[59] Kapitel 8: Das Schicksal des Fabrikanten Mathes und seiner Söhne Schon am Tage des Kriegsausbruches hatte man in Bromberg sogenannte Evakuierungszüge zusammengestellt, die wohl ursprünglich mit der Bahn zur Internierung nach dem Osten gehen sollten, die man aber wegen völliger Verstopfung der Eisenbahnlinien schließlich alle in Fußmarsch setzte. Einer der ersten großen Verschlepptenzüge dieser Art war der aus Bromberg, an dem der heutige Führer des Deutschtums Dr. Kohnert teilnahm, ein anderer brach unter der Führung des Pfarrers Dietrich aus dem Thorner Gebiet auf, einer der letzten war der kleine Zug von zweihundert Männern, den man in Bromberg an der Kaserne am Bahnhof zusammenstellte. Als man den Möbelfabrikanten Mathes am Abend des Blutsonntags in die Kaserne treibt, von seinen beiden Söhnen begleitet, von denen der eine erst dreizehn, der andere erst fünfzehn Jahre zählt, erblicken sie in der Mitte der Reithalle ein halbmannshohes Podium. Neben diesem Podium steht ein junger Offizier mit einer Reitpeitsche, der darüber wacht, daß jeder Neuangekommene mit einem Sprung auf dieses Podium gelangt. Wer das nicht auf das erste Kommando erreicht, sondern mit Klettern hinaufzukommen sucht, wird während seiner Versuche erbarmungslos geschlagen. Die Halle füllt sich von Minute zu Minute mehr, meist sind es Väter mit ihren Söhnen, der Mehrzahl läuft bereits beim Eintritt das Blut herunter, einige haben völlig zer- [60] quetschte Lippen, die meisten durch Kolbenschläge gebrochene Nasenbeine. Schließlich hat man vierhundert Männer auf diesem Podium zusammengepfercht, aber obwohl sich die bewachenden Soldaten wie eine Horde von Teufeln gebärden, bewahren die Männer durchwegs eine Haltung ruhiger Festigkeit. Diese Haltung gerät nur gegen Mitternacht einmal ins Wanken, als ein junger Mann von zwanzig Jahren unvermittelt an den Rand des Podiums tritt, plötzlich mit erhobenem Arm auf die Soldaten hinunterschreit: "Heil Hitler!" Er hat diesen Ruf jedoch nicht einmal zu Ende sprechen können, denn mitten im Namen des Führers trifft ihn schon eine Kugel so in den Leib, daß er mit ausgebreiteten Armen von oben herab in den Sand der Reitbahn stürzt. Man schleift eine Bahre hinein, schleppt ihn im Laufschritt hinaus. "Den werden wir lehren, euren Gruß zu rufen..." schreien die Soldaten einander schäumend zu, während sie der Bahre in ganzen Haufen nachlaufen. "Wer Militärpapiere hat, hier unten melden!" ruft der Offizier nach einer Weile. Eine ganze Reihe von Männern klettert herunter, man nimmt ihnen die Papiere einfach ab, sie sollen sie morgen beim Kommissar abholen. Einige Zeit später wird etwa die Hälfte ausgesucht, um am Bahnhof Munition aus den Zügen zu laden. Wer von den Männern konnte ahnen, daß diese mit dem Leben davonkommen sollten, als einzige fast [61] von allen in dieser Kaserne? Etwa zweihundert Mann werden zu dieser Arbeit ausgesondert, die anderen zweihundert daraufhin im Marsch gesetzt. Man führt sie auf die Kujawierstraße, treibt sie in der Richtung nach Brzoza. Schon vor dem Kasernentor erwartet sie eine wilde Menge, die mit allen möglichen Mordinstrumenten bewaffnet ist, einzelne schwingen uralte Säbel, andere haben offene Dolche, viele aber auch nur gewöhnliche Holzäxte in den verkrampften Händen. Diese Zivilisten schlagen sofort von allen Seiten auf den Zug ein, die Wachsoldaten wehren ihnen nicht, trachten sich nur davor zu schützen, daß sie von dem Geprassel der Schläge nicht selbst bekommen - können aber von den älteren Männern aus Luftmangel einige nicht mit, treiben sie diese selbst durch dauernde Bajonettstiche an, so daß schon nach den ersten hundert Metern viele zusammenbrechen, auf die sich das Volk sofort wie ein schwarzer Krähenschwarm wirft. Kurz hinter der Stadt wird plötzlich "Halt!" gerufen, ein Offizier hält eine kurze Ansprache, schließt sie mit der Aufforderung, ein Hoch auf das heilige Polen auszubringen. "Wenn ihr das laut genug ruft, könnt ihr gleich nach Hause gehen..." Die Gefangenen rufen es in schütterem Chor, er klingt nur dünn durch das Lärmen des Pöbels. Dann dürfen sie seltsamerweise wirklich gehen, der ganze Zug wendet sich zur Stadt zurück. Aber sie sind kaum bis zur Kujawierstraße Nr. 50 zurückgekommen, als es plötzlich von [62] allen Seiten in sie hineinschießt. "Ich ahnte es doch!" ruft der Möbelfabrikant Mathes, deckt seine beiden Söhne mit dem Leibe, reißt sie als alter Frontsoldat sofort aufs Pflaster. Als das Geknatter wieder verstummt ist, treibt man die Überlebenden erneut zusammen, setzt sie wieder in der alten Richtung in Marsch. Es sind jetzt nur mehr an hundertfünfzig Menschen, was verwundet liegen blieb, wurde von dem nachdrängenden Pöbel umgebracht. Zwei Stunden lang geht es in schnellem Lauf Brzoza zu, in der ersten Zeit wird jeder erschossen, der diesen Gewaltmarsch nicht mehr aushält, bald aber befiehlt der führende Offizier, wegen des Knallens keine Kugeln mehr zu nehmen. So schlagen die Soldaten denn jene, die vor Alter kraftlos zusammensinken, mit den Kolben ihrer Karabiner tot. Immer wieder hören die Gefangenen die dumpfen Schläge, die trotz des Getrappels ihrer Schritte weit durch die Nacht dröhnen, meist vom Geräusch eines brechenden Berstens begleitet. Am Kilometerstein 10 biegt die Spitze links in den Wald, von hier aus führt man den Zug drei Kilometer auf Piecky zu, treibt den noch übriggebliebenen Rest in einen elenden Kuhstall hinein, der in seiner Gebrechlichkeit jeden Augenblick zusammenstürzen kann. Es ist ungefähr fünf Uhr morgens, man kann sich allmählich wieder erkennen, Mathes führt sofort eine Zählung durch, stellt mit verschnürter Kehle fest, daß sie im ganzen nur mehr vierundvierzig Mann sind, also über hundert [63] auf dem kurzen Wege endeten. Alles beginnt nach dem Marsche sehr unter Durst zu leiden, denn der Staub der Straßen hat alle Schleimhäute ausgetrocknet. Sie können sich jedoch nicht einmal hinwerfen, da der Raum viel zu klein für sie alle ist, so schlafen sie nebeneinander stehend ein. Gegen sechs Uhr tritt ein Korporal herein, fragt, ob einer von ihnen fließend Polnisch könne. Der kleine Heinz Mathes, der jüngere der beiden Söhne, ein Knabe von so frischem Wesen, daß er jeden für sich einnimmt, tritt sofort mit ihm ins Freie. Es entspinnt sich ein kurzes Verhör, in dem sie verbissen danach forschen, ob nicht mehrere unter ihnen sind, die aus dem Hinterhalt geschossen haben. Der Knabe versteht es, ihnen das gründlich auszureden, läßt dabei geschickt durchblicken, daß sein Vater ein reicher Mann sei, der viele Kostbarkeiten bei sich trage. "Wenn ihr uns drei lebendig nach Hause zurückbringt", sagt er schließlich, "händigen wir euch zu Hause unser ganzes Vermögen aus." Da lachen sie ob seiner Keckheit, schicken ihn wieder in den Stall zurück... Nach einer Viertelstunde rufen sie ihn wieder, beginnen das Verhör mit ihm von neuem. Als er diesmal in den Stall zurückkehrt, ist sein hübsches Jungensgesicht fahlbleich. "Ich habe zufällig hören können, daß sie nach Benzin geschickt haben, um uns mitsamt der Hütte zu verbrennen!" flüstert er dem Vater ins Ohr. "Nur uns Kinder will man nach Hause lassen, mehr habe ich nicht erreichen können..." [64] Wieder vergeht eine Stunde - welche eine Stunde der Qual! Wird man sie wirklich alle verbrennen, kann sie denn niemand wenigstens hiervon erretten, müssen sie zum Schluß noch um eine Kugel flehen? Die Gefangenen verfallen sichtlich unter diesem Gedanken, viele haben nach diesem Wissen nicht mehr die Kraft, sich noch länger tränenlos aufrecht zu halten. Um sechs Uhr werden sie jedoch plötzlich alle herausgerufen, vor dem Stalle steht eine polnische Feldküche, von der jeder einen Becher Kaffee mit einem Zwieback erhält. "Nun bleiben wir doch leben!" steigt es in allen auf. Nur der Dreher Döring sagt mit Tränen in den Augen: "Wenn es nun aber unsere Henkersmahlzeit ist..." Auch der junge Heinz ist wieder hoffnungsvoll, hat er nicht zu allem eben gehört, daß sie nirgends in der Umgebung Benzin bekamen? Dennoch ahnte der arme Döring das Richtige, kaum sind sie nach dem Kaffee wieder im Stall, als die Soldateska plötzlich die Hütte umstellt, mit sinnlosem Schreien unablässig ruft: "Immer drei heraus..." Die drei dem Tor am nächsten gehen, sie haben draußen kaum ein paar Schritte getan, als es schon krachend aufbellt. "Die nächsten drei..." brüllt es herein. Und wieder gehen drei, was sollen sie auch tun? Sie sind ja alle so müde, so unmenschlich zerschlagen, so unerträglich gequält, in ihren Seelen wie in ihren Leibern, daß sich die meisten schon nach dem Tode sehnen, ihr Ende als selige Erlösung empfinden... [65] Wieder gehen drei, wieder gehen drei. Allmählich gibt es Platz, ein paar werfen sich rasch hin, um noch die Wohltat eines Ausruhens zu spüren, mag es auch noch so kurz sein. Endlich geht der kleine Heinz, obwohl er noch nicht dran ist, zufällig mit seinem Vater ganz hinten saß, als das Herausholen der Gefangenen plötzlich anhob, noch einmal mutig an das Loch heran, bittet mit seiner hellen Knabenstimme, wenigstens ihn mit seinem Bruder zu schonen, was sie ihm doch zuvor versprochen hätten... Die Antwort ist jetzt ein Bajonettstich, der ihm die zarte Schulter durchbohrt - da wollen auch dem Kleinen die Knie wanken, wirft er sich dem Vater aufschluchzend in die Arme. Wieder gehen drei, wieder gehen drei. Mit einem Male hören sie, wie der Korporal zynisch sagt: "Wir haben jetzt bald keine Patronen mehr - die letzten sind für dieses Hundeblut zu schade - stecht sie von jetzt an mit den Bajonetten ab..." Und wieder drei - und wieder drei. Aber seitdem sie dieses wissen, gehen sie nicht mehr so ruhig hinaus - nicht einmal eine Kugel wird sie erlösen, nicht einmal das dürfen sie mehr erhoffen! Es fallen jetzt auch keine Schüsse mehr draußen, sie hören nur mehr erstickte Schreie durch die Bretterwand - "Mein Gott... O Himmel... Ach Jesus!" - dann meist noch ein paar dumpfe Kolbenschläge, deren nachfolgendes Bersten sie schon im Ohre haben... Jetzt ist die Reihe an Mathes mit seinen Söhnen, [66] sie sind zusammen gerade drei, ist das in dieser Stunde nicht ein tiefer Trost? Nur fünf stehen noch hinter ihnen, wie irre an die Wand geklammert, die werden nicht von selber gehen... Mathes nimmt seine Söhne an den Händen, geht zwischen ihnen zum Tor hinaus - wäre ich doch gleich zu Anfang gegangen, hämmert es mit dumpfem Wirbel in seinem Kopf: Dann wären meine Jungens wenigstens erschossen, nicht auf diese fürchterliche Weise umgebracht... Aber als sie heraustreten, erhebt sich kein Bajonett gegen sie. Die beiden Korporale stürzen auf sie zu, die den kleinen Heinz mehrfach vernahmen, schieben sie ein paar Schritte vom Totenhaufen fort. "Gebt uns jetzt alles, wovon der Kleine sprach!" sagt der eine Korporal gierig. Da leeren sie umständlich ihre Taschen, reichen dem einen dies, dem anderen jenes wertvolle Stück. Aber sie machen es keinem der beiden recht, jeder blickt scheel auf das, was sie gerade dem anderen hinüberreichen - schließlich bricht auch ein jäher Streit auf, beide greifen nach der eben abgelieferten Golduhr, zerren daran wie ein paar Hunde an einem Knochen. Diesen Augenblick erfaßt der alte Feldsoldat Mathes, blickt kurz jedem seiner Söhne in die Augen, rennt mit dem nächsten Atem mit weiten Sprüngen in den Wald. Die beiden Korporale kommen vor lauter Gier nicht einmal dazu, den dreien nachzuschießen - bis sie ihre Gewehre finden, sind die Flüchtlinge schon in den Bäumen verschwunden... [67] Vier Tage lang irren sie durch die Wälder, ohne das geringste zu essen, ohne auch nur einen Schluck trinken zu können. Sie pflücken im Walde Beeren, sie lecken den Tau von den Gräsern, am dritten Tage fangen sie Frösche, um nicht vor Entkräftung umzufallen. Aber die Zungen werden immer dicker, die Lippen sind aufgeschwollen, zudem ist es des Nachts eisig kalt, denn sie haben ja nur ihre Hemden an. Sie schlafen zur Nacht in Dickungen, machen sich dort Nester wie Rehe, aber allmählich brechen auch ihre Füße auf, denn die Halbschuhe trat man ihnen schon beim ersten Marsch herunter. Der kleine Heinz hält sich auch hier am besten, obwohl ihn der Bajonettstich in der Schulter schmerzt, mit einem Streifen des väterlichen Hemdes nur notdürftig verbunden. In der Nacht zum Donnerstag fällt kein Tau, da fühlen sie trotzdem das Ende nahen. Zudem sind sie allmählich ins Kriegsgebiet geraten, überall streifen versprengte Truppenteile durch die Wälder, die Furcht vor neuerlicher Gefangennahme frißt auch ihre Seelenkräfte. Als Bruder Horst endgültig zusammenbricht, zieht der kleine Heinz ein Stückchen Brot hervor, hält es spitzbübisch vor ihm in die Höhe: "Das hab' ich bis zu diesem Augenblick aufgehoben - jetzt leben wir sicher nochmals ein paar Stunden!" sagt er triumphierend. Ist er nicht ein echter Held, dieser kleine deutsche Junge - erspart sich heimlich eine eiserne Ration, bricht sie vier volle Tage nicht an! Und er hat richtig gerechnet, trotz seiner dreizehn Jahre - von diesem Brot [68] kommt auch Horst noch einmal auf die Beine, mit neuen Kräften laufen sie weiter, immer weiter nach Westen zu...
Nachmittags zwei Uhr endlich, nach viertägigem Marsche, fast ohne zu essen, nur den
Tau zum Trinken, erreichen sie die deutschen
Truppen - als einzige Überlebende jenes Todeszuges, der beim Aufbruch aus Bromberg
zweihundert Menschen zählte, den man nach dem Ort seines Endes aber den Pieckyschen
nennt.
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