Bd. 5: Der österreichisch-ungarische
Krieg
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Kapitel 25: Der
Zusammenbruch
Staatsarchivar Oberstleutnant Edmund
Glaise-Horstenau
1. Wetterleuchten.
Die Frage, ob ein erfolgreicher Ausgang der Junischlacht in Venetien der
Donaumonarchie das Leben gerettet hätte, ist nicht zu beantworten. Wohl
aber ist sicher, daß der unglückliche Verlauf des Kampfes dem
Habsburgerreich den ersten tödlichen Stoß versetzt hat. Die Schlacht
war nur durch das Aufgebot der letzten physischen und moralischen Kräfte
ermöglicht worden, auf die der Staat bei seinen Völkern und in der
Armee noch zählen konnte. Daß solcher
Kräfte - trotz Hunger und Entbehrungen, trotz nationaler und
sozialer Not - noch staunenswert viele vorhanden waren, hatte der Auftakt
der Offensive gezeigt. Freilich war auch die Nervenanspannung ungeheuer
groß. Und als sich alle Mühe und aller Opfermut vergeblich erwiesen
hatten, da mußte eine schwere Reaktion auf dem Fuße folgen.
In der Armee war das Vertrauen in die oberste Führung bedenklich
erschüttert. In hundert Abarten hörte man das Wort, das im
Unglücksjahre 1859 ein steierischer Jäger dem geschlagenen
Feldherrn Gyulai zugerufen hätte: "Die Rößle wären
schon gut, aber die Fuhrleut' sind nichts wert!"
Der Kaiser erwog anfänglich, die beiden an der Front befehligenden
Marschälle der allgemeinen Mißstimmung zum Opfer zu bringen und
auch den Generalstabschef, der übrigens selbst wiederholt seine Demission
gab, durch eine andere Persönlichkeit zu ersetzen. Schließlich
wurde - auch dies hauptsächlich aus parlamentarischen
Gründen - nur Conrad
v. Hötzendorf verabschiedet, der
sich am 15. Juli bei gleichzeitiger Erhebung in den Grafenstand auf den
Ruheposten eines Obersten der kaiserlichen Hofgarden zurückziehen
mußte. Er tat dies mit dem Gefühl, ein sinkendes Schiff zu verlassen.
General v. Cramon faßt die Empfindungen, die der Rücktritt
des Marschalls in ihm erweckte, in die Worte zusammen:
"Graf Conrad v. Hötzendorf
war am Verlaufe der Junioffensive wohl tatsächlich nicht ganz schuldlos.
Der Einfluß, den er auf den Operationsplan genommen, führte
mittelbar zu dessen Verwässerung. Der Ideenflug, dem er bei seinen
Vorschlägen an den Kaiser gefolgt war, legte wieder jene Seite seines
Geistes dar, die gleichzeitig seine Stärke und seine Schwäche war. Er
erwies sich wie immer als Meister in der strategischen Konzeption und im
Erkennen der großen Ziele; aber er [590] vermochte es nicht, die
Idee reibungslos ins Räumliche zu übertragen. Dieser Mangel konnte
bei einem so schwierigen Werkzeug, wie es die österreichische Wehrmacht
war, nicht ohne ungünstige Rückwirkung bleiben. Wo viel Licht ist,
fehlt es eben auch nicht an Schatten. Trotzdem gab es in der alten
k. u. k. Armee kaum jemand, der ohne tiefinnerste
Erschütterung den Feldmarschall hätte scheiden sehen. Er war alles
in allem der bedeutendste Soldat, den sein Vaterland im 20. Jahrhundert
hervorgebracht hatte - und erlitt zudem ein echt österreichisches
Schicksal..."
An Conrads Stelle übernahm Erzherzog Josef das
Heeresgruppenkommando in Bozen; Fürst Schönburg erhielt den
Oberbefehl über die 6. Armee.
Fast noch nachhaltiger als auf die Wehrmacht wirkten die schmerzlichen
Ergebnisse der Junioffensive auf die Stimmung der Heimat und der Völker
zurück. Wer, wie die Deutschen und zum Teil die Magyaren, das eigene
Schicksal bedingungslos mit dem des Reiches verknüpft fühlte,
bäumte sich auf in der Empörung gegen die Schuldigen und suchte
solche auch dort, wo sie nicht zu finden waren. Die Volksschichten auf dem
entgegengesetzten Pol, die sich mit dem Herzen längst ins Lager der Feinde
begeben hatten, schöpften aus dem Verlauf der Geschehnisse die Hoffnung,
ihre staatsfeindlichen, nur durch die Niederlage der Kaisermächte
erreichbaren Ziele nun doch zu verwirklichen. Zwischen diesen Polen hatten
bisher Millionen hin und her geschwankt. Sie schlugen sich jetzt, jeglichen
Vertrauens in die Sache Österreichs beraubt, an die Seite von dessen
Gegnern und zogen sogar solche Volksteile nach, die bisher, wie die Kroaten,
unverbrüchlich zu Kaiser und Reich gestanden hatten. Und alle, rechts und
links und in der Mitte, erfüllte gleicherweise die heiße,
unbezähmbare Sehnsucht, das blutige Kriegsabenteuer so rasch als
möglich zu beenden.
Noch bestanden die Einschränkungen der Zensur, wenn auch mit
Erleichterungen, vollauf zu Recht. Dessen ungeachtet wußten in
Österreich die slawische und sozialdemokratische Presse, in Ungarn
Blätter vom Stile des extrem demokratischen Est und der
sozialistischen Népszava den Gefühlen ihres Leserkreises
unverhohlen Ausdruck zu leihen. Noch stärker trat die allgemeine
Reichs- und Kriegsverdrossenheit in den Parlamenten zu Wien und Budapest
hervor. Hier wie dort arbeitete sich schrankenloser Radikalismus zum Siege
durch.
In Wien trat der Reichsrat am 17. Juli zusammen. Um den Wünschen seiner
Getreuesten zu entsprechen, bekannte sich der Ministerpräsident
v. Seidler in der Eröffnungssitzung zum "deutschen Kurs",
wofür ihm die deutschen Abgeordneten begeisterten Beifall zollten. Es
zeugte für den geringen politischen Sinn des sonst so hochbegabten
deutsch-österreichischen Stammes, daß sich dessen Vertreter nicht
des krassen Widerspruches bewußt wurden, der zwischen der Kundgebung
Seidlers und den tatsächlichen politischen Kräfteverhältnissen
[591] bestand. Schon das
Hohngelächter aus den Bänken der Nationalitäten hätte
sie nachdenklich stimmen müssen.
Das Kabinett Seidler überlebte die Verkündung des "deutschen
Kurses" - worunter die Erfüllung der "deutschen Belange" zu
verstehen war - nur sechs Tage. Am 23. Juli schied es nach vergeblichen
Versuchen, eine Mehrheit zustande zu bringen, aus dem Amt. Der Premier zog
sich im Vollbesitz der Gnade seines Herrschers, dem er stets ein gehorsamer
Diener war, auf den geruhsameren Posten eines kaiserlichen Kabinettsdirektors
zurück. Die Tschechen sandten ihm wegen des Erlasses über die
Kreiseinteilung in Böhmen eine Ministeranklage nach, die aber im Wirbel
der Tage unterging. Sein Nachfolger als Ministerpräsident wurde der
Kirchenrechtslehrer und frühere Unterrichtsminister Freiherr
v. Hussarek, ein den Christlichsozialen nahestehender Staatsmann, der mit
Ausnahme der zwei freiwillig ausscheidenden Polen alle Minister Seidlers in sein
Kabinett übernahm. Er kam nicht mehr auf den "deutschen Kurs"
zurück, erkaufte sich aber die Wohlgeneigtheit der deutschen
Parlamentarier durch die Aufstellung des nordböhmischen Kreisgerichtes
Trautenau, das seit Jahrzehnten auf dem Wunschzettel der
deutschösterreichischen Politiker gestanden hatte. Auf diese Weise gelang
es dem Ministerium, mit Hilfe der Deutschbürgerlichen, der paar
konservativen Polen, Rumänen und der küstenländischen
Italiener für den Staatsvoranschlag eine Mehrheit von 30 Stimmen
zusammenzuraffen. Trotz des scheinbaren Erfolges hatte die
Arbeiter-Zeitung recht, wenn sie in der lässigen Art, mit der das
Haus dieses Budget bewilligte, geradezu eine Abkehr von Österreich
erblickte. Die wahre Stimmung der Volksvertretung war ungleich deutlicher in
den Geheimsitzungen zum Ausdruck gekommen, in denen Ende Juli die
verunglückte Piave-Offensive besprochen wurde. Tschechen,
Südslawen und Polen gaben dem Staat unter den heftigsten
Schmähungen den Eselstritt. Die deutschen Sozialdemokraten stimmten
den gegen das System vorgebrachten Angriffen der Nationalitäten
begeistert bei und vertraten den extremsten Pazifismus. Aber auch die
nichtsozialistischen Deutschösterreicher, die deutschböhmischen
Abgeordneten ebenso wie die alpenländischen, nationale wie
christlich-soziale, erhoben einstimmig die heftigsten Vorwürfe gegen
Staats- und Armeeführung, forderten eine Untersuchung der Schuldigen
und machten mit ihrer Kritik auch vor der höchsten Stelle nicht halt. Es
bestätigte sich, was aufmerksame Beobachter längst wahrgenommen
hatten: Der stark schwankenden Versöhnungspolitik des Kaisers war es
versagt geblieben, die slawischen Völker des Reiches an sich zu fesseln.
Sie hatte aber auch weite Schichten des deutschösterreichischen Volkes
abgestoßen.
Die antidynastische Stimmung, die stellenweise unter der Oberfläche um
sich griff, wagte sich nach der Junischlacht staunenswert weit hervor. Zahlreiche
Gerüchte, zum Teil sehr abenteuerlicher Natur, durchschwirrten das
[592] Land. In ihrem
Mittelpunkt stand vor allem die Kaiserin mit ihrer Familie. Daß es nur
ihrem Einfluß zuzuschreiben sei, wenn in Frankreich nicht stärkere
österreichische Streitkräfte zur Verwendung gekommen waren, galt
für alle Welt als ausgemachte Sache. Darüber hinaus bezichtigte man
sie unsinnigerweise sogar, daß sie den Plan für die Junioffensive an
Italien verraten habe! Diese Gerüchte empfingen nicht bloß aus
Österreich selbst Nahrung, sondern auch aus Deutschland, wo seit der
Sixtusaffäre eine heftige Pressefehde gegen das Haus Parma geführt
wurde. Man hoffte in diesen reichsdeutschen Kreisen dadurch, etwaige gegen das
Bündnis gerichtete Einflüsse zu lähmen. Es ist aber heute
erwiesen, daß diese Zeitungskampagne nicht so sehr den Interessen des
Bündnisses diente, als vielmehr jenen Kräften in Österreich,
die auf den Umsturz hinarbeiteten und denen jede Schwächung des
monarchischen Gedankens, wo immer sie herkam, willkommen war.
Selbstverständlich hatte auch die Entente die Hand im Spiele.
Dr. v. Seidler warf sich knapp vor seinem Rücktritt noch persönlich
in die Bresche, um die gegen das Kaiserpaar ausgesprengten Gerüchte als
Lügen zu brandmarken. Verschiedene Loyalitätskundgebungen
konservativer Kreise dienten dem gleichen Zweck. Die für den
dynastischen Gedanken wirkende offiziöse Propaganda arbeitete
rühriger als je zuvor. Daß sie dabei großes Geschick an den
Tag gelegt hätte, könnte man aber nicht behaupten. Sehr viel von
dem, was damals beflissene Federn über das Tun und Lassen des Kaisers
schrieben, wirkte eher aufreizend als werbend und belastete den Herrscher auch
mit der Verantwortung für Geschehnisse, an denen er keinerlei
tätigen Anteil gehabt hatte.
In Ungarn war von einer gegen König und Dynastie gerichteten
Wühlarbeit weit weniger zu bemerken. Um so gewaltiger brach sich in
Budapest die Haßwelle Bahn, die das Unglück an der Piave gegen
alles Österreichische hervorgerufen hatte. Einer geschickten
Stimmungsmache war es gelungen, in ganz Ungarn zu verbreiten, daß just
die einheimischen Regimenter dank der schlechten Führung die
größten Verluste erlitten hätten. Ein Aufschrei ging durchs
Land und fand hundertfältiges Echo im Pester Parlament: "Los von
Österreich - befreit uns von den österreichischen
Generalen!"1 Das Gefühl für die
Schicksalsgemeinschaft mit dem Schwesterstaate war auf den Nullpunkt
herabgesunken. Michael Karolyi, über alle Maßen ehrgeizig, trat,
gestützt von im Verborgenen wirkenden Kräften, immer mehr in den
Vordergrund. Die Regierung vermochte sich nicht anders zu helfen, als daß
sie mit den Wölfen heulte und in den gegen Österreich gerichteten
Chorus einstimmte. Die magyarenfeindliche Haltung der Tschechen und
Südslawen [593] im
österreichischen Parlament und die nur schüchterne, wenig
überzeugungsvolle Verteidigung der ungarischen "Staatlichkeit" durch die
Wiener Regierung boten Wekerle einen brauchbaren Anlaß. Nie sei,
beklagte er sich beim König, das Verhältnis zwischen den beiden
Staaten so schlecht gewesen wie jetzt. Von einem Abschluß der noch immer
offenen Ausgleichsverhandlungen war nicht mehr die Rede. Sinnfälligen
Ausdruck fanden die Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn in den
nicht immer unblutigen Gefechten, die von Zeit zu Zeit ungarische Gendarmen an
der deutschösterreichischen Grenze nicht nur gegen Schmuggler
führten, sondern auch gegen arme Weiber, die der Hunger zu einem
Hamstergang in das ungarische Paradies verleitet hatte.
Die innerpolitische Lage Österreich-Ungarns wurde in der zweiten
Hälfte Juli durch die Wendung im Westen ganz außerordentlich
verschlechtert. Deutschland und sein unverwundbares Heer waren in der
Donaumonarchie seit Kriegsbeginn die feste Hoffnung der staatstreuen und die
Furcht der staatsfeindlichen Elemente gewesen. Mochte an der eigenen Front was
immer geschehen sein - so lange das deutsche Schwert scharf blieb, war
auch die Monarchie vor ernster Bedrohung gefeit! Nun kam auf einmal, nach dem
17. Juli, Hiobsbotschaft über Hiobsbotschaft aus Frankreich. Die
Größe des Rückschlages war aus den amtlichen
Heeresberichten wohl nicht ganz zu erkennen. Aber gerade jene Kreise, deren
Zukunftshoffnungen auf einer deutschen Niederlage aufgebaut waren, die
Tschechen, die radikalen Südslawen, die Magyaren um Karolyi, bedurften
nicht erst der reichsdeutschen Berichterstattung. Die Entente trug Sorge, ihnen
durch hunderterlei geheime Kanäle die Kenntnis des Tatsächlichen
noch mit Übertreibungen zu vermitteln. Man geht nicht fehl, schon die
unerhörte Sprache der Opposition in den Geheimsitzungen des Wiener
Abgeordnetenhauses auf den Rückschlag im Westen
zurückzuführen. Nun gab es für die zerstörenden
Kräfte im Habsburgerreich kaum mehr einen Zweifel, daß für
sie das Spiel gewonnen sei!
Auch von den zwei k. u. k. Divisionen aus dem Westen kam beunruhigende
Kunde. Als sie nach mehrwöchiger Ausbildung Mitte August in die Front
eingesetzt wurden - die 1., General Metzger, nördlich von Verdun,
die 35., Podhoranßky, nordöstlich von Saint
Mihiel - wurden sie von den deutschen Führern mit Auszeichnung,
von den deutschen Mannschaften aber nicht selten mit der Frage empfangen:
"Warum kämpft ihr hier, warum verlängert ihr den Krieg?" Man
kann sich denken, wie rasch solche Gespräche den Weg in die tschechische
und ungarische Heimat fanden...
Auf dem Ballplatz und in Laxenburg hielt man den Zeitpunkt für einen
neuerlichen Friedensschritt gekommen. Um die Bundesgenossen für den
Gedanken zu gewinnen, begab sich der Kaiser Karl, begleitet von Burian und Arz,
am 13. August nach Spa. Burian erläuterte den führenden
Männern Deutschlands einen Plan, von dem er sich außerordentlich
viel versprach. Nicht ein Friedens- [594] angebot im
eigentlichen Sinne des Wortes sollte gestellt, sondern bloß eine
Aufforderung an Freund und Feind gerichtet werden, sich irgendwo, am besten im
Haag, an einen Tisch zu setzen. Zur großen Freude des
österreichischen Herrschers zeigten sich die deutschen
Persönlichkeiten ohne Ausnahme durchaus friedensgeneigt. Nur mit dem
Wege, den Burian einschlagen wollte, konnte man sich nicht befreunden. Man
stellte den Antrag, lieber die Vermittlung einer neutralen
Macht - etwa der Königin der Niederlande, oder des Königs
von Spanien - in Anspruch zu nehmen. Die Heeresleitung forderte
überdies, mit dem Schritt so lange zu warten, bis der Rückzug an der
Front zum Stillstand gekommen sei. Generaloberst v. Arz betonte,
daß die Monarchie den Krieg keinesfalls länger als bis zum
Dezember führen könne und aus
außer- und innerpolitischen Gründen darauf bedacht sein
müsse, beim Friedensschluß über ein noch brauchbares Heer
zu verfügen.
Kaiser Karl kehrte aus Spa nicht unbefriedigt zurück. Er war froh,
daß sich auch Ludendorff für einen raschen Friedensschluß
ausgesprochen hatte und damit für
Österreich-Ungarn die Nötigung wegfiel, sich von Deutschland
vorzeitig trennen zu müssen. Zu einem bestimmten Übereinkommen
über die nächsten diplomatischen Schritte war man freilich nicht
gelangt, da weder Burian noch die deutschen Staatsmänner von ihren Ideen
abgehen wollten. Die Heeresleitungen hatten die Entsendung weiterer Divisionen
der k. u. k. Wehrmacht nach dem Westen vereinbart. Ende August,
anfangs September wurden die k. k. 106. Division und die 37.
Honveddivision auf die Bahn gesetzt. Beide führten fast keine Artillerie
mit. Die Honveddivision zählte überhaupt nur 5000 Feuergewehre.
Die 106. war 15 000 Kämpfer stark, aber so schlecht gekleidet und
ausgerüstet, daß bei ihrer Ankunft in Ornes der deutsche
Ortskommandant auf eigene Verantwortung die nach hunderten zählenden
Barfüßer aus seinen Beständen mit Stiefeln bekleiden
ließ.
Burian bemühte sich von Wien aus, die deutsche Regierung doch noch
für den von ihm geplanten Friedensschritt zu gewinnen. Auch
während des Antrittsbesuches, den Admiral v. Hintze als neuer
Leiter der deutschen auswärtigen Politik anfangs September in Wien
machte, beherrschte die Buriansche Idee einen guten Teil der Besprechungen,
ohne daß sich freilich der Gegenpart gewinnen ließ. Kein besserer
Erfolg war dem neuerlichen Bemühen Burians beschieden, die Herren aus
der Wilhelmstraße in letzter Stunde von der Notwendigkeit der
austropolnischen Lösung zu überzeugen. Außerdem wurden
Mittel und Wege besprochen, durch die Rumänien endlich zu der
planmäßig hinausgezogenen Ratifikation des Bukarester Friedens
gezwungen werden konnte. Man kam überein, wenn nötig, auch
militärischen Druck wirken zu lassen. Glücklicherweise gab Jassy
schon in den nächsten Tagen Zeichen des Einlenkens. Kaiser Karl war von
Anfang entschlossen gewesen, seine Truppen an einem neuen Feldzug gegen
Rumänien nicht teilnehmen zu lassen.
[595] Die Hoffnung,
daß es dem deutschen Heere gelingen werde, wieder festen Fuß zu
fassen, schien sich nicht zu erfüllen. Die Fortdauer des deutschen
Rückzuges bestärkte Burian in seiner Absicht, seine
Friedenseinladung "An alle" auch ohne Zustimmung der Bundesgenossen ergehen
zu lassen. Die Ungeduld des Kaisers wirkte mit. Dieser sah sich bereits nach
einem anderen Außenminister um, der ihm raschere Arbeit verbürgte.
Die Namen des Österreichers Mensdorff und der Ungarn Szecsen und
Szilassy wurden genannt; letzterer war bereits aus Stambul herbeigeholt worden,
um dann freilich wieder unverrichteter Dinge abzuziehen.
Am 14. September ließ Burian seine Friedenstaube aufflattern. Das Berliner
Kabinett hatte man knapp zuvor verständigt, aber so, daß es nicht
mehr rechtzeitig antworten konnte. Auch eine Depesche des deutschen Kaisers,2 in der es hieß, daß ein
eigenmächtiges Vorgehen Wiens "eine sehr ernsthafte Gefährdung
des Bündnisses zur Folge haben würde", kam zu spät. Kaiser
Karl beantwortete sie nach der Veröffentlichung der Note mit einem
längeren, von Burian entworfenen Schreiben, in welchem es u. a.
hieß:
"...Nur kurz will ich erwähnen,
daß die neuliche Rede des Vizekanzlers v. Payer wohl viel eher den
Namen eines Friedensangebotes verdient als unser Vorschlag; daß das
Mittel der Mediation eines neutralen Staates uns, falls der jetzige Schritt zu
keinem Erfolg führt, in absehbarer Zeit noch immer zur Verfügung
steht und daß - wie ich voraussah - unsere Aktion in der
Monarchie nicht eine gefährliche Steigerung der Friedenssehnsucht
bewirkt, sondern völlige Zustimmung und Befriedigung hervorgerufen hat.
Die Stimmung meiner Armee, in der nach vier Kriegsjahren unverkennbare
Symptome von Kriegsmüdigkeit zutage treten, kann am ehesten dadurch
gehoben werden, daß sie sieht, es werde von mir aus nichts unterlassen, was
zum Frieden führen könnte. Was schließlich die Gefahren
für mich und mein Haus betrifft, so ist auch diese Seite der ganzen jetzigen
Situation, in der sich Strömungen gegen die Dynastien immer stärker
bemerkbar machen, wohl ernst genug, um nicht übersehen zu werden. Die
bloße Erkenntnis der Gefahr ist aber nicht ausreichend, sondern es ergibt
sich daraus auch das Gebot für alle Monarchen, sich dagegen zu
schützen, vor allem durch gewissenhafte Erfüllung der Pflichten
gegen ihre Völker und Armeen, welche ihren Herrschern nichts mehr
verübeln würden, als die Vernachlässigung irgendeines
Mittels, welches uns dem Friede näherzubringen geeignet
wäre..."
Staatssekretär v. Hintze und seine Begleitung hatten schon von ihrem
Wiener Besuch einen denkbar ungünstigen Eindruck nach Hause
genommen. Zahlreiche Berichte aus allen Teilen der Donaumonarchie
vervollständigten das Bild im gleichen Sinne. Die Unmöglichkeit,
mit der Wiener Regierung [596] als einem halbwegs
sicheren Partner des Bündnisses zu rechnen, wurde von Tag zu Tag
augenfälliger. Nur verwechselte man in Berlin Ursache und Wirkung. Man
hörte auf, das Habsburgerreich als Ganzes für die
Kriegführung ins Kalkül zu ziehen, gab sich aber der Hoffnung hin,
doch noch bei einzelnen der auseinanderstrebenden Teile freundliche Gesinnung
und Hilfsbereitschaft zu finden. Inwieweit die Versuche nachgeordneter
reichsdeutscher Funktionäre über die Köpfe der Wiener
Regierung hinweg bei den Magyaren, ja sogar bei den Tschechen Sympathien zu
erwerben, mit Vorwissen der obersten Reichsstellen unternommen wurden, ist
unbekannt geblieben. Sie wären durch die gespannte Lage durchaus
gerechtfertigt gewesen, wenn sie sich auf politisch richtige Erwägungen
gegründet hätten. Doch war dies nicht der Fall. Was die Tschechen
betrifft, die sich bereits ganz auf den Sieg der Entente eingestellt hatten, bedarf es
keiner näheren Erläuterung. Aber auch bei den Magyaren
mußte ein aufmerksamer Beobachter feststellen, daß die
"Unabhängigkeitsströmung" damals ganz von selbst auch vom
Bündnis hinwegführte. Das hat später der Umsturz in
unzweifelhafter Form bewiesen.
So unwahrscheinlich es klingt, so waren, abgesehen von den bürgerlichen
Deutschösterreichern, auch damals noch die
verhältnismäßig verläßlichsten Stützen des
Bündnisses in den offiziellen Wiener Kreisen zu suchen. Diese machten,
wenn sie dem Bündnis treu bleiben wollten, vielleicht aus der Not eine
Tugend. Aber sie sprangen in der Tat erst aus, als schon niemand mehr da war,
ihnen in der Bündnispolitik Gefolgschaft zu leisten, Ende Oktober 1918.
Und auch dann mußte für den entscheidenden Schritt noch ein
Magyare aus Budapest herbeigeholt werden: Graf Julius Andrassy.
Burians eigenwilliger Schritt war nicht dazu angetan, der Verstimmung in
Deutschland entgegenzuwirken. Auch das offizielle Berlin fühlte sich
schwer hintergangen. Nur den eindringlichsten Vorstellungen des Botschafters
Hohenlohe war es zu danken, daß der größte Teil der deutschen
Presse schließlich doch gute Miene zum bösen Spiel machte und den
Burianschen Schritt wohlwollend abtat. Burian ließ gereizt in Berlin
erinnern, wie in der letzten Zeil der Ballplatz wiederholt durch den
Bundesgenossen vor fertige Tatsachen gestellt worden sei, ohne daß sich die
Monarchie darob in die Öffentlichkeit geflüchtet habe.
Die Vorgänge hinter den Kulissen der Entente sind noch viel zu wenig
aufgehellt, als daß man mit einiger Sicherheit feststellen könnte, ob
der Aufruf "An alle" die weitere Entwicklung schädlich beeinflußt
habe und ob solches durch diplomatische Aktionen überhaupt noch
möglich war. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß auch die
Vermittlung durch eine neutrale Macht kein besseres Ergebnis gezeitigt
hätte.
Das Reuterbureau legte Wert darauf, mitzuteilen, daß der amerikanische
Staatssekretär Lansing für die Ablehnung der österreichischen
Friedensnote [597] keine ganze Stunde der
Überlegung gebraucht hätte. Clémenceau nahm sich sogar
nicht einmal die Mühe, diplomatische Formen einzuhalten. Er ließ
die Wiener Regierung auf eine im Journal officiel abgedruckte Senatsrede
verweisen, an deren Schlusse es hieß: "Auf zum fleckenlosen Sieg!"
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