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Kapitel 5:
Der Bromberger Totentanz weitet sich aus


Als am nächsten Morgen die Fronttruppen zurückströmen, den Händen der Offiziere schon völlig entglitten, durch Bromberg fließen, anscheinend bei der ersten Begegnung mit dem Feinde bereits entscheidend geschlagen, schwillt die Vernichtungswelle noch einmal grauenhaft empor. Ist es ein Rachenehmenwollen für die verlorenen Schlachten, für den Zusammenbruch ihrer maßlos übersteigerten Siegeszuversicht - jedenfalls ist es die typische Reaktion minderwertiger Charaktere, die damit selbst die polnische Nation aus der Reihe der Kulturvölker löscht: Vor einem diesen Soldaten gleichwertig bewaffneten Gegner läuft ihre Armee haltlos davon, auf eine waffenlose Zivilbevölkerung aber wirft sie sich [31] mit unstillbarem Blutdurst, ihr gegenüber tobt sich ihre legendäre Tapferkeit aus, während man sie an der Front beschämend selten gewahrt...

Damit steigt das allgemeine Morden zu einem Höhepunkt auf, wie es die Geschichte seit Dschingis-Khans Zeiten nicht mehr kennt. Alle Straßen Brombergs sind jetzt ein Hexenkessel, von einer schiebenden Menge vieler Tausender brodelnd gefüllt. Wer ihr in diesen Stunden in die Hände fällt, haucht nur mehr unter langen Qualen sein Leben aus, denn es wird jetzt kaum mehr jemand erschossen, um diese Zeit sterben fast alle nur mehr durch Kolbenschläge, enden fast alle unter Dutzenden von Bajonettstichen. Man nagelt sie mit Bajonetten auf die Erde, man schält ihnen mit Seitengewehren die Augen heraus, man schlitzt ihnen mit alten Säbeln die Bäuche auf, man schneidet ihnen wollüstig die Geschlechtsteile ab. Vor jedem deutschen Hause liegen ein paar Tote, der Kornmarktplatz ist rings mit Leichen übersät, jetzt wird auch das letzte vergessene Haus noch gefunden. Immer wieder sieht man Gymnasiasten die Straßen absuchen, aber auch viele Gewerbetreibende beteiligen sich als Spürhunde: Der polnische Bäckermeister gibt den deutschen Bäcker an, der polnische Schuhmachermeister den deutschen Schuhmacher - sind diese Tage nicht eine von Gott gesandte Gelegenheit, die verhaßte Konkurrenz ein für allemal loszuwerden? Aber auch die Intelligenz beteiligt sich an dieser Art des Kesseltreibens, der polnische Rechtsanwalt gibt heim- [32] lich die Wohnung des deutschen an, der polnische Bankdirektor flüstert einem Haufen die Straßennummer des deutschen zu. An der Spitze aller Spürhunde aber stehen die Lehrer, sie führen ihre Horden eigenhändig in die deutschen Schulen, sie sind in jedem Falle die erbarmungslosesten Henker.

Gibt es denn überhaupt keinen Halt mehr in dieser Stadt, gibt es nicht eine einzige Säule der Menschlichkeit? Es gibt keine, es gibt nichts. Eine Pfarrersfrau flüchtet mit ihren sechs Kinderchen ins katholische Schwesternhaus, aber die ihr gut bekannte Kinderschwester läßt sie nicht einen Schritt zur Tür hinein: "Machen Sie, daß Sie wieder fortkommen, für verfluchte Deutsche ist kein Platz..." Die Pfarrersfrau fleht noch einmal, denn hinter ihr tobt schon die Meute. Aber die polnische Schwester, die Schwester der Kinder, schreit sie nur noch schärfer an, schlägt schließlich knallend die Tür vor ihr zu... Ein alter katholischer Pfarrer, den zwei deutsche Greise um Hilfe anflehen, findet als Antwort nur billigen Hohn: "Wendet euch doch an euren Gott um Hilfe, an Adolf Hitler, der unsrige gilt euch ja nichts mehr..." Nein, alles wird von diesem heißen Strom umspült, nicht die kleinste Insel bleibt bestehen. Und wenn sich jemand um Hilfe an seinen Nachbarn wendet, mit dem er zwanzig Jahre freundschaftlich gelebt, so ist es meist eben dieser gute Nachbar, der eine Stunde später selbst die Schergen bringt...

Endlich verlassen die Horden die Stadt, ist der Feind [33] schon so nahe? Alle an den Henkerstaten Beteiligten schließen sich den Soldaten an - ahnen sie plötzlich die nahende strafenden Gerechtigkeit?

HohensalzaDas Infanterieregiment Nr. 63 aus Thorn, das seinen Offizieren noch nicht völlig entglitt, zieht in mehreren geschlossenen Trupps die Straße nach Hohensalza hinaus, aber auch ihre Spur bezeichnet eine lange Linie von Toten. Als es in Hopfengarten bei der Abzweigung nach Labischin auf die evangelische Kirche stößt, bricht der Spitzenhaufe sofort die Kirchentür auf, ergießen sich die ersten hundert mit wildem Johlen in das stille Gotteshaus. Sie reißen die Kirchenfahnen von den Wänden, schießen mit ihren Pistolen nach dem Kruzifix, einer aber klettert auf den Altar hinauf, um unter dem Beifall aller dort seine Notdurft zu verrichten. Schließlich tragen sie alles Brennbare auf einen Haufen, werfen von der Tür aus so lange Handgranaten hinein, bis die Trümmer in einer hohen Stichflamme aufzischen. In wenigen Minuten brennt die alte Kirche lichterloh, steht die ganze Nacht als schaurige Fackel im Land.

Von dieser Stelle aus gibt der Kommandeur des Regiments den Befehl, in Richtung Eichdorf eine provisorische Stellung einzunehmen. Der Großteil der Soldaten sucht sich daraufhin gedeckte Unterschlupfe, baut seine Maschinengewehre in westlicher Richtung ein, während die Bagage in der Nähe Eichdorfs zu einem kleinen Lager zusammenfährt. Die ersten Stunden ist das Regiment damit beschäftigt, als aber der Feind immer [34] noch nicht kommt, beginnt der größere Teil erneut in der Umgebung herumzustreunen. Hat einer durch einen unglücklichen Zufall herausgebracht, daß Eichdorf mit seinen Vorhöfen eine rein deutsche Siedlung ist, vor Hunderten von Jahren von deutschen Bauern aus dem Nichts erschaffen, bis 1918 noch von keinem einzigen Polen bewohnt? Wohl haben die meisten Männer sich bei ihrem Nahen in den Wiesen versteckt, denn inzwischen ist der Bromberger Blutsonntag auch bis zu ihnen durchgesickert, die Frauen mit den Kindern aber sind ruhig in den Häusern geblieben. Einmal mußte jemand zur Besorgung des ganzen Viehs auf den Höfen bleiben, zum anderen hat man es doch sicherlich nicht auf Frauen abgesehen...

Als erstes geraten die Soldaten in das Anwesen Langes, in ihm finden sie nur zwei alte Männer von fünfundsechzig, dazu eine Greisin von achtzig Jahren. Sie halten hier nicht einmal das mehr für nötig, was bisher als eine Art Rechtfertigungsgrund bei keinem Morde fehlte - sie werfen keinem mehr irgendein Schießen aus dem Hinterhalt vor, geben auch nicht das Suchen nach irgendwelchen Waffen als Vorwand: Sie schlagen die drei Alten ohne viel Worte sofort mit den Kolben nieder, stechen auf die Zusammenstürzenden immer wieder mit den Bajonetten ein...

Als ob diese Tat ihren Blutdurst auf Neue entfacht hätte, ziehen sie nun mit fanatischem Geschrei von einem Hofe zum andern, da an der Straße in einem Raum von [35] drei Kilometern an fünfundzwanzig Höfe liegen, die Stellung des Regiments auch nur hundert Meter westlich dieser Linie verläuft, eilen auf die ersten Schüsse auch die übrigen aus den Postenständen herbei, so daß sich wenige Minuten später alles auf die drei Dörfer ergießt. In jedem Hause werden sofort mehrere erschlagen, können aber die Kinder noch davonlaufen, so schießen sie lachend hinter ihnen her, um ihnen endlich einmal "das Laufen beizubringen". Einige Frauen werden durch Stiche in den Unterleib niedergeworfen, alsdann zermalmt man ihnen die Gesichter durch Kolbenschläge. Oft werden die Männer vorher mit Stricken aneinandergebunden, erst dann in langer Reihe einer nach dem anderen heruntergeschlagen, vorzüglich immer wieder durch Kolbenschläge in die Gesichter. Als ein alter Bauer nicht auf polnisch antworten kann, schreit ihn ein junger Offizier höhnisch an: "Zwanzig Jahre ist dies Land nun polnisch, du Hundesohn aber hast's noch immer nicht gelernt? Aber nun brauchst du dich nicht mehr bemühen, jetzt lohnt es sich für dich nicht mehr..." Darauf hält er ihm selbst den Revolver aufs Auge, drückt er unter dem Beifall der Soldaten ab...

Als den Soldaten auf dem Wege zum Hofe Wollschlägers die drei Kinder Jannots in die Arme laufen, deren jüngstes im Alter von zwölf, deren mittleres im Alter von fünfzehn steht, deren ältestes aber eben achtzehn Jahre alt ist, stellen sie erst ein kleines Verhör mit ihnen an. Ihr schlechtes Polnisch beweist ihnen aber rasch, daß sie es mit [36] deutschen Kindern zu tun haben, daraufhin stechen sie die drei Flehenden lachend nieder: "Hinweg mit euch, ihr deutsche Hundsbrut..."

Der Bauer Renz, an sich in einem sicheren Versteck, verläßt dies unglücklicherweise, als er seine beiden Kinder ihn suchen sieht. Die kleine Gisela ist erst vier Jahre alt, der Sohn Günther eben erst neun geworden. Aus dem einzigen Wunsche, die Bedrohten mit in sein Versteck zu ziehen, ruft er leise ihre Namen über die Wiesen, worauf die beiden Kinder freudig auf ihn zueilen. Er nimmt sie glücklich an die Brust, küßt ihnen die Tränen von den Wangen, kuschelt sie neben sich in seiner Mulde ein - als schon zwei Soldaten suchend herankommen, die den Lauf der Kinder beobachtet haben und ihnen wie witternde Jagdhunde folgten. Sie hätten ihn vielleicht nicht entdeckt, hätte das Kleinste nicht plötzlich zu weinen begonnen - wie rasch ihm auch der Vater mit seiner Hand den Mund verschloß, der erste Ton hat den Suchenden schon sein Versteck verraten.

"Heraus mit dir, du verfluchter Zwab, sonst erschießen wir dich in deinem Grab!" rufen sie lachend, sichtlich heiter ob ihres guten Fundes, krümmen die Finger an den Bügeln.

Renz tritt kalkweiß heraus, an jeder Hand ein Kind. "Laßt wenigstens diese laufen", bittet er heiser, "wenn ich schon selbst nicht darf..."

"Die deutsche Brut? Die geht mit dir! Sind in zehn Jahren selbst Männer, die wieder deutsche Hunde zeu- [37] gen, sind in zehn Jahren selbst Weiber, die wieder deutsche Hunde gebären..." Dann streiten sie noch eine Weile miteinander, wer von ihnen als erster sterben soll, es siegt zu allem noch der Verworfenste, der dem Vater auch das letzte noch antun will. So hebt er schließlich den Kolben, schmettert das vierjährige Mädchen mit einem Schlag zur Unkenntlichkeit, das Söhnchen aber müssen sie am Vater selbst erschlagen, das deckt der mit dem breiten Leib so lange, bis er selbst durch Hiebe auf den Kopf zusammenbricht...

Aber nicht alle werden gleich dort erschlagen, wo man zufällig in den Hofen auf sie stößt. Ein Offizier läßt sechsundvierzig von ihnen zusammentreiben, am Rande eines kleinen Waldes vor einem Hang aufstellen. "Mit euch werden wir jetzt Schießübungen machen", erklärt er zynisch, "auf diese Weise lernen meine Soldaten es am besten!"

Er schickt einen Melder an die Linie des Regiments, läßt den dortigen Schützen ausrichten, daß gleich lebendige Scheiben über die Kimmung kämen, an denen sie fleißig das Treffen üben könnten. Dann teilt er sie in drei gleiche Gruppen ab, läßt sie ein langes Glied zu zweien bilden, sagt zum ersten Paar mit bösem Lachen: "Nun lauft los, dort den Hang hinauf - wer nicht getroffen wird, darf sein Leben behalten!"

Die sechsundvierzig Deutschen stehen wie erstarrt, die ersten sind zwei Männer, der eine heißt Gustav Schubert, er ist schon fünfundsechzig Jahre alt, der zweite heißt Kurt Kempf, er ist erst zweiundzwanzig Jahre [38] alt. "Du hast noch Aussichten", sagt der Greis, "aber meine alten Beine..."

"Wird's nun bald!" schreit der Offizier, zieht die Pistole. "Wer nicht laufen will, den erschieße ich selbst..."

Da laufen sie los, der Junge flieht in weiten Sprüngen, der Alte keucht nur humpelnd hinterher. Die vierundvierzig folgen ihnen mit starren Augen, aber auch dem Jungen hilft sein Springen nichts - zu viele stehen oben auf dem Hang mit schußbereiten Gewehren, es knattert fröhlich wie bei einer Hasenjagd über das weite Feld. Der junge Bursche fällt sogar zuerst, dann schlägt der Alte aufs Gesicht...

"Das nächste Paar!" brüllt der Offizier. "Das sind Schützen!" Die herumstehenden Soldaten klatschen Beifall, in der Nähe spielt jemand auf der Ziehharmonika, er spielt einen heiteren polnischen Volkstanz.

Die nächsten beiden sind ein Ehepaar, es ist der alte Bauer Jaensch mit seiner Frau. "So komm denn, Hedwig", flüstert er heiser, "gib mir deine Hand - sind wir durchs Leben zu zweit gegangen, wollen wir auch im Tod zusammengehen..."

Auch diese beiden kommen nicht einmal halb den Hang hinauf, dann stürzen sie gemeinsam wie sie liefen ins hohe Gras...

Die dritten beiden sind wiederum ein Ehepaar, Hemmerling mit Namen, sind jung verheiratet, beide im besten Alter von dreißig Jahren. Die junge Frau verliert im letzten Augenblick den Mut, ist nur mit Kolbenschlägen [39] von seinem Halse loszumachen. "Sei vernünftig, Erna", bittet der Mann, "sollst einmal sehen, wir beide schaffen es, sind doch noch jung, müssen nur im Zickzack laufen..."

"Wird's jetzt bald!" schreit der Offizier durch die Zähne, in denen sich eine Zigarette klemmt.

Da laufen auch sie, aber die junge Frau hat so schwache Knie, daß er sie förmlich mit sich zerren muß. So trifft denn auch sie der erste Schuß, er aber läuft von diesem Augenblicke an nicht mehr weiter, nimmt sie am Boden kniend in die Arme, wiegt sie solange mit ergreifender Bewegung hin und her, bis er selbst lautlos über ihr zusammensinkt...

So geht es weiter, bis die erste Gruppe, sechs Paare mit zwölf Menschen, den Hang mit kleinen Haufen übersät. Gerade treibt der Offizier das erste Paar der neuen Gruppe an, als über den Hang herunter ein höherer Kommandeur auf sie zukommt. Er sieht den anderen nur mit kurzem Blicke an, sagt dann wie mit erstickter Stimme: "Ist jetzt genug gemordet - ihr anderen könnt gehen."

Da tritt Else Kubatz vor, ein tapferes junges Mädchen, das jetzt als zweite steht, sagt mit bittender Stimme: "Wenn Sie uns schon retten wollen, geben Sie uns ein Papier, sonst schießen sie uns hinten doch zusammen..."

Der Offizier sieht sie kurz an, zieht einen Block aus der Tasche, schreibt ein paar Zeilen drauf. "Nun könnt ihr ruhig nach Hause!" sagt er dann, reicht ihr den Zettel mit kleiner Verbeugung zu.

[40] Aus der Gruppe bricht lautes Schluchzen, das Mädchen nimmt den Zettel, setzt sich allen an die Spitze, so ziehen die Geretteten ins Dorf zurück. Sie haben aber kaum die Dorfstraße erreicht, als der mörderische Offizier von neuem auftaucht, von einem Haufen johlender Soldaten begleitet. "Zurück mit euch!" brüllt er rasend. "Ich werde euch..."

Die Soldaten schlagen auf sie ein, ein paar Sichweigernde werden niedergeschlagen, das Mädchen hebt bittend den Zettel auf. "Her mit dem Wisch!" ruft der Offizier, reißt ihn ihr aus der Hand, zerreißt ihn zu kleinen Fetzen. So ziehen sie denn auf den alten Platz zurück, sind nach kurzem wieder, wo sie beim ersten Male standen. Als erstes Paar steht jetzt Johanna Schwarz, an ihrer Hand der dreijährige Erhard Prochnau, dessen langjähriges Kindermädchen sie ist. Als zweites Paar ein junges Mädchen namens Irma, neben ihr die tapfere Else Kubatz, als drittes Paar Frau Hanke mit ihrem Pflegesohn, einem blonden Knaben von sieben Jahren.

"Nun vorwärts - wie vorher!" schreit der Offizier, zieht die Peitsche durch die Luft.

Erhard
Prochnau
Erhard Prochnau, 3 Jahre. Zugehörig zur Mordgruppe Eichdorf-Netzheim. Mit dem Kinde wurde das Kindermädchen, Johanna Schwarz, 45 Jahre, ermordet. Ausschußloch in der linken Unterschlüsselbeingrube. Der zugehörige Einschuß in der rechten oberen Schulterblattgegend auf gleicher Höhe von 71 cm. Der waagrechte Schußverlauf in so geringer Höhe zeigt an, daß der Knabe auf dem Arm seiner Pflegerin erschossen wurde.
Sekt.-Nr. - Br. 76 (OKW./H.S.In.)
Größer
Da macht das Kindermädchen mit einem Aufschluchzen die erste Bewegung, weil aber der Kleine mit seinen winzigen Beinchen nicht Schritt halten kann, nimmt sie ihn nach wenigen Sprüngen auf den Arm. Johanna Schwarz hat einen zu kurzen Fuß, sie kann dadurch fast gar nicht laufen, sich nur in eigenartigen Sprüngen vorwärts schnellen, so erreicht eine der vielen Kugeln sie denn [41] auch bald - aber sie läßt ihren Schützling nicht fallen, mit ihm im Arme sinkt sie auf die Knie, wälzt sich im Tode noch wie schützend über ihn, obwohl es auch ihm selbst schon die kleine Brust zerriß. Aus der Gruppe der Zurückgebliebenen steigt ein spitzer Schrei, eine junge Frau folgt weit vorgebeugt dem Laufe des Mädchens, sie hat einen sechs Monate alten Säugling auf dem Arm, ein vierjähriges Mädchen an der linken Hand. Es sind die Geschwister des kleinen Prochnau, sie selber aber ist die Mutter dieser drei...

Jetzt ist die Reihe an dem Mädchen Irma, im letzten Augenblick aber wirft es sich zurück, drängt es sich zitternd nach hinten, so daß Else Kubatz plötzlich allein steht. Sie blickt einen Atemzug fragend auf die Reihe, aber über ihre Lippen kommt kein einziges Wort. Schon macht sie eine Bewegung, um den Weg allein anzutreten, als sich Frau Hanke unvermittelt vor sie schiebt: "Laß mich erst!" stößt sie hervor. "Ich halte es nicht mehr aus, ich will nicht mehr..." Sie wendet sich ein wenig, schiebt den Knaben vor sich hin, sagt klanglos zu dem Offizier: "Laßt wenigstens dies Kind, es ist eine Waise, ist mein Pflegesohn..."

"Keine Ausnahmen hier!" sagt der nur. "Auch die Nester müssen leer werden..."

Der Kleine dreht sich um, wirft sich gegen ihren Leib, gräbt sein Gesicht in ihre Schürze, schreit erstickt in sie hinein: "Wenn sie dich hier erschießen, will auch ich nicht mehr leben..."

[42] Da nimmt die Frau den Pflegesohn still an der Hand, geht dann mit unbeweglichem Gesicht, den Oberkörper steil aufgereckt, in langsamen Schritten ihren Todesweg - der kleine Leib an ihrer Seite bebt wie Laub, die kleine Hand zittert in ihrer großen wie ein Vögelchen, aber auch über seine Kinderlippen kommt keine Klage mehr. Das Geschrei der Soldaten hält einen Augenblick inne - ergreift die Haltung jener Frau selbst diese Unholde? Nur die Ziehharmonika singt langgezogen weiter, die schon von Anfang ein Soldat spielt, der an der nahen Feldküche auf einer Kiste sitzt. Das Feuer unter dem Kessel knistert deutlich herüber, aus ihrem Schornstein kräuselt friedlich blauer Rauch, das Lagerleben der Soldaten spielt sich hundert Meter weiter ab, als ob auf diesem Platz nicht das geringste geschähe...

Jetzt ist die Reihe unabwendlich an Else Kubatz. In diesem Augenblick tritt aus dem Lager zum zweitenmal der Kommandeur, bleibt vor dem andern Offizier mit dünnem Munde stehen, sagt kaum vernehmlich durch die aufeinandergepreßten Zähne: "Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß es jetzt genug ist mit der Mörderei!" Dann zieht er wieder den Block heraus, schreibt zum zweitenmal einen Zettel, reicht ihn wiederum dem großen Mädchen Else...

Im Wald 
bei Targowisko
Viehtränke im Walde bei Targowisko, in die, zusammen mit einem Tierkadaver, 15 Leichen ermordeter volksdeutscher Kinder, Frauen und Männer geworfen wurden.
Keiner der dreißig weiß mehr, wie er von diesem Platze kam, aber sie erreichten alle ein Haus, es geschah ihnen auch nichts mehr. Die Leichen der Erschossenen aber schleiften die Soldaten noch am gleichen Tage in den [43] Wald von Targowisko, einen alten Föhrenwald, zwischen dessen riesigen rötlichen Stämmen in stiller Schönheit viele schneeige Birken stehen. Mitten in diesem Walde liegt eine Viehtränke, ein tiefes Loch im gelben Lehm, in dieses Wasserloch warfen sie die Toten. Es war jedoch nicht tief genug für alle, so blieben mehrere Gesichter überm Wasser. Als letztes hatte man die kleinen Kinder hineingeworfen, so daß sie fast unbedeckt auf den Körpern der anderen lagen, der dreijährige Prochnau lag zufällig neben seinem treuen Kindermädchen, der siebenjährige Pflegesohn Busse aber in den Armen einer alten Frau. Als allerletztes aber hatte ein Pole einen toten Hund herbeigeschleift, ihn unter wildem Siegesgelächter zu ihnen hinabgeschleudert: "Mögen sie mit dieser Hundetöle zusammenliegen, die verfluchten Deutschen, da sie doch einmal hundeblütig sind..."


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Der Tod in Polen
Die volksdeutsche Passion