Bd. 4: Der Seekrieg - Der Krieg um die
Kolonien
Die Kampfhandlungen in der Türkei
Der Gaskrieg - Der Luftkrieg
Abschnitt: Der Gaskrieg
(Forts.)
Hauptmann Hermann Geyer
4. Die deutschen artilleristischen
Anfänge.
Bei der Darstellung der Entwicklung des Gaskrieges im einzelnen müssen
naturgemäß die Verhältnisse auf deutscher Seite stark in den
Vordergrund treten. Die Verhältnisse der Gegenseite können nur
kurz zum Vergleich herangezogen werden.
Wie erwähnt, wurden im Oktober 1914 erstmals amtliche deutsche
Versuche mit Gaskampfstoffen gemacht. Sie führten bald zur Konstruktion
des sogenannten Ni-Geschosses, bei dem das Füllpulver des
10,5-cm-Schrapnells durch schwefelsaures Dianisidin ersetzt wurde. Dadurch
sollte bei der Zerlegung des Geschosses ein Augen und Nasen reizender feiner
Staub erzeugt werden.
Das Ni-Geschoß war also kein Gasgeschoß, es enthielt keine giftigen
Stoffe und schaffte auch keine "unnötigen Leiden". Die Wirkung war
harmlos, etwa der von Schnupfpulver vergleichbar. Man hoffte aber doch,
daß sie dem Feind wenigstens vorübergehend den Gebrauch der
Waffen erschweren würde.
Noch im Spätherbst 1914 wurde das neue Geschoß zu einem
Frontversuch bei einem Angriff auf Neuve Chapelle eingesetzt, nach den
Berichten nicht ganz ohne Erfolg, allerdings bei nicht günstiger Wetterlage.
Trotzdem hielt man die Wirkung nicht für ausreichend. Sie war zu wenig
intensiv, zu kurz dauernd und räumlich zu beschränkt.
[497] Auf feindlicher Seite
machte das neue Geschoß offenbar keinen Eindruck. Die feindliche Presse
verhielt sich still. Anzeichen, daß der Feind Gasschutzmittel
einführte, wurden nicht bemerkbar.
Das geringe Ergebnis ist erklärlich. Hatte es doch an jeder Vorbereitung im
Frieden gefehlt!
Um so eifriger wurden nun die Versuche zur Gewinnung wirksamerer
Gasgeschosse fortgesetzt. Sie führten zur Verwendung von Stoffen, die in
der Wirkung dem bereits bekannten französischen Gaskampfstoff glichen.
Hinsichtlich der zu verwendenden Geschoßarten bildete sich die Einsicht
heraus, daß das Schrapnell ungeeignet und nur die Granate (Aufschlag)
für artilleristische Gasverwendung Zukunftsaussichten biete. So entstand
die T-Granate im Januar 1915. Im Sommer folgte die K-Granate.
Für die Reizwirkung der T-Granate ist die französische Bezeichnung
"lacrimogène" (tränenerregend) kennzeichnend. Der
T-Kampsftoff entbehrte jedoch - ebenso wie das französische
Gas - keineswegs der Giftigkeit, die bei übermäßiger
Einwirkung den Tod bringen konnte. Er glich somit im Typ völlig dem
französischen Gas, während beim
K-Stoff die Reizwirkung verhältnismäßig weniger vordringlich
war.
T- und K-Geschosse waren auf das 15-cm-Kaliber beschränkt. Ihrer
Verwendung waren damit ziemlich enge Grenzen gezogen. Die
Möglichkeit der Massenverwendung fehlte fast ganz, da es sehr schwierig
war, eine entsprechende Menge 15-cm-Geschütze an einer Stelle
zusammenzuziehen.
Der erste Einsatz der T-Granate fand im Osten Ende Januar bei Lodz und kurz
darauf bei Bolimow statt. Er war kein unbestrittener Erfolg. Man erkannte zu
spät, daß die strenge Kälte des russischen Winters die Wirkung
des T-Gases ungünstig beeinflußte, weil sie den Kampfstoff hinderte,
gasförmig in die Luft überzugehen.
Auch an einigen anderen Stellen wurden T- und K-Granaten eingesetzt. Sie
erwarben sich aber fast nirgends große Anerkennung. Die Anforderungen
der Front blieben gering. Die monatliche Fertigung betrug im Durchschnitt nur
24 000 Schuß.
Der Grund für den geringen Erfolg lag sicher zum Teil an
unzweckmäßiger Verwendung. Anderseits aber war das neue
Kampfmittel noch zu fremd, um richtig bewertet zu werden, und zu unsicher in
seinen Leistungen. Es ist daher nicht zu verwundern, daß Führung
und Truppe in der Front kein rechtes Vertrauensverhältnis zu den
Gasgeschossen gewinnen konnten.
Im Sommer 1915 wurden fast nur noch in den Argonnenkämpfen
Gasgeschosse mit sichtlichem Erfolg und daher gerne verwendet.
In der dortigen waldreichen Gegend fanden sich besonders leicht
windgeschützte Ziele, bei denen die mangelnde Luftbewegung die
Gaswirkung begünstigte. Allmählich bildeten sich dort die
Anfänge einer der Eigenart der Gas- [498] wirkung
entsprechenden Gastaktik heraus. Man begann bestimmte vereinfachte
Regeln für Errechnung der jeweils erforderlichen Gasmengen zu finden.
Man lernte Zeit und Raum eines Gasbeschusses mit dem taktischen
Gefechtszweck in Übereinstimmung zu bringen. Man berücksichtigte
Gelände, Wind und Witterung, kurz man begann in die Eigenart des
Gaskampfes einzudringen. Das Legen von "Gassperren" und das Bilden von
"Gassümpfen" - beides Ausdrücke, die so einfach sind,
daß sie keiner Erklärung
bedürfen - wurde in den Argonnen zuerst planmäßig
und mit anerkanntem Erfolg erstrebt.
Die leitenden Stellen des deutschen Heeres beschäftigte damals der
Gedanke, besondere Gasstäbe der Artillerie zu bilden, die mit einer ihnen
dauernd zu unterstellenden Gasartillerie an wechselnden Orten eingesetzt werden
sollten. Der Gedanke entstand, weil offenbar die Erkenntnis von Wert und
Bedeutung des Gaskrieges sich im Heere zu langsam verbreitete. Er kam nicht zur
Durchführung, weil man einsah, daß das deutsche Heer nicht
über genügend Artillerie verfügte, um eine
größere Zahl von 15-cm-Batterien ausschließlich für
Gasschießen zu verwenden und so den übrigen artilleristischen
Aufgaben zu entziehen. Auf diesem Wege waren große artilleristische
Gaserfolge unter den gegebenen Verhältnissen nicht zu erzielen. Das
Gasschießen mußte Gemeingut der Artillerie werden, so daß es,
wenn die technischen und taktischen Voraussetzungen des Gaseinsatzes zutrafen,
an jeder Stelle der Front ohne allzu große Vorbereitungen
durchgeführt werden konnte. Das erleichterte die Überraschung und
gab erst die Vorbedingungen für den Masseneinsatz, der zur Erzielung
möglichst hoher Gasdichten notwendig war.
Aber soweit kam die Entwicklung im Jahre 1915 - auch in der theoretischen
Erkenntnis - noch nicht. Dieses Jahr war ja, vor allem in den ersten
Monaten, das Jahr der großen Munitionsknappheit. Da meinte man vielfach
es nicht verantworten zu können, daß größere Mengen
Munition für zweifelhafte
Sonderzwecke - dafür hielt man vielfach das
Gasschießen - ausgegeben wurden.
Umgekehrt hätte man erkennen sollen, daß gerade das
Gasschießen fruchtbarste artilleristische Wege wies, indem es seinem
Wesen nach auf Zusammenfassung des Einsatzes und der Wirkung nach Raum
und Zeit hindrängte und damit als wertvolles Gegenmittel gegen die leider
oft übliche artilleristische Zersplitterung dienen konnte.
So aber dachten damals die wenigsten. Trotz der Teilerfolge in den Argonnen
verflachten Interesse und Verständnis für das Gasschießen um
so mehr, als auch die feindlichen Gaserfolge gering blieben. Hierzu trugen auf
deutscher wie auf feindlicher Seite allerdings die allmählich eintretende
größere Gewandtheit der Truppe gegenüber dem Gas, das
Zurücktreten des panischen Schreckens und die Verbesserung des
Gasschutzes wesentlich bei. Die Erzeugung wirksamer Gasdichten erforderte
schließlich zu viel Geschosse. Das Gasschießen mit
T- und K-Granaten geriet in Gefahr, seine Bedeutung völlig zu
verlieren.
[499] Den für den
Munitionsnachschub verantwortlichen Stellen des deutschen Heeres wäre
eine umfangreichere Gasverwendung gerade damals sehr erwünscht
gewesen. Man war knapp an Füllpulver, hatte aber ausreichend
Geschoßhüllen. Kam das Gas in Aufnahme, so konnte man das
Füllpulver strecken und mehr fertige Geschosse liefern. Derartige
Überlegungen hatten aber auf die Front keinerlei Einfluß. Bei den
Kämpfen um Verdun im Winter 1916 spielte das Gasschießen der
Artillerie so gut wie gar keine Rolle, obwohl auf deutscher Seite der mit der
Entwicklung des Gasschießens eigens beauftragte Artilleriestab sich bei
dem Armee-Oberkommando befand, das den Angriff leitete. Erst die
Einführung der Phosgengranate auf französischer Seite und die
deutsche Antwort, das Grünkreuzgeschoß, gaben der Entwicklung
einen neuen Auftrieb.
Hiervon wird später die Rede sein. Zuvor ist es nötig, die andern
Gebiete des Gaskampfes zu besprechen.
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