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Kapitel 9:
Der Verschlepptenzug aus Bromberg (Teil 1)


Als dieser Todeszug sich nach Piecky in Marsch setzte, war der Zug Dr. Kohnerts schon zwei Tage unterwegs. Ihn hatte man im Reichskriegerwaisenhaus zusammengestellt, einem mehrstöckigen Gebäude mit vielen Sälen, hinter dem sich ein breit hinziehender Garten erstreckt. Schon am ersten Kriegstage hatten sich seine Räume mit Verhafteten gefüllt, die Festnahmen hatten sich jedoch noch in normalen Formen abgespielt, die allgemeine Psychose war erst am dritten September über das Land hereingebrochen.

Die Verhaftungen waren in jenen Tagen meist derart erfolgt, daß ein Polizeibeamter in die Wohnungen kam, eine Hausdurchsuchung durchführte, alle Radioapparate beschlagnahmte, schließlich einen Zettel zur Unterschrift vorlegte, daß die Hausdurchsuchung ergebnislos verlaufen sei. Dieser Zettel war gleichzeitig der Verhaftbefehl, er blieb einem als Ausweispapier, im übrigen wurde man [69] meist gleich mitgenommen. Es wurden während dieser Verhaftungswelle drei Arten von Zetteln ausgegeben: die ersten waren rot, sie erhielten die zu Arretierenden, die zweiten waren rosa, sie erhielten die zu Internierenden, die dritten waren weiß, sie erhielten die zu Evakuierenden - trotzdem wurden alle drei Arten von Verhafteten völlig gleich behandelt. Später stellte sich allerdings heraus, daß die Inhaber roter Zettel die Verhaßtesten waren, sie wurden von allen auch am ehesten erschossen.

Am Abend des ersten Kriegstages also ist das Waisenhaus schon halb gefüllt, die ganze Nacht über strömt es weiter in seine Räume. Viele von diesen Erstankömmlingen haben sich Gepäck mitgebracht, wohlverpackte Rucksäcke, Körbe mit Nahrungsmitteln, denen man es sofort ansah, daß sie aus irgendeiner Vorahnung schon lange vorbereitet waren. Aber in dieser vernünftigen Form verhaftete man nur die ersten, je später es wurde, um so unvorbereiteter trafen die Verhafteten ein. Die letzten hatten oft nicht einmal einen Mantel, manchen ließ man nicht einmal zum Stiefelanziehen Zeit, sie kamen in ihren nächtlichen Hausschuhen angeschlurrt. Auf den Straßen herrschte jedoch um diese Zeit noch Ruhe, da im übrigen auch jede Verbindung mit den einmal Verhafteten unterbrochen war, hatten die Deutschen vom Ausmaß dieser Verhaftungen selbst keinen Begriff, die nicht selbst Betroffenen lebten größtenteils noch in friedlicher Stille weiter.

[70] Erst am zweiten September bringt man Dr. Kohnert, den im ganzen Lande bekannten Führer der Deutschen Vereinigung, einen schmalen Menschen von auffallender Größe, dessen langliniges Gesicht ungewöhnliche Energie verrät, in dessen hellen Augen sich aber auch ein scharfer Witz versteckt. Man weist ihm stillschweigend die Führung der Verhafteten zu, er setzt sich vom ersten Augenblick an selbstlos ein, was bald mit immer größerer Lebensgefahr verbunden ist. Am gleichen Tage taucht auch Adelt auf, kurz vor ihm der junge Baron von Gersdorff, beides führende Männer der volksdeutschen Bewegung. Immer mehr Bekannte treffen sich in den Sälen, es wird offensichtlich, daß man zuerst jene ergriffen hatte, die bei den Volksdeutschen politisch tätig waren.

Am Sonnabendmittag werden die ersten Bombenangriffe auf Bromberg geflogen, ihre schmetternden Detonationen durchdringen selbst den brodelnden Lärm der überfüllten Säle, alles stürzt an die Fenster, um vielleicht einen dieser nahen Einschläge zu sehen, vielleicht sogar einen deutschen Flieger selbst gewahren zu können. Statt deutscher Flieger aber sehen sie nur deutsche Bauern, die man gerade die Straßen am Waisenhaus vorbeitreibt, zum ersten Male sehen sie bei diesem Anlaß, daß man diesen Bauerntrupp unter furchtbaren Kolbenschlägen dahintreibt. Ein paar Frauen schreien entsetzt auf, eine bricht unter einem epileptischen Anfall zusammen, schreit auf dem Boden liegend weiter. [71] Sofort tritt in den Gehirnen der Wachsoldaten Kurzschluß ein, sie dringen von allen Seiten mit aufgepflanzten Bajonetten in die Säle, zwingen alles zum rücksichtslosen Sichniederwerfen. "Wer sich erhebt, wird sofort erschossen!" schreit ein Offizier. So liegen sie denn fast übereinander auf dem Boden, sehen fassungslos in die vor Aufregung unkenntlichen Gesichter ihrer Wächter, bekommen in diesem Augenblick die erste Vorahnung von dem, was sich am dunklen Himmel ihrer Zukunft unentrinnbar über ihnen zusammenballt.

Nachmittags um fünf Uhr werden alle hinausgetrieben, im hinteren Garten in zwei Gliedern aufgestellt. Ein paar Hallersoldaten schieben sich heran, suchen sich lediglich nach den Physiognomien eine Anzahl heraus, legen je zweien auf die Weise eiserne Handschellen an, daß sie jeweils mit den Armen zusammengekettet werden, sie haben mit gutem Blick fast alle Führer erkannt. Daraufhin erscheint ein Offizier, läßt alles zu einem offenen Karree zusammenstellen, vor den Augen aller die Karabiner laden, schreit mit heiserer Stimme über den Hof, daß jeder Flüchtende sofort erschossen werde. Dann setzt sich der Trupp in Marsch, es wird in Gliedern zu viert marschiert, als erste Heeressäule ziehen die Männer hinaus, als zweite kommt der Zug der Frauen, es sind insgesamt achthundert Menschen aus allen Schichten: Rechtsanwälte gehen neben Arbeitern, Dienstmädchen neben Sekretärinnen, auch kein Alter fehlt, [72] unter den Männern sind Greise, bei den Frauen Säuglinge, die man noch tragen muß.

Die Wachen zählen an zweihundert Mann, auf jedes Viererglied kommt also einer. Die größte Zahl von ihnen stellen die sogenannten Strelzi (Schützen), eine Art halbmilitärischer Jugendverband, zu der fast die ganze aktive polnische Jugend gehört. Sie liefen schon seit einem Vierteljahre mit Gewehren herum, benahmen sich während jener Zeit jedoch mehr flegelhaft als gefährlich. Der Rest besteht aus regulärer Polizei, der einige Hilfspolizisten zugeteilt sind, die in einem abgerissenen Zivil herumlaufen, lediglich durch ihre rotweißen Binden kenntlich sind. Der Kommandant des Zuges ist der letzte Polizeikommandant Brombergs, ein älterer Offizier, auch übel berüchtigt, der zu Anfang jedoch zuweilen noch vernünftige Regungen zeigt.

Als erstes geht es zur Polizeiverwaltung, die neben dem Polizeigefängnis liegt. Im Hinterhof dieses Gebäudes darf sich alles hinlegen, es ist die letzte Rast vor einem langen Marsche. Eine stufenartige Mauer schließt das Gefängnis gegen diesen Hof ab, der düstere Eindruck seiner vergitterten Fenster legt sich wie eine Last auf ihre Seelen. Sicherlich werden auch sie bald hinter solche Mauern kommen - was aber ein polnisches Zuchthaus bedeutet, das wissen manche der volksdeutschen Führer aus bitterer Erfahrung. So sitzen sie denn meist wortlos nebeneinander, auf der rechten Seite die Frauen, auf der linken die Männer, sprechen dennoch ein paar [73] zusammen, dreht sich das Gespräch meist um die Zettel. Sie zeigen gegenseitig diese Zettel vor, stellen Mutmaßungen über ihre Farben an. Ein gut polnisch Sprechender übersetzt einen nach dem anderen, dabei stellt sich heraus, daß die roten zweifellos die gefährlichsten sind, die rosa meist an Reichsdeutsche vergeben wurden, die weißen aber bei den Polen sonst Gutgelittene erhalten hatten.

"Ich werfe meinen Roten einfach fort", sagt ein junger Mann, "besser gar keins als dieses gefährliche Dokument."

"Es kann gut sein, kann auch bös sein!" meint ein anderer. "Vielleicht ist man am schlimmsten dran, wenn man kein Papierchen bei sich hat."

"Oder am besten..." sagt der andere.

"Übrigens läßt sich jetzt schon ganz klar erkennen, daß man die Listen schon vor Monaten aufstellte, die zur Grundlage der Verhaftungen benutzt wurden!" fällt Adelt ein. "Man hat viele längst verheiratete Frauen nach ihren Mädchennamen verhaftet, in einigen Häusern sogar Verstorbene mit solchen Zetteln beglücken wollen."

"Sie müssen Ende April fertiggemacht worden sein", setzt Dr. Kohnert hinzu, "denn später Zugezogene wurden nicht verhaftet."

"Auch forschte man nach manchen Leuten noch in den alten Wohnungen, die schon seit Monaten in andere Häuser umgesiedelt sind!" sagt Adelt wieder. "Also ein [74] ganz klarer Beweis dafür, daß diese Aktion längst vorbereitet ist. Im übrigen ist sie im Gegensatz zu allem anderen so glänzend organisiert, daß die Polen allein es sicher nicht so gut zuwege gebracht hätten, daß irgendwelche Organisatoren befreundeter Nationen mitgeholfen haben müssen!"

"In den nordwestlichen Städten sollen sogar für alle Züge bereitgestanden haben", sagt Dr. Kohnert wieder, "nur der schnelle Vormarsch unserer Truppen warf ihnen alles über den Haufen. Nun aber sagen sie sich einfach, lieber sollen sie alle verrecken, als daß die Deutschen sie befreien..."

"Ob sie uns wohl noch einholen, unsere deutschen Soldatenbrüder?" sagt jemand leise.

"Ich bin überzeugt!" flüstert ein anderer.

"Es kommt aufs Tempo an, mit dem sie uns hetzen", meint Dr. Kohnert wieder.

"Aber die Frauen... man kann doch nicht..." flüstert jemand erschrocken.

"Man kann alles - jedenfalls in Polen..." sagt Dr. Kohnert hart.

Allmählich ist es Nacht geworden, schließlich kommt auch der Aufbruch. Als sie aus dem Garten auf die Straße kommen, sehen sie, daß dort schon ein wilder Pöbelhaufen ihrer wartet. Er hat eine Art Spießrutengasse gebildet, aus der man mit allen Gegenständen auf sie einschlägt. Der vertierte Ausdruck dieser Gesichter ist so fremd, daß sie diese Menschen kaum jemals [75] wiedererkennen werden. Nur einen polnischen Arzt erkennen ein paar, es ist ein bekannter Stadtarzt, ein anerkannter intelligenter Mensch, was ist mit einem Male in ihn gefahren? Er hat förmlich Schaum vor dem Munde, schlägt mit beiden Fäusten auf die Gefangenen ein, gebärdet sich wahrhaftig wie ein Verrückter. Am schlimmsten hat es die Spitze, sie muß diese Wälle förmlich durchbrechen, zum Glück sind es fast alles jüngere Menschen, meist die gestählten Führer der Volksdeutschen, sie heben die Arme deckend über die Köpfe, drängen sich mit eingezogenem Nacken durch. Man wirft mit Steinen nach ihnen, schleudert Straßenschmutz in sie hinein, begleitet das alles mit einem Chor von Schmähungen, dessen Grundakkord die scheußlichsten polnischen Flüche sind.

Aber auch den Frauen geht es nicht viel besser, denn hier sind es die polnischen Weiber, die ihre Stunde endlich als gekommen ansehen. Sie greifen wie mit Krallen in ihr Haar, reißen ihnen die Zöpfe herunter, hängen sich so verkrampft hinein, daß man sie manchen Meter mitschleifen muß. Viele haben schon nach wenigen Schritten zerkratzte Gesichter, einzelne der Polinnen haben sogar altmodische Hutnadeln ausgekramt, stechen damit ganz bewußt mit kaltem Zielen nach ihren Augen. Als eine Frau mit einem Säugling herauskommt, sie haben sie schon in die Mitte genommen, um sie wohlweislich etwas schützen zu können, wirft sich eine Megäre schäumend auf das Kind, sucht es schreiend der [76] Mutter zu entreißen. Nach wenigen Metern sehen alle jene Frauen aus, die an den Außenseiten der Glieder gehen, als wären sie schon monatelang auf den Landstraßen: Die Säume ihrer Röcke sind heruntergetreten, in den dünnen Blusen klaffen überall große Löcher, einzelnen sind auch ganze Ärmel herausgerissen. Im übrigen bewirft man auch sie mit allem Schmutz, den man nur in der Eile im Graben finden kann, speit man ihnen alle Flüche der Bromberger Huren entgegen...

Endlich wird es für sie ein wenig besser, sie kommen in die Außenviertel der Stadt. Aber auch hier herrscht noch ein schiebendes Gedränge, fast auf allen Straßen kommen gleichzeitig Transporte an: Die einen kommen aus der Thorner Gegend, die anderen aus dem Raume östlich von Deutsch-Krone, dem ersten Durchbruchsort, andere wieder aus Hohensalza. Es ist ein unentwirrbares Durcheinander, übertönt vom niemals endenden Geschrei der Wachen. Fast alle Kreuzungen sind verstopft, jeder Kommandant will seinen Trupp in den anderen einschieben, wüste Zusammenstöße der Wachen selber sind die Folgen. Danach gehen sie eine halbe Stunde fast unbelästigt, lediglich von den Strelzi dauernd angetrieben. Sie atmen alle auf, die frische Nachtluft kühlt - aber dies Glück dauert nicht lange, an der Ziegelei wartet neues Volk. Es sind die Ziegeleiarbeiter, das verrufenste Volk der Stadt, sie haben gleich ihr ganzes Werkzeug mitgebracht, stehen mit Brechstangen in den Händen da, [77] andere mit langen hölzernen Ofenschiebern. Wieder ergießt sich ein Hagel von Schlägen über sie, die ersten alten Männer brechen darunter zusammen, fallen den Arbeitern hilflos zum Opfer, denn wer einmal kraftlos am Boden liegt, dem können auch die besten Kameraden nicht helfen, man würde sie beim Aufheben nur selber niederschlagen...

Sie kommen an dem riesigen Holzhafen vorbei, leise gluckert das Wasser zu ihnen herüber, einzelne quält schon der Durst, aber wer nur einen Schritt zur Seite tut, wird von den Strelzi sofort mit Kolben zurückgeschlagen. Millionenwerte an geflößten Stämmen schwimmen dort, das werden sie auch nicht mehr wegbringen, denken ein paar Deutsche wie in innerem Trost.

Erschlagener 
Volksdeutscher aus Langenau
Einer der erschlagenen und ermordeten volksdeutschen Bauern aus den Dörfern Langenau und Otteraue bei Bromberg
Größer
Im Dorfe Langenau stehen um jene Zeit noch alle Höfe, aber man hat alle Tore verrammelt, nirgends gewahrt man ein Licht, nirgends zeigt sich ein Kopf an den Fenstern. Es gibt viele deutsche Bauern in diesem Dorf - ahnen sie schon, was ihnen in wenigen Stunden bevorsteht? Drei Tage später, nach dem Rückzug der Armee, steht hier kein Haus mehr, sind alle Höfe verbrannt, ihre Bewohner zumeist erschlagen. In diesem Langenau endet auch die erste Frau ihr Leben, es ist das sechsundsiebzigjährige Fräulein Schnee, eine Nichte des bekannten Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika. Sie hat ihr ganzes Leben dem Dienst der Armen gewidmet, hatte die Führung der auch bei den Deutschen Polens bestehenden Volkswohlfahrt, hier mußte man [78] sie als Sterbende den erbarmungslosen Händen des Pöbels überlassen. Still liegt sie da mit ihrem schneeweißen Haar, mit weiten Augen, das ganze zerknitterte Gesicht unheimlich gelb....

Der große Zug marschiert weiter, kommt durch Schulitz hindurch, wird wiederum von Volk erwartet. Nach Schulitz geht es endlich ein wenig ruhiger zu, das flache Land ist von der allgemeinen Aufhetzung in viel geringerem Maße angesteckt, bei den Bauern geht der Haß meist über wüste Flüche nicht hinaus. Zuweilen zünden sich die Männer eine Zigarette an, sie sind ja noch reich, sie haben ja noch welche, aber in einer Viererreihe darf immer nur eine geraucht werden. Nach ein paar Zügen gibt jeder sie dem nächsten weiter, niemals ist jemand dabei, der auch nur einen Zug mehr als der andere nähme. So ziehen in der Nacht die glühenden Punkte hin und her, geben ein seltsames Bild mit ihrem unablässigen Wandern.

Als es endlich Morgen wird, das weite Land sich erhellt, kommt auch der erste Fliegerangriff. Mit singendem Dröhnen zieht ein schwerer Bomber über ihnen heran, sofort bricht unter den Begleitwachen eine sinnlose Panik aus. "In die Gräben", schreien sie maßlos aufgeregt, "sofort in die Gräben!" Dabei ziehen sie ihre Pistolen, bringen auch ihre Gewehre in Anschlag, fluchtartig spritzen nun auch die Gefangenen auseinander, werfen sich auf beiden Seiten in die Straßengräben.

[79] "Ob sie das unseretwillen tun?" fragt einer verwundert.

"Das sicher nicht!" sagt Dr. Kohnert heiter. "Nur um ihr kostbares Leben zu schützen, doch aus keinem anderen Grund! Die Flieger könnten unsere Züge für Truppentransporte halten, uns ihre Bomben als gefundenem Fressen auf den Kopf werfen - das wäre den Polen unsertwegen ja schließlich nur erwünscht, aber sie würden eben selbst dabei ins Gras beißen! Aus dem gleichen Grunde marschieren wir auch nachts, werden wir wohl auch weiterhin immer nur nachts marschieren..."

"Und tagsüber?" fragt jemand.

"Werden sie uns in irgendwelche Scheunen sperren, tausend in einen Raum für hundert!" meint Adelt bitter.

"Wenigstens kommen wir auf diese Weise zum Ausrasten..." sagt ein alter Pfarrer von siebzig Jahren.

Sie schweigen wieder, schauen starr hinauf, deutlich sehen sie das weiße Kreuz auf schwarzem Grund, deutlich auch die Hakenkreuzflagge am Seitensteuer. Und dort oben sitzen nun drei, vielleicht auch fünf deutsche Soldaten, denken sie mit seltsam bohrender Wehmut, keiner aber von ihnen kann ahnen, daß hier tausende Deutscher in den Straßengräben liegen, zehntausende aber zu gleicher Zeit im ganzen Land, mit schlagenden Pulsen zu ihnen hinaufblicken, bis sich ihre Augen vom scharfen Schauen mit Tränen füllen...

[80] "Die Polen sollen schon auf Berlin marschieren!" sagt ein junger Mensch leise.

"Dann wären unsere Flieger gerade hier!" sagt Dr. Kohnert lachend. "Dann hätten sie wohl was anderes zu tun, als einen Angriff nach dem andern über Polen zu fliegen..."

Diese logischen Worte tun allen gut, richten auch die Verzagtesten wieder auf. Eine Weile dürfen sie noch liegenbleiben, wie wohl das ihren müden Beinen tut, endlich verschwindet das Flugzeug am Horizont. Alsbald springen auch die Wachen wieder auf, treiben die Gefangenen mit Geschrei empor. Unter klatschenden Schlägen ordnen sich die Reihen wieder, langsam setzt sich der endlose Zug wieder in Bewegung. Von neuem wölkt in dichten Schwaden der Staub empor, legt sich als dicker Puder über alle Gesichter, schiebt sich als scharfe Schmirgelschicht zwischen die Kleider, setzt sich wie feine Glassplitter in die Schuhe. Schon am ersten Morgen sind aller Augen gerötet, viele Stellen der Leiber wund, die meisten Füße voller Blasen...

Außer diesen Rasten durch Fliegerangriffe gibt es kein Ausruhen, achtundfünfzig Kilometer müssen sie in einem marschieren, denn achtundfünfzig Kilometer zählt die Strecke von Bromberg nach Thorn, das der Kommandant anscheinend als erstes Ziel für sie bestimmt hat. Es geht allmählich schon auf Mittag, die Sonne brennt heiß an diesem Tag, der Durst wird langsam zu schwerer Qual, immer mehr recken die [81] Köpfe über die Vorderen, um die Thorn Türme von Thorn wenigstens einmal zu sehen. Für ein paar Atemzüge erleichtert, erblicken sie die Silhouette der alten Festung, straffen noch einmal die müden Rücken, vergessen die Schmerzen ihrer wunden Füße. In den Straßen Thorns empfängt sie zwar wiederum wütender Pöbel, aber das kennen sie jetzt schon, das wirft sie nicht mehr um, eng aneinandergedrückt durchdringen sie auch dieses Spalier. Und schließlich nimmt der Saal eines Vorstadtetablissements sie auf, sinken sie in ganzen Reihen dankbar auf den nackten Boden hin.


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Die volksdeutsche Passion