Kapitel 6: Mord am Jesuitersee Um die gleiche Stunde trieb man noch einen anderen Haufen auf der Straße nach Hohensalza dahin, der aber zog an der brennenden Kirche vorbei die gerade Straße weiter dem Jesuitersee zu. Diesmal waren es an fünfzig Menschen aus dem Bromberger Stadtbezirk, die man wohl anfänglich lediglich zur Evakuierung aus der Stadt gebracht hatte. Kurz hinter der Kirche ließ der Transportführer jedoch halten, gab darauf den Befehl, die Frauen mit den Kindern aus dem Trupp herauszunehmen. Man riß die Frauen von den Hälsern ihrer [44] Männer, die Kinder von den Armen ihrer Väter, jagte die Männer dann in eine nahe Schneise und ließ sie dort in zwei Gliedern Aufstellung nehmen, während die Frauen von ihrem Platze aus zusehen mußten. Zwei Soldaten hoben ein Maschinengewehr vom Wagen, brachten es in der Mitte zur Aufstellung, schwenkten es probeweise von Flügel zu Flügel durch. In diesem Augenblick kommt ein zweiter Trupp von Deutschen heran, der jedoch zu zwei und zwei an den Händen gefesselt ist. Die Maschinengewehrschützen halten inne, ein langes Palaver mit den Neuangekommenen beginnt. Die deutschen Frauen sehen mit starren Augen auf die streitenden Gruppe, wird sich ihre Eskorte oder die neuangekommene durchsetzen? Aber schließlich setzen die Neuen sich durch, das Maschinengewehr wird wieder aufgeladen, die neuen Gefangenen werden mit den alten vereinigt, das Ganze setzt sich wieder nach Osten in Bewegung. Nur die Frauen mit den Kindern bleiben zurück, sie sehen dem Zuge so lange als möglich nach, aber bald sehen sie nur noch eine hohe Staubwolke, die wie eine wandernde Säule unheildrohend über ihnen schwebt. Der lange Zug marschiert lautlos dahin, keiner darf mit dem anderen sprechen, sofort schlägt die Bewaffnung mit Kolben darein. Ihre Aufseher sind Feldgendarmen, durch ihre Roheit längst berüchtigt. Sie können keine zehn Schritte tun, ohne jemandem einen Fußtritt zu versetzen, ohne jemandem in die Nieren zu schlagen. [45] Von diesen jähen Rucken sind die Handgelenke der meisten blutig - da die scharfen Handschellen ihre Gelenke ohne jeden Spielraum verbinden, leidet fast immer auch der zweite unter solchen Schlägen mit. So strömt fast von allen Händen das Blut herab, bei vielen zudem von den Gesichtern, die oft von lauter Schlägen ganz verschwollen sind. Als sie am Jesuitersee vorüberkommen, der an einer Stelle bis auf hundert Meter an die Straße stößt, treffen sie auf eine dort lagernde Militärformation. Ein neues Palaver entspinnt sich, de Feldgendarmerie will anscheinend nicht weiter, sondern in ihrem angestammten Bezirk bleiben, so übergeben sie die Gefangenen dem Militär, fahren alsbald mit ein paar Wagen ins Stadtgebiet zurück. Kaum sind sie eine kurze Weile fort, als ein Offizier die Gefangenen wiederum antreten läßt, mit dem Gesicht zum See in einer langen Reihe aufstellt. Es sind jetzt insgesamt einundvierzig Männer, sie stehen etwa zehn Meter vom Ufer entfernt im weißen Sand, vor ihnen plätschert das Wasser mit leisen Wellenschlägen, in den nahen Binsen wiegt sich mit gläsernem Flüstern der warme Wind, die Sonne blitzt mit sommerlichem Gleißen auf der weiten Fläche, der Himmel ist so fleckenlos blau wie an einem Feiertag. Die meisten der Männer sind zahllose Male in diesem See geschwommen, war er nicht der beliebteste Ausflugsort der ganzen Stadtbevölkerung? Wie viele ihrer schönsten Feiertage haben sie hier verbracht, mit Frau und Kindern in [46] frohem Wasserspiel von morgens bis abends? Und nun sollen sie hier enden, gerade an dieser Stätte, an der sie so viele Male fröhlich waren? Sie sehen vor sich den langen Bootsteg, wohl sechzig Meter weit ins Wasser hinein, von dem sie ungezählte Male abfuhren, zu viert in einem der leichten Ruderkähne, oder auch als kleine Gesellschaft in einem schlanken Segelboot. Sie wissen hinter sich die vielen Pavillons, an denen es Kaffee gab, für die Kleinen Limonade, abends auch wohl eine Kapelle spielte, zu der man ausgelassen miteinander tanzte. Und nun sollen sie hier enden, gerade hier an ihrem Lieblingsplatz...? Keiner von ihnen darf sich umblicken, so werden ihnen die Minuten zu Stunden. So können sie auch nicht sehen, was man hinter ihnen treibt, aber sie hören sehr wohl das Klirren, das repetierende Gewehrschlösser von sich geben. Es ist zu Ende, denken sie alle, leb denn wohl, du schöner See, du blaues Wasser... Nie mehr werde ich in dir schwimmen, nie mehr mit leichten Ruderschlägen dich durchkreuzen, nie mehr mit weißen Segeln über dich hinweggleiten... Dennoch erhebt sich kein Schrei, erhebt sich kein einziges Bitten, so lang die Reihe der Todgeweihten auch ist, so viele junge Menschen auch darunter sind. Der eine sieht im Glast des Wassers seine Frau sich spiegeln, der andere vor sich im Sande noch einmal seine Kinder tollen, ein junger Mensch aber sieht jählings ein Gemälde vor sich, das er seit vielen Jahren seltsamerweise wie kein anderes liebt: Die Erschießung [47] der elf Schillschen Offiziere! Auch sie standen auf jenem Bilde wie sie hier, immer zu zweit und zweit aneinandergefesselt - so will er jetzt auch sterben wie sie, stirbt er nicht auch wie sie für Deutschland? Für jenes Großdeutschland, das er so glühend liebte, für das er seine ganze Jugend gearbeitet - nun wird er das geliebte Land nicht mehr erschauen, nun kann er nur eines noch für jene Erde tun, kann er nur noch anständig für sie sterben... Er ist gerade bei diesem Gedanken angelangt, nur anständig sterben, sagt er immer wieder vor sich hin, anständig wie sie, wie meine geliebten Schiffschen Offiziere - als in seinem Rücken ein fürchterliches Feuer anhebt, es sich aus einem Dutzend Gewehren schmetternd über sie ergießt, ein Hagel aus einem Dutzend Pistolen sich über sie wirft. Die eine Hälfte stürzt sofort zusammen, noch steht am rechten Flügel allein der Junge, sein Kamerad liegt tot an seiner Seite, nur sein Arm streckt sich noch zu ihm empor, seinem Handgelenk durch die Fessel unlöslich verbunden. Da reißt der junge Mensch sich mit der linken Hand das Hemd auf, schlägt sich mit der geballten Faust dröhnend auf die Brust, schreit in der Haltung des berühmten Leutnants von Wedell, schreit es so lange, bis auch er zusammenbricht: "Heil Hitler... Heil Hitler... Heil Hitler..."
"Erkennst du uns dort oben", schreit es in den Gefangenen, "kannst du von dort aus sehen, was hier mit deinen Brüdern geschieht? Oh, wirf doch deine Bomben herab, wenn du auch uns damit triffst - nur gib uns den letzten Triumph, daß sie in deinen Bomben enden..." Ein paar der Deutschen aber sind jählings wieder voller Klarheit, in irrsinniger Verzweiflung zerren sie an den Fesseln, die sie fast unlöslich an die schweren Leiber schon Gefallener ketten, wenn sie sich in diesem Augenblick nicht retten können... Aber es gelingt im ganzen nur sechs Männern, diese wenigen Sekunden zur Flucht zu benutzen, einer kann sich sogar in wildem Aufbäumen die Fessel eines Toten vom Handgelenk streifen, die anderen fünf sind Ungefesselte, zudem zum Glück auch nur leicht verwundet. Der von der Fessel Befreite, ein älterer Mann namens Reinhardt, springt sofort zum Wasser hinunter, schwimmt ungesehen zu einer ihn verbergenden Schilfinsel, ein anderer namens Gruhl erreicht einen der Pavillons, unter dessen Pfahlbauten [49] er unauffindbar wird. Die vier übrigen erreicht das Schicksal trotzdem, der eine von ihnen ist schon schwer verwundet, daß er bald darauf in einem jener Boote stirbt, das er gerade noch unbemerkt erreichen kann, die anderen werden auf ihrer Flucht am See entlang wie Hasen abgeschossen...
Da jedoch kaum die Hälfte von ihnen tot ist, die meisten doch erst schwer verwundet sind,
sich auch jetzt noch durch Schwimmen zu retten versuchen, erhebt sich nach diesen von der
Brücke aus ein neues Feuer. Manche klammern sich gleich an die Pfähle des
Steges,
ihnen zerschmettert man die Finger mit den Kolben, sticht man mit den Bajonetten in die Arme,
andere schwimmen mit letzter Kraft zu nahe liegenden Booten, klammern sich [50] mit ihren
zerschossenen Händen an ihre Ränder, ihnen zielt man so lange nach den bleichen
Gesichtern, die vor irrem Entsetzen kaum mehr die von Menschen sind, bis sie auch diesen
letzten
Halt loslassen, es auch sie mit jähem Ruck ins Wasser reißt. Lange noch taucht ein
blutiger Kopf nach dem anderen aus den Wellen, im Kampf mit dem Wasser flehentlich der
Brücke zugewandt, aber das Feuer der Soldaten verstummt erst endgültig, als auch
der letzte hilflos untersinkt...
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