Bd. 7: Die Organisationen der Kriegführung,
Zweiter Teil:
Die Organisationen für die Versorgung des
Heeres
Kapitel 6:
Feldsanitätswesen
(Forts.)
Generalarzt Dr. Carl Altgelt
3. Wissenschaftlicher Teil.
Vorbemerkung: Die Ergebnisse des Krieges für die
ärztliche Kriegswissenschaft sind zum großen Teil bereits in den
verschiedenen Fachschriften, insbesondere in dem von dem nun verstorbenen
Feldsanitätschef Exz. v. Schjerning begründeten
Sammelwerk Die Tätigkeit und die Erfolge der deutschen
Feldärzte im Weltkriege,22 das man
als sein Vermächtnis an die deutsche Ärzteschaft ansehen kann,
niedergelegt. Nichtsdestoweniger erschien es
wünschens- [474] wert, der Darstellung
des Sanitätswesens im Großen Kriege auch eine
allgemeinverständliche Schilderung dieser Ergebnisse beizufügen,
damit jedermann im Volke sich davon eine ausreichende Vorstellung machen
kann. Einige Bezugnahmen auf den vorstehenden sanitätsdienstlichen und
kriegsgeschichtlichen Teil waren nicht zu umgehen; sie erklären sich aus
dem engen organischen Zusammenhang zwischen Heeressanitätswesen und
ärztlicher Kriegswissenschaft.
Chirurgie - Orthopädie - Zahnheilkunde.
Chirurgie.
(Von Professor Dr. Körte, Berlin.)
Der Kriegschirurgie hat der Große Krieg 1914/18 größere
Aufgaben denn je gestellt. Frühere Erfahrungen stammten aus den
Feldzügen von 1864 bis 1870/71. Es entsprach der Natur der Dinge,
daß von den Chirurgen dieser Zeit kaum einer noch in Tätigkeit war.
Im Anfang der siebziger Jahre kam Listers große Entdeckung der
antiseptischen Wundbehandlung zur Aufnahme und weiteren Entwicklung, an
welcher deutsche Chirurgen (Volkmann, Thiersch, Bardeleben u. a.)
besonders erfolgreich mitgearbeitet haben. Durch Robert Kochs unsterbliche
Arbeiten über die Erreger der Wundinfektionskrankheiten wurden die
wirksamen Waffen zur Bekämpfung dieser gefährlichen Gegner der
Wundheilung geschaffen. Eine weitere hervorragende Bereicherung erfuhr die
Chirurgie durch Röntgens große Entdeckung, die bei den
Schußbrüchen wie bei der Auffindung und Behandlung der
Steckschüsse unschätzbare Dienste geleistet hat. Die deutsche
Militärmedizin hatte während der Friedensjahre unter
Männern wie v. Coler, v. Leuthold, v. Schjerning im
Verein mit namhaften Chirurgen (v. Bergmann,
v. Bruns u. a.) alles darangesetzt, diesen Teil der
Rüstung fortdauernd zu vervollkommnen durch immer bessere Ausbildung
der Militärärzte, durch wichtige Versuche über die Wirkungen
der Schußwaffen, durch Entsendung von Militärärzten zu den
Kriegen anderer Nationen. Auch hatten die Kolonialkriege in Afrika und China
manche Gelegenheit gegeben, die Wundverhältnisse bei der neueren
Bewaffnung zu studieren, neue Heilmethoden zu erproben. Auf den Kongressen
der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie wurden kriegschirurgische Fragen
eingehend erörtert. So besprach v. Schjerning 1901 die
Schußverletzungen durch die modernen Feuerwaffen. 1906 wurden die
Erfahrungen des Russisch-Japanischen Krieges ausführlich behandelt.
Wohl war es den deutschen Chirurgen klar, daß ein neuer Krieg schwere
Aufgaben stellen würde. Wie gewaltig, alles bis da Erlebte
überragend, die Arbeit ausfallen sollte, hat damals wohl keiner geahnt. Und
in der Tat überstieg der Große Krieg 1914/18 durch die
Massenhaftigkeit und Neuheit der Kampfmittel alle bisherigen Erfahrungen. Viel
überraschend Neues trat zutage, man mußte in manchem umlernen
und die Chirurgie den neuen Verhältnissen anpassen.
[475] Zu den Schwierigkeiten
der chirurgischen Versorgung des einzelnen bei dem gewaltigen Massenandrang
in den Dauerkämpfen der großen Abwehrschlachten im Westen
kamen in dem kulturarmen Osten und Süden die Schwierigkeiten der
Unterbringung der Verwundeten und ihres Transports über die weiten
Entfernungen auf schlechten Wegen, noch dazu bei der Kälte des
russischen Winters.
Eine neue Erscheinung war auch der Grabenkrieg. Die Wundverschmutzung
durch Erde, Lehm, Schlamm hatte viele üblen Folgen; auch einfache
Wunden gewannen durch Infektion mit Keimen aus dem Erdboden bisweilen
einen bösartigen Charakter.
Die großen Fortschritte der Waffentechnik führten zu starken
Verlusten innerhalb kurzer Zeit, so daß der dann oft rasch anschwellende
Strom der Hilfesuchenden kaum zu bewältigen war.
Die Verwundungen durch blanke Waffen traten dagegen ganz zurück. Ich
habe eine kleine Anzahl meist leichter Bajonettwunden gesehen; nur wenige
hatten schwere Verletzungen (Brust, Bauch) verursacht. Dazu kamen einige
wenige Fälle von Verwundung durch Messer, Lanze, Säbel.
Es überragen völlig die durch Handfeuerwaffen und
Artilleriegeschosse gesetzten Wunden. Das kleinkalibrige Mantelgeschoß,
welches fast durchgehend verwendet wurde, zeichnete sich aus durch eine sehr
große Geschwindigkeit bei starker Rotation; die Reichweite war bis zu
4 km und darüber erhöht. Die außerordentliche
Verstärkung der Feuergeschwindigkeit, die Massenwirkung der
Maschinengewehre vermehrten die Zahl der Verwundeten. War man vor dem
Kriege der Ansicht gewesen, besonders auf v. Bergmanns Autorität
gestützt, die Wunden der kleinkalibrigen Handwaffen für im
wesentlichen "aseptische", d. h. nicht von vornherein mit Infektionskeimen
verseuchte anzusehen, so mußten die Chirurgen diese Meinung bald sehr
einschränken. Weichteilwunden mit kleinem
Ein- und Ausschuß freilich sah man vielfach nach Jodanstrich zur
Hautdesinfektion unter dem aufgelegten Verbandpäckchen heilen. Wenn
Knochen verletzt waren, dann waren die Ausschußwunden
größer infolge der Splitterwirkung, und die größere
Hautwunde führte oft zur Infektion und ausgedehnten Eiterung. Man
überzeugte sich ferner, daß das Geschoß durch Anstreifen an
den Erdwall, beim Durchschlagen der mit Erde und Lehm oft krustenartig
überzogenen Bekleidung Infektionsstoffe mit in die Wunde riß, die
dann doch zur Wundeiterung führten. Verhängnisvoll war ferner die
Neigung des Spitzgeschosses, sich zu überschlagen. Der
Querschläger machte größere und schwerer heilende Wunden.
Noch übler war das durch zufälliges Anstreifen an Steine oder
metallene Gegenstände erfolgende Einreißen des Mantels, weil der
vordringende weiche Bleikern sich pilzförmig stauchte, beim Auftreffen auf
Knochen in viele Teile zersprang und große Verheerungen anrichtete.
Mehrfach wurde behauptet, daß Mantelgeschosse planmäßig
durch Abschneiden der Spitze in [476] Dumdumgeschosse
umgewandelt seien, auf deren große Gefährlichkeit schon
v. Bruns hingewiesen hatte. Wenn auch einzelne Irrtümer dabei
untergelaufen sein mögen, so ist doch eine Anzahl von Fällen als
beglaubigt anzusehen.
Die gegen früher sehr verstärkte Wirkung der Geschosse trat bei den
Verwundungen durch Artilleriegeschosse noch bedeutend mehr hervor.
Während früher die Verwundungen durch Infanteriegeschosse
überwogen, so daß z. B. im deutschen Heere 1870/71 89%
Verwundungen durch Handfeuerwaffen auf nur 8,2% durch Artilleriegeschosse
kamen,23 war das Verhältnis im letzten
Kriege infolge der massenhaften Verwendung der Artillerie bis zu den schwersten
Kalibern völlig umgekehrt, besonders in den schweren
Abwehrkämpfen an der Somme, Aisne usw. Dazu kam noch,
daß durch Verwendung stärkster Explosivstoffe, sowie besonders
spröder Metallmassen für den Geschoßkörper das
Zerspringen der Geschosse in eine sehr große Zahl kleiner und kleinster
Sprengstücke erreicht wurde, von denen jedes doch noch die Kraft hatte,
selbst auf weite Entfernungen von der Einschlagstelle die schwersten Wunden zu
schlagen und oft vielfache Verwundungen an einem und demselben Individuum
hervorzurufen. Sehr ähnlich den Granatverletzungen waren die durch
andere im Laufe des Krieges mehr und mehr verwendeten Explosivgeschosse,
Minen, Fliegerbomben, Handgranaten, deren scharfrandige dünne
Metallsplitter oft tödliche, meist vielfache, schwer heilende Wunden
verursachten. Daneben trat noch die üble Wirkung, welche die bei der
Explosion ausströmenden giftigen Gase auf das Allgemeinbefinden der
Verwundeten ausübten.
Gegenüber diesen durch Explosivgeschosse der verschiedensten Art
erzeugten Wunden traten die durch Infanteriegeschosse verursachten stark
zurück. Es hat Zeiten gegeben (1917/18), wo bei der 1. Armee, in welcher
ich damals tätig war, auf 97% Wunden der ersteren Art nur 3% durch
andere Art kamen.
Die runden Bleikugeln, welche die Schrapnells ausspien, waren etwas weniger
gefährlich als die Granaten; die Durchschlagskraft war nicht so groß
wie bei jenen. Dafür kamen Steckschüsse, Mitreißen von
Fremdkörpern und mehrfache Verletzungen durch Schrapnells häufig
vor.
Die durch Artilleriegeschosse jeder Art gesetzten Wunden sind von vornherein
stets als infizierte anzusehen, da die Metallsplitter Erdreste und Stoffteile von der
Kleidung mitreißen. Es brach sich sehr bald die Ansicht Bahn, daß die
Ärzte bei diesen gerissenen, vielbuchtigen, mit absterbenden Gewebsfetzen
durchsetzten Wunden mit der bei den Infanteriegeschoßwunden
geübten aseptischen und konservativen Behandlung nicht auskamen.
Garré gab dem Ausdruck auf der Kriegschirurgentagung 1915 zu
Brüssel. Die meisten Chirurgen gingen auch zu einem aktiveren Vorgehen
über: Spaltung der Wunden, Ent- [477] fernung von
Fremdkörpern, abgestorbenen Gewebsstücken bis zu
planmäßigem Ausschneiden der Wundränder und Anwendung
von fäulniswidrigen (antiseptischen) Mitteln. Klapp empfahl 1917 die
Verwendung eines "Vuzin" (nach Vouziers) getauften Chininderivates zur
Injektion in die Gewebe, um diese im Kampfe gegen eingedrungene Keime zu
stärken (Tiefenantisepsis). Damit sind bei sachgemäßer
Anwendung gute Erfolge erreicht worden.
Es zeigte sich also, daß die große Mehrzahl der Kriegsverletzungen
nicht als aseptische, fäulnisfreie gelten dürfen, und daß man
demgemäß von der bei den Friedenswunden angewendeten
"aseptischen" Behandlung im Kriege bis zu einem gewissen Grade wieder zur
antiseptischen mit fäulniswidrigen Mitteln übergehen müsse,
daß ferner auch die im Frieden zu hoher Vollkommenheit gediehene
konservative, erhaltende Methode der Wundbehandlung im Kriege engere
Grenzen findet.
Dank der Lehren Robert Kochs,
der im kochenden Wasser und im
strömenden Wasserdampfe die wirksamen Waffen gegen die
Wundinfektionskrankheiten gezeigt hatte, sind die früher so
gefürchteten Wundkrankheiten: Pyämie, Sepsis, Wundrose,
Hospitalbrand niemals epidemisch aufgetreten. Wohl kamen einzelne Fälle
vor, wie das bei der großen Zahl von schweren Verletzungen zu erwarten
war, aber es kam niemals zu jener Weiterverbreitung von Bett zu Bett, wie es
noch 1870 gesehen wurde, weil jetzt mit dampfsterilisierter Gaze und mit immer
wieder von neuem ausgekochten Instrumenten verbunden und für die
peinlichste Reinlichkeit gesorgt wurde. Das ist als eine große
Errungenschaft der Chirurgie anzusehen.
In den ersten Monaten des Krieges trat der gefährliche Wundstarrkrampf
(Tetanus) häufig auf, dessen Keime hauptsächlich im Erdboden sich
fanden und von den Geschossen mit in die Wunden gerissen wurden. Aber auch
dieser Geißel der Verwundeten wurde man Herr durch die allgemein
eingeführte vorbeugende Impfung jedes Verwundeten mit dem von v. Behring
erfundenen Tetanusantitoxin. Seitdem dieses Verfahren restlos
durchgeführt war, sank die Zahl der Tetanusinfektionen auf ein sehr
geringes Maß herab. Mit Stolz darf Deutschland darauf hinweisen,
daß drei deutschen Forschern: Robert Koch, v. Behring und Röntgen
die wichtigsten Fortschritte in der Wundbehandlung zu verdanken
sind.
Eine neue höchst gefährliche Wundkrankheit trat in der
Gasphlegmone (Gasödem, Gasbrand) auf, die weder bei
Friedensverletzungen - äußerst seltene Fälle
ausgenommen - noch in früheren Kriegen24 je in dieser Ausdehnung beobachtet
worden war. Diese Erkrankung trat den Kriegschirurgen [478] als eine neue und
überraschende Erscheinung entgegen. Als die Erreger wurden drei
verschiedene Arten von anaeroben Keimen gefunden, welche unter
Luftabschluß in abgestorbenem Gewebe zur Entwicklung kommen, so
besonders an Körperstellen, wo große Muskelmassen unter derber
Faszienumhüllung liegen. Als Gründe des häufigen Auftretens
im Kriege sind anzusehen: der Schützengrabenkrieg mit seinen
häufigen Erdbeschmutzungen, denn in schwerem, lehmhaltigem Boden
finden sich die Erreger des Gasbrandes besonders häufig, ferner die enorme
Gewalt der modernen Infanterie- wie Artilleriegeschosse, die zu einer starken
Zertrümmerung der Gewebe, besonders der getroffenen Muskelmassen
führten. Die Erkrankung beginnt plötzlich meist bald, oft in wenigen
Stunden, oder doch in wenigen Tagen nach der Verwundung mit heftigen
Schmerzen und schweren allgemeinen Vergiftungserscheinungen. Das Glied
schwillt in der Umgebung der Wunde an; es tritt Gasbildung in den Geweben auf,
ohne daß es zur richtigen Eiterung kommt. Die Wundabsonderung besteht
aus einer trüben, fade riechenden serösen Flüssigkeit. Unter
schnellem Fortschreiten kann die Erkrankung in
1 - 2 Tagen zum Tode führen. Die Häufigkeit des
Auftretens wird sehr verschieden angegeben, von
0,5 - 2% der Verwundeten. Die Mortalität betrug
40 - 50%. Auf allen Kriegsschauplätzen kam das
Gasödem vor, anscheinend am häufigsten im Westen.
Ein spezifisches Mittel dagegen ist noch nicht gefunden. Als wichtigstes
Vorbeugungsmittel ist die möglichst bald nach der Verletzung
vorzunehmende breite Spaltung der Wunde und Ausschneiden des
zertrümmerten Gewebes zu betrachten. Nach Großkampftagen, in
welchen die Masse der Verwundeten diese zeitraubende Versorgung oft nicht
zuließ, war ein gehäuftes Auftreten zu beobachten. Die
frühzeitige Amputation zerschmetterter Gliedabschnitte kann ebenfalls dem
Ausbruch vorbeugen. Thieß empfahl die Stauungsbehandlung, Bier
besonders die Anwendung großer heißer Breiumschläge. Doch
erwiesen sich oft alle Bemühungen außerstande, das Leben zu
erhalten. Der Gasbrand blieb eine der gefährlichsten Komplikationen,
denen die Verwundeten ausgesetzt waren. Eine Verbreitung desselben im Lazarett
von Fall zu Fall hat sich nicht nachweisen lassen.
Nur kurz können die Verwundungen der einzelnen Körperregionen
gestreift werden. Die Schädelschüsse waren anfangs sehr
häufig, wurden später durch die Einführung des Stahlhelms
viel seltener. Schwere Zertrümmerungen des Gehirns oder
Zerstörung lebenswichtiger Stellen in demselben führten zum Tode
auf dem Schlachtfeld; immerhin kam eine beträchtliche Zahl von
Kopfschüssen noch in ärztliche Behandlung. Sie galten früher
als ein noli me tangere (v. Bergmann). Sehr bald wurde im Kriege
erkannt, daß besonders bei den Tangentialschüssen die primäre
Freilegung und Entfernung von Knochensplittern und Fremdkörpern sehr
nutzbringend und empfehlenswert war. Spätfolgen kamen häufig
vor.
[479] Bei den
Kieferverletzungen erwies sich die Beihilfe der Zahnärzte als sehr
segensreich durch Schienung und Befestigung der Bruchstücke. Die oft
grausige Zerreißung der Gesichtsweichteile wurde durch plastische
Operationen in der Heimat in den meisten Fällen wieder beseitigt.
Die Brustdurchschüsse durch Infanteriegeschosse heilten in einer
beträchtlichen Zahl von Fällen infolge des kleinen Kalibers der
Mantelgeschosse. Die durch Artilleriegeschosse verursachten verliefen weniger
günstig, weil die Zerreißung der Brustwand schwerer war.
Mit Hilfe von improvisierten Überdruckapparaten (Sauerbruch) wurden
eine Anzahl von erfolgreichen Eingriffen ausgeführt.
Bezüglich der Bauchschüsse waren die Ansichten über
Eingreifen oder nicht Engreifen anfangs geteilt. Denn die Erfahrungen aus dem
Burenkriege wie aus dem Russisch-Japanischen Kriege lauteten ungünstig
für die operative Behandlung. Bald aber wurde erkannt, daß
besonders im Stellungskriege durch Eingreifen in den ersten zwölf Stunden
nach der Verwundung doch eine Zahl von zirka 40% der noch lebend in
Lazarettbehandlung gelangten Bauchschüsse geheilt werden konnten.
Das Schicksal der Verwundungen der Wirbelsäule und des
Rückenmarkes blieb ein trübes, sie führten meist zum Tode
oder langen Siechtum. In allen denjenigen Fällen, wo das so empfindliche
Rückenmark selbst gequetscht oder gar zerrissen war, konnte auch der
operative Eingriff nicht helfen. Bei leichteren Schädigungen des
Rückenmarks sind einzelne Besserungen erzielt worden.
Die peripheren Nervenstränge wurden oft durch Geschosse verletzt, und
nicht immer gelang es durch Operationen in den Heimatlazaretten, trotz eifrigen
Bemühens vieler Chirurgen, die Nervenleitung wieder herzustellen. Oft
konnte durch Muskelverpflanzungen die Schädigung der
Gebrauchsfähigkeit des Gliedes sehr verbessert werden.
Eine auffallende Erscheinung war die Häufigkeit der Verletzung
großer Blutgefäße durch das Mantelgeschoß. Oft mag die
Trennung großer Schlagadern den Tod durch Verblutung auf dem
Kampfplatze herbeigeführt haben; eine genaue Statistik gibt es
darüber nicht. In anderen Fällen kam es zur Entstehung von
Aneurysmen (Schlagadergeschwülsten), welche durch Unterbindung oder
durch das neue Verfahren der Arteriennaht beseitigt werden mußten. Das
kleinkalibrige Spitzgeschoß durchdringt den Körper mit solcher Kraft
und Schnelligkeit, daß auch bewegliche Gebilde, wie die
Blutgefäße, nicht beiseite geschoben, sondern durchbohrt oder
zerrissen werden; daher stammt die auffallende Häufigkeit der
Gefäßverletzungen in den neueren Kriegen, gegen früher, wo
das rundliche Bleigeschoß verwendet wurde.
Die vorläufige Blutstillung durch den elastischen Schlauch (nach
v. Esmarch) hat sich im Kriege bei Schlagaderverletzungen als ein nicht
ungefährliches Mittel [480] erwiesen, weil der
Schlauch oft von ungeübter Hand oder auch unnötigerweise angelegt
wurde und dann schweren Schaden stiftete.
Die Schußbrüche der großen Röhrenknochen besonders
am Ober- und Unterschenkel waren um so gefährlicher, je stärker die
Zersplitterung des Knochens und je größer die Weichteilwunden
waren. Während bei kleinem Ein- und Ausschuß durch
zweckmäßiges Verfahren eine Heilung ohne tiefere Eiterung erzielt
werden konnte, war bei größeren gerissenen Wunden (durch
Artilleriegeschosse) eine langwierige Eiterung mit Sequesterabstoßung die
Regel. Manches Glied und manches Leben fiel ihr zum Opfer. Gute feststellende
Verbände waren insbesondere an den unteren Gliedmaßen von
größter Wichtigkeit, um den Transport zu ermöglichen. Hier
erwies sich der Gipsverband, der von vielen nicht mehr als modern angesehen
wurde, als ein unentbehrliches Mittel. Daneben wurden die Cramerschen
Leiterschienen in sehr vielseitiger Weise mit großem Nutzen verwendet. Ein
guter Transportverband linderte die Leiden des Verwundeten und war oft
entscheidend für den weiteren Verlauf der Verletzung.
Die Verletzung großer Gelenke, besonders wieder die des Knies und der
Hüfte, stellte oft sehr schwere Aufgaben der Behandlung dar. Bei den
Gewehrschüssen mit kleinen Hautwunden gelang es oft nach v. Bergmanns
Regeln durch aseptischen Verband und Feststellung des
Gelenks reaktionslose Heilung zu erzielen. Sehr viel gefährlicher erwiesen
sich die Verwundungen der Gelenke durch Artilleriegeschosse mit Zersplitterung
der Knochen und weiterer Aufreißung der Weichteile, sowie die meist
infizierten Steckschüsse. Bei diesen mußte ein eingreifendes
Verfahren vorgezogen werden. Der langwierigen Gelenkeiterung und ihren Folgen
ist manches Glied und leider auch manches Leben zum Opfer gefallen.
Die Resektion großer Gelenke, von v. Langenbeck seinerzeit warm
empfohlen, ist, soweit wie bekannt, primär nicht häufig angewendet,
vielleicht zu selten in dem Drange, "konservativ" zu verfahren. Sekundär
bei Gelenkvereiterung ausgeführt, konnte manches Glied damit erhalten
werden; nur galt es auch hier, den richtigen Zeitpunkt nicht zu verpassen.
Die primäre Amputation wurde im allgemeinen nur bei den schwersten
Zertrümmerungen von Gliedmaßen ausgeführt, und es ist
möglich, daß besonders im Beginne des Krieges der Wunsch der
Gliederhaltung etwas zu weit getrieben wurde. Sekundäre Abnahme des
Gliedes wurde durch erschöpfende Eiterung, Brand, Gasödem oder
Nachblutungen erfordert.
Die von Sauerbruch und von Krukenberg auf verschiedenen Wegen
ausgeführte Benutzung der erhaltenen Muskulatur als Kraftquelle für
selbsttätige Bewegungen der Kunstglieder ist als ein Fortschritt
insbesondere für Kopfarbeiter zu bezeichnen, während zu
mechanischen Arbeiten einfachere und derbere Vorrichtungen vorzuziehen
sind.25
[481] Ein
abschließendes Urteil über das in der Kriegschirurgie Erreichte ist zur
Zeit noch nicht zu geben, es wird vielmehr noch vieler, langdauernder Arbeit
bedürfen, um aus dem Riesenmaterial, welches der Krieg geliefert hat, die
endgültigen Erfahrungen herauszuschälen.
Orthopädie.
(Von Professor Dr. Ludloff, Frankfurt a. M.)
Im Gegensatz zu früheren Kriegen werden die Leistungen der
Orthopädie zum erstenmal im Weltkrieg 1914/18 wissenschaftlich
besonders erwähnt. Zwei Kongresse der Deutschen Gesellschaft für
orthopädische Chirurgie unter meiner Leitung in Berlin 1916 und Wien
1918 haben sich fast ausschließlich mit den Fragen der
Kriegsorthopädie beschäftigt. Die Tageszeitungen brachten
häufig Notizen über die erstaunlichen orthopädischen
Leistungen, besonders über den Bau künstlicher Glieder, und
steigerten dadurch das Interesse der weitesten Kreise an orthopädischen
Fragen. Wie sonst auch mußten dadurch neben der erwünschten
Beruhigung über die schweren Folgen der Kriegsverletzungen
übertriebene Hoffnungen, namentlich bei den Beschädigten selbst,
erweckt werden. Enttäuschungen blieben nicht aus, ungünstige Kritik
war so die Folge. Viele Kriegsbeschädigte verurteilten jede noch so
glänzende Leistung, nur weil sie hinter ihren Erwartungen
zurückstand und griffen die ganze Organisation der orthopädischen
Versorgung an. Besonders nach der Revolution verdichteten sich die Klagen
einzelner zu einem System der allgemeinen Herabsetzung. Klärung der
strittigen Fragen ist deshalb ebenso im Interesse der Orthopädie, wie der
Kriegsbeschädigten notwendig. Wenn es gelingt, die enormen
Schwierigkeiten aufzudecken, die sich den orthopädischen Bestrebungen
entgegenstellen, so wird man über manchen Mißerfolg billiger
denken lernen. Es soll deshalb in folgendem untersucht werden, worin die
Leistungen der Orthopädie im Weltkriege wirklich bestanden.
Bei den zahlreichen Erörterungen hat sich herausgestellt, daß
über den Begriff und das eigentliche Wesen der Orthopädie bei den
Laien, aber auch selbst bei Ärzten vielfach Unklarheiten herrschen. Infolge
der häufigen Berichte der Tageszeitungen über Prothesen
mußte angenommen werden, das Wesen der Orthopädie sei in der
Herstellung von künstlichen Gliedern und Schienenhülsenapparaten
erschöpft. Wenn auch die Schaffung solcher Hilfsmittel am
sinnfälligsten hervortritt, so muß doch immer wieder betont werden,
daß das Gebiet der Orthopädie viel ausgedehnter ist, und daß
diese Disziplin noch viele andere, ebenso wichtige Aufgaben zu erfüllen
hat. Man wird diese erst richtig verstehen, wenn man sich klar vor Augen
hält, daß die Orthopädie die Lehre von der Entstehung, der
Erkennung und der daraus entwickelten Bekämpfung der
Körperdeformitäten (Verbildungen, Mißgestaltungen) ist. Als
solche ist die Orthopädie [482] durch den
französischen inneren Arzt Andry 1741 als besondere Disziplin in die
medizinische Wissenschaft eingegliedert und seitdem in den verschiedenen
Kulturstaaten mehr oder weniger gepflegt worden. Namentlich in Deutschland
beschäftigten sich seit dem Aufkommen dieser neuen Wissenschaft gerade
die Chirurgen, entsprechend ihrer hervorragenden Ausbildung in technischen
Maßnahmen usw., stets mit einzelnen orthopädischen
Problemen und trugen zur Entwicklung der Orthopädie wesentlich mit bei.
Es würde aber falsch sein, deshalb die Orthopädie als einen
untrennbaren Teil der Chirurgie anzusehen. Es ist streng zu unterscheiden
zwischen Orthopädie und Chirurgie als Lehre; man darf den Unterschied
nicht verwischen, auch wenn der einzelne Chirurg gelegentlich mit Erfolg
Orthopädie treibt. Wenn das auseinandergehalten wird, lassen sich
eingewurzelte Mißverständnisse vermeiden.
Bei der Betrachtung der Orthopädie im Weltkriege drängen sich
sofort folgende Fragen auf:
- Welche Aufgaben ergeben sich für die Orthopädie aus
den Kriegsdeformitäten und welche Schwierigkeiten stellen sich der idealen
Lösung dieser Aufgaben, bedingt durch die Kriegsverhältnisse selbst,
entgegen?
- Wieweit sind die gestellten Aufgaben gelöst worden?
Das Ziel der orthopädischen Bestrebungen ist die vollständige
Beseitigung der Deformitäten, nicht nur in kosmetischem, sondern auch in
funktionalem Sinne, so daß der Verletzte wieder vollständig
kriegsverwendungsfähig und damit für später wieder voll
erwerbsfähig wird.
Es mußten deshalb beseitigt werden: die winklig und mit Verkürzung
geheilten und die nicht fest verheilten Knochenbrüche (Pseudarthrosen); die
Lähmungen; die steif ausgeheilten Gelenkaffektionen (Kontrakturen und
Ankylosen) und schließlich die Verluste an Körperteilen
(Defekte).
Am idealsten werden die ersten drei Gruppen durch operative Maßnahmen
behandelt.
Zu diesem Zwecke stehen zur Verfügung die
Knochendurchmeißelung (Osteotomie), die Entfernung des winkligen
Stückes (Resektion) mit nachfolgender Graderichtung und
Verlängerung des Gliedes, die Knochennaht und die Einpflanzung eines
Knochenstückes aus einem anderen Körperteil
(Knochentransplantation) oder aus dem eines anderen Patienten, die Nervennaht
und Nervenplastik, die gewaltsame Mobilisation der versteiften Gelenke
(Redressement) und die blutige Gelenkplastik; ferner die Sehnennaht, die
Sehnenverlängerung, die Sehnentransplantation, die Sehnenplastik.
Erst wenn die operative Behandlung aus irgendwelchen Gründen versagt
oder unmöglich ist, sind die definitiven Schienenhülsenapparate mit
oder ohne Verlängerung anzuwenden, um dadurch besonders an den
unteren Gliedmaßen die Stand- und Gehfähigkeit zu verbessern.
Diese Schienenhülsenapparate kommen aber auch als zeitweilige
(interimistische) Hilfen zur Anwendung, um in [483] der Zwischenzeit dem
Gliede Zeit und Gelegenheit zu geben, in der neuen und erwünschten
Stellung auszuheilen.
Die Gliederdefekte nach Abreißungen und Zertrümmerungen und
nach Amputationen können im allgemeinen nur mit Prothesen behandelt
werden. Es handelt sich hier um den Ersatz eines lebenden Gliedes durch ein
künstliches Glied aus Leder, Holz und Stahl.
Alle diese Maßnahmen würden aber nur einen mangelhaften Erfolg
haben, wenn sie nicht unterstützt würden durch Massage und
Medikomechanik (Übungstherapie). Nur durch diese gelingt es, die
versteiften Muskeln und Bänder wieder geschmeidig zu machen und zu
kräftigen. Auch der noch übrige Rest des Gliedes, der
Amputationsstumpf, fordert diese orthopädischen Hilfsmittel der Massage
und Übung, um den Rest der Muskulatur fähig zu machen, als Motor
das künstliche Glied zu bewegen und zu beherrschen.
Selbstverständlich muß von Anfang an erstrebt werden, die
Leistungsfähigkeit des übrigen Körpers zu erhöhen,
weil sonst die beste Operation, die besten Schienenhülsenapparate, die
besten Prothesen wertlos sind, wenn der Körper nicht die genügende
Fähigkeit und Kraft besitzt, die gebotenen Hilfsmittel auch dauernd zu
benutzen. Die allgemeine Körperwiderstandsfähigkeit
läßt sich außer durch zweckmäßige
Ernährung durch Anwendung von Bädern, Sonne und
Freiluftbehandlung in erstaunlicher Weise heben.
Dazu kommt noch die unbedingt notwendige Steigerung der Willenskräfte
des Verletzten. Durch seelische Aufrichtung des natürlicherweise
Deprimierten, durch Anfeuerung, durch gutes Beispiel wachsen die seelischen
Kräfte und verleihen dem Patienten den Schwung, sich mit der neuen
Situation abzufinden.
Diesen orthopädischen Bestrebungen stehen nun ganz besondere
Schwierigkeiten entgegen. - Die operativen Maßnahmen werden oft
nach dem besten Gelingen durch die obenerwähnte aktive oder ruhende
Infektion vereitelt. Nach manchen Eingriffen kommt es wieder zu Fieber und
langwierigen, oft lebensgefährlichen Eiterungen, so daß häufig
noch nachträglich zur Lebensrettung eine Amputation notwendig wird. Die
zweite große Schwierigkeit liegt in der Massenhaftigkeit der Fälle.
Infolge dieser wächst zwar einerseits die Fähigkeit des richtigen
Erkennens und die Erfahrung der Ärzte; sie muß aber
notwendigerweise an Stelle der individualisierenden zur schematischen
Behandlung führen, weil auch der hervorragendste Arzt nicht alle
Fälle selbst behandeln kann, sondern gezwungen ist, mehr oder weniger
ausgebildetes Hilfspersonal zu verwenden.
Diesen beiden großen Hauptfaktoren gegenüber spielt das
Daniederliegen des Willens oder die falsch eingestellte Energie des Patienten eine
geringere Rolle. Da aber selbst durch die bestgelungenen Maßnahmen, oft
an Stelle des idealen Operationsresultates, nur ein teilweiser Erfolg
(Entkrüppelung) zu erzielen ist, so muß hier wie in der ganzen
Orthopädie die größte Anstrengung darauf gerichtet sein, die
Entstehung typischer Deformitäten zu verhüten. Im Frieden [484] haben die
Verhütungsbestrebungen (Prophylaxe) reiche Früchte gezeitigt; in
der Kriegsorthopädie sind sie nur in beschränktem Maße
möglich. Es ist nicht möglich, die Zahl und die Schwere der
verderblichen Verletzungen zu beschränken. Als
Verhütungsmaßregeln bleiben daher nur die Verbesserungen der
Bergung der Verwundeten und der möglichst schnelle und schonende
Transport in Speziallazarette übrig, in Lazarette und Anstalten, die mit allen
Hilfsmitteln ausgerüstet sind, die jenen schweren Aufgaben gewachsen
sind.
Die theoretischen Auseinandersetzungen über Beseitigung deform geheilter
Knochenbrüche durch Osteotomie (Knochendurchmeißelung) sind
durch die hundertfachen Erfahrungen in den Lazaretten vollauf bestätigt
worden. Durch dieses Verfahren sind selbst hochgradige
Verkürzungs- und Winkelstellungen bis auf geringe Reste ausgeglichen
worden. In vielen Fällen ist dadurch wieder eine normale
Geh- und Erwerbsfähigkeit, in einzelnen sogar
Kriegsverwendungsfähigkeit erreicht worden. Auch die
obenerwähnten Pseudarthrosen (falsche Gelenkbildung) wurden
häufig durch Anfrischung der Bruchenden, Transplantation (Einpflanzung
eines anderen Knochens) mit Naht und Verschraubung der Knochenstücke
endgültig beseitigt.
Selbst nach wieder ausgebrochenen Eiterungen ist es doch zuweilen noch
gelungen, das Operationsresultat durch alle möglichen Maßnahmen
zur Bekämpfung der Infektion zu erhalten. Der Streckverband, der an
eingeschlagenen Nägeln oder angefügten Klammern angreift, der
gefensterte Gipsverband haben manches Bein gerettet und wieder der vollen
Funktion zugeführt. In vielen Fällen, in denen eine endgültige
Konsolidation nicht erreicht wurde, blieb der Schienenhülsenapparat und
als letztes Zufluchtsmittel, besonders an den unteren Extremitäten, die
Amputation übrig. Mit beiden Maßnahmen und nachfolgender
Prothese ist dann schließlich dem Beschädigten doch noch ein
erträglicher Zustand beschieden gewesen.
Die in diesem Kriege besonders häufigen Lähmungen infolge
Verletzung der peripheren Nervenstämme sind prinzipiell mit
möglichst frühzeitiger Nervennaht behandelt worden. Die Technik
der Nervenvereinigung wurde allmählich hervorragend entwickelt,
besonders seitdem Speziallazarette für periphere Nervenverletzungen
eingerichtet worden waren. So hat vor allem
Stoffel-Mannheim Operationsmethoden geschaffen, die manches gelähmte
Glied wieder zu voller oder genügender Funktion brachten. Beachtenswert
sind die Fälle, bei denen nach Jahr und Tag die Wiederkehr der
Nervenfunktion eintrat, selbst nach Verletzungen des komplizierten
Nervengeflechtes am Hals und in der Achselhöhle. Bei schon irreparablen
Lähmungen der Hand, infolge Verletzung der motorischen Nerven, ist nach
Versagen der Nervennaht noch eine gute Funktion durch Verpflanzung der
Sehnen an der Handwurzel nach dem Verfahren von Perthes usw. erzielt
worden. Die unschöne und fast wertlose Hängehand ist in vielen
Fällen so gut korrigiert worden, daß der Verwundete mit seiner Hand
wieder sehr viele [485] Verrichtungen
für bestimmte Berufe ausführen konnte. Schließlich hat man
häufig mit federnden Schienenhülsenapparaten die schweren
Verletzungsfolgen ausgleichen können.
Die hochgradigen Kontrakturen und Ankylosen der Gelenke sind nach Ablauf der
stürmischen Entzündungserscheinungen in ausgiebigster Weise mit
Medikomechanik und Massage behandelt worden. Wenn diese Methode nicht
zum gewünschten Ziel führte, ist mit operativer Lockerung durch
Sehnenverlängerung und Kapselentfernung, schließlich mit
sekundärer Resektion des betreffenden Gelenkes oder durch eine
Knochendurchmeißelung ober- und unterhalb des Gelenkes noch mancher
Erfolg bei Patienten, die früher zeitlebens zur Krücke verurteilt
waren, erreicht worden. In einzelnen Fällen ergab die Bildung eines neuen
Gelenkes, besonders am Ellenbogen- und Handgelenk funktionell ausgezeichnete
Resultate. Auch am Knie hatte man manchmal darin Erfolge, sonst aber sind die
Patienten mit einem in guter Stellung versteiften Knie auch vollständig
befriedigt worden. So ideal auch von vornherein die Bildung eines neuen
Gelenkes ist, so muß doch berücksichtigt werden, daß diese
Behandlungsart sehr zeitraubend ist und an den Willen des Verletzten zur
Erzielung der Funktion enorme Anforderungen stellt.
Prof. Lexer / Freiburg i. Br. hat in seiner
Wiederherstellungschirurgie ausführlich die angewandten Methoden
dargestellt und Prof. Payr / Leipzig sich besonders um die operative
Gelenkbildung (Gelenkplastik) des Knies verdient gemacht. Ich selbst habe auch
über einige günstige Resultate mit Knocheneinpflanzung
berichtet.
Der Ersatz verlorener Glieder oder Gliedabschnitte durch Kunstglieder
(Prothesen) hat in diesem Kriege ganz besonderen Umfang angenommen. Infolge
der großen Häufigkeit der Granatsplitterverletzungen mit den daraus
folgenden schweren Infektionen, sind Amputationen entgegen der Erwartung viel
öfter notwendig geworden. Diese enorme Häufigkeit hat zu einer
gewaltigen Anstrengung der Ärzte geführt, hier helfend einzugreifen.
An diesen Bestrebungen, die zunächst von den Orthopäden getragen
wurden (7. Orthopädenkongreß 1916), haben sich später
in anerkennenswerter Weise die Ingenieure und Bandagisten beteiligt. Nur durch
das Zusammenarbeiten dieser drei Kreise konnte das Resultat erreicht werden, auf
das die deutsche Wissenschaft allen Grund hat stolz zu sein.
Es sind zahlreiche ausgezeichnete Prothesen gebaut
worden. - Hauptsächlich der Verlust der Arme führte zu erneuten
Versuchen, willkürlich bewegte Prothesen zu konstruieren, nachdem das
etwa 15 Jahre vorher von dem Italiener Vanghetti angewandte Verfahren sich
nicht hatte durchsetzen können. Es ist das unvergängliche Verdienst
Prof. Sauerbruchs / München, hieraus eine neue und bessere
Methode ausgebildet zu haben, die darin besteht, durch die noch
lebens- [486] fähigen
Muskelreste des Armstumpfes quere Kanäle zu führen. In diese
werden Elfenbeinstifte gesteckt und an ihnen biegsame Metallzüge
angebracht, die nun eine künstliche Hand oder ein künstliches
Ellenbogengelenk willkürlich bewegen können. Die damit
ausgerüsteten Patienten lernen Zugreifen und selbst kleine
Gegenstände, wie Streichhölzer, Kartenblätter usw.
willkürlich festzuhalten und loszulassen. Sie können sich
selbständig ankleiden, waschen usw., sogar schreiben.
Neben dem Sauerbruchverfahren hat die Ausbildung des sog. Carnesprinzips viele
Erfolge gezeitigt. Der Amerikaner Carnes hatte schon vor dem Kriege Züge
verwendet, die von den intakten Muskelbewegungen des Schultergürtels
aus die künstliche Hand betätigten. Dieses Carnesprinzip wurde
besonders von Prof. Schlesinger weiter zur fabrikmäßigen
Herstellung von Gebrauchsarmen entwickelt. Neben dem Carnesarm fand der von
Lange in München konstruierte Arm in Süddeutschland Verbreitung
und warme Anerkennung, auch von seiten der Amputierten selbst. Besonders das
traurige Los der doppelt Armamputierten ist durch diese willkürlich
bewegten Kunstarme wieder erträglich geworden.
Kurze Zeit nach Sauerbruch hat Kruckenberg / Elberfeld mit einem neuen
genialen Verfahren überrascht. Er hat bei Verlust der Hand, aber
erhaltenem Unterarm diesen längs gespalten und aus den beiden Knochen
Speiche und Elle eine willkürlich bewegliche Zange gebildet, mit welcher
der Operierte mit großer Kraft seitliche Klemmbewegungen, wie mit zwei
großen Fingern, auszuführen vermag. Er kann damit alle
möglichen Gegenstände, selbst Bleistifte festhalten und gebrauchen.
Diese kräftigen Spreizbewegungen sind dann umgesetzt und auf eine
künstliche Hand für willkürliche Bewegungen
übertragen worden. Es ist bewundernswert, wie nach dieser Methode
Operierte sogar die Schreibmaschine gebrauchen lernten. Neben diesen
willkürlich bewegten Armen und Händen sind zahlreiche einfache
Arbeitsklauen usw. konstruiert worden, mit denen die Verletzten besonders
gröbere Handarbeiten, wie Tragen, Zuschlagen, Rechen,
Graben usw. ausführen können. Ausgezeichnet hat sich
namentlich die Arbeitsklaue von Keller bewährt, die von einem amputierten
Bauern selbst erfunden und für seinen landwirtschaftlichen Betrieb
ausgebildet worden ist.
Diese Leistungen haben bei Laien und Ärzten die größte
Bewunderung hervorgerufen, so daß dadurch die an den Beinamputierten
geleistete Arbeit fast in den Hintergrund getreten ist. Und doch ist auf dem Gebiet
der Kunstbeinherstellung beinahe ebensoviel erreicht worden. Wer sich
überlegt, daß der Beinamputierte in bezug auf den allgemeinen
Lebensgenuß, infolge der Unmöglichkeit, sich selbst gut fortbewegen
zu können, wesentlich schlechter dran ist als der Armamputierte, dem
für seine Verrichtungen doch noch der andere gesunde Arm ausgleichend
zur Verfügung steht, wird erst die großen Erfolge in der Konstruktion
künstlicher Beine würdigen. Der Haupterfolg ist darin zu sehen,
daß jetzt selbst der Oberschenkelamputierte in der Lage ist, mit
beweglichem künstlichem Knie- [487] gelenk sich flott und
sicher fortzubewegen. Wer den früheren plumpen Stelzbeinträger
kennt, wird den wahren Fortschritt ermessen, wenn er sieht, wie sicher jetzt auch
der Oberschenkelamputierte einhergeht. Es bleibt das Verdienst
Höftmanns, schon im Frieden immer wieder auf die Wichtigkeit und die
Möglichkeit des beweglichen künstlichen Knies hingearbeitet zu
haben. Durch jahrelange Erfahrungen und Bemühungen hat
Höftmann bewiesen, daß durch Rückverlegung der
Kniequeraxe um 3 - 4 cm auch ein passiv bewegliches
künstliches Kniegelenk genügende Standfestigkeit gibt, um den
Patienten vor Einknicken und Hinstürzen zu bewahren. Trotzdem kann der
Stelzfuß für einige Berufe, bei denen es auf besondere Standfestigkeit
ankommt, nicht entbehrt werden, z. B. für Landwirte,
Lastträger usw.
Es haben sich hauptsächlich zwei Typen des Kunstbeines herausgebildet.
Das "Hülsen"- und das "Skelettbein". Dieses ist von
Haßlauer / Frankfurt a. M. und von
Schäfer / Mainz gebaut worden. Neuerdings wurde von
Schede / München in Verbindung mit dem Mechaniker Habermann
ein künstliches Kniegelenk mit natürlichen Gleitbewegungen der
dem normalen Knie nachgebildeten Gelenkflächen konstruiert und dadurch
der natürliche "weiche" Gang wesentlich gefördert. Die Fortschritte
durch diese Maßnahmen sind so groß, daß bei vielen
Trägern künstlicher Beine sich kaum noch sicher erkennen
läßt, daß der Betreffende kein normales Kniegelenk mehr hat.
Für die Unterschenkelamputierten sind so ausgezeichnete Prothesen
geschaffen, daß dieses Problem als vollständig gelöst
angesehen werden muß. Die modernen künstlichen Füße
sind so zweckmäßig konstruiert, daß alle billigen
Wünsche erfüllt wurden.
Der einzelne auch noch so geniale Operateur oder Prothesenbauer hätte
aber nicht das leisten können, was wirklich erreicht wurde, wenn nicht die
ganze Arbeit im modernen Sinne organisiert worden wäre. Es bleibt das
große Verdienst der Heeresverwaltung, der obersten Leitung des
Sanitätsdienstes, des Feldsanitätschefs v. Schjerning und des
Chefs des Sanitätswesens der Heimat Generalarzt Schultzen, alle die von
den Chirurgen und Orthopäden ausgehenden Anregungen bereitwilligst
aufgenommen und in die Tat umgesetzt zu haben. So entstanden die großen
Werkstätten für die künstlichen Arme in Singen, so die vielen
orthopädischen Lazarette in jedem Armeekorps, in denen der Prothesenbau
und die Übungstherapie besonders gepflegt wurden. So entstand die
Prüfungsstelle für künstliche Glieder usw. in
Charlottenburg, unter den Ingenieuren Prof. Hartmann und
Prof. Schlesinger, die zu neuen Konstruktionen anregte und die
mannigfachen Erfahrungen kritisch sichtete. In regem Austausch und steter
Zusammenarbeit mit der Prüfungsstelle in Wien, der Technik der
Kriegsinvaliden, unter Exz. Exner, sind besonders die
Normalisierungsbestrebungen gefördert worden. Ohne die ausgedehnte
Übungstherapie wäre es unmöglich gewesen, die
bewundernswürdigen Leistungen hervorzubringen. Die glänzendste
Operation, die beste Prothese kann nichts nützen, wenn der Wille [488] und die
körperliche Leistungsfähigkeit des Verletzten nicht gehoben und
angeleitet wird. Medikomechanik und Massage allein genügten nicht; erst
die Anleitung und Möglichkeit zu schaffender Tätigkeit führte
zum Ziel. Es war daher ein sehr glücklicher Gedanke, an möglichst
vielen Stellen Arbeitslazarette einzurichten. Erfahrungsgemäß
erlahmt selbst der festeste Wille, wenn es sich darum handelt, monatelang
hindurch jeden Tag längere Zeit ein verletztes Glied unzählige Male
mit oder ohne Widerstand zu bewegen. Wenn man dagegen dem Verletzten
Gelegenheit gibt, an der Hobelbank, am Schraubstock, auf dem Schusterschemel
etwas Nützliches zu verfertigen, wird die Schaffensfreude angeregt; die
trübe Stimmung verschwindet, und die Kraft und Geschicklichkeit der
Hände nimmt zu. Hierbei hat man sehr häufig beobachten
können, daß der Einarmige schließlich seine Prothese
wegläßt und den Stumpf so übt, daß dieser allein ihm die
fehlende Hand im großen Umfang ersetzt. Ähnlich verhält es
sich bei den Beinverletzten mit den Turnspielen. Ich habe selbst Einbeinige mit
den Krücken Fußball spielen und den Ball treiben sehen.
Auch auf dem Gebiet der Verhütung von Deformitäten, auf deren
besondere Schwierigkeit ich hingewiesen habe, sind im Laufe des Krieges
große Fortschritte gemacht worden. Die Bergung der Verwundeten, der
Transport in Speziallazarette, die Errichtung dieser Speziallazarette, alles
gestaltete sich immer vollkommener. Die einzelnen Ärzte wurden je nach
ihrer Fähigkeit und Ausbildung immer mehr und immer besser in den
großen Organismus eingegliedert. Die Erfahrungen der
Knappschaftslazarette, der Unfallkrankenhäuser usw. im Frieden
konnten auch für die Kriegslazarette nutzbringend verwandt werden. Auch
orthopädisch ausgebildete Sanitätsoffiziere waren vorhanden. Bei
einzelnen Armeekorps bestanden schon im Frieden Kommandos zum Unterricht
in der Orthopädie. Die dort ausgebildeten Sanitätsoffiziere haben
sich ausgezeichnet bewährt und von sich aus wesentlich dazu beigetragen,
die orthopädischen Leistungen zu fördern. Dagegen waren die
Zivilärzte, auch die jüngeren, nicht in dem Maße vorgebildet,
wie es gefordert werden mußte. Mancher Arm und manches Bein
hätte vielleicht gerettet werden können, manche
militärärztliche Maßnahme der Obersten Heeresleitung
wäre mit mehr innerem Verständnis erfüllt worden, wenn die
Orthopädie in Deutschland auf der Universität eine bessere Pflege
gefunden hätte und die Medizinstudierenden darin gründlicher
ausgebildet worden wären. Ich brauche nur auf den Mangel an
Lehrstühlen in der Orthopädie hinzuweisen. So wurde für
viele Ärzte erst der Krieg ihr Lehrmeister in der Orthopädie.
Daß trotz dieser Mängel so viel geleistet worden ist, bleibt ein
glänzendes Zeugnis für die ausgezeichnete Organisation des
Kriegssanitätswesens. 1918 standen die deutschen Ärzte in dieser
Beziehung auf der Höhe. Der Orthopädenkongreß 1918 in
Wien zeigte die großen Fortschritte in allen Zweigen der
Kriegsorthopädie. Dann kam der Umsturz... Es bleibt eine höchst
traurige Erinnerung, daß man mit ansehen mußte, wie alle diese
[489] segensreichen
Maßnahmen durch den Unverstand verhetzter und entfesselter Massen in
den Lazaretten vernichtet worden sind. Daß viele Kriegsbeschädigte
mit ihrem Zustand nicht zufrieden sind, und es oft auch nicht sein können,
ist menschlich leicht zu verstehen; aber es sind sowohl den behandelnden
Ärzten, als auch den Einrichtungen meist unberechtigte Vorwürfe
gemacht worden für Vorkommnisse, welche die interessierteste und
menschenfreundlichste Arbeit nicht verhindern konnte. Trotz aller
übelwollenden Kritik und trotz des unbesonnenen Nacherzählens von
"unerhörten Vorfällen" bleibt es doch bestehen, daß auch vom
Sanitätsdienst, und besonders auf dem Gebiet der Orthopädie,
Aufgaben gelöst worden sind, die man in früheren Kriegen für
unlösbar gehalten hätte. Und in der tiefen Trauer über den
Ausgang des Weltkrieges und das Unglück des Vaterlands bleibt es
für die deutschen Ärzte ein tröstlicher Gedanke, daß die
reichen medizinischen und speziell orthopädischen Erfahrungen dieses
furchtbaren Ringens nach ihrer Vertiefung durch die wissenschaftliche und
sorgsame Friedensarbeit noch lange segensreich fortwirken werden, nicht nur zum
Nutzen der invaliden Helden des Krieges, sondern auch in Zukunft zum Heile der
bedrohten Helden der Arbeit in ihren gefahrbringenden Berufen.
Zahnheilkunde.
(Von Zahnarzt Dr. Bolstorff, Berlin.)
Die Erkenntnis der Wichtigkeit zahnärztlicher Hilfe im Kriege war schon
früher dadurch zum Ausdruck gekommen, daß gelegentlich der
kriegerischen Operationen in den Kolonien den Truppen ein Zahnarzt mit der
nötigen Ausrüstung beigegeben worden war. Die Erfahrungen im
Russisch-Japanischen und im Balkankriege hatten gelehrt, daß bei der
modernen Kriegführung mit einem erheblichen Zugang von
Kieferverletzten zu rechnen sei. Im Großen Kriege 1914 bis 1918 waren den
Feldlazaretten in der ersten Kriegszeit Zahnärzte nicht zugeteilt. Bei den
Verhältnissen des Stellungskrieges wurde die Nachfrage
größer; es kam auch in Betracht, daß die zahnkranken Soldaten,
die im übrigen gesund und arbeitsfähig, im Notfalle auch im Gefecht
zu verwenden waren, der Truppe zu lange entzogen blieben, wären sie den
mehr oder weniger weit zurück liegenden Zahnstationen der Kriegslazarette
oder gar in die Heimat überwiesen worden. Es wurden daher Zahnstationen
auch bei den Feldlazaretten eingerichtet, zu denen Zahnärzte aus den
Kriegslazarettabteilungen abkommandiert wurden. Die Zahl der Zahnärzte
an den Kriegslazarettabteilungen wurde bis auf 7 für jede erhöht. Im
Juli 1917 wurde bei einem Feldlazarett jeder Division und bei den
Sanitätskompagnien der Divisionen, die
kriegsgliederungsgemäß kein Feldlazarett hatten, eine
planmäßige Zahnarztstelle eingerichtet. Diese Zahl wurde im August
1918 auf zwei erhöht. Außerdem wurde durch Abkommandierungen
von Zahnärzten im Unteroffizier- und Mannschaftsrang nach Bedarf
für genügende [490] zahnärztliche
Hilfe Sorge getragen. Jedem Zahnarzt wurde ein Zahntechniker beigegeben. Auch
ihre Zahl wurde je nach Bedarf durch Abkommandierungen
erhöht. - Das zahnärztliche Instrumentarium war von
Sachverständigen in dem zahnärztlichen Kasten, dem sich
später ein vollständiges Vulkanisiergerät anschloß,
zusammengestellt. Ein solcher Kasten wurde jedem Zahnarzt zur
Verfügung gestellt. Außerdem führte ein jeder Zahnarzt noch
ein Taschenbesteck bei sich, um im Notfalle kleinere Operationen sofort
ausführen zu können.
Für bodenständige Formationen wurden Gruppenzahnstationen
eingerichtet; ebenso im besetzten Gebiet (Brüssel, Warschau). Der Betrieb
war dort vollkommen friedensmäßig. Hierzu kamen noch die
Zahnstationen der Festungs- und Reservelazarette in der Heimat und die
großen Kieferlazarette, die ausschließlich
Kieferschußverletzungen behandelten. Besondere Kieferlazarette befanden
sich in Berlin, Düsseldorf und Straßburg. Außerdem errichteten
fast alle zahnärztlichen Universitätskliniken und viele
Reservelazarette Spezialabteilungen für die Behandlung von
Kieferverletzten.
Während des Bewegungskrieges konnte von Einrichtung
größerer Zahnstationen nicht die Rede sein, wie auch die
Tätigkeit des Zahnarztes sich mehr auf schmerzstillende Einlagen und
einfache Füllungen, sowie auf provisorische Schienungen der
Kieferverletzten beschränken mußte. Mit Eintreten des
Stellungskrieges änderten sich die Gesichtspunkte, unter denen der
Zahnarzt seine Stationen einzurichten und seine Tätigkeit
auszuführen hatte.
An größeren Orten mit größerer Belegung, wichtigen
Verkehrsverbindungen und umfangreichen Lazarettanlagen, z. B. in Lille,
St. Quentin, Warschau u. a., wurden ganz große
Zahnstationen eingerichtet mit oder ohne Teilung des Betriebes, d. h.
entweder war die Abteilung für die zahnärztliche Chirurgie mit der
der Technik vereinigt und die der konservierenden Zahnheilkunde gesondert oder
alle Abteilungen wurden gesondert geführt. In St. Quentin
z. B. wurde ein ganzes Haus nur für zahnärztliche Zwecke mit
5 Operationszimmern hergerichtet. Die Einrichtungen der Operationszimmer
wurde durch Beitreibung beschafft, so daß sie mit
Ölpumpstühlen, elektrischen Bohrmaschinen, Waschtischen mit
Wasseranschluß und anderen modernen Einrichtungsgegenständen
versehen waren. Zu diesen Räumlichkeiten kamen noch zwei Räume,
die zu einem technischen Laboratorium eingerichtet und mit allen technischen
Hilfsmitteln versehen waren. In kleineren Orten wurde von der
Zwei- resp. Dreiteilung abgesehen. Diese
Zwei- oder Dreiteilung hatte sich zwecks schnellerer Abfertigung der Patienten als
das Beste erwiesen. Selbstverständlich mußten die einzelnen
Abteilungen Hand in Hand arbeiten, obgleich jeder Zahnarzt vollkommen
selbständig arbeitete und die Zahnärzte untereinander koordiniert
waren.
Die Station unterstand dem Chefarzt des Lazaretts, verantwortlich diesem
gegenüber war der zeitälteste Zahnarzt. Diese großen Stationen
waren voll- [491] kommen auf
Klinikbetrieb eingerichtet. Infolge der guten Ausrüstung konnten fast
sämtliche zahnärztlichen Behandlungen und auch in betreff von
Zahnersatz jede Arbeit ausgeführt werden. Die Stationen der Feldlazarette
und Sanitätskompagnien waren selbstverständlich einfacher
eingerichtet; aber infolge der größeren Erfahrung, die die
Zahnärzte sich allmählich bei der Länge des Krieges erwarben,
wurden auch diese Stationen reichhaltiger ausgerüstet. Sie sind in jeder
Beziehung den an sie gestellten Forderungen gerecht geworden und haben
durchweg eine große, zum Teil außerordentliche Leistung
vollbracht.
So hatte ein Zahnarzt an der Front innerhalb dreier Monate fast 7000 Patienten;
sein Techniker erledigte im Monat durchschnittlich 100 Reparaturen und fertigte
25 neue Ersatzstücke. Fischer26 berichtet
von einer Tagesleistung von 220 Patienten und 60 Sitzungen für Zahnersatz
bei 5 Zahnärzten der Station im August 1915. In St. Quentin wurden
in der zweiten Hälfte 1916 (Sommeschlacht) im Durchschnitt von
4 - 5 Zahnärzten täglich 280 Zahnkranke behandelt,
davon 100 chirurgisch. Im Düsseldorfer Kieferlazarett kamen in 2 Jahren
7748 Kieferverletzte zur Aufnahme; es wurden 1680 größere
Operationen gemacht, darunter 204 Transplantationen am Unterkiefer. In
Danzig27 wurden in einem Jahr (1. September
1916 bis 1. September 1917) 14 726 Zahnkranke in 46 720
Sitzungen behandelt, 243 größere Operationen gemacht und 5211
Ersatzstücke und Reparaturen geliefert. Schon aus diesen wenigen
Beispielen ergibt sich zahlenmäßig die Größe der
zahnärztlichen Leistungen im Kriege.
Die Tätigkeit des Zahnarztes im Felde teilte sich in zwei Gruppen: die
zahnärztliche Behandlung der Zahnkrankheiten, auch in chirurgischer
Beziehung, Zahnersatz und Zahnpflege; und die zahnärztliche chirurgische
Behandlung der Kieferverletzungen.
Die erste Gruppe kann im Kriege natürlich nicht die wichtigste sein. In
dieser Hinsicht sollte nur das geschehen, was dringend notwendig war, um die
Dienstfähigkeit zu erhalten, damit der Mann seiner
Soldaten- und Kriegspflicht nachkommen konnte. Dieser Grundsatz wurde auch
bei Beginn des Krieges aufrechterhalten, schon weil es sich bei einem
Bewegungskriege nicht durchführen läßt, alles an den
Zähnen auszuführen, was wünschenswert ist. Bei der langen
Dauer des Krieges und bei der im Stellungskrieg gegebenen Möglichkeit
mußte von diesem Grundsatze abgegangen werden. Zahnpflege im
eigentlichen Sinne ist dann später in weitgehendstem Maße
ausgeübt worden.
In betreff des Zahnersatzes mußte wegen Mangel an Kautschuk zu
Ersatzpräparaten gegriffen werden. Bei der großen Menge von
Anforderungen war [492] es jedoch nicht
möglich, jeden Zahnersatz anzufertigen. Es war dies nach dem jeweiligen
Zustande des Gesamtgebisses zu beurteilen. Ersatzstücke aus nur
kosmetischen Gründen konnten selbstverständlich nicht bewilligt
werden. Dagegen wurden sämtliche Reparaturen zerbrochener
Ersatzstücke vorgenommen. Leider war es bei der starken
Inanspruchnahme des einzelnen Zahnarztes ein Ding der Unmöglichkeit,
jedem Patienten eine vollkommene Sanierung zukommen zu lassen, auch konnte
dies nicht im Sinne der Einrichtung sein. Im großen und ganzen
können die Leistungen der zahnärztlichen Arbeit als durchweg gut
bezeichnet werden, obgleich die Schwierigkeiten, unter denen gearbeitet werden
mußte, zum Teil sehr groß waren und die weiter vorgeschobenen
Stationen häufig durch Beschießung und Fliegerangriff zu leiden
hatten.
Viel wichtiger im Kriege war zweifellos die zweite Gruppe der
zahnärztlichen Tätigkeit: Die chirurgische Fürsorge für
die Kieferverletzungen. In früheren Kriegen waren Kieferverletzungen
äußerst selten. Im Kriege 1870/71 wurden bei jedem Armeekorps im
Monat durchschnittlich 8 Fälle einschließlich der tödlich
verlaufenen behandelt. Aus dem
Russisch-Japanischen, sowie aus dem Balkankriege hatte man gelernt, daß
die moderne Kriegführung viele Kopfverletzungen und unter diesen
besonders viele Kieferverletzungen mit sich bringt.
Von großer Wichtigkeit für ihren guten Verlauf erwies sich die
möglichst frühzeitige sachgemäße Einrichtung der
zertrümmerten Knochen. Durch frühzeitige Schienung, die eine
Verschiebung der Bruchstücke verhinderte, wurden die Nahrungsaufnahme
und die Sprache erleichtert und die Schmerzen behoben. Die Unterlassung der
Schienung hatte häufig eine fehlerhafte Einstellung der Bruchstücke
zur Folge. Die Schienung erfolgte meistenteils mit dem "Schroederschen
Drahtbügelverband", dessen Instrumentarium jedem zahnärztlichen
Kasten beigegeben war. Im Notfalle konnte eine solche Schiene aus vorhandenen
Drahtbeständen angefertigt werden.
Nach der ersten vorläufigen Versorgung auf den Verbandplätzen der
vorderen Linie wurden die Kieferschußverletzten so bald als möglich
in ein Lazarett mit Zahnstation überführt und, sofern es ihr Zustand
irgendwie erlaubte, schleunigst einem der Kieferlazarette in der Heimat
überwiesen.
Erfahrungsgemäß erforderten die Kieferschußverletzungen
meist eine lange Heilungsdauer und vor allem ein enges Zusammenarbeiten
zwischen Chirurg und Zahnarzt. Diese Zusammenarbeit hat viele Leute, die
früher der Invalidität anheimgefallen wären, wiederhergestellt.
Auf dem Gebiete der Plastik und Prothetik ist hier ganz Hervorragendes geleistet
worden. Die zahnärztliche Versorgung des Heeres hat auf die
Allgemeinheit auch erzieherisch gewirkt. Wird doch die
Zweckmäßigkeit einer geregelten Untersuchung, sowie der Wert der
Zahn- und Mundpflege jetzt bedeutend mehr als früher gewürdigt.
Allerdings ist wegen der Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht für den
großen Teil der männlichen Bevölkerung Deutschlands, der
sonst durch die Schule des Militär- [493] dienstes gegangen
wäre, die Möglichkeit sorgsamer Zahnpflege fortgefallen. Und auch
diese hätte bei anderem Ausgang des Weltkrieges einen weiteren, für
das Volksganze wertvollen Ausbau erfahren und viel Segen für die
Volksgesundheit gebracht.
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