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Bd. 8: Die Organisationen der Kriegführung, Dritter Teil:
Die Organisationen für das geistige Leben im Heere

  Kapitel 3: Die Fürsorge für die Kriegsgefangenen   (Forts.)

[182] 3. Die deutschen Kriegsgefangenen in Rußland.8
Von Margarete Klante9

Einleitung.

165 000 deutsche Soldaten und 2 082 deutsche Offiziere, neben 2 330 296 Soldaten und Offizieren der Verbündeten, insgesamt 2 497 378, kamen im Lauf des Weltkrieges in russische Gefangenschaft.

Da Rußland eine der Signatarmächte der Haager Landkriegsordnung war, lag ihm die Pflicht ob, diese Kriegsgefangenen wie die eigenen Soldaten zu behandeln. Im Geist dieser Landkriegsordnung waren auch bis auf wenige Ausnahmen die ersten allgemeinen russischen Bestimmungen über Kriegsgefangene vom 14. Oktober 1914 erlassen. Sie sprachen von einer Behandlung der Kriegsgefangenen als "den berufenen Verteidigern ihres Landes". Sie gaben als Richtschnur die Gleichstellung mit den eigenen Soldaten in bezug auf Unterbringung, Ernährung und Behandlung und überließen alles andere bis auf detaillierte Transportvorschriften den örtlichen Behörden. Aber schon im Februar 1915 ergingen weitere Bestimmungen, die eine bedeutende Verschärfung brachten, und von da ab jagte ein Befehl den anderen, häufig entgegengesetzt den internationalen Abmachungen, so daß sich bald keine der ausführenden Behörden durchfand. Für die Kriegsgefangenen selbst sind diese Gesetze trotz zäher Bemühungen ein Buch mit sieben Siegeln geblieben.

Eine eigene Verwaltungsorganisation war für diese große Anzahl Gefangener nicht geschaffen worden. Sie wurde der Heeresorganisation des Landes eingefügt, mit dem Kriegsministerium an der Spitze, den Militärbezirken und den diesen unterstellten Ortsmilitärbehörden und Lagerkommandanten als ausführenden Organen. Das Kriegsministerium in Petersburg hatte eine eigene Abteilung für Kriegsgefangene. Eine besondere Kontrolle für die Durchführung seiner Befehle im Lande gab es nicht. Auf dem weiten Wege von der Zentrale in Petersburg durch das 22,55 Millionen Quadratkilometer große Riesenreich bis hinunter zu den Lagerkommandanten zerbröckelten die Befehle oder wurden willkürlich geändert.

Gleichzeitig setzte eine beispiellose Preßhetze gegen das Deutschtum im Lande ein. Überall waren sogar Abbildungen von deutschen Greueltaten zu [183] finden, deren lächerliche Übertreibungen mit der allgemeinen Unbildung des Russen rechneten. Während in der Verordnung vom 14. Oktober 1914 der deutsche Kriegsgefangene als der "berufene Verteidiger seines Landes" angesprochen wurde, ließ die unter behördlicher Genehmigung schrankenlos arbeitende Propaganda kein Mittel unversucht, um ihn als den Barbaren zu brandmarken, der sich durch seine Schandtaten selbst außerhalb aller menschlichen Rechte gestellt habe. Besonders von seiten der städtischen Bevölkerung waren häufig Beschimpfungen und Mißhandlungen, wie die Zerstörung der deutschen Botschaft in Petersburg und der Deutschenpogrom in Moskau, Ufa usw., die Folge, bis der deutsche Kriegsgefangene durch seine Haltung die Lügen aufdeckte. Tiefergehend wirkte die Verbitterung nach, die in Rußland durch die Propaganda über die angeblich schimpfliche Behandlung der russischen Kriegsgefangenen in Deutschland Platz griff.


Transport.

Wenn die Gefangennahme mit ihrer anschließenden Ausplünderung bis zum letzten Pfennig, bis zur Uhr, zum Trauring und dem als Siegestrophäe so begehrten deutschen Helm hinter den Kriegsgefangenen lag, begann der "Transport". Er hat die Kriegsgefangenen vom ersten bis zum letzten Augenblick der Gefangenschaft verfolgt, gleichgültig, ob verwundet oder unverwundet. Es war selbst für diese ein unaufhörliches Hin- und Herschieben von Lazarett zu Lazarett, von Stadt zu Stadt, von Lager zu Lager. Gefangene aus Przemysl kamen von Kiew über Pensa, Petersburg nach Omsk.

Die unverwundeten und leichtverletzten Gefangenen wurden gewöhnlich im Fußmarsch durch das Etappengebiet befördert; dann nahmen Güterwagen sie auf, in die Holzpritschen eingebaut waren. Im Winter sollte ein kleiner eiserner Ofen diese fahrenden Wohnungen erwärmen. Bei den weiten Entfernungen in Rußland mußten die Kriegsgefangenen wochenlang, ja manchmal Monate bis zu 40 Mann in diesen Waggons leben. Sie sehnten sich nach einer warmen Mahlzeit, für die das Verpflegungsgeld - je 25 Kopeken für den Tag und Mann - in der Tasche des russischen Transportführers lag. Im Winter schlug sich die feuchte Luft als Eis an Decke und Wänden nieder. Zu dem Bewußtsein der Unfreiheit kamen Hunger und Kälte, und die einzige Beschäftigung bildete das Lausen. Verschmutzt und entkräftet kamen sie in den Gefangenenlagern an.

Für die Transporte bestanden sehr genaue Vorschriften von Petersburg, unter anderem auch über die Registrierung. Da nach der letzten russischen Statistik nur 21% der Bevölkerung schreiben können, blieben die Registrierungsvorschriften illusorisch. Ungezählte Kriegsgefangene wurden nie oder unter falsch geschriebenem Namen in die Gefangenenlisten aufgenommen, und erst nach Monaten, manchmal erst nach Jahren gelang es ihnen, selbst ein Lebenszeichen in die Heimat zu senden.

[184] Den kürzesten Weg hatten die Schwerverwundeten. Von den Lazaretten der Front kamen sie teils in Lazarettzügen, teils in Güterwagen in die Hospitäler der großen Städte oder in die Provinz.


Lazarette.

In den Lazaretten war nie genügend Platz vorhanden; waren die Betten belegt, so wurde der Fußboden selbst in den Korridoren zu Hilfe genommen. Eine Trennung der Verwundeten von den Erkrankten oder eine Absonderung übertragbarer Krankheiten fand nicht statt. Bademöglichkeit gab es so gut wie nie; Betten, d. h. Strohsack und Decke, und Hospitalswäsche strotzten von Ungeziefer. Die russischen Ärzte taten nur selten gewissenhaft ihre Pflicht. Es fehlte an Personal und Material. Die Beköstigung war im Anfang reichlich, jedoch einförmig und ohne Rücksicht auf die Art des Leidens. So lagen die verwundeten Kriegsgefangenen in überfüllten Räumen, verlaust, in verbrauchter Luft, da nie ein Fenster geöffnet werden durfte, oft auf fauligem Stroh und wurden durch Unkenntnis und Gewissenlosigkeit der Ärzte und des Pflegepersonals für immer zum Krüppel. Neben einem am Oberschenkel Amputierten, der einen Fußschuß gehabt hatte, lag ein augenkranker Arzt und wartete vergeblich auf die Operation, die ihn vor völliger Blindheit retten konnte.

Wie seltene Oasen in der Wüste gab es unter den Lazaretten auch solche, die durch tüchtige Ärzte europäischen Begriffen entsprachen, z. B. in Kiew.

Eine Erhöhung der Leiden bildeten die unausgesetzten Verlegungen der Kranken. Die eigene Habe war bis auf wenige Lumpen in den Krankenhäusern abhanden gekommen, und aus diesen warf eine verbrecherische Gier nach Bereicherung die Gefangenen auf Wagen und Eisenbahn, um Verpflegungsgelder in den Taschen der Beamten verschwinden zu lassen. So gehörten Gefangene, die durch neun und mehr Hospitäler in Moskau geschleppt wurden, um nach Wochen wieder im ersten anzukommen, zur Regel. Schließlich mußten diese Verlegungen in der Nacht vor sich gehen, weil die Bevölkerung sich gegen die Roheit auflehnte, wurden doch Schwerverwundete mit Schenkel- und Beinbrüchen, frisch Amputierte, Hochfiebernde, sogar Sterbende nicht geschont. An einem Wintertage 1914 krochen in Moskau Schwerverwundete auf Händen und Füßen durch den Schnee zur nächsten Haltestelle, die ½ km vom Hospital entfernt lag.

An einigen wenigen Orten war es deutschen Zivilisten gelungen, einen Hilfsdienst in den Lazaretten und bei den Verschickungen einzurichten. Zwar gestattete eine Verordnung ausdrücklich die Bildung von Hilfsgesellschaften für die Gefangenen; aber ein anderer Erlaß hob dies für Deutsche dadurch auf, daß ihnen jede Vereinigung verboten war. So zog die Hilfsarbeit für die Kriegsgefangenen schwere Strafen nach sich. Trotzdem wurde sie viele Monate [185] lang im Baltikum, in Moskau, Wiatka, Ufa usw. begeistert fortgesetzt, bis die Führer die Liebe zum Vaterlande in den Gefängnissen bezeugten und die Mittel versiegten.

In Petersburg sorgten für sie vom Herbst 1914 an unter den größten Erschwerungen die beiden Damen der schwedischen Gesandtschaft, deren Namen seitdem wie ein heller Stern über dem Elend der deutschen Kriegsgefangenen in Rußland stehen: Elsa Brändström und Ethel von Heidenstam.


Landesverräterische Propaganda.

Im europäischen Rußland wurden die Kriegsgefangenen in kleineren Gruppen in allen Arten leerer Gebäude zusammengezogen. Nur ausnahmsweise entstanden hier auf Truppenübungsplätzen und dergleichen große Lager. Das europäische Rußland war zudem den bevorzugten slawischen Nationalitäten vorbehalten, die hier durch Propaganda dazu gebracht werden sollten, Landesverrat zu begehen und in besonderen Regimentern die Waffen gegen ihr altes Vaterland in den Reihen der russischen Armee zu führen. Es gab Lager für Tschechen, Polen, Serben, Italiener, Elsaß-Lothringer. Nur die Propaganda unter den Tschechen ist dabei auf wirklich fruchtbaren Boden gefallen. Die Zentrale befand sich anfangs in Kiew, später in Petersburg. Ende 1916 gab es bereits ein tschechisches Korps von etwa 35 000 Mann. Auch die nicht in das kämpfende Heer eingetretenen Verräter genossen eine Vorzugsstellung durch größere Freiheit und Arbeitsmöglichkeit. Von den Elsaß-Lothringern ist nur ein verschwindend geringer Prozentsatz freiwillig zum Verräter geworden; andere hielten der bald freundlichen, bald überaus harten Behandlung in Nischni-Nowgorod, Dronjkowka, Kromi, Kaschiera nicht stand. Viele Hunderte sind gezwungen mit den Verrätern zusammen nach Frankreich transportiert und dort, ebenso wie die in Rußland verbliebenen, in Zwangslagern für ihre Treue "bestraft" worden. Der Führer dieser hochverräterischen Propaganda unter den Kriegsgefangenen in Rußland war ein französischer General namens Janin.


Die Gefangenenlager.

Die deutschfühlenden Kriegsgefangenen kamen, ebenso wie die Ungarn, fast ausschließlich in die Garnisonen längs der Sibirien durchschneidenden Bahnlinie von Omsk bis Wladiwostok. Die Steinkasernen und Holzbaracken dieser Garnisonen konnten jedoch nicht in dem Umfang geräumt werden, um allen Gefangenen Unterkunft zu bieten. Ställe, Schuppen, auch Schulen, Zirkusse und leerstehende Wohnhäuser wurden zu Hilfe genommen. Dann ging Rußland zum Bau neuer Barackenlager über, wobei die tief in die Erde eingegrabene sogenannte Erdbaracke die gebräuchlichste wurde. Der Bau der Lager gab [186] Gelegenheit für Unterschlagungen großen Stils. Der Kommandant von Semipalatinsk baute 1915 anstatt für 5000 Mann nur Baracken für 900, unterschlug das Geld und nahm 5000 auf.

Diese Gefangenenlager wurden von einem hohen Zaun mit Wachttürmen umschlossen.

Die Plankenzäune ließen nur selten größeren Bewegungsraum. Gewöhnlich lagen die Kasernen oder Baracken so eng umschlossen, daß nur ein Teil der Gefangenen auf einmal frische Luft im Hof schöpfen konnte.

Die Lager unterstanden einem russischen Offizier als Lagerkommandanten, dem für die Verwaltung und Bewachung russische Militärkräfte zur Verfügung standen; außerdem wurden die Kriegsgefangenen zum Lagerdienst herangezogen. Von einer geordneten Verwaltung dieser bis 30 000 Gefangene fassenden Lager durch die Russen kann jedoch nicht gesprochen werden. Die zu Kommandanten der Lager bestellten Persönlichkeiten haben sich fast ausschließlich als zu ihrer Aufgabe unfähig gezeigt. In den Lagern herrschte ein Chaos sondergleichen, und nicht russischer Initiative ist es zuzuschreiben, wenn es sich langsam zu lichten begann.

In die Räume waren als einzige Einrichtung Holzpritschen in mehreren Stockwerken übereinander eingebaut; Strohsäcke oder Decken gab es nicht, und viele Gefangene haben jahrelang auf den kahlen Holzpritschen leben müssen, ohne auch nur einen Mantel zum Bedecken zu besitzen.

Die Baracken waren während der langen Wintermonate nie wirklich durchwärmt, da nicht genügend Brennmaterial geliefert und von diesem russischerseits noch entwendet wurde.

Bade- und Waschvorrichtungen fehlten ganz oder genügten nicht für die große Menschenmenge; zudem mußte das Wasser meist von größerer Entfernung geholt werden und war deshalb immer äußerst knapp. - Kleidung und Wäsche waren bald verschlissen, Ersatz wurde nicht geliefert. Ein Waschen oder gar Wechseln der Wäsche wurde zum erstrebenswerten Luxus.

Die Ernährung war zwar im ersten Kriegsjahr der Menge nach für normale Verhältnisse ausreichend, aber die verwendeten Waren waren minderwertig. In Omsk, Nowo Nikolajewsk, Krasnojarsk zählten Köpfe und Hufe als vollwertiges Fleisch. Zudem war die Verpflegung ohne Rücksicht auf das Klima festgesetzt: in Sibirien galt dieselbe Norm wie im tropischen Turkestan. Wenn genügend Lebensmittel vorhanden waren, fehlte es an Kochmöglichkeit oder Feuerung. Außerdem stahl die russische Lagerverwaltung große Mengen. Von Frühjahr 1915 ab war die tägliche Ration auf Befehl aus Petersburg als Repressalie für die den deutschen Ernährungsverhältnissen (Blockade!) angepaßte Ernährungsmenge der russischen Kriegsgefangenen in Deutschland völlig unzureichend - und zu dieser Zeit herrschte dabei in Sibirien Überfluß an Nahrungsmitteln.

[187] Unter solchen Verhältnissen ging das wenige, den Gefangenen etwa noch gebliebene Geld bald zu Ende, und Hilfe aus der Heimat blieb aus, weil eine geregelte Postverbindung nicht zustande kam. Die russische Post und Zensur standen als unüberwindliches Hindernis zwischen den Gefangenen und der Heimat. Es war erlaubt, im Monat einen Brief und 3 - 4 Karten zu schreiben, aber nur wenige davon erreichten ihr Ziel. Da alle ein- und ausgehende Gefangenenpost mehrfach zensiert wurde, waren die Zensuren überlastet und vernichteten zur Beschleunigung ganze Stöße von Briefschaften. Noch im Dezember 1916 mußte die russische Regierung die vielen Klagen als berechtigt anerkennen und versuchte Abhilfe zu schaffen. - Paket- und Geldsendungen aus Deutschland kamen abhanden oder wurden den Adressaten völlig ausgeplündert zugestellt.

Die Behandlung der Kriegsgefangenen war abhängig von der Ansicht oder Laune des Lagerkommandanten, daher willkürlich und brutal. Mißhandlungen gehörten zur Tagesordnung. So war in Rasdolnoje das Spießrutenlaufen durch Kosakenpeitschen täglicher Brauch. Die geringsten Versehen führten zu Arrest- und Gefängnisstrafen, die in Zuchthäusern gemeinsam mit russischen Verbrechern verbüßt werden mußten, da es nie genügend Arrestzellen gab. Auch warteten viele Gefangene monatelang auf ein Urteil, ohne daß diese Vorhaft irgendwie angerechnet worden wäre. Fluchtversuche wurden mit Haft bis Kriegsende bestraft, und erst nach Jahren war eine Änderung dieser Bestimmung möglich.

Zu Hunger und Entbehrungen trat die erzwungene Beschäftigungslosigkeit, denn außer dem Lagerdienst gab es im Anfang keine Arbeitsmöglichkeit. Weigerten sich doch sogar die Bauern, diese unaufhörlich als Verbrecher gebrandmarkten Deutschen als Arbeiter aufzunehmen. Bücher in deutscher Sprache gab es kaum zu kaufen; auch unterlagen sie der Zensur oder waren ebenso wie die Zeitungen, selbst die russischen, verboten. An die Einrichtung von Sport- und Spielplätzen hat nie ein Russe gedacht.

Eine tiefe Niedergeschlagenheit mußte sich der Kriegsgefangenen bemächtigen und hielt den gesunden Lebenstrieb nieder. Die von Hunger und Schmutz zermürbten Körper besaßen keine Widerstandskraft mehr und wurden eine leichte Beute der Epidemien, die das Ungeziefer ihnen zutrug. Flecktyphus, Bauchtyphus, Cholera, Ruhr, Pocken hielten Einzug in den Lagern, dazu traten Erkältungs- und Magenkrankheiten aller Art. Es starben beispielsweise in Krasnojarsk im Winter 1914/15 1300 der Gefangenen (54%), davon etwa 1000 an Flecktyphus; in Nowo Nikolajewsk blieben von 1100 Insassen einer Baracke nur 70 am Leben; in Totzkoje starben 1915 von den dort internierten 25 000 Kriegsgefangenen 17 000.

Jede Pflege war unmöglich, denn selbst da, wo eine Isolierung der Kranken von den Gesunden durchgeführt wurde, unterschieden sich die Kranken- und Genesungsbaracken in der Einrichtung nicht von den übrigen. Es fehlte an [188] Pflegepersonal, an Medikamenten, Hygiene und Krankendiät. Die kriegsgefangenen Ärzte mußten sich den Zutritt zu ihren erkrankten Landsleuten ebenso bitter erkämpfen, wie Kameraden, die die Pflege übernehmen wollten. Die Lage der Kriegsgefangenen, wie Rußland sie gestaltet hatte, wird am besten durch die Worte einer deutschen Schwester charakterisiert:

    Sie hungern alle,
    sie gehen alle in Lumpen,
    sie verkommen in Krankheit und Schmutz.

Den typischen Verlauf eines Gefangenendaseins gibt folgende Tabelle:

    9. Juni gefangen bei Prohatin, unverwundet,
    17. " Kiew,
    21. " Moskau,
    26. " Jaroslaw,
    20. Aug. Mologa,
    3. Sept. Rybinsk,
    26. Okt. Nerechta,
    6. Nov. Abreise nach Sibirien,
    17. " Omsk,
    21. " Nowo Nikolajewsk,
    24. " Krasnojarsk,
    1. Dez. Stretensk,
    30. " gestorben an Flecktyphus.

Der Anfang zu einer Besserung dieser furchtbaren Zustände ging von den kriegsgefangenen Offizieren und Ärzten aus.


Offiziere und Ärzte.

Die Offiziere wurden sofort von den Mannschaften abgesondert, was besonders bei den Reichsdeutschen streng durchgeführt wurde. Nach der Haager Landkriegsordnung hatten sie Anspruch auf offiziermäßige Lebenshaltung. Rußland stellte ihnen leere Räume in denselben Kasernen oder Baracken wie den Mannschaften zur Verfügung und gab ein Gehalt, das nach Vereinbarung zwischen Deutschland und Rußland 50 Rubel für den Subalternoffizier, 75 Rubel für Stabsoffiziere und 125 Rubel für Generale im Monat betrug. Von diesem Gehalt waren Verpflegung, Bekleidung, Bedienung, Wäsche, kurzum das ganze Leben zu bestreiten, und außerdem sollten auch die nötigsten Möbel beschafft werden. Man zimmerte und darbte, bis Bett und Stuhl angeschafft waren. Oft erhielten Offiziere monatelang kein Gehalt, sondern wurden vor dem Zahltage in ein anderes Lager abgeschoben und ihr Gehalt unterschlagen. Zudem mußten viele Hände gestopft werden, um überhaupt zu Lebensmitteln zu kommen, oder die Verpflegung war Monopol des Kommandanten und seiner Gehilfen und mußte teuer bezahlt werden. Trotzdem gab jeder monatlich einen Teil seines Gehalts für einen Mannschaftsfonds ab, aus dem Medikamente, Desinfektionsmittel, Verbandstoffe eingekauft wurden. Die Offizierküchen gaben täglich eine Anzahl Freimahlzeiten an besonders bedürftige Mannschaften.

[189] Mittler zwischen den Offiziers- und Mannschaftslagern waren in der Hauptsache die kriegsgefangenen Ärzte.

Die Genfer Konvention von 1906 behandelt das Schicksal der in Feindeshand gefallenen Angehörigen des Sanitätskorps in so dehnbarer Weise, daß ihre Bestimmungen in jedem der kriegführenden Länder anders ausgelegt wurden. Nur zwei Punkte der Konvention sind klar ausgedrückt: 1. daß die Ärzte nur zur Pflege ihrer Landsleute zurückzuhalten sind, und 2. daß sie nicht wie Kriegsgefangene behandelt werden dürfen. Gegen beide Bestimmungen hat Rußland von vornherein verstoßen. Während beispielsweise in Omsk, Samara, Liwny kriegsgefangene Ärzte beschäftigungslos konzentriert waren, herrschte in den verseuchten Kriegsgefangenenlagern bitterster Ärztemangel. Nur besonderer Energie, richtiger Einschätzung des russischen Charakters und einem glücklichen Zufall war es zuzuschreiben, wenn deutsche Ärzte bereits in der ersten Zeit ihre Landsleute behandeln durften. Gewöhnlich waren sie mit den Offizieren völlig als Kriegsgefangene zusammengelegt. Erst als die Epidemien überhand nahmen, führte man sie in die verseuchten Lager und überließ ihnen dort ohne jedes Hilfsmittel die Bekämpfung der Epidemien. Selbst die primitivsten Anforderungen an Sauberkeit und Desinfektion wurden nicht erfüllt. Schutzlos waren diese Ärzte der Ansteckung preisgegeben, und viele von ihnen starben in der Ausübung ihres Berufs. Ende 1916 wurde nach langwierigen Verhandlungen zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Rußland ein Abkommen geschlossen, nach dem auf je 2500 Kriegsgefangene ein Arzt und 10 Sanitätsmannschaften in Rußland zurückblieben. Etwa 30 ältere oder kranke deutsche Ärzte kamen Frühjahr 1917 in die Heimat zurück. Österreichische Ärzte hatten infolge der großen Anzahl österreichisch-ungarischer Kriegsgefangener keinen Anspruch auf Heimtransport.


Hilfsbestrebungen für die Gefangenen.

Gleichzeitig mit den von den Offizieren ausgehenden materiellen Hilfsversuchen entstanden in den Lagern Bestrebungen zur Selbsthilfe.

Energische Persönlichkeiten unter den Kriegsgefangenen übernahmen die Führung, wobei ihnen der Ordnungssinn des deutschen Soldaten zu Hilfe kam. Es wurde versucht, durch eine feste Lagerordnung und Zusammenschluß in Kompagnien das Zusammenleben auf so engem Raume erträglich zu gestalten. Die Lagerarbeiten wurden geregelt, Flick- und Schuhmacherstuben entstanden - in Beresowka wurde sogar ein Gemüsegarten angelegt  -, eine namentliche Registrierung ermöglichte schnellere Austeilung der eingehenden Post, und in einigen Lagern, wie Tschita, Sauria, entstanden sogar Postanstalten nach europäischem Muster.

[190] Wenn diese ersten Hilfsbestrebungen auch aus Mangel an Mitteln und Bewegungsfreiheit ein Notbehelf blieben, so bildeten sie doch den Wegweiser für die große Hilfsaktion, die langsam aus dem Zusammenschluß der Heimat, der Neutralen und der Gefangenen entstand.

In dem Sibirien benachbarten China wurde die furchtbare Lage der Kriegsgefangenen zuerst bekannt. Dort bildete sich unter der warmherzigen Initiative von Frau Elsa v. Hanneken, einer Deutschen, die "Hilfsaktion für deutsche und österreichisch-ungarische Kriegsgefangene in Sibirien" in Tientsin, die von 1914 an Geld und Kleidung an die Gefangenen teils durch die Post, teils durch Mittelspersonen sandte.

Später erst erreichten die Nachrichten über das Los der deutschen Kriegsgefangenen die deutsche Heimat; aber sie blieben auf einen kleinen Kreis Beteiligter beschränkt. Viele Angehörige verblieben weiter in banger Sorge und suchten Hilfe bei der Heeresverwaltung und dem Roten Kreuz.

Die amtliche Fürsorge für die Kriegsgefangenen in feindlicher Hand war dem Unterkunftsdepartement des Kriegsministeriums in Berlin unter der tatkräftigen Leitung des Generals Friedrich übertragen und gliederte sich in Länderreferate. In unendlicher Kleinarbeit wurde dort mit einer Sammlung der Nachrichten aus Rußland begonnen.

Neben der amtlichen Tätigkeit bildeten sich schon früh in allen größeren Orten Deutschlands lokale Komitees und Schreibstuben, die den Angehörigen helfend zur Seite standen. Alle diese getrennt arbeitenden Vereinigungen schlossen sich im Januar 1915 zu einer über ganz Deutschland reichenden einheitlichen Organisation des Roten Kreuzes in den "Hilfen für kriegsgefangene Deutsche" zusammen. Für Rußland übernahm der Hamburgische Landesverein vom Roten Kreuz die Führung, da er durch Handelsbeziehungen seiner Leiter zu Skandinavien und Rußland über die besten Hilfsmöglichkeiten verfügte und diesen Weg bereits erfolgreich beschritten hatte. Er unterrichtete die angeschlossenen Hilfen über alle Nachrichten aus Rußland und alle Hilfsaktionen.

Die Hilfsaktion in Tientsin nahm die Verbindung mit der Heimat auf, und Mitteilungen der in Petersburg arbeitenden Damen der schwedischen Gesandtschaft erreichten Deutschland über Schweden.

Das natürlichste Bindeglied zwischen den Hilfsbestrebungen der Heimat und den notleidenden Gefangenen wäre die Schutzmacht gewesen, die die Interessen Deutschlands nach internationalen Gesetzen in Rußland vertrat. Amerika hatte sich bereit erklärt, dieses Amt zu übernehmen. Die amerikanische Vertretung in Rußland zeigte jedoch einen Deutschenhaß, der sie für jede Vermittlertätigkeit, die ihr nicht durch ihre Schutzmachtstellung unbedingt übertragen werden mußte, ganz ungeeignet machte. So blieb die amerikanische Botschaft in Petersburg in der Hauptsache die Vermittlerin des Notenwechsels, der sich in Gegenseitigkeit über die Lage der Kriegsgefangenen entwickelte. [191] Die von ihr als Schutzmacht geforderten Besuche der Gefangenenlager wurden anfänglich zögernd, später gründlicher und häufiger durchgeführt. Selbst diese amerikanischen Berichte mußten den Mangel an Nahrung, Kleidung, Unterkunft und die ausgebreiteten Epidemien bestätigen; sie bilden eine der Grundlagen der vorangegangenen Lagerschilderung.

Für die als notwendig erkannte durchgreifende Hilfsaktion mußte deshalb ein Träger gefunden werden, der tatkräftig und unbeirrt unter den Kriegsgefangenen in Rußland selbst zu arbeiten gewillt war. Wie in der Haager Landkriegsordnung vorgesehen, konnte nur das Rote Kreuz neutraler Länder für eine derartige Aufgabe in Frage kommen. Nach langen diplomatischen Verhandlungen einigten sich Deutschland, Österreich-Ungarn und Rußland dahin, alle Liebesgabensendungen durch Mitglieder des schwedischen Roten Kreuzes zu verteilen. Das dänische Rote Kreuz übernahm die Bücherfürsorge und den Schutz der Schwestern, die in Gegenseitigkeit die Gefangenenlager besuchen durften.

Im September 1915 reisten erstmalig 6 Abgesandte des dänischen Roten Kreuzes in Begleitung von 3 deutschen und 3 österreichisch-ungarischen Schwestern nach Rußland. Die Delegationen hatten das Recht, die Gefangenen an allen Unterbringungsorten ungehindert aufzusuchen, wobei ihnen die Auswahl der Reisewege freistand. Sie durften die Gefangenen ohne Ohrenzeugen in ihrer Muttersprache in persönlichen Angelegenheiten sprechen, ihre Wünsche entgegennehmen und Adressen für die Angehörigen sammeln. Vor allem durften die Delegationen Geld und Liebesgaben persönlich an die Gefangenen verteilen. Der Hauptwert dieser Inspektionsreisen lag - neben der praktischen, unbedingt das Ziel erreichenden Hilfe - in den Berichten, die schonungslos die von Rußland geleugnete Wahrheit enthüllten. So schreibt der Kommandeur Drechsel über die Besichtigung in Turkestan:

      "Wenn auch die Behandlung im allgemeinen in Turkestan keine schlechte ist und die Gefangenen eine gewisse Freiheit genießen, so ist die Beköstigung ebenso ungenügend wie anderswo. Was nützt es aber, wenn die Leute auch besser behandelt werden und doch in solchen Massen sterben! Wir glauben, die große Sterblichkeit erklärt sich aus der gänzlich falschen Art der Ernährung, sowie auch aus der Unterernährung. In den heißen Monaten betrug die durchschnittliche tägliche Zahl der Sterbefälle auf 1000 Lazarettkranke etwa 30 - 40, jetzt in der guten Jahreszeit etwa 10."

In dem Bericht des Obersten Muus über Sibirien heißt es:

      "Die Bekleidung war mehr als mangelhaft. Meist besaßen die Soldaten nur die Kleider, die sie auf dem Leibe trugen; keiner hatte etwas in Reserve. Aber häufig hatten sie überhaupt kein Unterzeug, einzelne sogar kein Hemd, 20% buchstäblich keine Stiefel, dagegen einige Lappen um den Fuß gewickelt. Eine Decke besaß keiner."

[192] Der Kammerherr de Vind schreibt:

      "Trotz der normierten Brotration von 2 Pfund täglich muß die Delegation die den Kriegsgefangenen zugestandene Verköstigung als unzulänglich bezeichnen und den vielfach von diesen geäußerten Klagen beistimmen. Die außerordentlich große Anzahl von Krankheitsfällen mit nicht geringer Sterblichkeitsziffer scheint in beredter Weise hiervon Zeugnis zu tragen."

Während der Reisen verteilten die deutschen Schwestern 1 235 000 Mark und die österreichisch-ungarischen Schwestern 4 500 000 Kronen. 37 000 Grußkarten der Gefangenen konnten den Angehörigen in Deutschland zugestellt werden; im ganzen wurden von dieser ersten Schwesternreise etwa 48 000 deutsche und 273 000 österreichisch-ungarische Kriegsgefangene erfaßt.

Im Sommer und Winter 1916 wurden diese Inspektionsreisen, allerdings unter strengeren Vorschriften, in Gegenseitigkeit wiederholt. Es reisten 6 dänisch-deutsche und 5 dänisch-österreichisch-ungarische Delegationen in Rußland und verteilten neben großen Mengen von Medikamenten 1 710 000 Mark und 15 500 000 Kronen. Eine offizielle Berichterstattung unterblieb dieses Mal auf russisches Verlangen - das spricht für sich selbst.


Liebesgabenversorgung über Schweden.

Um dem Mangel an Kleidung und Wäsche abzuhelfen, sammelten die Hilfen für kriegsgefangene Deutsche unter Leitung des Hamburgischen Landesvereins im Sommer 1915 binnen vier Wochen 100 000 Pakete nach einheitlichem Muster. Die deutsche und die österreichisch-ungarische Heeresverwaltung lieferten Uniformen, Mäntel, Decken und Stiefel. Der erste Zug mit diesen Liebesgaben, ausschließlich deutschen Ursprungs, traf im November 1915 in Sibirien ein, und seitdem ist die heimatliche Hilfe bis März 1918 ununterbrochen aufrechterhalten worden; sie hat im ganzen 41 Züge mit 1016 Güterwagen umfaßt. Der Wert dieser Liebesgaben beziffert sich zum Friedensstand für Deutschland auf 19 339 950 Mark und für Österreich-Ungarn auf 85 572 990 Kronen.

Die Verteilung durch die schwedischen Delegierten sollte sich nach den Bestimmungen auf das europäische Rußland, Turkestan und Sibirien bis zum Baikalsee erstrecken. Für Ostsibirien wurde sie gemeinsam mit Österreich-Ungarn der Hilfsaktion in Tientsin übertragen; für den Winter 1915 sowie für 1916 sind von Tientsin aus insgesamt 215 000 vollständige Ausrüstungen, einschließlich Decken und 150 000 Paar Lederschuhe, nach Ostsibirien gesandt worden, außer den laufenden Paketen der Hilfsaktion, die ungefähr weitere 20 000 vollständige Ausrüstungen umfaßten. Durch mangelhafte Unterstützung seitens der amerikanischen Vertreter konnte von der für den Winter 1916 bestimmten Sendung von 140 000 Ausrüstungen nur ein Teil den Gefangenen rechtzeitig zugestellt [193] werden. Als Amerika im Februar 1917 auf die Seite der Gegner trat, lagerte der größte Teil der Liebesgaben unter Zollverschluß in Wladiwostok, entgegen den internationalen Gesetzen. Die schwedischen Delegierten übernahmen von da ab auch die Arbeit in Ostsibirien, die nunmehr in einer Hand vereinigt blieb.

Die Hilfsaktion in Tientsin hat von 1914 bis Mai 1918, als sie auf Betreiben der Entente liquidieren mußte, einschließlich der ihr von Deutschland und Österreich-Ungarn für Ausrüstungen gesandten Gelder im ganzen 8 033 617 mexikanische Dollar für Gefangene aufwenden können. In der Hauptsache ist ihr dies durch die Opferfreudigkeit der Deutschamerikaner, sowie der Deutschen in China, Japan und der Südsee ermöglicht worden.

Neben der gerechten Verteilung der Liebesgaben hatte die schwedische Arbeit noch eine andere Bedeutung. Die ihr zur Verfügung gestellten großen Geldmittel ermöglichten eine durchgreifende Verbesserung der Lager. Es wurden Lazarette eingerichtet und mit allem nötigen Material ausgerüstet, Waschräume eingerichtet und für Zufuhr des nötigen Wassers gesorgt. Schneider- und Schuhmacherwerkstuben entstanden, um die gewaschenen alten Sachen brauchbar zu machen. Aus den zerlumpten, verschmutzten Gefangenen wurden wieder deutsche Soldaten.

Hatten so die Heimatländer amtlich und privat getan, was in ihren Kräften stand, um die materielle Grundlage für die Hilfe zu schaffen, so fiel der schwierigere Teil der Aufgabe den schwedischen Delegierten zu. Ließen sie sich die Verhältnisse von den Russen verschleiern, so war der größte Teil der Gaben im russischen Sumpf verloren. Fanden sie nicht den rechten Weg zum Verständnis der Gefangenen, blieb die Hilfe auf der Oberfläche. Die meisten Gefangenen schämten sich in ihrem soldatischen Ehrgefühl der Gefangennahme; dazu kam, daß nach einem Befehl vom Oktober 1914 Kokarden und Gradabzeichen zu entfernen waren und ihnen oft in rohester Weise abgerissen wurden, also eine Art Degradation erfolgte. Das saß wie ein Stachel in ihnen und verstärkte die durch die furchtbaren Verhältnisse und die Nachrichtenlosigkeit wachgerufene Ansicht, sie seien Menschen niederen Grades geworden, und die ganze schimpfliche Behandlung sei Absicht und nicht russische Art. Die schwedischen Delegierten, allen voran die bereits genannten beiden Damen der Gesandtschaft, gaben den Gefangenen durch die Art der Liebesgabenverteilung die Selbstachtung zurück. Die Begleiter der ersten Liebesgabenzüge haben die Fürsorgearbeit in die einzig richtige Bahn geleitet und sich den Willen der Gefangenen in dem Kampfe mit Seuchen und Korruption zum Helfer gemacht.

Die Seuchen erloschen allmählich und haben seitdem die Gefangenenlager nicht mehr in gleich verheerendem Maße heimgesucht. Das Interesse an Zerstreuung aller Art und geistiger Beschäftigung nahm zu. Nach vielen Bemühungen war es gelungen, die Erlaubnis zur Versendung von Büchern, die [194] vor 1914 erschienen waren, von Rußland in Gegenseitigkeit zu erlangen. Das dänische Rote Kreuz hat seitdem insgesamt etwa 800 000 Bücher teils in Bibliotheken, teils in Einzelpaketen nach Rußland gesandt, von denen der größte Teil vom Deutschen Studentendienst von 1914 in Berlin stammte. In Stockholm bildete sich ein Büchersammelkomitee, das in Schweden 98 000 Bücher sammelte und an die Gefangenen nach Rußland sandte. Die Hilfsaktion in Tientsin hat im ganzen mehrere 100 000 Bücher nach Sibirien geschickt. Die Hälfte aller Büchersendungen war wissenschaftlichen Inhalts.

Neben dem schwedischen und dänischen Roten Kreuz übernahm der Weltverein christlicher junger Männer durch amerikanische Sekretäre einen Teil der Arbeit in den Lagern. Er sorgte vor allem für Baracken zu kirchlichen und Schulzwecken und stiftete die Einrichtungen. Auch Turn- und Sportgeräte waren ihm zu danken. An erster Stelle unter seinen Einrichtungen standen seine Hilfsküchen, in denen eine kräftige Mahlzeit für geringes Entgelt gegeben wurde, und seine Verkaufsstellen. Auch vermittelte er später den Verkauf von Schnitzereien und anderen Handarbeiten der Gefangenen.

Zu dieser fortgesetzten Hilfsarbeit unter den Gefangenen traten vorübergehende Aktionen, wie die Expeditionen dänischer Ärzte und einer Ambulanz des amerikanischen Roten Kreuzes.


Kriegsgefangenenarbeit.

Inzwischen machte sich in Rußland ebenso wie in den anderen kriegführenden Ländern Mangel an Arbeitskräften bemerkbar. Anfänglich waren die Kriegsgefangenen nur zu unbezahlter Lagerarbeit herangezogen worden. Dann kamen Kommandos zu Wege- und Bahnbauten in der Nähe der Lager oder der Handwerker in die Städte. Bereits im Sommer 1915 wurde eine größere Anzahl Kriegsgefangener, besonders Slawen, der Landbevölkerung als Ersatz der einberufenen Männer überwiesen. Auch der südrussische Bergwerks- und Industriebezirk benötigte Arbeitskräfte, und Ende 1915 stand bereits mehr als die Hälfte der Gefangenen in Arbeit.

Nach der Haager Landkriegsordnung soll die Arbeit der Gefangenen bezahlt werden und nicht übermäßig sein.

Der russische Staat beanspruchte für sich nach einer Verordnung vom 7. Oktober 1914 die Gefangenenarbeit unentgeltlich und übergab die Gefangenen vollständig an die Leitungen seiner Werke. Die Bewachung ging in diesen Fällen von der Militärbehörde an die berüchtigte Gendarmerie über. In der Hauptsache handelte es sich dabei um den Bau von Bahnen, der Unternehmern übertragen worden war, wie die sogenannte Murmanbahn von Petersburg zum Eismeer, die Schwarzmeerbahn, Verbindungsstrecken im Ural und den [195] Bau von Zweigbahnen in Sibirien, sowie um Forstarbeit. In beiden Fällen wohnten die Gefangenen häufig in Baracken, die sie aus frischem Holz primitiv selbst zimmerten und die vor Feuchtigkeit schimmelten. Die Arbeit war schwer und lang, 18 Stunden Arbeitszeit oft die Norm. Dieser schweren Arbeit stand keine genügende oder kräftige Ernährung gegenüber; eine der Arbeit entsprechende Kleidung wurde nicht geliefert. Die Behandlung war brutal und nur vom Gesichtspunkt rücksichtsloser Ausbeutung diktiert. Skorbut und andere Folgen der Unterernährung mehrten sich und führten häufig, verbunden mit Rheumatismus, zu Verkrüppelungen. Die Militärbehörden weigerten sich oft, derartig kranke Kriegsgefangene zurückzunehmen, weil sie sie gesund den Werkleitungen übergeben hatten. Dann war ein langsames Sterben die Folge, bis der Körper der Krankheit und den Entbehrungen erlag. Andere Erkrankte kamen in die Lager des europäischen Rußlands oder in die russischen Provinzlazarette, wo kaum etwas zu ihrer Pflege geschah. Sie waren durch Tuberkulose, Magenkrankheiten, Rheumatismus und Skorbut für immer arbeitsunfähig geworden. Besonders die Städte des Gouvernements Wiatka und Perm mit ihren großen Forsten, ferner die Lazarette am Schwarzen Meer und die Uralstädte haben diese Kranken aufgenommen.

Ganz gleichem Schicksal waren die Kriegsgefangenen anheimgegeben, die Unternehmern zu ähnlicher Arbeit überlassen wurden. Für sie hatte der Unternehmer an den Staat ein örtlich festgesetztes Entgelt zu zahlen und für den Lebensunterhalt zu sorgen. Auch hier übernahm die Gendarmerie die Bewachung. Die Kriegsgefangenen waren dem Arbeitgeber völlig ausgeliefert, sie hatten keine Beschwerdeinstanz, und es erfolgte nie eine Kontrolle. Der ihnen zukommende Lohn wurde oft bei weitem überholt durch die Schulden, die sie für den Ankauf schlechter Kleidung bei der Werksleitung machten.

Auch die den städtischen Verwaltungen, den Semstwos, überlassenen Kriegsgefangenen traf häufig kein besonderes Los. Von dem für sie bestimmten Lohn erhielten sie einige Kopeken, die nicht zum Ersatz der abgearbeiteten Kleidung ausreichten. Sie hatten in den Städten den Reinigungsdienst zu verrichten, waren dabei in baufälligen Häusern oder in den Bettlerasylen und Gefängnissen einquartiert und meist schlecht verpflegt. Die bei Straßenbauten oder auf den Gütern der Semstwos arbeitenden Gefangenen kamen im Winter in die Stadt zurück, wo keine Wohngelegenheit für sie zur Verfügung stand und mußten dann monatelang dicht zusammengepfercht in den gleichen elenden Quartieren hausen.

Besser hatten es die Gefangenen da, wo ein persönliches Interesse die mit der Besserstellung verbundenen Kosten aufwog, wie bei den Handwerkern und vor allem den Bauern, denen gegenüber sich das Verhältnis schnell umkehrte; hier wurde der Kriegsgefangene der Herr durch seine unbedingte Überlegenheit. Aber auch auf großen Gütern, die vom Besitzer selbst bewirtschaftet wurden, [196] ebenso in gewerblichen Kleinbetrieben, wurde die Gefangenenarbeit geschätzt. Eine Ausnahme zum Guten bildete auch das Grubengebiet Südrußlands mit belgischer und französischer Leitung, wo europäische Arbeitsverhältnisse vorlagen. Hier haben die deutschen Kriegsgefangenen nur unter den meist tschechischen Vorgesetzten zu leiden gehabt.

Bei der Heranziehung der Kriegsgefangenen zur Arbeit, für die 1916 die sibirischen Lager fast geräumt wurden, wurde niemals auf die Vorbildung Rücksicht genommen. Dadurch mußte die Arbeit der Gefangenen, die ohnedies nur da, wo sie mit einer gewissen Freiheit des Schaffens verbunden war, gern geleistet wurde, noch mehr entwertet werden.

Wenn man die Arbeit der Kriegsgefangenen in Rußland an vielen Orten als Sklaverei bezeichnen muß, so trifft dies ganz besonders für den Bau der Murmanbahn zu. Zu den dort arbeitenden Strafgefangenen, Chinesen und Finnen traten vom Sommer 1915 ab etwa 70 000 Kriegsgefangene. Der Bau lag in den Händen von Unternehmern, die die Kriegsgefangenen nur als Ausbeutungsobjekt ansahen - sowohl in bezug auf ihre Arbeitskraft, die sie durch frische Gefangene ersetzten, wenn die ersten erledigt waren, als auch in bezug auf ihren persönlichen Vorteil. Wo es nur anging, wurde der Gefangene bestohlen, vom Wachtmann bis hinauf zum Werksleiter, und je abgelegener die Arbeitsstelle, desto drückender war die Behandlung. Die Wachmannschaft, in der Hauptsache Tscherkessen, unterstützte dieses Raubsystem. Zu härtester langer Arbeit bei ungenügender Ernährung und Unterkunft trat ein gesundheitsschädliches Klima, da ein großer Teil der Bahn durch Sumpfgelände führt. Rheumatismus, Skorbut und 1916 auch Flecktyphus forderten von den 70 000 Kriegsgefangenen 25 000 Todesopfer, während im Herbst 1916 von den übrigen bereits 32 000 schwer erkrankt waren. Die Berichte von Flüchtlingen wurden durch Ärzte bestätigt, die Februar 1917 den Abtransport der Kranken an der Murmanbahn erlebten.

Um diesen furchtbaren Zuständen ein Ende zu machen, schritt die deutsche Regierung Oktober 1916 nach vielen vergeblichen Protesten zu Gegenmaßregeln und brachte 1000 russische Offiziere in ein Moorlager. Als Antwort brachte Rußland alle kriegsgefangenen deutschen Offiziere und Ärzte in Mannschaftsbehandlung und drohte mit weiteren Zwangsmaßnahmen. Durch Vermittlung der Vorsitzenden des schwedischen und dänischen Roten Kreuzes, der Prinzen Karl von Schweden und Waldemar von Dänemark, gelang es im Dezember 1916, eine Verständigung herbeizuführen. Der Zar verfügte den Abtransport aller deutschen Gefangenen von der Murmanbahn bis Neujahr 1917, die gegenseitigen Repressalien traten außer Kraft. (Die Murmanbahn war inzwischen beendet worden.) Viele der Überlebenden starben während des Transports, so von 202 Mann im Gefängnis von Orlow 62 und von 40 auf der Fahrt nach Moskau befindlichen unterwegs bereits 15.

[197] Wenn auch das Hauptaugenmerk aller Hilfsbestrebungen auf örtliche Arbeit gelegt werden mußte, so wurde doch manche Besserung auf diplomatischem Wege erzielt.

Das für die Gefangenen wichtigste Ergebnis der Verhandlungen mit Rußland ist das im Sommer 1915 getroffene Abkommen über den Austausch der Schwerverwundeten und Kranken, deren Gebrechen und Leiden ihre militärische Verwendung im Heeresdienst dauernd oder für absehbare Zeit ausschloß. Die Anzahl der zum Austausch berechtigten deutschen Kriegsgefangenen war groß; trotzdem wurden gerade Deutsche am häufigsten zurückgestellt. Die Invaliden wurden in einigen Lagern gesammelt, wie Atschinsk in Ostsibirien, Omsk in Westsibirien, Taschkent für Turkestan, Samara, Pensa, Moskau u. a. im europäischen Rußland, und ärztlich geprüft. Waren sie für den Austausch anerkannt, kamen sie in Transporten nach Petersburg. Oft fand auch eine Sammlung und Untersuchung innerhalb der Militärbezirke als Zwischenstation statt, wobei Kasan besonders gefürchtet war. In Petersburg erfolgte die endgültige Festsetzung, und besonders deutsche Kriegsgefangene wurden mit Vorliebe wieder nach Sibirien zurückgeschickt, nachdem sie gründlichst bestohlen worden waren. Im ganzen konnten auf diesem Austauschwege, der von Petersburg über Schweden und Saßnitz führte, immerhin 3617 deutsche Invaliden, Ärzte und Schwestern und 22 551 Invaliden, Ärzte und Schwestern der Verbündeten in die Heimat geholt werden.

Anfang April 1916 traten die Kriegsministerien in Berlin und Wien mit der Bitte an Dänemark heran, in Gegenseitigkeit mit Rußland kranke Kriegsgefangene in Pflege zu nehmen. Dänemark trat sofort in Unterhandlungen mit Rußland; doch erst Ende 1916 gab Rußland sein Einverständnis dahin, Kriegsgefangene, die für mindestens ein Jahr zum Militärdienst untauglich waren, in Dänemark zu internieren; ein ähnliches Abkommen wurde mit Norwegen geschlossen. Das Abkommen über den Schwerverwundetenaustausch wurde später auch auf die Internierten ausgedehnt. Im ganzen sind in Dänemark und Norwegen 696 deutsche und 1226 Kriegsgefangene der Verbündeten interniert worden.

Im November 1915 fand auf Einladung des Prinzen Karl als dem Vorsitzenden des schwedischen Roten Kreuzes die erste Konferenz über Gefangenenfragen zwischen kriegführenden Ländern in diesem Weltkrieg statt. Alle Fragen des Gefangenenwesens, wie Unterbringung, Ernährung, Kleidung, wurden dabei erörtert. Die Erlaubnis für die Gefangenen, unter sich Wohlfahrtskomitees zu gründen und vor 1914 gedruckte Bücher zu lesen, wurde in dieser Konferenz beschlossen. Außerdem wurde vereinbart, den Offizieren, die durch das Verbot der Arbeit im Dienst des feindlichen Staates härter als die Mannschaften hinter die Plankenzäune der Lager verbannt waren, mehr Bewegungsmöglichkeit durch Spaziergänge zu geben.

[198] Im Dezember 1916 wurden in Stockholm die Besprechungen fortgesetzt, wobei eine Vorzugsbehandlung für die tuberkulösen Kriegsgefangenen im Vordergrund stand. Im August 1917 kamen österreichisch-ungarische und russische Vertreter in Stockholm zusammen, um über einen Austausch Kriegsgefangener durch die Front zu beraten, der jedoch aus militärischen Gründen nicht möglich war.

Ähnliche Bestrebungen führten im November 1917 zu einer Konferenz unter dänischem Vorsitz in Kopenhagen. Es wurde Einigkeit über einen erweiterten Austausch, über ständige Kontrolle durch neutrale Kommissionen und die allgemeine Gefangenenhaltung erzielt, doch blieben alle Konferenzbeschlüsse durch die russische Revolution für die deutschen Kriegsgefangenen bedeutungslos. Als Grundlage für die Verbesserung des internationalen Gefangenenrechts sind die Protokolle der Stockholmer und der Kopenhagener Konferenz von größter Bedeutung. Die Stockholmer Konferenz legte den Grund zu ähnlichen Besprechungen auch mit Frankreich und England.

Durch die von außen gebrachte Hilfe schufen sich die Kriegsgefangenen eine Lagerorganisation, die nicht hinter einem geordneten Städtewesen zurückstand. Nur in Ausnahmefällen haben Russen dabei mitgewirkt.

Jedes der größeren Lager verfügte nun über ein Informations- und Postbureau mit Namensregistratur.

Neben einer gründlichen Desinfektion der Baracken, wie in Omsk, Krasnojarsk, wurden in den Lagern eigene Desinfektionsanstalten eingerichtet. Die Krankenhäuser wurden mit Betten ausgestattet, und die Ärzte verfügten über die notwendigsten Medikamente und Instrumente. Es gab Dampfbäder und Wäschereien.

Jedes Lager hatte seine Küche, Bäckerei und Kantine, die größeren auch ein eigenes Schlachthaus. Zur Verbesserung der Ernährung wurde Gemüsebau und Kleinviehzucht betrieben.

Die Werkstuben verfügten fortab über Nähmaschinen und andere, teils selbstgefertigte, teils von Tientsin oder den schwedischen Delegierten beschaffte Maschinen. Für den Bedarf der Schustereien wurde das Leder nicht nur eingekauft, sondern oft im Lager auch gegerbt.

Im Anfang hatten sich die Gefangenen Löffel, Gabel und Trinkbecher selbst geschnitzt, da sie ihnen nicht geliefert wurden. Als der eigene Bedarf gedeckt war, entstanden in dem Drang nach Betätigung Schnitzereien, wie Schachspiele, der Natur abgelauschte Figuren, Knöpfe, Kästen und Schalen, Pfeifen und Spazierstücke. Aus Knochen und Pferdehaar verfertigten die Gefangenen Zigarrenspitzen, Ringe und Schmucksachen, Kämme und Bürsten. Zu dieser Handarbeit trat durch Gerberei und Seifensiederei, Schuhkremeerzeugung, Bürstenbinderei, Korbflechterei in größerem Stil bereits der Anfang [199] einer Industrie, die den russischen Markt als Absatzgebiet im Auge hatte. Manche Lager richteten Banken mit eigenem Lagergeld ein.

Trotzdem blieb bei dem häufigen Ortswechsel der Gefangenen alle solche Handarbeit nur eine zufällige Zerstreuung, aus der sie jeden Augenblick herausgerissen werden konnten. Ähnlich verhielt es sich mit den Schulkursen, die alle Fächer des Wissens umschlossen und von tüchtigen Lehrkräften abgehalten wurden. Die nötigen Schulbücher konnten seit der Stockholmer Konferenz beschafft werden. Jedes Lager verfügte 1916 über eine Bibliothek von mehreren tausend Bänden. Die Kurse wurden bei Eröffnung stark besucht, doch bald ließ der Lerneifer nach, und zum Schluß hatte nur eine kleine Zahl Schüler Lust und Energie zu ernsterem Studium. Von wirklichem Nutzen für das Leben sind die Sprachkurse geworden; mancher Gefangene hat in Sibirien außer russisch auch türkisch, englisch und französisch sprechen gelernt.

Den Studenten unter den Gefangenen war es oft möglich, das unterbrochene Studium wieder aufzunehmen. Als Einjährige waren sie von körperlicher Arbeit befreit. Sie standen durch den Deutschen Studentendienst von 1914 direkt oder über das dänische Rote Kreuz mit den heimischen Universitäten in Verbindung, und ihre Studien konnten ihnen bei späterem Examen in der Heimat Erleichterungen verschaffen. Sie waren die einzigen, deren Arbeit Wert für die Zukunft hatte. Viele der anderen Gefangenen hörten mit einer Beschäftigung, die für ihr eigentliches Leben bedeutungslos war, auf und überließen sich Grübeleien. Sie versuchten, sich in einem bitteren Verzicht mit den verlorenen Jahren abzufinden. Neben starker Gedächtnisschwäche wurden sie teils mutlos, teils gereizt und gerieten immer tiefer in die Stacheldrahtkrankheit hinein, die zwischen Deutschland und Frankreich sogar als Austauschgrund galt.

Zum wirklichen Trost in der Gefangenschaft wurde die Musik. Geschulte und ungeschulte Kräfte schlossen sich zu Chören zusammen. Zu den selbstgefertigten Instrumenten kamen durch die neutralen Delegierten und aus Tientsin Instrumente, die die Bildung wirklich künstlerischer Orchester zuließen. Aus Zufallslaune und mit einem Tisch als Podium bildeten sich im Laufe von zwei Jahren gute Schauspiele, die oft durch Berufsspieler geleitet wurden. Dieser Neigung der Gefangenen kamen auch die russischen Lagerbehörden mit Interesse entgegen, und so hatte 1917 jedes Lager sein Theater und Orchester.

Als Ersatz für die verbotenen Zeitungen waren zuerst die Nachrichten vom Kriegsschauplatz heimlich schriftlich verbreitet worden. Daraus entstanden im Lauf der Jahre Lagerzeitungen, die neben einer Lagerchronik die Kriegsberichte brachten. In einigen Lagern, wie Omsk, Tschita, wurden von Künstlern Almanache und Monatsschriften herausgegeben.

Bereits im ersten Jahre schlossen sich Gruppen von Turnern zusammen; durch die Unterernährung und die Enge der Lager kam es jedoch zu keiner [200] eigentlichen sportlichen Betätigung. Mit der Besserung der Verhältnisse und der größeren Bewegungsmöglichkeit (durch den Abtransport der Masse der Gefangenen zur Arbeit) trat der gesunde Sport stärker hervor. Es kam zu sportlichen Veranstaltungen unter reger Beteiligung aller Gefangenen und sogar der russischen Bevölkerung als Zuschauer.

Ein Beispiel für die Veränderung, die in den Lagern durch die unaufhörliche Hilfe der schwedischen Delegierten und der Heimat erreicht wurde, gibt das Totzkilager. 1915 war Totzki das Totenlager, in dem von 25 000 Gefangenen 17 000 den Seuchen und den Entbehrungen zum Opfer fielen. Es gab weder ein Lazarett noch einen Waschraum, nur die üblichen Baracken mit Pritschen. 1917 verfügte das Lager über 3 Vorratshäuser, Eiskeller, Kantinen, über Brunnen, Dampfbad, Badehaus für täglich 1000 Mann und ein vorzügliches Lazarett. Außer den Werkstuben sorgten eine Schnitzerei, Schlitten- und Wagenfabrik und Seifenfabrikation für die Beschäftigung der nicht zur Außenarbeit kommandierten Gefangenen. Der Sonntag wurde durch Gottesdienste und sportliche Feste auf großen Plätzen ausgefüllt. Die Ernährung der Gefangenen war gut und die Stimmung dankbar.


Die russische Revolution.

Ende Februar 1917 begann in Petersburg die Revolution, die den Zaren stürzte. Die allgemeine Verbrüderung dehnte sich an manchen Orten auf die Kriegsgefangenen aus, ohne im allgemeinen eine Änderung ihrer Lage herbeizuführen. Als das russische Heer im Sommer 1917 zur Offensive überging, versuchte die Kerenski-Regierung ebenso wie früher die zaristische, Kriegsstimmung durch eine Hetze gegen das Deutschtum zu schaffen. In allen Städten erzählten angeblich aus deutscher Gefangenschaft heimgekehrte russische Kriegsgefangene über ihre grausame Behandlung. An wenigen Plätzen lebte der Deutschenhaß dadurch wieder auf, so z. B. bei einem Brande in Laischew, bei dem die Kriegsgefangenen, welche löschen halfen, als Brandstifter beschuldigt und teilweise tödlich mißhandelt wurden.

Fast gleichzeitig mit der Revolution übernahm an Stelle von Amerika, das als Feind in den Krieg eingetreten war, Schweden die Vertretung der deutschen Interessen in Rußland. Damit hatten die deutschen Kriegsgefangenen in der Person des schwedischen Gesandten, General Brändström, eine wirkliche Schutzmacht gewonnen.

Die österreichisch-ungarischen Interessen wurden von Dänemark durch den Gesandten v. Scavenius wahrgenommen.

Im Sommer 1917 begann die Verpflegung durch die Unordnung an vielen Orten zu stocken, so daß die Lage der in den Lagern konzentrierten Kriegsgefangenen sich ungünstiger gestaltete. Andererseits gelang es vielen durch die [201] nachlässigere Bewachung, von der schweren Arbeit freizukommen oder zu fliehen. Diese Verhältnisse verschärften sich nach beiden Richtungen, als im November 1917 die Bolschewisten die Macht an sich rissen. Sie erklärten die Kriegsgefangenen zu freien Bürgern, hielten sich damit aber auch jeder Verpflichtung ihnen gegenüber enthoben. Die Kriegsgefangenen sollten in einer Zeit, in der der Verkehr in Unordnung geriet und die Arbeitsmöglichkeiten ständig abnahmen, selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen. Nur mit großen Schwierigkeiten gelang es den neutralen Delegierten, für die großen Lager die nötigsten Lebensmittel von den Russen zu erhalten.

Die Lage der deutschen Offiziere gestaltete sich durch die bolschewistische Revolution bedeutend schlechter. Hatte ihr Gehalt 1917 durch die Teuerung nicht mehr ausgereicht, um satt zu werden, so wurde es Ende 1917 monatelang ganz vorenthalten. Die Bewachung lag vielfach in den Händen der zu den Bolschewisten übergegangenen Kriegsgefangenen, die "Internationalisten" genannt wurden und eine starke Propaganda unter den kriegsgefangenen Mannschaften betrieben.

Zuerst im europäischen Rußland, dann aber auch in Turkestan und Westsibirien trieben die immer chaotischer werdenden Verhältnisse die Kriegsgefangenen von den Arbeitsplätzen auf den Weg nach Westen, nach der Heimat. An den wichtigsten Knotenpunkten, wie in Wiatka, Pensa, Moskau und Petersburg errichteten die Schutzmachtvertreter und die Abgesandten der Roten Kreuze Hilfsküchen für diese umherwandernden Riesenmassen Gefangener und richteten Heime ein.

Am 15. Dezember wurde der Waffenstillstand mit Rußland abgeschlossen; die Friedensverhandlungen begannen und wurden in bezug auf die Kriegsgefangenen auf Wunsch der Russen in Petersburg geführt. Mit dem Abbruch der Friedensverhandlungen im Februar 1918 verließ die deutsche Kommission Petersburg. Am 9. Februar wurde der Frieden mit der Ukraine und am 3. März mit Rußland unterzeichnet. Die im Friedensvertrag vorgesehenen Kommissionen der Mittelmächte zur Regelung der Kriegsgefangenenfragen und des Heimtransports trafen Ende April in Rußland ein. Bei dem ungleichen Zahlenverhältnis der kriegsgefangenen Deutschen und Russen - standen doch den etwa 167 000 deutschen Kriegsgefangenen in Rußland etwa 1 430 000 russische Kriegsgefangene in Deutschland gegenüber - war es schwierig, eine Einigung über den Abtransport zu erzielen.

Die deutsche Hauptkommission in Moskau unter Leitung des Majors v. Mielecki erreichte, daß 14 deutsche Abtransportkommissionen über das europäische Rußland ausgesandt wurden, um erst dieses von Gefangenen zu leeren und dann die in Sibirien und Turkestan wartenden Kriegsgefangenen zu befreien. An erster Stelle kamen für den Abtransport die Invaliden in Frage; die gesunden Kriegsgefangenen sollten Kopf um Kopf gegen kriegsgefangene [202] Russen ausgetauscht werden, und für die dann verbleibenden Russen sagte Deutschland den Heimtransport im gleichen Ausmaße wie beim Austausch zu. Österreich-Ungarn konnte Mitte Juli 11 Abtransportkommissionen in das europäische Rußland entsenden.

Jede Abtransportkommission sammelte an ihrem Standort die Gefangenen und sandte sie in Zügen westwärts. Bis zum Ausbruch der Revolution in Deutschland konnten im ganzen 80 000 deutsche Kriegsgefangene heimgeholt werden. Dazu kamen 21 000 deutsche Kriegsgefangene aus der Ukraine, die teils selbständig, teils durch die nach Kiew gesandte deutsche Abtransportkommission in die Heimat gelangten. Bis auf Sibirien, einige Uralgebiete und Turkestan waren November 1918 die deutschen Kriegsgefangenen heimgeholt.

Die eben erwähnten Gebiete konnten infolge des Aufstands der Tschechen in Rußland nicht erreicht werden. Diese Tschechen, fast ausschließlich ehemalige Kriegsgefangene, hatten nach Friedensschluß von der Front einen Marsch in östlicher Richtung über Samara angetreten. Sie hatten unter dem russischen Heer für ein selbständiges tschechisches Reich gekämpft, das sie mit Rußlands Hilfe aufrichten wollten. Diese Hoffnung war durch den Friedensschluß enttäuscht worden, und nun wollten sie sich über Sibirien nach dem westlichen Kriegsschauplatz einen Weg suchen. Es standen im Frühjahr 1918 etwa 80 000 bis 90 000 militärisch organisierte Tschechen in Rußland. Sie zogen in geschlossenen Abteilungen vom Süden bis an die Wolga und von da die sibirische Bahn entlang. Am 26. Mai nahm eine dieser tschechischen Abteilungen den Bahnhof Mariinsk in Westsibirien mit den Waffen in Besitz, und bis Ende Juli war die Bahnlinie von Simbirsk im europäischen Rußland bis Irkutsk am Baikalsee in Sibirien vollständig in die Hand der Tschechen gekommen. Die bürgerlichen Elemente dieser Gegenden schlossen sich überall zusammen, und im November 1918 trat der Admiral Koltschak an die Spitze dieser "weißen" Aufstandsbewegung, deren militärischen Rückhalt die tschechische Armee bildete.

Weder Admiral Koltschak noch die Tschechen erkannten den Brester Frieden an. Sie hatten den Krieg gegen Deutschland in ihr Programm aufgenommen und betrachteten deshalb die noch in Sibirien befindlichen Kriegsgefangenen als erneut gefangengenommen. Da im Juli 1918 Landungen von Ententetruppen in Wladiwostok erfolgten, waren von da ab die Kriegsgefangenen von Samara bis Wladiwostok von jeder Verbindung mit der Heimat abgeschnitten und nunmehr in der Gefangenschaft der weißen Russen, der Tschechen und der Entente. Sie blieben in den Lagern eingeschlossen, und ihre Lage gestaltete sich immer schwieriger. Obgleich sie nie absichtlich an den Kämpfen zwischen den Roten und Weißen teilgenommen hatten, beschuldigten die Tschechen sie häufig der Spionage, um ihren Haß an den Deutschen auslassen zu können. Neutrale Delegierte, die in den abgesperrten Gebieten blieben, wurden Zeuge zahlreicher Ermordungen mit und ohne Hilfe der tschechischen Kriegsgerichte. In [203] Samara, in Kasan, im Ural, in Krasnojarsk - überall wurden Kriegsgefangene das Opfer der Tschechen. In der Hauptsache handelte es sich dabei um Deutschösterreicher, da sich reichsdeutsche Kriegsgefangene außer den großen Offizierslagern nur in verhältnismäßig geringer Zahl beim Tschechenaufstand in den abgesperrten Gebieten befanden. Von den neutralen Delegierten wurde der Schwede Hedblom mit seinen Gehilfen und die beiden Dänen Marstrand ebenfalls getötet. Hierbei wie bei allen derartigen Ermordungen spielte die Beschlagnahme der Kassen eine große Rolle.

Zu den in Sibirien verbliebenen neutralen Delegierten trat vom Sommer 1918 eine Delegation mit Elsa Brändström und dem Grafen Stenbock an der Spitze, der es gelungen war, durch die tschechische Front Sibirien zu erreichen.

Im Heere Koltschaks gab es außer der tschechischen Armee auch polnische, serbische, rumänische und italienische Korps. Sie alle trieben unter den Kriegsgefangenen ihrer Nationalität eine rücksichtslose Rekrutierung für ihre Truppenkörper. Die Tschechen und Südslawen gingen im Herbst 1918 sogar zu Zwangsaushebungen über. Weigerungen wurden durch die schon von der Tschechenpropaganda bekannte harte Behandlung bestraft, häufig auch durch Erschießung, nachdem die Opfer selbst ihr Grab gegraben hatten.

In den Lagern begann in dieser Zeit, um das Leben zu fristen, von seiten der kriegsgefangenen Offiziere und Mannschaften eine ausgedehnte Industrie, die bald den von jeder Zufuhr abgeschnittenen sibirischen Markt versorgte. Vom täglichen Hausgerät, von Möbeln, chemischen Produkten bis zur Tabak- und Zigarettenindustrie lieferten die Kriegsgefangenen alles, was Sibirien brauchte. Es gelang ihnen, das Rohmaterial zu beschaffen und die nötigen Werkzeuge und Maschinen selbst anzufertigen. Mit Hilfe der neutralen Delegierten wurde der Ein- und Verkauf lagerweise organisiert, um Unterbietungen auszuschalten. Einen Begriff von dem Umfang dieser Lagerindustrien geben die Umsatzziffern, die beispielsweise monatlich in Kansk 500 000 Rubel, in Barnaul 750 000 Rubel, in Krasnojarsk 3 000 000 Rubel und in Irkutsk 7 000 000 Rubel betrugen. Von dem Überschuß der Arbeiten wurden die Wohlfahrtseinrichtungen der Lager aufrechterhalten. Nur dieser Tätigkeit ist es zuzuschreiben, wenn die Kriegsgefangenen der Lager in der Zeit der Tschechenherrschaft nicht verhungerten.

Außerhalb der Lager arbeiteten damals Kriegsgefangene, auch die Offiziere, auf allen Gebieten. Sie stellten nach einer russischen Statistik 50 - 80% aller Arbeiter, unter den Ingenieuren und Chemikern befanden sich 20%. Bei der tschechischen Armee arbeiteten etwa 12 000 Kriegsgefangene und bei den amerikanischen Truppen kleinere Gruppen.

Im Oktober 1919 begann der Rückzug der weißen Armee des Admirals Koltschak und der Tschechen. In fünf Monaten rückten die roten Truppen vom Ural bis zum Baikalsee vor und trieben die weiße Armee mit ihren Angehörigen [204] vor sich her. Der Flüchtlingsstrom schleppte die Epidemien mit sich. In Nowo Nikolajewsk starben von 45 000 erkrankten Weißen 22 000, in Krasnojarsk über 40 000 Durchziehender. Dank der Abgeschlossenheit der Kriegsgefangenenlager blieben die Seuchen in diesen auf geringen Prozentsatz beschränkt.

Die Kriegsgefangenen hatten gehofft, durch die Rote Armee aus der Gefangenschaft befreit zu werden und heimreisen zu können. Doch die Sowjets brauchten die Hilfe der Kriegsgefangenen in Sibirien. Sie gaben die Heimreise nicht frei, sondern ließen den roten Elementen unter den Kriegsgefangenen, den sogenannten Internationalisten, in der Hauptsache Ungarn, freie Hand für eine rücksichtslose Propaganda. Ebenso wie zur Tschechenzeit blieben die Kriegsgefangenen von der Heimat abgeschnitten und auf sich selbst gestellt. Die neutralen Delegierten hatten bis auf Elsa Brändström die bedrohten Gebiete beim Herannahen der Roten verlassen.

Am 19. April 1920 wurde zwischen Deutschland und Rußland ein Abkommen über den Austausch der Kriegsgefangenen getroffen. Ein deutscher Vertreter reiste in Gegenseitigkeit nach Moskau, und ihm gelang es, im Sommer 1920 den Befehl zu erwirken, den Kriegsgefangenen die Heimreise zu gestatten; dieser Befehl ist häufig unterschlagen worden. Oft wurde auch die Bedingung daran geknüpft, zuerst drei Monate für die Sowjetbehörden zu arbeiten. Immerhin begann im Herbst 1920 der Abtransport nach Ost und West zu rollen. Das Internationale Rote Kreuz stellte Schiffe für den Transport über die Ostsee zur Verfügung. Im Dezember 1919 konnte eine deutsche Abtransportkommission in Wladiwostok eintreffen und einige tausend deutscher Kriegsgefangener über den Osten heimbefördern. Im Lauf des Jahres 1921 ist es endlich gelungen, die letzten deutschen Kriegsgefangenen, die heimkehren wollten, aus Rußland zu holen, nach einem Kampf um den Heimtransport von mehr als drei Jahren.

Um den Kriegsgefangenen die bitteren Jahre der Gefangenschaft zu erleichtern, hat Deutschland amtlich im ganzen 114 251 600 Goldmark für seine Kriegsgefangenen in Rußland aufgebracht.

Das Los des Kriegsgefangenen, der ihm in Erfüllung vaterländischer Pflicht zum Opfer fiel, ist eins der härtesten, die dem Menschen zufallen können. Dieses Schicksal zum Unerträglichen gesteigert zu haben, ist eine Schandtat, die Rußland selbst unter Berücksichtigung des niedrigen Kulturzustandes für immer als ein schlimmster Makel anhaften wird. [Scriptorium merkt an: anhaften, ja - aber offenbar nicht also solcher empfunden, denn diese Schandtat hat sich während und nach dem zweiten Weltkrieg unverändert wiederholt.]


8 [1/182]Quellen: Berichte der amerikanischen Botschaft und schwedischen Gesandtschaft in Petersburg; Berichte des schwedischen und dänischen Roten Kreuzes; Elsa Brändström: Unter Kriegsgefangenen in Rußland und Sibirien 1914 - 1920. Wer sich über die furchtbare Tragödie der deutschen Kriegsgefangenen in Rußland eingehender unterrichten will, sei auf diese Schrift verwiesen, deren Erlös einem von Elsa Brändström gegründeten "Arbeitssanatorium für ehemalige deutsche Kriegsgefangene in Rußland" zufließt. ...zurück...

9 [2/182]1914 - 1918 Sekretärin im Kriegsministerium, Abteilung Gefangenenschutz. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte