Bd. 5: Der österreichisch-ungarische
Krieg
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Kapitel 2: Mobilmachung
Feldmarschalleutnant Max Hoen, Direktor des Wiener Kriegsarchivs
Die österreichisch-ungarische Monarchie hatte in einem Kriege, insolange
ihre Bündnisse zu Recht bestanden, mit zwei Fronten zu rechnen: jene im
Nordosten gegen Rußland und jene im Süden gegen Serbien und
Montenegro. Es unterlag keinem Zweifel, daß ein Zusammenstoß mit
dem mächtigen nordöstlichen Nachbar auch Angriffe im
Süden auslösen werde; dagegen mochte es einer geschickten
Diplomatie unter besonderen Verhältnissen immerhin gelingen, bei einem
Konflikt mit Serbien die Feindseligkeiten auf den Süden zu
beschränken, wobei allerdings die Vorsicht gebot, sich gegen Wandlungen
in der russischen Politik zu wappnen.
Die Pläne für die Verwendung der Wehrmacht im Kriegsfalle trugen
diesen Erwägungen Rechnung. Unbedingt für den Kampf gegen
Rußland waren bestimmt: die in
Ost- und Mittelgalizien garnisonierenden Truppen, XI. Korps Lemberg,
X. Przemysl, sowie 4 Kavalleriedivisionen, dann jene in
Westgalizien, Schlesien, Ostböhmen, Mähren, Innerösterreich,
Tirol, Nordungarn und Siebenbürgen, also I. Korps Krakau,
II. Wien, III. Graz, XIV. Innsbruck, V. Preßburg,
VI. Kaschau und XII. Hermannstadt, die
10. Infanteriedivision (Josefstadt), die
41. Honved-Infanteriedivision (Budapest), sowie
6 Kavalleriedivisionen; sie bildeten die sog. Aufmarschstaffel A. Zur
Verteidigung im Süden waren die Truppen in
Kroatien-Slavonien, Bosnien, in der Herzegowina und in Dalmatien bestimmt:
XIII. Korps Agram, XV. Sarajevo und XVI. Ragusa. Zu ihrer
Verstärkung war die zweite Aufmarschstaffel B gegen
Rußland verfügbar, wenn dieses seine Schützlinge im
Süden ihrem Schicksal überließ; diese Staffel begriff in sich
die Truppen aus Mittel- und Südungarn, dann aus Böhmen:
IV. Korps Budapest, VII. Temesvar, die
10. Kavalleriedivision, VIII. Korps Prag, IX. Leitmeritz (ohne
10. Infanteriedivision).
Die am 25. Juli 1914 kurz vor 6 Uhr nachmittags dem
österreichisch-ungarischen Gesandten General Freiherr v. Giesl in
Belgrad überreichte ungenügende Beantwortung des Ultimatums an
Serbien und die Nachricht, daß drei Stunden vorher der
Mobilmachungsbefehl an die serbische Armee ergangen war, schufen eine Lage,
die der politischen Leitung Österreich-Ungarns die Möglichkeit zu
eröffnen schienen, durch Verneinung irgend- [18] welcher
Eroberungsabsichten den in Aussicht stehenden Krieg auf den
Balkankriegsschauplatz zu beschränken. Der am 25. Juli abends vom
Kaiser Franz Josef erlassene Befehl für die "teilweise Mobilisierung" betraf
deshalb außer den drei an Serbien und Montenegro angrenzenden Korps die
gesamte sogenannte Aufmarschstaffel B, die mit Ausnahme einer
Infanteriedivision des Leitmeritzer IX. Korps an der unteren Drina und
Save sowie im Banat aufmarschieren sollte. Überdies wurden 2
Kavalleriedivisionen der Aufmarschstaffel A gleichfalls gegen Serbien
bestimmt. Die in 3 Armeen gegliederte Streitmacht umfaßte somit 7 Korps
mit zusammen 19 Infanteriedivisionen und 3 Kavalleriedivisionen.
Verschiedene unliebsame Ereignisse während der früheren Krisen
ließen mit einiger Spannung dem Verhalten der vom Mobilmachungsbefehl
betroffenen tschechischen Truppenkörper entgegenblicken. Man neigte zur
Annahme, daß ein glatter Verlauf den in Europa verbreiteten Glauben an
den bevorstehenden Zerfall der Monarchie kräftigst Lügen strafen
und verschiedene Nachbarn vom Eingreifen in den Zwist mit Serbien abhalten
würde. Vorsichtshalber wurde aber auch das Grazer III. Korps der
Aufmarschstaffel A mobilisiert, um es schlimmstenfalls an Stelle der
tschechischen Truppen einspringen zu lassen.
Die Aufnahme, welche der Mobilmachungsbefehl und die am 28. Juli ergangene
Kriegserklärung an Serbien in der gesamten Bevölkerung fand,
überstieg alle Erwartungen. Eine Welle der Begeisterung ging über
alle Länder der Donaumonarchie hinweg. Einmütig kam die
Bejahung des Reichsgedankens überall zum Ausdruck, sowohl in der
Presse aller Sprachen, als auch in der Haltung aller Schichten der
Bevölkerung und aller politischen Parteien, in der opferfreudigen
Bereitwilligkeit aller, den aufgezwungenen Kampf siegreich durchzufechten, den
Bestand des Gesamtstaates zu erhalten und zu sichern. Seit sechs Jahren lasteten
die immer wiederkehrenden Konflikte mit Serbien schwer auf der Wirtschaft,
legte sich die Gegnerschaft, ja ausgesprochene Feindseligkeit der mit Eifer
rüstenden, ihre militärischen Kräfte unaufhörlich
vermehrenden und ihre Kriegsbereitschaft stets steigernden
Großmächte der Entente immer enger und würgender um die
Monarchie, deren ehrlich friedenswillige Haltung das sichtlich näher
kommende Verhängnis nicht zu beschwören vermochte. Mit einem
Schlage wich die Verdrossenheit, die Verzagtheit, die das gewohnte vorsichtige
Nachgeben und eine bis zur Selbstentäußerung gediehene
Friedensliebe gezeitigt hatten; der innere Hader verstummte und die
Schicksalsstunde sah ein einig Volk von Brüdern, dessen Kundgebungen
auf den gleichen Ton gestimmt waren, ob sie in Wien, Prag, Budapest oder
irgendeiner anderen Stadt der Monarchie die Straßen durchwogten. In
Ungarn gesellte sich den patriotischen Liedern das sonst so verpönte "Gott
erhalte" und dem König wurde der Kaisertitel nicht mehr vorenthalten.
[19] Um den Eisenbahnen
Zeit zur Vorbereitung zu geben, wurde der 27. Juli als Alarmtag, der 28. als erster
Mobilmachungstag festgesetzt. Doch die Reservisten und
Landsturmmänner drängten auf die erste Bekanntmachung sofort zu
den Fahnen und füllten in beängstigender Zahl noch vor dem 28. die
Kasernen. Der Einrückungskalkül wurde auch in anderer Richtung
überboten: der Prozentsatz der nicht einrückenden Leute war weit
geringer, als auf Grund früherer Erfahrungen angenommen worden
war.
In der Nacht zum 30. Juli trat auf den nach Süden führenden
Eisenbahnstrecken, die in 4 Aufmarschlinien zusammengefaßt waren, die
Kriegsfahrordnung in Kraft, und es begannen die Aufmarschtransporte mit einer
Fahrgeschwindigkeit von 25 bis 40 km in der Stunde zu rollen, die aber
wegen der vielen und langen Aufenthalte im Durchschnitt auf 16 km
herabsank.
Mittlerweile kamen Nachrichten von der am 26. angeordneten Mobilmachung der
südwestlichen Militärbezirke Rußlands, was zu
Schutzmaßnahmen an der Grenze Galiziens nötigte. Am 31. Juli war
die allgemeine Mobilmachung im ganzen Riesenreich offenkundig in vollem
Gang, wodurch Österreich-Ungarn und Deutschland die gleiche
Maßnahme aufgezwungen wurde, wenn beide sich nicht wehrlos einem
Überfall aussetzen wollten.
Daß der Aufmarsch gegen Serbien nun schon den zweiten Tag rollte,
bedeutete eine schwere Komplikation. Die Bereitstellung der Eisenbahnen
für die Massentransporte nach Galizien erforderte viel mehr Zeit, als ohne
diesen Zwischenfall nötig gewesen wäre. Der am 31. Juli erlassene
allgemeine Mobilmachungsbefehl setzte deshalb erst den 4. August als 1.
Mobilisierungstag fest. Eine andere Frage, die in der Nacht zum 1. August
entschieden werden mußte, betraf die Aufmarschstaffel B, die infolge
der geänderten Lage gegen Rußland verwendet werden sollte.
Rechnete doch Deutschland, wie ein Schreiben Kaiser Wilhelms an Kaiser Franz
Josef ausführte, mit Bestimmtheit darauf, daß
Österreich-Ungarn 40 Divisionen gegen Rußland ins Feld stellen
werde. Eine Feldtransportleitung drehte wohl sofort die Transporte der
1. Kavalleriedivision nach Norden ab, doch konnte sich der Chef des
Feldeisenbahnwesens Oberst Straub zu einem solchen Verfahren für alle
Transporte nicht entschließen. Er befürchtete ein heilloses
Durcheinander, wenn die vielen rollenden Züge plötzlich auf die
noch für den Friedensverkehr eingerichteten Strecken des galizischen
Aufmarsches geleitet würden. Deshalb trat er entschieden dafür ein,
den Aufmarsch gegen Serbien auslaufen zu lassen. Die Aufmarschstaffel B
würde dadurch vollkommen geordnet und innerlich gefestigt viel
früher für ihre Verwendung im Norden bereitstehen, als der
Transport der Aufmarschstaffel A bewältigt sein werde, so daß
kein nennenswerter Zeitverlust eintrete.
Dem begründeten Gutachten des Fachmannes mußte sich die oberste
Führung beugen, doch setzte sie durch, daß auch die
11. Honved-Kavalleriedivision, deren Abtransport noch nicht begonnen
hatte, nach Galizien rolle. [20] Überdies wurde je
einer Division der beiden böhmischen Korps der Umweg erspart. Da das
VIII. Korps im Verbande der Balkanstreitkräfte bleiben sollte, kamen
für den späteren Abtransport nach Norden das IV. und
VII. Korps mit der 20. und
23. Honved-Infanteriedivision, die 10. Kavalleriedivision und das
IX. Korpskommando mit der 29. Infanteriedivision in Betracht,
welch letztere später jedoch auf dem serbischen Kriegsschauplatze belassen
wurde. Diese Truppen, die 2. Armee bildend, sollten vom 18. August an
nach Norden rollen. Tatsächlich zog aber das Eingreifen namhafter Teile in
den Kampf eine beträchtliche Verzögerung der Einwaggonierung
nach sich.
Der Aufmarsch der 2. Armee gegen Serbien bedeutete auch in anderer Richtung
eine Belastung der Entschlußkraft der obersten Führung. Der
Gedanke war nicht von der Hand zu weisen, daß es sich empfehlen
könnte, zunächst Serbien gänzlich zu erledigen und die
Stimmen, die dafür eintraten, durften geltend machen, daß die
Versammlung einer solch überlegenen Streitkraft, wenn sie nun schon im
Zuge war, einem Wink des Schicksals gleichkomme, im Süden reinen
Tisch zu machen und sich im Norden einstweilen verteidigungsweise zu
verhalten. Es gehörte die überzeugte Bundestreue der berufenen
Führer dazu, an dem der allgemeinen Sache dienenden Entschluß
festzuhalten, durch Angriff mit möglichst starker Kraft die russischen
Massen auf sich zu ziehen und zu binden, während das Gros des deutschen
Heeres die Abrechnung mit Frankreich anstrebte.
Wie bei der Teilmobilmachung vollzog sich auch beim allgemeinen Aufgebot der
gesamten Wehrmacht die Einrückung und Ausrüstung der Streiter,
die Aushebung der Pferde und Aufstellung der Trains rasch, ruhig und ohne
Störung. Kriegsstand und Marschbereitschaft der Truppen war zumeist vor
dem angesetzten Termin erreicht, so daß der Abtransport nach dem
Kriegsschauplatze planmäßig beginnen konnte. In der Nacht zum 6.
August trat auf den 7 Aufmarschlinien nach Galizien die Kriegsfahrordnung in
Kraft, doch schon am 3. begannen die ersten Transporte nach Galizien zu rollen,
wo indessen der Grenzschutz seine Stellungen bezogen hatte. Obwohl sich Italien,
wie am 2. August bekannt wurde, seiner Bündnispflicht entzog, wurde der
Schutz der Südwestgrenze den schwachen Sicherheitsbesatzungen der
Werke und Befestigungen überlassen.
Die gewaltige Massenbewegung von Truppen, Trains und Sachgütern
zeitigte eine verschwindend kleine Anzahl von Eisenbahnunfällen, die den
gut durchdachten und genau vorbereiteten Aufmarsch nicht wesentlich
störten. Verbrecherische Anschläge verhinderte die sofort
einsetzende Bewachung aller Bahnobjekte mit Landstürmlern. Die
Transportleistung im Aufmarsch gegen Serbien umfaßte vom 17. Juli bis
16. August 512 000 Mann, 64 000 Pferde, 19 300 Fuhrwerke
und 32 800 Tonnen, die mit 2064 Vollzügen zu 50 Waggons und auf
der Donau befördert wurden. Den Aufmarsch gegen Rußland
bewäl- [21] tigten in der Zeit vom 3.
bis 31. August 3998 Vollzüge. Wenn man sich der vielen
Verschiedenheiten im Charakter der Bahnstrecken der Monarchie erinnert, des
häufigen Vorkommens von Gebirgsbahnen, die andere Lokomotiven und
oft die Teilung der Vollzüge erforderten, so erscheint die vollbrachte
Leistung in um so hellerem Lichte.
In allen Stationen umdrängte eine begeisterte Menge jeden der
durchfahrenden Züge, überbot sich an Beweisen der Liebe und der
Fürsorge für die ins Feld ziehenden Krieger, ein erhebender Auftakt
für die Ereignisse, die alsbald auf den beiden Kriegsschauplätzen ins
Rollen kamen.
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