[139] Von einer deutschen Granate
schwer verwundet Leutnant Dr. Axel Albrecht Weiß, Sonnenhof (zur Zeit Chirurgische Universitäts-Klinik in Breslau) Was Kamerad Beckmann in dem ersten Teil seines Berichtes erzählt, habe ich auch erlebt. Darum beschränke ich mich hier auf meine letzten Erlebnisse. Die polnischen Soldaten hatten allgemein geglaubt, die Offiziere würden sich vor dem Kampfe drücken. Tatsächlich soll es auch sehr oft so gewesen sein. In meinem Regiment war es jedoch nicht der Fall. Fast alle Offiziere sind gefallen oder verwundet worden. Nur wenige wurden gefangengenommen. Eines Tages hörten wir den ersten Kanonendonner, und bald darauf marschierte ich mit einem Bataillon - zwei waren vor Radom geblieben, eins wurde wieder aufgefüllt - in Richtung Lemberg. Wir sollten uns angeblich mit dem "siegreichen" General Sosnkowski vereinigen und dann "die wenigen Deutschen, die über die Weichsel gekommen waren - alles andere war dort aufgehalten worden - aus ihren Stellungen werfen und zu Paaren treiben!" Es kam anders. Zwischen Zamosch und Tomaschow stießen wir auf deutschen Widerstand. Wir wurden zum Sturmangriff eingesetzt, ohne Flieger-, Artillerie- oder Panzerhilfe, während sofort von deutscher Seite her ein rasendes Maschinengewehrfeuer einsetzte, begleitet von einer sehr gut eingeschossenen Artillerie. Auch die Flieger blieben nicht aus. Es dauerte auch nur kurze Zeit, bis das Schicksal des Bataillons entschieden war. Von 27 Offizieren waren 17 tot, 7 verwundet und 3 gefangen. Unter den Mannschaften sah es nicht anders aus. Ich selbst wurde gleich beim zweiten Sprung schwer verwundet. Ein Granatsplitter hatte mein Schienbein zerschmettert. Durch den starken Blutverlust fiel ich bald in Ohnmacht und erwachte erst, als längst schon alles ruhig war. Um mich herum lagen tote Soldaten und Pferde. Ein deutscher Unter- [140] offizier erschoß die verwundeten Pferde. Immer wird mir das entsetzliche, menschenähnliche Schreien verwundeter Pferde in Erinnerung bleiben. Deutsche Sanitäter legten mir einen Notverband an und trugen mich auf einen Wagen. Sie machten beides sehr liebevoll und sorgfältig. Schmerzlich war für mich nur, daß sie mir nicht glauben wollten, daß ich Volksdeutscher wäre. Mit dieser Bezeichnung war eben zu viel Schwindel getrieben worden. Auch der Inhalt meiner Brieftasche (Mitgliedskarte der "Welage", Visitenkarten, Photographien mit deutschen Widmungen usw.) konnte sie nicht überzeugen. Abends zogen sich die Deutschen leider wieder zurück. Wir, die wir auf dem Wagen lagen, gerieten wieder in polnische Hände. Die nächsten 10 Tage verbrachte ich in einer Schule auf schmutzigem, staubigem Stroh. Der Arzt war ein Internist, der von Wundbehandlung wenig Ahnung hatte. Fieber wurde nicht gemessen, Gips gab es nicht, dafür aber um so mehr Schmerzen. Das erste, was ich mir einmahnte, als ich zu Bewußtsein kam, war eine Tetanusspritze, denn die hatten wir in der Kaserne nicht bekommen. Dabei möchte ich auch bemerken, daß ich keinerlei Erkennungsmarke besaß. Drei Tage nach meiner Einlieferung in die Schule wurde das Gebiet von den Russen besetzt. Die Russen ließen uns dann nach einigen Tagen im Krankenwagen nach Zamosch überführen. Hier kam ich in ein Gymnasium, das notdürftig als Lazarett hergerichtet worden war. Ich kam mit 37 Leichtverwundeten in den Zeichensaal, der sich bald als recht kalt erwies. Unser Saalarzt war ein polnischer Oberleutnant, und zwar ein Jude. Er hat mich zwar nicht gerade schlecht behandelt, aber wohl war mir dabei nicht! Die Leichtverwundeten machten viel Krach, so daß ich mich auf meinem Strohlager, eingeengt zwischen einem Pult und einem polnischen Soldaten, recht unglücklich fühlte. Als Schwester hatten wir ein 16jähriges Mädel, die mehr Wert auf Flirten als auf den Zustand ihrer Patienten legte. Meistens, wenn man sie brauchte, war sie überhaupt nicht da. Lachend, kichernd trieb sie sich irgendwo herum. Zwischen 2 und 4 Uhr nachmittags sowie ab 8 Uhr abends war sie überhaupt nicht zu sprechen! Als Sanitäter waren in unserem Saal drei Kerle beschäftigt, von denen einer recht nett war [141] und seine Arbeit tat, während die anderen beiden es als Gnade ansahen, wenn sie geruhten, einem z. B. den "Schieber" zu geben. Es war trostlos mit der Pflege. Ein junges Mädel für sieben Säle konnte natürlich nicht überall sein. Also lag sie meistens auf irgendeinem Strohsack und schlief. Klingeln gab es nicht, also mußte man brüllen. Es erschien zwar niemand, dafür aber erwachte der ganze Saal und brummte. Irgendeiner der Leichtverletzten erbarmte sich dann nach einer halben Stunde des Patienten und versorgte ihn. Ich selbst habe einmal irrsinnige Schmerzen durchhalten müssen, weil mein kaputtes Bein vom Strohsack gerutscht war und nun in der Luft hing: gebrochen und ohne Gipsverband. Nach einer halben Stunde ungefähr wurde ich aus dieser Lage durch einen einfachen polnischen Soldaten befreit. Andere Hilfe war nicht zu erreichen. Ich habe selbst erlebt, wie ein anderer, nachdem er lange gerufen hatte, sein "Geschäftchen" auf dem Strohsack erledigte und dann darin liegen mußte. Erst nach Stunden wurde er davon befreit. Schlafen war natürlich bei solchen Ereignissen meist illusorisch. Ich habe viele Nächte ohne Schlaf verbracht. Schlafmittel wurden nicht gegeben, auch nichts gegen die Schmerzen. Verbunden wurde ich jeden Tag. Einen Gipsverband aber bekam ich erst am 10. 10., also 3 Wochen nach meiner Verwundung. Bis dahin wurde ich jeden Tag zweimal auf die Trage gelegt, ins Operationszimmer gebracht und verbunden. Das war jedesmal mit großen Schmerzen verbunden, zumal die Beinenden nie in der richtigen Lage waren und sich gegeneinander rieben. Als Gehilfen im Operationssaal waren Gymnasiasten angestellt, die zwar für Dummheiten Verständnis hatten, aber nicht geeignet waren, ein gebrochenes Bein zu halten. Unser Lager bestand zunächst aus Stroh, später aus einem Strohsack und nach fünf Wochen endlich aus einem Bettgestell mit Strohsack. Das Essen war sehr schlecht. Dreimal täglich gab es "Taterka" mit warmem Wasser, einmal "Kaffee", meist eine braune Lure. Etwas trockenes Brot vervollständigte die Tagesration. Man lebte halt von seinen Körperkräften, solange diese reichten. Was nach deren Verbrauch werden würde, war mir schleierhaft. Fieber gemessen wurde nur dem, dem man das [142] hohe Fieber ansah, und auch nur dann, wenn zufällig ein Fieberthermometer aufzutreiben war. Es stellten sich bei all diesen Mängeln natürlich gleich allerlei Nebenkrankheiten ein. Ich selbst bekam Rippenfell- und Lungenentzündung. Mit vielen Spritzen ist man ihrer Herr geworden. Am 10. 10. bekam ich meinen Gips, den ein polnischer Hauptmann (Chirurg aus Kattowitz) machte, und der recht gut angelegt war, wie mir später deutsche Ärzte sagten. Nur was sich so nebenbei abspielte, war wenig erquicklich. Das Zimmer, in dem der Gips angelegt wurde, war recht kalt. Nach dem Anlegen des Gipses mußte ich noch eine Stunde fast nackt auf dem nassen Tisch liegen, damit sich der Gips erhärtete. Danach wurde ich zähneklappernd auf meinen Strohsack gebracht... Ich bat um heißen Tee oder Kaffee, ja um heißes Wasser zum Trinken, um mich zu erwärmen, es war aussichtslos. All mein Bitten und Schimpfen half nichts. Ein kräftiger Husten war die Folge. Sieben Tage nach meiner Einlieferung in Zamosch verschwanden die Russen. Es wurde trostlos. Mein Bein war nur noch ein Eiterklumpen in Gips. Schmerzen hatte ich jetzt weniger, dafür stank es um so mehr. Endlich, nach weiteren zwei Tagen, kamen wieder deutsche Besatzungstruppen und brachten uns als erstes alles Nötige zum Verbinden. Ich atmete auf. Es wurden wieder regelmäßige, gute Verbände gemacht. Leider konnte ich lange Zeit keine Verbindung mit deutschen Soldaten oder Offizieren bekommen. Von uns durfte niemand raus und von ihnen kam niemand. Ich hätte so gerne meinen Angehörigen ein Lebenszeichen gegeben. Es war durch Post oder Feldpost nicht möglich. Die Feldpost war für Kriegsgefangene gesperrt. So gab ich denn einem Flüchtling aus Posen einen Brief an meine Frau mit, der nach drei Wochen auch wirklich in ihre Hände gelangt und ihr endlich Gewißheit brachte. Alle meine Freunde und Bekannte waren Anfang Oktober heimgekehrt. Meine Frau bekam die erste Nachricht erst am 21. 10. Sie hat in dieser Zeit allerhand an seelischen Qualen durchgemacht. Am 26. 10. bekam ich die erste Nachricht von zu Hause. Ende Oktober hatte ich wieder eine Lungenentzündung, derzufolge ich mich auf die innere Station verlegen ließ, mit dem Erfolg, daß zwar die Lungenentzündung [143] nachließ, meine Wunde aber vollkommen versaute. Also zurück in die chirurgische Abteilung, aber nicht in meinen alten Saal, sondern in den der Schwerverwundeten. Hier erging es mir schon etwas besser. Graue Schwestern pflegten uns, und auch das Essen war ein wenig besser. Nicht schön war der Verbandsaal, in dem an vier Tischen gleichzeitig verbunden wurde. Es ist mir dort passiert, daß ich zwischen drei Amputierten lag, was sich natürlich nicht gerade ermunternd auf meinen ohnehin schon nicht rosigen Gemütszustand auswirkte. Feststellen konnte ich noch, daß sich die verwundeten Offiziere viel wehleidiger benahmen als die einfachen Soldaten. Es war manchmal recht beschämend, wenn ein einfacher Soldat bei schweren Eingriffen keine Miene verzog, ein Offizier dagegen bei einem einfachen Verband schon wie am Spieße schrie. Auch in der Nacht wurde die diensthabende Schwester am meisten von den "Herren" Offizieren gebraucht. Am 11. 11. kamen endlich 400 polnische Verwundete nach Krakau. In einem deutschen Sanitätszug wurden wir dorthin gebracht. Es war wie eine Erlösung. Unterwegs lagen zwischen Demblin und Warschau Minen auf den Schienen, die wohl einem fahrplanmäßigen Schnellzug gegolten haben mögen. Sie wurden, Gott sei Dank, vorher entdeckt und weggeräumt, so daß uns nichts passierte. Im Zuge lernte ich einen deutschen Assistenzarzt kennen, der mich als Volksdeutschen in Krakau sofort in das große deutsche Standortlazarett bringen ließ. Ich kam mir in dem schönen frischen Bett bei sehr guter Verpflegung und Pflege wie im Paradies vor. Vor allem aber war ich nun schon der Heimat etwas näher gerückt. Acht Tage später brachte mich meine Frau mit der Bahn zu Professor Bauer nach Breslau, der mein Bein wieder ganz intakt bringen will.
Und nun warte ich auf die Gesundung, um auf meinem Gute teilzunehmen am
Aufbau des Reichsgaues Wartheland. Wer vermag unser Glück zu ermessen,
daß wir nun unser Vaterland wiederhaben und jenen Polenstaat vergessen
können, der uns Deutsche entrechtete und bedrückte und zuletzt
noch zwang, unter fremder Fahne gegen unsere eigenen Brüder zu stehen.
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