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Bd. 8: Die Organisationen der Kriegführung, Dritter Teil:
Die Organisationen für das geistige Leben im Heere

  Kapitel 4: Die Seelsorge im Felde   (Forts.)

B. Die evangelische Seelsorge.
Von Walter Richter, Felddivisionspfarrer und Armeeoberpfarrer

1. Die Organisation der evangelischen Feldseelsorge.10

Die evangelische Feldseelsorge gründete sich auf die am 17. Oktober 1902 durch den evangelischen Feldpropst D. Richter herausgegebene evangelisch-militärkirchliche Dienstordnung. Bei der ungeheuren Ausdehnung des Weltkrieges genügte selbstverständlich die organisierte Friedensseelsorge der aktiven Militär- und Marinepfarrer (127 Militär-, 26 Marinegeistliche) nicht; sondern es sind aus Preußen 1338 außeretatmäßige freiwillige Feldgeistliche und 28 Zivilgeistliche für die Marine, aus der evangelisch-altlutherischen Kirche Preußens 8 Geistliche, aus Bayern rechts des Rheins 242, links des Rheins 37, aus Sachsen 74 und aus Württemberg 42 freiwillige Militärseelsorger aus dem Zivilkirchenstand vollberechtigt neben den aktiven Militär- und Marinepfarrern in den Dienst des Heeres getreten. Alle deutschen Landeskirchen berührten sich draußen, und - ich darf es aus eigener Anschauung bezeugen - in friedlicher und tatkräftiger Zusammenarbeit.

In der Heimat organisierte der evangelische Feldpropst D. Wölfing die Feldseelsorge. Anfänglich bestanden bei den beschränkteren Mitteln der evangelischen Kirche zweifellos einige Mißstände, die durch den fliegend schnellen Vormarsch, die Belegung riesiger Garnisonen im fremden Gebiet (Brüssel hatte 10 000 Mann Garnison und einen Pfarrer, dazu zwei große Kriegslazarette) zu erklären waren. Es war aber bereits, wie im Kriege 1870/71, vorgesehen, daß "überetatmäßige freiwillige Feldgeistliche" durch den Feldpropst ausgesandt wurden. Diese Einrichtung geschah nicht etwa erst durch Klagen und Eingaben "unberufener Ratgeber", wie Feldpropst D. Wölfing abwehrend schreiben mußte, sondern auf Grund planmäßiger Voraussicht. Pekuniär unterstützend trat ein der seit 1866 bestehende "Fonds zur Verstärkung der evangelischen Seelsorge im Felde", der [244] zu Beginn des Weltkrieges über 150 000 Mark verfügte, und ein neugegründeter privater Verein "Ausschuß zur Unterstützung der evangelischen Militärseelsorge im Felde". Dieser hat, wenn auch mit beschränkten Mitteln, erwünschte Dienste im Anfange getan. Außerdem wurden durch Verfügung des Feldpropstes schon vom 13. Oktober 1914 Pastoren und Kandidaten der Theologie, die mit der Waffe im Felde standen, zur Ausübung der Seelsorge in solchen Fällen herangezogen, in denen bei der riesigen räumlichen Ausdehnung des Kampfgebietes aktive Felddivisionspfarrer oder freiwillige Feldgeistliche nicht zur Stelle sein konnten.

Die Einteilung der Arbeit wurde draußen zweckmäßig von den Gruppenreferenten, später von den Armeeoberpfarrern, von denen je einer aus den älteren Felddivisionspfarrern einem Armeeoberkommando zugeteilt und dem Oberbefehlshaber persönlich unterstellt war, auf gemeinsamen Konferenzen besprochen. Es ist dabei anzustreben gewesen, daß ein und dieselbe geistliche Kraft nicht immer nur den Dienst in vorderster Linie und die andere die in den Lazaretten versah, sondern daß von Zeit zu Zeit Austausch und Wechsel erfolgte. So mußte - normale Verhältnisse des Stellungskrieges angenommen - jede Formation in regelmäßigen Zwischenräumen seelsorgerisch und gottesdienstlich erfaßt werden können. Die Abnormitäten eines jagenden Vormarsches und eines oft ungeordneten Rückmarsches, der mehr und mehr mangelnden Fortbewegungsmittel der Geistlichen auf ungeheuren Entfernungen, die namenlosen Strapazen auf eisigen Kaukasuswegen und die wirren Trichterfelder, zu denen die Schützengräben oft "eingedämmert" wurden, lassen es wohl erklärlich erscheinen, wenn trotz hingebendster Treue des Einzelgeistlichen hier und da das ersehnte Ziel nicht erreicht wurde, jeden der wackeren Kämpfer mit dem trost- und kraftspendenden Evangelium zu rechter Zeit zu versorgen.


2. Die Gottesdienste.

Welche Aufgabe lag darin! Lauter Männer hatte der Feldprediger vor sich, von denen viele innerlich dem Christentum entfremdet, doch aber beim Nahen der Gefahr eine Ahnung davon bekamen: Hier mußt du dich wie ein Kind auf stärkere Arme legen. Die Entfremdung ward dann zur Erwärmung, wenn es der Geistliche verstand, angesichts der Gemeinsamkeit der gewaltigen Aufgabe die Seelen zu dem zu führen, der seine Hand über jedes selbstlose Lebensopfer segnend streckt: Niemand hat größere Liebe, denn die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde. Gewaltig waren naturgemäß die Unterschiede der Grundstimmung bei den wenigen Vormarschgottesdiensten, die möglich waren, und den in den Ruhestellungen angesetzten in dem immer weiter und endloser sich ausdehnenden Verlauf des Krieges. Konnte man bei den ersteren eine kräftige Fanfare auch in der Rede vertragen, wie dem Verfasser eine wunderbar schöne [245] Abendfeier mit einem Infanteriebataillon unterm Sternenhimmel der Nacht und dem Wort: "Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft" (Jes. 40,31) unvergeßlich bleibt, so war bei den letzteren, naturgemäß viel häufigeren eins sicher: daß sich der Prediger die Herzen seiner feldgrauen Gemeinde verschloß, wenn er rein soldatisch, etwa gar im Kommandoton, vom "Durchhalten" redete, wenn reiner Patriotismus die Rede auf die Höhe heben sollte. Es bewährte sich auch hier allein die Religion des Kreuzes und der Liebe. Je näher an die Gefahr heran, um so stärker wurde auch der innere Trieb: zurück zu dem Heiland deiner Kindertage. Anschluß an den, von dem wir singen: Mir nach! spricht Christus unser Held. Wer sein Leben lieb hat, der wird es verlieren - doch wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden. Darum war es notwendig, daß die Predigt Gebetkraft auslöste, daß sich der Mann nicht "angepredigt" vorkam und Objekt irgendeiner Seelsorge wurde, sondern daß es gelang, ihn zum Subjekt des Könnergebets zu machen: Gott, dir ergeb ich mich! Das umfaßte den Jungen wie den Alten, den Sozialisten wie den vom Hochadel, den Jünglingsvereinler wie den Spötter. Das Wort gewann seine Kraft: Mancher, der sein Vaterunser im Schulranzen hatte stecken lassen, hat es aus dem Soldatentornister wieder hervorgesucht. Der Prediger aber mußte daneben ein Situationskünstler sein. Den Rahmen des Augenblicksbildes, der Augenblickslage, der Augenblicksstimmung wirklich wie ein Feldherr überschauen und dann oft aus dem Sattel, oft eben vom müden Pferde selbst als müder Mann gestiegen, sich mit seinen Feldgrauen in den Strom der Liebe des Gekreuzigten stürzen und aus einer Andacht von vielleicht 20 Minuten wie "neugeboren" herauskommen. Das können keine "Gefühle" oder gar Einbildungen gewesen sein! Da waren die großen Tatsachen der Ewigkeit dahinter, und es predigte sich gewaltig in aller Schlichtheit, wenn der Donner der Geschütze von fern das Begleitmotiv gab und seine Ausrufungszeichen hinter das Wort machte und der Tod, der Gedanke an das "Morgen" seine Gedankenstriche zog. Es war etwas anderes, ob man in der geschmückten Kathedrale oder in der Reitbahn von Charleville einen Weihnachtsgottesdienst hielt, oder in einer der unterirdischen Kreidehöhlen vor Reims oder einem der Forts ohne äußeres Licht als nur ein paar Kerzen, die die Pioniere herzubrachten - beides kann herrlich und erbaulich gewesen sein. Mir will es scheinen, je weniger "Raum in der Herberge", je peinlicher die Armut der äußeren Verhältnisse, je größer die Not der augenblicklichen Lage, um so tiefer das Verständnis für den, der Mensch ward und Gast war in einem fremden Lande und fand nirgends Raum, um uns die Ewigkeit zur Heimat zu machen. Es war ein Unterschied, ob man nach schweren Tagen der abgelösten Truppe einen Ruhegottesdienst bot, oder ob man draußen in dem aufgeweichten Lehmboden der Argonnen stand und im Regen angesichts der täglich anwachsenden Gräber der Kameraden predigte: Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet; denn nachdem er bewähret ist, wird er die Krone [246] des Lebens empfangen. Es war ein Unterschied, ob man Pfingsten feiern konnte auf einem Anemonenteppich hingestreckt im fliegersicheren Laubdach grünen Waldes, oder ob "Blut und Feuer und Rauchdampf" um die Forts von Verdun die Pfingstflammen waren, die zu letzter Einigkeit vor dem letzten Todesgange die Glieder der Truppe zu eherner Kette zusammenschlossen.

Ist es nicht klar, daß da der Gedanke an ein "Kommandiertsein" zum "Kirchgang", je riesenhafter die Größe der Stunde wuchs, wie von selbst abfiel? Hier war niemand "kommandiert", weil alle ihrem Gott zu Befehl und Gehorsam standen bis zum letzten Atemzug und bis zum letzten Fetzen Kraft. Paul Oskar Höcker hat wohl "an der Spitze seiner Kompagnie" das treffende Wort gefunden:

      "Das Eine bitt' ich dich: Laß mich recht sterben! Nicht mit einem Wimmern auf den Lippen. Auch nicht mit einem letzten Jammern im Herzen. Um einen frohen glücklichen Soldatentod bitt' ich dich... Wenn geschieden sein soll, so sei es als guter Christ und treuer Deutscher. Herrgott, in deine Hände befehle ich meinen Leib. Nein, nein, meine Seele bitte ich dich in deine Hand zu nehmen und es soll mein schönster Gruß an meine Lieben der eine sein: Für diese Pflicht im Felde sein Leben zu lassen ist gerade so schön wie heimzukehren. Und nun mag es rasseln, donnern, tosen - ich lächle. Der Boden zittert. Ein Hagel von Ackerkrume durchschlägt unsre Bedachung. Ich zucke mit keiner Wimper. So ruhig ist mir, so gehoben. Das also war das Wunder des Gebets: die Kraft zu einem glückhaften Soldatentod zu finden."

Um dem vielfach geschmähten zwangsweisen Kirchgang die Spitze abzubrechen, haben viele Feldgeistliche Abendandachten bei völlig freiwilliger Beteiligung veranstaltet. Beim heiligen Abendmahl fiel selbstverständlich auch der leiseste Zwang weg. Und siehe, sie kamen alle und sie kamen gern, wenn sie im Feldgeistlichen den besten Freund und guten Kameraden sahen, der seine feldgrauen Brüder nicht in die Hand eines mohammedanischen Kismet: "Wen's treffen soll, den trifft's", noch eines heidnischen blinden Fatums legte, sondern in die Hände Eines, den wir unsern Vater in dem Himmel nennen dürfen, in der Kraft dessen, der sein Leben gab zu einer Erlösung für viele.

Ader das Bild wäre nicht ehrlich und vollständig, wenn wir nicht rückhaltlos darauf hinwiesen, daß mit der Länge und zuletzt der Aussichtslosigkeit des Krieges auch eine gewisse Religionsmüdigkeit in den Reihen unserer Kämpfer festzustellen gewesen wäre. Das Urteil eines Sozialisten ist natürlich weit übers Ziel hinausgeschossen, daß er - von einem Mann abgesehen - nie ein Wort von Gott, nie ein Gebet, nie einen Ewigkeitsgedanken aus den Reihen der Leute hätte äußern hören. Wie man in den Wald ruft, so hallt es zurück. Ruft man ein "Nein" in die Truppe, so kommt auch ein "Nein" zurück. Aber solche Neinsager haben die Truppe nicht verstanden und sind nicht ihr Freund gewesen. Wir standen vor der Tatsache: Die Leute kämpfen nicht mehr aus Begeisterung, sondern aus harter Pflicht. Verstand es dann der Geistliche, diesen Gedanken [247] zu vertiefen, an den Kreuzeshelden und Heiland Jesus festzubinden: Auch er hat nichts gewollt, als alles von ihm wich, als seinen Weg ans Kreuz in Gehorsam und Liebe zu gehen - und das war der Weg zum Heil von Millionen, dann beugten sich die Häupter still, wenn auch die Augen nicht mehr so leuchteten wie früher, und das Zentrum des Mannes, der Wille, ward dadurch gestärkt vor den Menschen, daß er sich bedingungslos beugte vor Gott. Der Rückzug und die Auflösung des Heeres lösten ja leider auch die Ordnungen der schönen Soldatengottesdienste auf, und es war wohl mit das Traurigste am Anblick der ehrwürdigen Hof- und Garnisonkirche in Potsdam, wie der Alten Garnisonkirche in Berlin, wie die großen Emporen, auf denen sonst des Kaisers Garden saßen, in Leere gähnten. Aber eins sei zur Steuer der Wahrheit festgestellt: Ein großer Teil der alten Mannschaften und Unteroffiziere findet sich, von dem Einfluß verständiger Offiziere geleitet, wieder in ihrer alten Kirche ein, natürlich in völliger Freiwilligkeit, und es war den Offizieren wie Mannschaften der Berliner Schutzpolizei ein Selbstverständliches, trotz der Wirren des Revolutionswinters ihre Arbeitsweihe nach ihrer einstweiligen Zusammensetzung in einem großen Gottesdienst in der Alten Garnisonkirche zu Berlin, dem kameradschaftliche Besprechungen in den Hundertschaften vorangegangen waren, zu feiern; es war ein Selbstverständliches, daß der in den Revolutionskämpfen gefallenen Kameraden in einem gleichen großen feierlichen Gedächtnisgottesdienst an gleicher Stelle gedacht wurde und aus den Reihen der Hundertschaften die Bitte erging, die Worte der Predigt dieser Gottesdienste möchten im Druck festgehalten und jedem einzelnen zur Erinnerung an die feierliche Stunde mitgegeben werden.

Sind das schlechte Zeichen? Die Religion hat abgewirtschaftet? Die Leute sind wie vom Druck erlöst, seit es keine Militärgottesdienste im alten Stil mehr gibt? Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir sagen: In der Seele auch dieses Restes vom alten Heer lebt noch die Wurzel vom alten Baum des Gebetlebens schlichter alter Soldatenfrömmigkeit. Nur wir sind alle zu wund, zu todtraurig, daß wir große laute Feiern nicht mehr ertragen können; aber in der Stille sich stärken lassen in seinem Gott, das wollen wir, das können wir auch. Darum gewinnen die Gottesdienstfeiern unserer Kriegervereine und unserer nationalen Jugendbewegung in der Gegenwart eine unerhörte Bedeutung. Auf diese Felseninsel rettet sich der Rest des guten Geistes in unserem Volk. Anbetend und feiernd wird bekannt: In allem Wandel und Wechsel der Zeiten: Gott ist dennoch derselbe geblieben. Bei allem Stürzen von Thron und Ehre: Dein Thron bleibt ewig - deine Ehre bleibt erhöht. Bei aller Entbindung von Eid und Treue: Wir sind nicht zu entbinden - und wir bleiben, wie es auf den alten Grenadiermützen vom 1. Garderegiment zu Fuß stand: S. t. Semper talis - immer derselbe; denn Jesus Christus, dessen Kreuz in unseren Fahnen steht, ist derselbe - heut, gestern und in Ewigkeit. Das ist unsre Hoffnung auch für die Zukunft.


10 [1/243]Bei der mir zur Pflicht gemachten Kürze kann nur ein ganz allgemeiner Überblick über die wichtigsten Zweige der evangelischen Feldseelsorge gegeben werden. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte