – welche Anziehungskraft des Bezüglichen – der Dichter von Dya-Na-Sore. Auch Ernst Moritz Arndt ist in Frankfurt a. M., und mit ihm besucht Jahn den von Frankreich so gefürchteten Herausgeber des Rheinischen Merkur in Koblenz, Joseph Görres.

Nach dem ersten Frieden von Paris wandert Jahn über die Wartburg nach Berlin zurück. "Großes ist geschehen, Größeres wird kommen. Der Morgen einer neuen deutschen Welt hat begonnen!"

Unter den Turnern, die ihn auf der Hasenheide begrüßten, fehlten die besten. Auch Friedrich Friesen war gefallen. "Friesen war ein aufblühender Mann in Jugendfülle und Jugendschöne, an Leib und Seele ohne Fehl, voll Unschuld und Weisheit, beredt wie ein Seher; eine Siegfriedsgestalt von großen Gaben und Gnaden, den jung und alt gleich liebhatte; ein Meister des Schwerts auf Hieb und Stoß, kurz, rasch, fest, fein, gewaltig und nicht zu ermüden, wenn seine Hand erst das Eisen faßte; ein kühner Schwimmer, dem kein deutscher Strom zu breit und zu reißend; ein reisiger Reiter, in allen Sätteln gerecht; ein Sinner in der Turnkunst, die ihm viel verdankt. Ihm war nicht beschieden, ins freie Vaterland heimzukehren, an dem seine Seele hielt. Von welscher Tücke fiel er bei düsterer Winternacht durch Meuchelschuß in den Ardennen. Ihn hätte auch im Kampf keines Sterblichen Klinge gefället. Keinem zuliebe und keinem zuleide: aber wie Scharnhorst unter den Alten, ist Friesen von der Jugend der Größeste aller Gebliebenen." Mit diesem unvergleichlichen Wort hat Jahn Friedrich Friesen unsterblich gemacht.

Dem Heldengeist der Lützower verdankt das Turnwesen die stürmische Entwicklung, die nun einsetzte. In allen Gauen entstanden Turnplätze, und auf ihren [533] Wanderfahrten grüßte ein neues Geschlecht das Morgenrot deutscher Volksgemeinschaft. Für seine Verdienste um das Vaterland erhielt Jahn ein Ehrengehalt. Er konnte nun Helene Kollhoff, eine Mecklenburgerin, heiraten, die er seit Jahren liebte. Einige wenige erhaltene, überaus zarte und gemütvolle Briefe geben Kunde von seiner tiefen Liebe zu ihr. Sie schenkte ihm drei Kinder, seinen Sohn Arnold Siegfried und zwei Töchter. "Es war eine Freude", schrieb Heinrich Ranke, der Bruder Leopolds von Ranke, "in Jahns Familie einzutreten. Seine Frau war ebenso fein und sanft, als er im Gefühle seiner Kraft derb und mutig auftrat. In ihrer Nähe zeigte er eine Zartheit, die man nicht von ihm erwartet hätte."

Was mochte den Staatskanzler Hardenberg bewogen haben, Jahn im Frühjahr 1815 zum Wiener Kongreß und nach der Schlacht bei Waterloo nach Paris zu rufen? Varnhagen von Ense gibt uns in seinen Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens die Antwort, wenn er auf den großen Einfluß hinweist, den der "berühmte Deutschtümler" durch die Entschiedenheit und den Trotz seiner Meinungen und durch den rücksichtslosen Ausdruck seiner kurzen Rede ausübte. Hardenberg zog ihn oft zu Tafel während dieser Kongresse. Zu dem attischen Salz Wilhelms von Humboldt nahm er gern das körnige Hallorensalz Jahns, der selbst von Generalen als gewaltiger Mitsprecher gefürchtet und geschont wurde. Der Kaiser von Rußland bat sich von Jahn jene Rede aus, die dieser in Paris hoch oben auf dem Triumphbogen vor den Tuilerien aus dem Wagen der von Napoleon aus Venedig geraubten korinthischen Sonnenrosse hielt, der französischen Siegesgöttin mit den Worten "Leipzig und Waterloo" auf den Mund schlagend.

Die erste Tat Jahns nach den Befreiungskriegen war die Gründung der "Gesellschaft für deutsche Sprache" in Berlin, zu deren Hauptförderern neben Arndt und Ludwig Uhland der Philosoph Carl Christian Friedrich Krause gehörte.

1816 erscheint Jahns Deutsche Turnkunst, ein Buch aus einem Guß, eines der deutschesten aller Bücher. Turner und Lützower bildeten jetzt auf den Universitäten den Kern der im Sinne der Jahnschen Einheitsidee 1815 in Jena gegründeten "Burschenschaft". Erfüllt vom Gefühl der Eintracht und Gemeinschaft, der opferbereiten Hingabe des einzelnen an das Gesamtwohl, der Frömmigkeit, Wahrheit, Reinheit und Wahrhaftigkeit, waren diese Erneuerer des akademischen Volkstums zu den Landeshochschulen zurückgeströmt, willens, der Nation ein Leben in neuem Geiste vorzuleben, um der dem deutschen Volke versprochenen Freiheiten würdig zu sein. Die Erfüllung des in der Not der Befreiungskriege gegebenen Versprechens aber ließ in Preußen wie in anderen Staaten schmerzlich auf sich warten. Unter den Studenten wuchs die Erregung über diesen Wortbruch. Sie fühlten sich um den Preis ihrer Opfer in den Befreiungskriegen betrogen, sahen ihr Eisernes Kreuz verhöhnt, Schleicher und Liebediener der Regierung hielten ihren Mantel vor das schlechte Gewissen der Herrscher. Das beste Mittel, die Verfassung zu hintertreiben, war, den Geist der deutschen Jugend zu verdächtigen und in seinen Beweggründen zu leugnen. Das geschah in der Schmähschrift des Geheimrats [534] Schmalz. Hardenberg, der Jahn im Grunde wohlgesinnt war, leistete der sich zum Überfluß auf Hegels Philosophie berufenden Reaktion keinen rechten Widerstand. Es war ein abgekartetes Spiel: wie man den Versuch machte, Jahns schnell berühmt gewordenes Wort "Volkstum" aus dem Sprachgebrauch zu tilgen, so machte man auch die Angelegenheit des Turnens zum Ziel boshafter Angriffe. Die Turnfehde begann. Zwei bedeutungslose Journalisten, Scheerer und Wadzeck, eröffneten sie. Der hochangesehene Breslauer Professor Steffens, dem Jahns bewußt zur Schau getragene derbe Deutschheit "grauenvoll" war, führte gegen das Turnen einen gefährlichen Streich. Kotzebue und andere hieben in dieselbe Kerbe, bis Ernst Moritz Arndt sich in seinem Geist der Zeit ritterlich vor Jahn stellte. Max von Schenkendorf weihte Jahn sein berühmtes Lied: "Wenn alle untreu werden".

Jahn, der erste Freiwillige von 1813, machte sich zum "freiwilligen Sprecher" der Nation und kämpfte in einundzwanzig Vorlesungen schonungs- und rücksichtslos gegen das klägliche Geschlecht, das den Traum von Deutschlands Einheit und Deutschlands Größe durch das Gespenst des Aufruhrs verscheuchte. Hunderte und aber Hunderte drängten sich zu diesen Vorträgen und brachten dem "allverehrten Volksfreunde" nach dem Abschluß dieser mutigen Tat eine Abendmusik, die mit dem Lutherlied "Ein feste Burg" begann. "An Tiefe und Donnergewalt der Rede mit keinem mehr als mit Luther zu vergleichen", so hieß es in dem Ehrendoktor-Diplom, das die charaktervolle Universität Kiel Friedrich Ludwig Jahn zum dreihundertjährigen Lutherfest 1817 überreichte. Auch die Universität Jena verlieh ihm mutig die philosophische Doktorwürde: "Dem Manne, der niemals, auch in den schlimmsten Zeiten nicht, an dem Vaterlande verzweifelte". Um so eifriger waren die Wühler und Wurzelgräber daran, Jahn, der die höchst gefährliche Lehre von der "Einheit Deutschlands" aufgebracht hatte, zu beseitigen. Man machte ihn verantwortlich für den Geist der Empörung, der am Schluß des von Jahns Freund Dürre angeregten Wartburgfestes der deutschen Burschenschaft mit dem Höhenfeuer auf dem Wartenberg aufgeflammt sei. In den brennenden Holzstoß schleuderte man die verhaßten Schriften der "Schmalzgesellen" Scheerer, Wadzeck, Jancke, Immermann, Kotzebue und, außer einem Schnürleib und einem Korporalstock, auch den Gendarmeriekoder des Geheimrats von Kamptz. Tödlich beleidigt, wurde dieser nun der erbittertste Feind Jahns, der übrigens dem Wartburgfest selbst nicht beigewohnt hatte.

Im Frühjahr 1819 durfte der Turnplatz in der Hasenheide nicht wieder eröffnet werden. In Breslau wurde der Turnplatz wegen eines Streites schon früher geschlossen. Jahns Versuch, beim König eine Aufhebung der Turnsperre zu erreichen, wirkte wie eine Verhöhnung, als die Nachricht in Berlin eintraf, daß der Burschenschafter Sand den Dichter Kotzebue ermordet habe. Nichts konnte Metternich und den preußischen Demagogenriechern gelegener kommen als diese Schandtat eines Schwärmers. Auch sie wurde Jahn in die Schuhe geschoben. Jahns Lage [535] wurde bedrohlich. Es bedurfte kaum mehr der Denunziation des Regierungsrates Jancke und der beschlagnahmten Papiere des Gymnasiasten Lieber (eines im Felde schwerverwundeten und halb tauben jungen Lützowers, der Äußerungen Jahns als "Goldkörner aus dem Munde Vater Jahns" sinnentstellend zu Papier gebracht hatte), um Jahns Verhaftung bei Hardenberg durchzusetzen.

Grenzenloses Leid brach nun über Jahn herein. Vom Bett seines todkranken Töchterchens führte man ihn in der Nacht auf die Festung Spandau, von dort später in Ketten nach Küstrin. Beide Töchter starben, ohne daß der Vater sie wiedersah. Vorübergehend kam er in die Hausvogtei nach Berlin zur Vernehmung durch die Untersuchungskommission. Ihr gehörte als Kammergerichtsrat der Dichter und Musiker E. T. A. Hoffmann an. Er ließ sich den Fall Jahn nicht leicht werden und stellte in einer wahrhaft mustergültigen Untersuchungsschrift fest, daß alle Anklagepunkte gegen Jahn jeden Grundes entbehrten. Sein Antrag, Jahn unverzüglich freizulassen, wurde mit dessen Verbannung in die Festung Kolberg beantwortet. 1824 erst (Jahns Gattin war vor Gram gestorben) verurteilte ihn das Oberlandesgericht in Breslau zu zwei Jahren Festung. Jahn legte sofort Berufung ein, verfaßte eine stolze und trotzige Selbstverteidigung, und das Oberlandesgericht in Frankfurt a. O. sprach ihn im Jahre 1825 frei. Aber auch nach diesem Spruch wurde ihm infolge einer "Kabinettsordre" die unbeschränkte Freiheit vorenthalten. Jahn durfte sich weder in Berlin noch in einer Universitäts- oder Gymnasialstadt künftig niederlassen. Er wurde unter Polizeiaufsicht gestellt. Jahn wußte nicht, daß es der König selbst war, der, von kleinen Seelen aufgestachelt, einen seiner treuesten Verehrer mit Haß verfolgte.

So entledigte sich das Vaterland eines seiner besten Söhne. Eine sokrateïsche Schande ruht auf den dafür verantwortlichen Geheimräten des reaktionären Systems, das selbst einen Gneisenau beargwöhnte, von Ernst Moritz Arndt und Joseph Görres ganz zu schweigen. Erst an der Größe seiner Tragik wird Jahns geschichtliche Größe meßbar.

Mit seiner zweiten Frau zog er in die kleine Stadt Freyburg a. d. Unstrut, das immer viel Reiz für ihn gehabt hatte und ihm als "Grabstätte zeitlichen Glückes" lieb war. Von dort wurde er in das noch kleinere Kölleda "weggemaßregelt". Wegen einer geharnischten Beschwerde über diese Behandlung erhielt er ein halbes Jahr Festung in Erfurt. Nach sieben Jahren durfte er von Kölleda nach Freyburg zurückkehren. Kaum hatte er sich dort von neuem eingerichtet, brach während seiner Abwesenheit in seiner Wohnung Feuer aus. Er verlor durch den Brand sein ganzes Hab und Gut, darunter alle seine Bücher und seine unersetzlichen Handschriften, Quellenstudien und kostbares Quellenmaterial zu Arbeiten über den Dreißigjährigen Krieg und für eine vorchristliche Deutschkunde "Mittelgart", eine "Nebenschrift" zu Grimms Deutscher Mythologie.

In dieser schweren Prüfung zeigte sich abermals jener heldische Optimismus, der sich in Deutschlands großer Notzeit so oft bewährt hatte. Er baute sich zum [536] Teil mit eigener Hand – von vier Uhr früh bis abends acht Uhr Steine "wie im Gebirgskrieg" schleppend – ein eigenes Haus am Bergabhang unterhalb der alten Landgrafenburg. "Aus meinem Fenster erblicke ich die Fluchtstraße der von Leipzig Entronnenen, mit den Stätten der Notbrücken, und aus meiner Haustür den Wald, der den Anmarsch von Yorck deckte, als er mit schwacher Mannschaft die Fliehenden in eine Heereszeile drängte." Seine treuen Turner sammelten trotz der Turnsperre einen namhaften Geldbetrag für den Bau, der mit dem Wahlspruch "Frisch, frei, fröhlich, fromm" geziert wurde. Von weither wanderten sie herbei, um den "Alten im Bart" wiederzusehen oder ihn kennenzulernen. Wie eine Gestalt aus der Edda sahen die Ankommenden vom anderen Ufer der Unstrut den bärtigen Riesen in seinem Garten wirken. Die alten Turner und Burschenschafter waren es, die den Reichsgedanken und den Gedanken der Einheit als heiligen Funken unter der Asche hüteten. Und war man bei Vater Jahn, dann schlug unter dessen Atem die Flamme schnell empor.

Mit ungebrochenem politischem Verantwortungsgefühl verfolgte er die Ereignisse der Zeit. Die Erweiterung des Zollverbandes begrüßte er weitschauend mit unverhohlener Freude. Der "Feuerwagen" (die Eisenbahn) bedeutete ihm eine Verschmelzung der Ländergrenzen. Argwöhnisch betrachtet er Frankreichs Unruhe und Angriffslust; Belgien schien ihm eine Vorstadt von Paris zu werden. Für die Verbrüderung mit den Franzosen auf dem Hambacher Fest hatte er nur Spott und Verachtung.

Schwer kränkte es Jahn, daß ihm noch immer die Aushändigung des Eisernen Kreuzes verweigert wurde, weil er dieser Ehre nicht würdig sei. "Es ist gewiß ein recht glücklicher Gedanke von Dir", schreibt er 1839 bitter an den Historiker F. Förster, seinen Lützower Freund, "Denknisse vom Jahre 1813 zu sammeln, einen Köcher voll geistiger Pfeile. Nur darf ich keinen Schaft dazu schnitzen und keine Spitze daran heften, weil es neuerdings staatsamtlich ausgesprochen, daß ich an der Ehre von 1813 keinen Antheil habe." "Ich bin kein Muspelheimer, der mit Hehlwaffen kämpft; sondern ein Freund der Asen, der die Wehr in der Nähe zieht. Ich will mich darum nicht in die Denknisse einschmuggeln." Aus Trotz schrieb er seine "Neuen Runenblätter", seine "Merke" zum Deutschen Volkstum und seine köstlichen novellistischen Denknisse. Er versuchte, selbst die Arbeit an seinem "Mittelgart" wiederaufzunehmen und das Verbrannte wiederherzustellen. Wie ein Maulwurf vergrub er sich in die "Grüfte des Altertums", und wie ein "erwachter Siebenschläfer" kam er sich vor, als endlich nach Friedrich Wilhelms III. Tode die Schmach der Polizeiaufsicht und die Beschränkung in der Wahl seines Aufenthaltsortes von ihm genommen wurde. Das Eiserne Kreuz wurde ihm ausgehändigt, die Turnsperre aufgehoben. Eine königliche Kabinettsorder machte das Turnen zum notwendigen und unentbehrlichen Bestandteil der männlichen Erziehung. Der deutsche Mensch wurde wieder straff und politisch. Ernst Moritz Arndt gab seinen prächtigen Aufsatz über das Turnwesen neu heraus. Der bekannte [537=Faksimile] [538] Pädagoge Diesterweg feierte in einem Vortrage das Turnen als wichtigsten Teil des Unterrichts. Der Turnvater Jahn stand plötzlich wieder im Mittelpunkt der Öffentlichkeit.

Stammbuchblatt von Friedrich Ludwig Jahn.
[537]      Stammbuchblatt von Friedrich Ludwig Jahn.       [Vergrößern]

Jahn war zu stolz, um Freyburg zu verlassen und etwa wieder nach Berlin überzusiedeln. Er versagte sich sogar bei fast allen Einladungen zu Turn- und Erinnerungsfesten. Selbst an der Grundsteinlegung des Hermann-Denkmals im Teutoburger Wald nahm er nicht teil. Aber die Wogen des Jahres 1848 warfen sein Lebensschiff noch einmal auf das Meer hinaus. Unter den Männern aus allen deutschen Gauen, die in der Paulskirche das Zweite Reich aufrichten wollten, war auch der siebzigjährige Friedrich Ludwig Jahn. Seine Ehrfurcht gebietende Erscheinung, seine turnerische Rüstigkeit und seine immer noch feurige Beredsamkeit verfehlten ihre Wirkung nicht.

Bedeutsam ist seine Bemühung um die Gründung einer deutschen Flotte; seine wuchtigen Angriffe gegen Pöbelherrschaft und Umsturz kosteten ihm beinahe das Leben. Nur mit Mühe entging er jenem verbrecherischen Anschlag, dem in Bockenheim der Fürst Lichnowsky und der Abgeordnete von Auerswald zum Opfer fielen. In jenen Tagen des Schmerzes schrieb er seine unvergleichliche "Schwanenrede" nieder, deren Kernsatz wir an den Beginn dieses Lebensabrisses stellten.

Dennoch versank "der Abendstern, der ihm zur letzten Ruhe winkte", hinter dem dunklen Schatten einer grenzenlosen Enttäuschung, als der preußische König die ihm angetragene Volkskaiserwürde ablehnte. Bald danach verschied Friedrich Ludwig Jahn am 15. Oktober 1852 in Freyburg a. d. Unstrut.

Turnvater Jahns Grab und der Erinnerungsturnhalle.
Blick auf Turnvater Jahns Grab und der Erinnerungsturnhalle.
Ansichtskarte aus Freyburg an der Unstrut.       [Bildarchiv Scriptorium.]

Vielleicht stünde Friedrich Ludwig Jahn leuchtender in der Erinnerung der Deutschen, wenn ihm das Schicksal Theodor Körners und Friedrich Friesens beschieden gewesen wäre. Er selbst hat einmal gesagt: "Gott segnet nicht alle Begeisterte für das Vaterland durch frühes Verlassen dieser Zeitlichkeit, damit ihr Ruhm ewiglich grüne". Niemand hätte dann Jahns Bild entstellen und verzerren können.

Wir wissen, daß dieser große Deutsche seine seelischen und geistigen Grenzen hatte. Er war weder ein systematischer Philosoph wie Fichte noch ein Gelehrter und Weltmann wie Wilhelm von Humboldt. Er war kein musischer Mensch. Für die schönen Künste brachte er wenig Verständnis auf. Die raffaelische Madonna lehnte er aus dem Stilgesetz seiner Rasse ab. Er war oft grob, derbschalkhaft, gelegentlich auch herrschsüchtig und überheblich. Er war einseitig und einzielig. Aber er war von monumentaler Größe und bleibt eine einmalige Erscheinung in der deutschen Geistesgeschichte. Leicht ist es, die Schatten in einem Bildnis zu vertiefen, die Lichter zu dämpfen und zu übermalen. Auch Friedrich Ludwig Jahns Bild ist mit diesen Mitteln verfälscht worden. Und es ist tiefbedauerlich, daß Heinrich von Treitschke sich den Urteilen über Jahn angeschlossen hat, die über ihn gefällt wurden, als der "berühmte Deutschtümler" dem Herrscher und seinen Kreaturen nichts mehr bedeutete.

[539] Aber der "Freund der Asen" ist keines unrühmlichen Strohtodes gestorben. Er blieb der heldische, nordische Kämpfer bis zum letzten Atemzuge, denn im schwersten Ringen um seine Idee vom einigen und ewigen Deutschland ging er in die Unsterblichkeit Walhalls ein.

Bismarck, der das Zweite Reich schuf, hat in einem Briefe an die Lübecker Turner die Turnerschaft als die Trägerin des deutschen Einheitsgedankens bezeichnet. Sicherlich ist das Jahnsche Turnen bis zur Reichsgründung überall eine politische Angelegenheit gewesen. Im Auslande ist sie es immer gewesen, ganz besonders in der von einem Schüler Jahns unter den Slawen hervorgerufenen völkischen "Sokolbewegung". Mit dem Einbruch des technischen Materialismus in das deutsche Volkstum wurde Jahns völkisches Mittel leider mehr und mehr Selbstzweck. Die Turntechniker gewannen die Überhand über die Volksturner. Die Erinnerung an Jahns eigentliche Bedeutung ging trotz der Denkmäler in der Hasenheide und in Freyburg immer mehr verloren. Heinrich von Treitschke tat ein übriges. Das Zweite Reich zerbrach, weil dem Reichskörper, wie Friedrich Lienhard richtig erkannte, die Reichsseele fehlte.

Nur die Wiedergeburt der Deutschen aus dem Geist ihres Volkstums im Sinne Friedrich Ludwig Jahns konnte ein Drittes Reich zum Leben erwecken.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz