[126] Flucht aus dem
Internierungslager in Litauen Leutnant Harry Fiedler, Hirschdorf Die Sauordnung in Wilna war zum Kotzen. Schon beim Anblick vieler Reservisten konnte einem schlecht werden. Abgehärmt, in schäbiger Kleidung, meist barfuß, trafen sie ein. Niemals werde ich das Aussehen eines Reservisten vergessen, der, ein Stück Brot im Bündel tragend, nur mit Hemd und Hose bekleidet, barfuß in Gummischuhen angelatscht kam. Und dann das Organisieren! Kompanien wurden aufgestellt und sofort wieder umformiert. Oder wenn jemand vormittags zu einer Kompanie gehörte, war er mittags einer anderen und nachmittags schon wieder einer dritten zugeteilt, um schließlich abends in der Küche als Kochgehilfe zu landen. Ich selber wechselte täglich 3-4mal meine Funktion. Ein Befehl jagte den andern, und sie widersprachen sich meist in der sinnlosesten Weise. Die Kompanie, der ich zuletzt angehörte und in der ich überhaupt keine Funktion hatte, bestand aus - sage und schreibe - 16 Reserveoffizieren, ebensoviel Unteroffizieren und 30 Mann. Und diese Reservisten sollten wir nun kriegstüchtig machen und an Zucht und Ordnung gewöhnen. Trotz aller Mühe war es aber zunächst nicht möglich, Karabiner aufzutreiben. Schließlich gelang es aber nach tagelanger Mühe, eine kriegsstarke Kompanie auf die Beine zu stellen. Sie hatte zwar nur uralte französische Karabiner (System Lebel) und verstand nicht, mit ihnen umzugehen, aber sie war doch wenigstens schon bewaffnet. An einem Morgen marschierte sie ab, stark gelichtet, denn viele hatten sich vorher verdrückt und erschienen später wieder mit den harmlosesten Mienen auf der Bildfläche. Bestraft wurden sie nicht. Die deutschen Bomber hatten inzwischen auch reichlich dafür gesorgt, die Stimmung zu drücken. Als nun erst die Nachricht [127] kam, "die Russen haben die polnische Grenze überschritten", bemächtigte sich der Stadt eine unbeschreibliche Panik. Nur kurze Zeit gelang es dem Wilnaer Sender, durch plumpe Schwindelmeldungen (amerikanisches Ultimatum an Stalin, ganze Serien von Kriegserklärungen an Deutschland usw.) die Stimmung aufzupeitschen. Megaphone spielten heitere Lieder, u. a.: "Marszałek Śmigły Rydz, to nasz dzielny wódz", (M. S. R., das ist unser tüchtiger Führer). In einem Mannschaftsraum faßten sich die Soldaten um die Taille und tanzten. Es sollte ihnen aber bald das Tanzen vergehen. Es war gegen 7 Uhr abends. Ich hatte mich schon zur Ruhe begeben, da ich 36 Stunden anstrengenden Dienst hinter mir hatte, als plötzlich ein Kollege hereinstürzte und meldete, daß die Russen schon in der Stadt seien. Ich sprang schnell auf und schaute durch das Fenster in die Stadt. Richtig, Wilna, das bis dahin abends immer im Dunkeln lag, sah plötzlich wie illuminiert aus. Es brannten alle Laternen. Schnell begab ich mich auf den Kasernenhof. Hier erfuhr ich "zufällig", daß schon Alarm verkündet war. Es herrschte ein wüstes Durcheinander. Zudem war es auf dem Kasernenhof vollkommen dunkel. Bald war mir klar, daß man sich zur Flucht rüstete. Ich überlegte kurz, ob ich ausrücken oder bleiben sollte. Ich hielt es nicht für ratsam, den Russen in die Hände zu geraten, da ich nicht sicher war, ob man überhaupt nachprüfen würde, wer Deutscher und wer Pole war. Ich beschloß daher, nicht zu bleiben, zumal ich die Gelegenheit witterte, mich auf der Flucht von meinem Truppenteil ganz loslösen zu können. Schnell packte ich die notwendigsten Sachen in meine Mappe und hatte noch soviel Zeit, festzustellen, wie die zurückbleibenden Soldaten über die hinterlassenen Habseligkeiten ihrer Kameraden herfielen. Kein Mensch kümmerte sich darum, ob sich alle an der Flucht beteiligten oder ob jemand zurückblieb. Jeder tat nach seinem Ermessen. Als ich wieder den Kasernenhof betrat, sah ich ein Auto vor dem Kommando stehen. Ihm entstiegen in der Dunkelheit einige Gestalten. Es war, wie ich bald erfuhr, eine russische Abordnung, die die sofortige Räumung der Kaserne verlangte. Jetzt begann die Sache brenzlig zu werden, und ich eilte, mich den Soldatenmassen anzuschließen, die aus [128] dem hinteren Kasernentore hinausfluteten. Wohin es gehen sollte, wußte ich zunächst nicht. Doch erfuhr ich bald, daß man nach Litauen fliehen wollte. Wir waren bald auf der Straße angelangt, die fast in gerader Linie von Wilna bis an die litauische Grenze führt, und es begann nun eine Massenflucht, gegenüber der alle meine Vorstellungen von einem militärischen Rückzuge verblaßten. Die ganze Straßenbreite ausfüllend, wälzten sich die Soldatenhaufen in wilder Hast vorwärts. Dazwischen unzählige Baggagewagen und Autos, die sich keinen Weg durch die Menschenmassen bahnen konnten und daher nur im Schneckentempo vorwärts kamen. Die höheren Offiziere fuhren in ihren eigenen oder auch in beschlagnahmten Kraftwagen. Ihre großen Koffer bewiesen, daß sie mit einer Flucht schon beizeiten gerechnet und sich mit allem versehen hatten. Um die Mannschaften kümmerten sie sich überhaupt nicht. Den fliehenden Militärmassen schlossen sich die unzähligen Flüchtlinge an, die in großen Scharen die Stadt Wilna verließen. Polizei, Staatsbeamte, Zivilpersonen, alles stürmte in wilder Flucht der Grenze zu. Die stockfinstere Nacht und der einsetzende Regen erschwerten diese Flucht. Bis zur Grenze waren es immerhin 50 Kilometer, und es dauerte auch nicht lange, bis die ersten Erschöpften im Graben liegenblieben.
Endlich begann der Tag zu dämmern, und man konnte sich die
Menschenhaufen genauer ansehen. Sie boten einen bejammernswerten Anblick.
Militär, Polizei und Zivilpersonen waren bunt durcheinandergemischt. Da
es bekannt war, daß Militärpersonen und Polizeiangehörige
leichter über die Grenze gelassen wurden, hatten sich viele Zivilisten
militärisch ausstaffiert, um als Soldaten angesehen zu werden. So hatten
sich fast alle Richter und Staatsanwälte aus Wilna Polizeiuniformen
angezogen und markierten flüchtende Polizisten. Endlich war die Grenze
erreicht. Ich drängte mich sofort nach vorne, um zu sehen, inwieweit
Aussichten für ein Hinüberwechseln bestanden, zumal sich unter den
Flüchtlingen das Gerücht verbreitet hatte, Litauen wolle keine Polen
aufnehmen. Bald sah ich an der Grenze die ersten litauischen Soldaten. Einige
höhere litauische Offiziere verhandelten lebhaft mit polnischen
Militärs. Ich erfuhr auch bald worum es ging. Die Polen woll- [129] ten sich zwar über die rettend litauische
Grenze flüchten, aber sie wollten den Litauern nicht ihre Waffen
ausliefern, soweit sie sie noch besaßen. Wer seine Waffen ablieferte, durfte
die Grenze überschreiten. Während noch an der Grenze verhandelt
wurde, tauchte plötzlich das Gerücht auf: "Die Russen haben
Wilna wieder verlassen und alles soll zurückkehren." Also noch hier, dicht
vor der Grenze, wurden die Menschen noch einmal tüchtig angelogen.
Wahrscheinlich wollte irgendein Patriot die völlig erschöpften
Soldaten in einen Kampf gegen die Russen locken. Es stellten sich
tatsächlich einige eifrige polnische Offiziere an der Grenze auf, die keine
Militärpersonen hinüberlassen wollten. Jetzt wurde mir die Sache
bedenklich. Ich tat so, als ob ich einige polnische Soldaten, die sich schon in der
neutralen Zone befanden, zurückholen wollte, wechselte
über - und kam nicht mehr zurück. Der Krieg war für mich zu
Ende.
Ich wurde zusammen mit vielen anderen Offizieren, die aus anderen Richtungen kommend, schon vor mir die Grenze überschritten hatten, in das Internierungslager Nr. IV nach Kulautuvo gebracht. Noch am selben Tage trafen hier auch die geflüchteten Offiziere aus Wilna und sehr viel polnische Polizei ein. Sie hatten es also doch vorgezogen, die Grenze zu überschreiten und nicht gegen die Russen zu kämpfen. Sehr unangenehm überrascht war ich, als ich fast alle Offiziere aus meinem Regiment wieder erblickte. Sie wußten sehr wohl, daß ich auf eigene Faust getürmt war, und wenn mir auch keine Gefahr mehr von ihnen drohte, so schien mir doch ein Zusammenleben mit ihnen wenig verlockend. Die Zukunft lehrte bald, daß meine Befürchtungen gerechtfertigt waren. Das Lager wuchs bald auf über 2.000 Mann an. Kulautuvo ist ein an der Memel gelegener Sommerkurort. Wir waren in den hölzernen Villen untergebracht, in denen sich den ganzen Sommer über Kurgäste, meist Juden, aufhielten. Die litauischen Behörden gewährten den Internierten zuerst große Freiheiten, Das Lager war anfangs nicht umzäunt. Man konnte sich also ziemlich frei bewegen. Die Internierten [130] besaßen eine Selbstverwaltung, hatten einen eigenen Kommandanten, und es schien alles erträglich zu werden. Bald jedoch bereuten die Litauer ihre Toleranz. Sie hatten wahrscheinlich mit der "polnischen Wirtschaft" noch keine Erfahrung gemacht. Nachdem es der polnischen Lagerverwaltung im Laufe von 4 Wochen noch nicht einmal gelungen war, die Internierten zahlenmäßig zu erfassen, griffen die Litauer energisch ein und machten einen Schlußstrich unter die "Selbstverwaltung". Es war auch die höchste Zeit, denn die polnische Wirtschaft hatte bereits ihre schönsten Blüten getrieben, so daß viele der Internierten die Selbstverwaltung verwünschten. Außerdem machten immer häufiger werdende Vorfälle ein energisches Einschreiten der litauischen Behörden nötig. Die Art dieser Vorfälle will ich nicht näher beschreiben, da ich befürchten muß, daß sie nicht geglaubt werden. Mir selber stand nun bevor, mit diesen Menschen unter Umständen lange zusammenleben zu müssen. Wenn ich anfangs geglaubt hatte, daß man uns bald nach Beendigung des polnischen Feldzuges entlassen würde, so wurde ich bald eines Besseren belehrt. Erst, wenn der Krieg zwischen Deutschland und England beendet sein wird, hieß es, könnten wir entlassen werden. Man mußte also vorläufig abwarten. Glücklicherweise entdeckte ich bald, daß ich nicht der einzige Deutsche im Lager war. Außer mir befand sich noch der deutsche Lehrer Philipp Strauß aus Ritschenwalde im Internierungslager, der ebenso wie ich Reserveoffizier war. Daß wir uns nicht gleich fanden, lag daran, daß er in einem anderen Gebäude untergebracht war, und der einzelne in der großen Menge der Internierten untertauchte. Wir trugen von nun an alles Leid in treuer Kameradschaft gemeinsam, und nur diesem Umstande ist es zu verdanken, daß wir seelisch durchhielten. Bald waren wir im ganzen Lager als die beiden Deutschen bekannt, und man versäumte es niemals, in unserer Gegenwart besonders gehässige Redensarten über Deutschland zu führen. Wohl flüchteten wir uns, soweit es anging, ins Freie, um das ewige Gehetze der polnischen Offiziere nicht anhören zu müssen, aber viele Stunden des Tages war man doch gezwungen, mit ihnen zusammen zu verbringen. In unserer Verzweiflung gingen wir beide zum [131] litauischen Kommandanten und klagten ihm unser Leid. Er zeigte uns Deutschen großes Verständnis, doch war er nicht imstande, uns aus unserer trüben Lage zu befreien. Er versprach jedoch, unseren Antrag an das litauische Ministerium auf Entlassung aus dem Internierungslager zu befürworten. Auch die deutsche Gesandtschaft in Kauen (Kowno), an die wir uns wandten (die heimliche Zustellung der Briefe hatte fast unsere letzten Geldmittel erschöpft), konnte uns nicht helfen. Die litauischen Behörden machten eben keinen Unterschied zwischen Deutschen und Polen und wollten von einer Entlassung nichts wissen. Wie mir ein litauischer Beamter des Ministeriums, der in der Lagerkommandantur beschäftigt war, erklärte, konnten wir beide schon deswegen nicht entlassen werden, weil England gegen die Freilassung von Deutschen protestieren würde. Da also auf legalem Wege nichts zu erreichen war, beschlossen wir, einen günstigen Augenblick abzuwarten und selbst zu handeln. Die Zustände im Lager wurden unterdessen immer schlimmer. Die Verteilung der Lebensmittel lag immer noch in den Händen der polnischen Internierten. Die litauischen Behörden lieferten gewissenhaft die nötigen Vorräte, und wenn alles gerecht verteilt worden wäre, hätten wir keine Not gelitten. Es wurden jedoch bald große Schiebungen in der polnischen Proviantur aufgedeckt. Die in Kulautuvo wohnende Zivilbevölkerung war in kurzer Zeit mit Lebensmittelvorräten aller Art versehen, die aus der Lagerproviantur stammten und die die Herren Proviantmeister heimlich verkauft hatten. Auch die jüdischen Krämerläden, die wie Pilze aus dem Boden hervorschossen, hatten sich auf diese billige Weise mit Waren versehen, die sie dann für teures Geld an die Internierten verkauften. Es wurde überhaupt ein schwunghafter Handel, besonders mit Zivilkleidern, getrieben. Für Geld konnte man beim Juden alles bekommen. Es tat sich eine geheime schwarze Börse auf, die polnisches Geld in litauisches umwechselte. Man zahlte zuletzt für 100 Zloty 2 Lit, das sind ungefähr 1 RM. Die höheren polnischen Offiziere waren besonders reichlich mit Geldmitteln versehen. Die hatten die Regimentskasse mit über die Grenze genommen, und es begann nun im Lager eine heimliche Verteilung. Die litauische Lagerbehörde kam jedoch bald da- [132] hinter, und es gelang ihr, über eine Million Zloty zu beschlagnahmen. Auch die polnischen höheren Staatsbeamten waren reichlich mit Geldmitteln versehen. Viele hatten große Beträge an russischen Rubeln in den Kleidern eingenäht. Unterdessen schmolz die Anzahl der Internierten immer mehr zusammen. Fast täglich flüchteten 20-30 Mann. Auch als das Lager mit einem Stacheldrahtzaun umgeben und Posten aufgestellt wurden, änderte sich daran nichts. Da das litauische Militär auch Juden hat, war es nicht schwierig, einen jüdischen Posten zu bestechen. Diese "Soldaten" boten sich sogar von selbst an, und zeigten sich bereit, einen Internierten gegen eine entsprechende Entschädigung herauszulassen. Die Summen, die sie forderten, waren allerdings recht hoch. Bald war ganz Litauen mit polnischen Flüchtlingen überschwemmt. Viele wurden allerdings wieder aufgegriffen und ins Lager zurückgebracht. Sie saßen dann ihre 7 Tage ab und versuchten bei nächster Gelegenheit, ein zweites Mal auszubrechen. In den Wohnungen der Internierten sah es bald gefährlich aus. Erst als der Kehricht in den Gängen am Gehen hinderte und die litauische Lagerbehörde energisch einschritt, machte man sich an die Entfernung des Schmutzes. Auch der Wald, der das Lager umgab, war kaum noch zu betreten. Oft fragte ich mich: wie muß es erst in den Mannschaftslagern aussehen, wenn schon in einem Offizierslager solche Zustände herrschen? Oder sollte es da nicht so schlimm sein? Vielleicht lebten die einfachen Soldaten auch friedlicher miteinander und warfen sich nicht gegenseitig soviel Grobheiten an den Kopf, wie es die Offiziere taten (es wurden auch manchmal Ohrfeigen ausgeteilt). Der Aufenthalt in dieser Atmosphäre war jedenfalls alles andere als angenehm. Dazu kam noch die Sorge um die eigenen Angehörigen in der Heimat, von denen wir beide in den ersten Wochen noch keine Nachricht hatten. Aus deutschen Zeitungen, die neben russischen und polnischen im Lager verkauft wurden, erfuhren wir bald von den Greueltaten, die an den Volksdeutschen in Polen begangen worden waren, und unsere Unruhe wuchs daher von Tag zu Tag. Durch einen glücklichen Zufall jedoch erhielt ich Verbindung mit meinen Angehörigen. Ich hatte eines Tages bei einer der in Kulautuvo wohnenden [133] Familien heimlich Radio gehört und durch den Deutschlandsender erfahren, daß man sich zwecks Auskunft über Angehörige in Polen an den "Volksbund für das Deutschtum im Ausland" (Berlin, Lutherstr. 97) wenden kann. Schnell schrieb ich mir die Anschrift auf und sandte noch am selben Tage einen Brief ab. Es dauerte auch nicht mehr lange, bis meine Angehörigen durch Vermittlung der Zentrale von meinem Schicksal erfuhren und auch ich bald Nachricht erhielt, daß zu Hause alles wohlauf sei. So war durch die schnelle Arbeit des VDA eine große Sorge von mir genommen, und es ließ sich nun alles leichter ertragen. Das schöne Wetter half einem auch oft über schwere Stunden hinweg. Weniger erfreut über die sonnigen Tage waren die Polen, denn sie schrieben die deutschen militärischen Erfolge nur diesem Wetter zu und verwünschten dasselbe, so oft sie nur konnten. Ja, wenn es geregnet hätte, wären die deutschen Tanks alle in den schlechten Wegen steckengeblieben und dann leicht überwältigt worden. Das war die Ansicht der polnischen Offiziere. Auch sonst hatte ihr Größenwahnsinn weder durch die völlige Zerschmetterung ihres Vaterlandes, noch durch die zum Teil demütigende Behandlung im Internierungslager Einbuße erlitten. Nur ganz wenige sahen die Lage nüchtern an. Die meisten jedoch waren fest überzeugt, daß sie in nicht zu langer Zeit in ein freies, größeres Vaterland zurückkehren würden, um dann an den Deutschen furchtbare Rache zu nehmen. So sah ein Oberleutnant seine Lebensaufgabe darin, dereinst alle zugewanderten Baltendeutschen in der Ostsee zu ertränken. In diesen Wahnideen wurden die polnischen Offiziere durch die englischen Rundfunkberichte bestärkt, die sie zu hören stets Gelegenheit hatten, da in einem Gemeinschaftsraum ein Radioapparat aufgestellt war. Auf Grund dieser Berichte gab man ein eigenes mit der Schreibmaschine geschriebenes Nachrichtenblatt heraus, das dann jeden Tag angeschlagen wurde. Der ganze Haß, der in diesen Berichten zum Ausdruck kam, war hauptsächlich gegen Deutschland gerichtet, weniger gegen Rußland. Trotzdem waren die meisten Offiziere entschlossen, in das von Rußland besetzte Gebiet nicht zurückzukehren und sie hatten auch ihren guten Grund. Aus Unterhaltungen merkte [134] ich bald heraus, daß sie alle gegenüber der weißrussischen Bevölkerung ein schlechtes Gewissen hatten und eine Abrechnung von seiten Rußlands fürchteten. Sie zogen es also vor, in Litauen zu bleiben. Dagegen versuchten sehr viele Offiziere, meist Fliegeroffiziere, nach Frankreich und England zu entkommen. Pässe und Zivilkleider wurden ihnen von den zahlreichen Besuchern aus der polnischen Kolonie in Kauen zugestellt. Schließlich besaß fast jeder einen französischen oder englischen Paß. Die betreffenden Konsulate schickten außerdem in der Nacht heimlich Kraftwagen bis in die Nähe des Lagers. Die jüdischen Wachtposten waren leicht bestochen, und so wurden die Internierten massenweise nach Kauen verfrachtet. Von Litauen aus war dann der weitere Transport nach England bzw. Frankreich mit Schiffen und in der letzten Zeit mit dem Flugzeug vorgesehen. Inwieweit die einzelnen ihr Ziel wirklich erreichten, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls war von den zahlreichen Fliegeroffizieren nach wenigen Tagen nicht ein einziger mehr im Lager. Es gab zudem noch eine andere Möglichkeit, aus dem Lager herauszukommen. Da sich unter den Internierten auch Zivilpersonen befanden und diese bald entlassen werden sollte, gaben sich viele Offiziere als Zivilpersonen aus. Zivilkleidung hatten sie sich leicht verschafft und so behaupteten sie dreist, sie wären niemals Soldaten gewesen, sondern hätten als Zivilisten die Grenze überschritten. Militärpapiere gaben sie an nicht zu besitzen, und so wurden viele von ihnen tatsächlich als Zivilpersonen entlassen und auf freien Fuß gesetzt. Erst als die Zahl der Zivilisten bedenkliche Ausmaße annahm, merkten die Litauer den Schwindel, und es war für immer aus, auf diese bequeme Art freizukommen. Die Wut der Internierten auf uns zwei Deutsche stieg immer mehr, als sie merkten, daß wir mit dem litauischen Kommandanten in Fühlungnahme standen, und daß sie uns so manche strenge Maßnahme zu verdanken hatten. Außerdem erregte es ihr Mißvergnügen, daß wir uns im Umgang mit Vertretern der litauischen Behörden nur der deutschen Sprache bedienten. Sie versuchten uns dafür auf andere Weise zu ärgern. So nannten sie einen zugelaufenen Hund mit einem Namen, der uns Deutschen heilig ist. Ich beschwerte mich beim litauischen [135] Kommandanten darüber, und er versprach, dagegen einzuschreiten. Er hielt auch Wort, denn vom nächsten Tage ab wagte keiner mehr, uns auf diese Weise zu beleidigen. Dafür begann man, uns um so mehr zu hassen. Als die Lage immer unerträglicher wurde, beschlossen wir beide, nun nicht mehr länger zu warten sondern unsere längst gefaßten Fluchtpläne zur Durchführung zu bringen. Unsere Militärmäntel hatten wir bereits schwarz färben lassen und Zivilmützen besaßen wir auch. Am 14. November brachen wir aus dem Lager aus. Da das Lager rings von elektrischen Lampen umgeben war, mußten wir dabei sehr vorsichtig zu Werke gehen. Einen Wachtposten hatten wir nicht bestochen, da wir nicht mehr über die genügenden Geldmittel dazu verfügten. Es glückte auch so. Den polnischen Kollegen, mit denen ich zusammenwohnte, sagte ich vorher, daß ich beabsichtigte, nach Kauen zu fliehen. Einer von ihnen bat mich noch, auf das englische Konsulat zu gehen und zu fragen, ob denn sein Paß auf den Namen Kulikowski noch nicht fertig sei. Ich versprach, es zu tun, dachte aber nicht daran, mich nach dort zu begeben, vielmehr hatten wir beide beschlossen, in gerader Linie auf die deutsche Grenze zu marschieren. Aus dem Lager waren wir also glücklich heraus, doch nun begann der schwierigere Teil der Flucht. Bis zur Grenze waren es immerhin 80 Kilometer. Wege wollten wir grundsätzlich nicht benutzen, sondern nur des Nachts querfeldein marschieren. Es hieß nun vor allen Dingen, über die Memel zu gelangen. Nachdem wir etwa 6 Kilometer am rechten Memelufer abwärts gegangen waren, sahen wir in der Dunkelheit zwei Fischerboote am Strande liegen. Sie waren nicht angeschlossen, und auch die Ruder hatten die Fischer unvorsichtigerweise liegen lassen. Ich schob nun das eine Boot vorsichtig ins Wasser und wir stiegen ein. Wir mußten dabei jedes unnötige Geräusch vermeiden, denn die Wohnhäuser der Fischer standen nicht weit vom Ufer. Ich legte mich in die Ruder und wir kamen vom Ufer los. Nur langsam schob sich das Boot vorwärts. Die Strömung wollte uns immer wieder an das Ufer zurückdrücken. Die Memel war an dieser Stelle sehr breit und von dem gegenüberliegenden Ufer war in der Dunkelheit nichts zu sehen. Um genauen Kurs zu halten, richtete ich mich nach einem Stern, [136] der sich in der Hecklinie befand. Nach anstrengender Fahrt kamen wir auf der anderen Seite an. Jetzt konnte die große Wanderung auf die deutsche Grenze zu beginnen. Es hieß sehr vorsichtig sein, denn die Litauer sind ein mißtrauisches Volk, und uns beiden sah man von weitem an, daß wir nicht in Litauen zu Hause waren. Zudem gibt es gerade auf dem Lande in Litauen viele "Schaulis", das sind Mitglieder einer militärisch aufgezogenen Organisation, die, obwohl sie Zivilkleidung tragen, alle bewaffnet sind und schon manchen Internierten wieder ins Lager zurückbefördert haben. Man mußte also jedes Zusammentreffen mit Menschen nach Möglichkeit vermeiden. Wir beschlossen also, nur des Nachts zu wandern. Bald gerieten wir in richtige Urwälder, durch die wir nur mit Mühe vorwärtskamen. Der Untergrund war meistens sumpfig, und oft mußten wir bis an die Knie durch den Morast waten. Ohne Kompaß und Taschenlampe hätten wir überhaupt jede Orientierung in der Nacht verloren. Im offenen Gelände wiederum hieß es, sehr vorsichtig die Bauernhöfe zu umgehen. Oft mußten wir große Umwege um ein Gehöft machen, da uns die Hunde schon von weitem gewittert hatten und sofort anschlugen. Auch die wachsamen Gänse der Bauern verscheuchten uns mehr als einmal durch ihr Geschnatter und zwangen uns, das Gehöft in großem Bogen zu umgehen. Die erste größere Rast hielten wir bei Eintritt der Morgendämmerung mitten im Walde. Wir setzten uns an einen Baumstamm, der etwas aus dem Sumpf herausragte und stärkten uns an den mitgenommenen Vorräten. Bald waren wir uns darüber klar, daß wir es angesichts des schwierigen Geländes kaum durchhalten würden, immer querfeldein zu marschieren. Ich selbst hatte mir in der Nacht durch einen unglücklichen Sturz eine schwere Sehnenzerrung zugezogen, die mir sehr zu schaffen machte, und so beschlossen wir, auch des Tages zu wandern, und wenn es anging, Wege zu benutzen. Das taten wir dann auch. Glücklicherweise begegneten wir wenig Menschen, und die wenigen, die wir trafen, schienen vor uns ebenso große Angst zu haben, wie wir vor ihnen. Wir sahen auch beide in unseren von der Wanderung stark mitgenommenen Sachen wenig vertrauenserweckend aus. Allmählich wurden wir immer [137] dreister und wagten es schließlich, in eine Hütte zu gehen, um Wasser zu bitten und nach dem Wege zu fragen. Litauisch hatten wir in den zwei Monaten bereits so viel gelernt, daß wir uns einigermaßen verständigen konnten. Als wir uns nach deutschen Familien erkundigten, wies man uns in das nächste Dorf, wo drei deutsche Bauern wohnen sollten. Wir begaben uns auch dorthin und trafen, nachdem wir noch einmal angefragt hatten, auf die erste deutsche Familie. Es waren arme Bauern. Sie konnten sich nicht genug wundern, daß wir bis dahin so gut durchgekommen waren, und daß man uns nicht angehalten hatte. Lange durften wir bei ihnen nicht bleiben, denn es hatte sich bald im Dorfe herumgesprochen, daß zwei fremde Männer bei der deutschen Familie eingekehrt seien, und so brachte uns die Frau abends heimlich zu ihrem etwas weiter wohnenden Bruder. Hier fanden wir freundliche Aufnahme. Man war glücklich, uns Deutschen behilflich sein zu können. Wir blieben zunächst über Nacht und brachen am frühen Morgen gestärkt auf. Der Mann selbst wollte uns von nun an weiter führen. Er kannte eine nicht weit von der deutschen Grenze wohnende deutsche Familie, zu der er uns bringen wollte. Wir marschierten den ganzen Tag. Der Mann ging ungefähr 50 Meter vor uns, damit wir eine nicht zu auffällige Gruppe bildeten. Er wußte sehr wohl, welcher Gefahr er sich damit aussetzte, daß er uns bei der Flucht behilflich war. Er hätte, falls man ihn gefaßt hätte, nicht nur sein ganzes Vermögen verloren, sondern wäre zudem noch mit einigen Jahren Gefängnis bestraft worden. Trotzdem setzte er alles aufs Spiel, um uns zu helfen. Es klappte alles gut. Auch bei der anderen deutschen Familie wurden wir freundlich aufgenommen. Die Frau war glücklich, sich mit Deutschen unterhalten zu können. In der Familie selbst herrschte die größte Armut. Wie uns der Mann erzählte, wird ihm als Deutschen von allen Seiten besonders zugesetzt, so daß er einen ständigen Kampf mit den Behörden zu führen hat. Die Kinder erhalten keinen Unterricht in ihrer Muttersprache. Wir erzählten ihr viel vom neuen Deutschland und versprachen ihr, aus unserer Heimat an sie zu schreiben. Ein Brief aus Deutschland bedeutete für diese Menschen ein Freudentag. Auch diesmal [138] setzte der Mann seine Existenz aufs Spiel, um uns bei dem schwierigsten Teil unserer Flucht zu helfen, bei dem Überschreiten der Grenze. Geld wollte er nicht nehmen, nur einen Brief sollten wir ihm später aus Deutschland schicken. Auch der letzte schwere Schritt sollte uns gelingen. Es war bereits dunkel geworden. Wir benutzten den Augenblick, als zwischen den litauischen Grenzposten eine Lücke entstand, wateten, bis an die Hüfte im Wasser, schnell durch einen Fluß - und waren auf deutscher Erde. Wir gingen sofort auf das nächste Haus zu, in dem wir Licht sahen, traten ein und waren auch hier an die richtige Stelle gekommen. Wir waren, ohne es zu ahnen, beim Oberwachtmeister von Grenzhöhe eingekehrt. Das war uns eben recht, denn wir wollten uns den deutschen Behörden so schnell wie möglich stellen. Wie tat das wohl, zum erstenmal von einem deutschen Wachtmeister verhört zu werden, und wie gerne gaben wir auf alle Fragen Auskunft. Wir konnten das große Glück, endlich auf deutschem Boden zu sein, kaum fassen. Am nächsten Morgen ging ein von uns lange geträumter Wunsch in Erfüllung:
Wir waren freie Deutsche im Reiche Adolf Hitlers.
Eine wahre Hölle erlebten 24 volksdeutsche Soldaten im rumänischen Internierungslager Campulung, wo sie am 8. 11. 39 von 1.500 Polen überfallen und mißhandelt wurden. Wäre nicht, so berichtet der Uffz. Karl Krawitz (Königshütte O.S., Bergfreiheitsstr. 52), rumänisches Militär mit Waffengewalt dazwischengetreten, dann hätten die Polen ihre Absicht, diese Deutschen als "Spione" totzuschlagen, ausgeführt. |