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[Bd. 9 S. 84]

3. Kapitel: Die antibolschewistischen Mächte:
Italien, England, Deutschland.

1.

Durch drei Ereignisse trat Sowjetrußland im Herbst 1934 in den Vordergrund der europäischen Politik: durch seine Aufnahme in den Völkerbund, durch seine Beteiligung am spanischen Oktoberaufstand, durch seine enge Anlehnung an Frankreich. Parallel hierzu schob sich Italien durch drei Ereignisse in den Vordergrund der europäischen Politik: durch die österreichischen Wirren Ende Juli, durch den Marseiller Königsmord Anfang Oktober und durch den Beginn des abbessinischen Konfliktes Ende November 1934.

Die südeuropäische Kontinentalgroßmacht war von Frankreich ebenso wie die osteuropäische als ein Eckpfeiler für eine gegen Deutschland gerichtete Bündnis- und Einkreisungspolitik in Aussicht genommen. Im Frühjahr 1934, zur gleichen Zeit, da die Annäherung Frankreichs an Rußland geschah, nahm die Pariser Regierung auch engere Beziehungen zu Rom auf. Bald aber mußte Barthou erkennen, daß zwischen den Bestrebungen Italiens und Frankreichs tiefe Gegensätze bestanden.

Mussolini kannte zwei große außenpolitische Probleme: ein europäisches, den Donauraum, und ein afrikanisches, Erwerb von Kolonien. Im März 1934 hatte Mussolini seinen wirtschaftlichen Einfluß im Donauraum, in Österreich und Ungarn, durch die römischen Protokolle gefestigt. Er versuchte nach dem Wiener Operettenputsch vom 25. Juli seine Beziehungen zu Österreich durch eine etwas allzuscharf gegen Deutschland gerichtete Betonung zu vertiefen. Am 21. August traf Schuschnigg in Florenz ein, Mussolini empfing ihn am Bahnhof mit großem militärischen Gepränge. In der amtlichen Bekanntgabe wurde gesagt, beide Staatsmänner stimmten überein in bezug auf die Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit, die volle Autonomie Österreichs, aber der Geist der engen Zusammenarbeit [85] zwischen beiden Ländern solle erweitert und verstärkt werden; die Frage der Restauration der Habsburger stehe nicht zur Erörterung.

Das Interesse des Duce für den Donauraum reizte die Staaten der Kleinen Entente, die Tschechoslowakei, Rumänien und besonders Südslawien. Mit Argwohn blickten sie auf die Verengung der Bande zwischen Rom, Wien und Budapest und waren allzu leicht geneigt, eine "Verletzung der Friedensverträge" zu befürchten. Die ewige Angst vor dem Revisionismus beunruhigte Prag, Bukarest und Belgrad, denn eines Tages, so glaubten die dortigen Staatsmänner, würden Österreich und Ungarn, das starke Italien im Rücken, ja dieses selbst, eine Revision der Grenzziehung von 1919 fordern. Die kolonialen Forderungen, die Mussolini im Frühjahr 1934 stellte, ließen insbesondere Südslawien um seine dalmatische Küste zittern. Die Spannungen im Donauraum wirkten auch auf das Verhältnis zwischen Paris und Rom zurück. Der Besuch König Alexanders von Südslawien in Paris sollte hier eine Neuordnung vorbereiten und Barthou selbst wollte unmittelbar darauf nach Rom fahren, um die Politik Frankreichs, der Kleinen Entente und Italiens gleichzurichten. Sein Tod hinderte ihn daran.

  Folgen des Königsmordes  

Einem kritischen Höhepunkt strebten diese Spannungen durch die Ermordung des südslawischen Königs zu. Mitte Oktober bis Mitte Dezember 1934 ging Europa um Haaresbreite an einem allgemeinen südeuropäischen Kriege vorüber, der durch die Verbindung mit der Saarfrage ein allgemeiner europäischer Krieg hätte werden können.

Die letzten Hintergründe der Ermordung des Königs Alexander verlieren sich in geheimnisvolles Dunkel. Dieser König war der geniale Schöpfer des großserbischen Reiches. Sein Ziel war die Erziehung seines Volkes zu einem großen slawischen Einheitsstaate, ein Ziel, das er durch die Errichtung der Staatsdiktatur am 6. Januar 1929 zu erreichen hoffte. Man kann ihm wohl nicht die Ausschaltung und Entrechtung seiner kroatischen und mazedonischen Minderheiten zur Last legen, er bemühte sich vielmehr, die kulturellen Unterschiede zu überbrücken, wohl aber unterdrückte er rücksichtslos die staatsfeind- [86] lichen politisch-separatistischen Bestrebungen in diesen Minderheiten. Sie sollten alle sich erfüllen mit der Idee der großen Einheit aller Südslawen von der Adria bis zum Schwarzen Meer. Es sei bemerkt, daß dieser König kein Freimaurer war.

Nun war der König am 9. Oktober, noch nicht 46 Jahre alt, den Revolverkugeln eines Kroaten zum Opfer gefallen. Die Untersuchung ergab Zusammenhänge einer kroatischen Verschwörerorganisation, deren Mitglieder in Italien, Ungarn und Österreich Asylrecht genossen, und Zusammenhänge mit der Inneren Mazedonischen Revolutionären Organisation, deren Führer Iwan Michailoff war und die zu beiden Seiten der südslawisch-bulgarischen Grenze ihr dunkles Handwerk trieb.

Diese Feststellungen bildeten eigentlich nur den einen Teil der Enthüllungen, nämlich jenen Teil, der die unmittelbare Vorgeschichte des Mordes betraf und nun politisch ausgeweidet wurde. Demgegenüber versank der andere, interessantere und aufschlußreichere Teil ins wesenlose Dunkel, jener Teil, der nur durch gelegentliche Andeutungen berührt wurde und der sich mit der Frage beschäftigte, wie die Ausführung des Mordplanes überhaupt möglich war. Die wesentlichen Punkte sind diese:

1. Anfang September 1934 ist in Brüssel das Todesurteil über König Alexander gefällt und sogleich in der internationalen Presse veröffentlicht worden (Baron Aloisi im Völkerbund am 8. Dezember 1934).

2. Unmittelbar nach dem Mord beschuldigt die südslawische Presse die Direktion des französischen Sicherheitswesens, daß diese der serbischen Regierung abgeraten hat, König Alexander die ihn sonst begleitenden vierzig Geheimpolizisten auf seine Reise mitzugeben, obwohl bereits 1933 ein Attentat auf den König versucht worden war!

3. Nach der Feststellung der französischen Behörden und Öffentlichkeit hat der Präfekt des Departements Bouches du Rhone noch nicht einmal den normalen französischen Polizeischutz gestellt. Es drängt sich unwillkürlich die Frage auf, ob nicht zwischen den revolutionären Organisationen und anderen Verbänden, z. B. der revolutionären Freimaurerei, eine Beziehung bestand, ähnlich derjenigen, die durch den Prozeß gegen die Mörder des Erzherzog Thronfolgers Franz Ferdinand 1914 aufgedeckt wurden! Man könnte [87] vielleicht dann eine Gemeinsamkeit der Erscheinungen feststellen, die 1914 zur Ermordung des Erzherzog-Thronfolgers, 1931 zum Sturz der Monarchie in Spanien und 1934 zur Ermordung des diktatorischen Königs von Südslawien führten. In diesem Zusammenhange sind auch noch zwei andere Tatsachen merkwürdig: Die Untersuchung wurde in Frankreich und in Südslawien geführt; aber Frankreich hatte den Schlüssel zum Geheimnis in der Hand; die leidenschaftlichen Angriffe Südslawiens auf Frankreich verstummten sehr plötzlich und wurden abgelöst durch noch leidenschaftlichere Angriffe auf Italien und Ungarn. Der Streit um den Mord wurde durch Frankreich verlegt auf das hochpolitische Gebiet der heftigen Auseinandersetzung zwischen den Anhängern und den Gegnern der Vertragsrevision. Frankreich stempelte den Ermordeten zum Opfer revisionistischer Mörder.

Die französische Presse gab das Signal: bereits am 10. Oktober erhob sie wilde Vorwürfe gegen Ungarn, das die kroatischen Emigranten begünstigt habe! Damit war die Angelegenheit auf dem Geleis, auf dem Frankreich sie haben wollte: Aufrollung des Donauproblems gegen Italien! In Südslawien selbst mußte dieser Funke sozusagen ins Pulverfaß fallen, denn in Agram, Serajewo, Laibach und anderen Städten ereigneten sich schwere italienfeindliche Tumulte; die Redner klagten Italien an, das alle bisherigen Anschläge gegen das Leben des Königs finanziert und vorbereitet habe. Eine neue Welle schwerer Anklagen wurde durch die Bemerkung eines italischen Rundfunksenders hervorgerufen, der von der "unhaltbaren Lage" Südslawiens und der bevorstehenden Auflösung des Staates sprach. Die südslawische Regierung wurde daraufhin beim italischen Außenminister vorstellig, bat um Aufklärung, weshalb die italische Garnison in Zara in den letzten Tagen erheblich verstärkt worden sei, und erklärte, in Belgrad sei man überzeugt, daß kroatische Revolutionäre italische Unterstützung erhalten hätten, es gebe eine Geldwährung "Ruma", die den Wert einer Lira habe.

Die immer noch im Laufe der Untersuchung aufflackernde südslawische Erbitterung gegen Frankreich wußte dieses geschickt auf Ungarn abzulenken. Das Ergebnis der in Belgrad [88] und Paris geführten Untersuchung war dies: In Ungarn hatte bis zum April 1934 das Lager Janka Puszta für kroatische Emigranten bestanden; nach seiner Auflösung hätten die Emigranten mit Wissen und Unterstützung ungarischer Behörden ihre Umtriebe in Sunda Puszta fortgesetzt; die Kroaten seien ausgezeichnet bewaffnet gewesen und hätten nächtliche Schießübungen abgehalten. Von Janka Puszta hatten sich der Oberstleutnant Pertschewitsch und General Sarkotitsch nach Wien begeben. Pertschewitsch unterhielt engste Beziehungen zu habsburgischen Legitimisten, arbeitete mit an den Zeitungen Der Österreicher, Wiener Zeitung und Reichspost, die ihn als "angesehenen und ehrenhaften Mann" verteidigten. – Ein anderes Lager kroatischer Emigranten war in Borgotaro in Italien; hier befand sich die 400 Köpfe zählende Organisation Ustascha unter der Führung von Dr. Pawelitsch und Kwaternik. Pawelitsch hatte mit der Firma Angelini und Bernardon in Triest wegen Ausrüstung und Bewaffnung der Aufständischen in Verbindung gestanden. – Eine dritte Gruppe nun war die der Mazedonier des Iwan Michailow, der Ende Oktober von der türkischen Polizei verhaftet wurde, weil Jugoslawien und Bulgarien seine Auslieferung verlangten.

In Paris wurde festgestellt: Die Schuldigen am Königsmord sind Pawelitsch, Kwaternik, Michailow, der in Belgien verhaftete Dr. Peritsch, General Sarkotitsch und Oberstleutnant Pertschewitsch. Und zwar war die Sache so: Pawelitsch erteilte den Mordauftrag, er bestimmte den Haupttäter Georgieff (Kalemen, Jude!), Pertschewitsch, der mit ungarischen Generalstabs- und Truppenoffizieren aufs engste zusammengearbeitet hätte, wählte in Janka-Puszta ebenfalls eine Gruppe von drei Mann durch das "Schwarze Los" aus, die den Anschlag ausführen sollten. In Zürich hat Kwaternik mit Georgieff (Kalemen) die aus Ungarn kommende Dreiergruppe erwartet; Kwaternik verteilte Geld und Waffen, die, wie die italische Polizei zugab, bei der Triester Firma gekauft worden seien. Pawelitsch und Kwaternik saßen in Turin in Haft, die von Frankreich geforderte Auslieferung lehnte Italien ab.

Ein unerhört scharfer und erregter Notenwechsel zwischen Belgrad und Budapest füllte die Oktober- und November- [89] wochen aus. Rücksichtslos wies die südslawische Regierung die in ihrem Staatsgebiete wohnenden Ungarn aus. Die Siedehitze stieg auf einen derartigen Punkt, daß der europäische Friede aufs ernsteste gefährdet war.

Am Nachmittag des 22. November wurde dem Völkerbund die südslawische Beschwerdenote gegen Ungarn überreicht: Ungarn habe durch Duldung den Verbrecherorganisationen Vorschub geleistet; auf dem Gebiete eines fremden Staates würden Berufsverbrecher ausgebildet und geschult, die den Auftrag hätten, eine Reihe von Anschlägen und Morden zu einem bestimmten politischen Zweck (d. h. zwecks Erschütterung der antirevisionistischen Staaten!) auszuführen. "Die Erleichterungen und der Schutz, dessen sich die Verbrecher auf ungarischem Gebiet während ihrer eingehenden und langen Vorbereitungen erfreut haben, sind kaum glaublich!" Ein Satz, der Ungarn den Krieg androhte, wurde im letzten Augenblick weggelassen. – Frankreich war befriedigt.

Die ungarische Note vom 14. November, welche die Vorwürfe zurückweist und sofortige Behandlung der südslawischen Beschwerde vor dem Völkerbundsrat verlangte, ließ an Schärfe des Tones auch nichts zu wünschen übrig. In Rom wurde Ungarns Forderung sofortiger Behandlung der Angelegenheit gebilligt, was den Franzosen und den Engländern nicht paßte.

Am 5. Dezember 1934 begann die außerordentliche Völkerbundstagung. Beiderseits der südslawisch-österreichischen und der südslawisch-ungarischen Grenze marschierten bereits kampfbereite Truppen auf. Vier höchst kritische Tage waren der 7. bis 10. Dezember, als die Marseille-Angelegenheit vor dem Völkerbund verhandelt wurde. Der südslawische Außenminister Jeftitsch erhob schwere Anklagen gegen Ungarn. Marseille sei das "logische Endergebnis der von der ungarischen Regierung auf ihrem Boden gebildeten verbrecherischen Umtriebe". Er forderte ein internationales Abkommen zum Schutze gegen den "fehlenden guten Willen gewisser Regierungen". Er drohte mit dem Austritt Jugoslawiens aus dem Völkerbunde, wenn seine berechtigten Forderungen nicht erfüllt würden. Frankreich, Rußland, die Tschechoslowakei und Rumänien unter- [90] stützen Jeftitsch. Der junge politische Block Frankreich – Kleine Entente – Rußland stand in geschlossener Front.

Aloisi, Italiens Vertreter, nahm Ungarns Partei. Dies habe ein Recht, die Klärung der Anklagen zu verlangen. Schon 1927 habe Ungarn einen Freundschaftsvertrag mit Jugoslawien vorgeschlagen, den dieses aber zurückgewiesen habe. Gewiß, Ungarn strebe nach einer Revision der Friedensverträge, aber nicht auf terroristischem, sondern auf friedlichem Wege. Der Völkerbund solle eine normale Atmosphäre des Vertrauens schaffen.

Schroff standen die Auffassungen gegeneinander. Der Königsmord trat in den Hintergrund. Viel wichtiger war jetzt die Auseinandersetzung der beiden Mächte Frankreich und Italien. Am 10. Dezember, kurz vor Mitternacht, gelang Eden schließlich eine Vermittlung: Ungarns gute Absichten werden anerkannt, der Rat bittet Ungarn, diejenigen Maßnahmen mitzuteilen, die es zur Bestrafung gewisser nachlässiger Behörden ergriffen habe; ein Sachverständigenausschuß soll ein internationales Abkommen zur Unterdrückung des Terrorismus schaffen. – Ungarn seinerseits versprach nochmalige Untersuchung der Schuld gewisser Beamter und einen Bericht über das Ergebnis an den Völkerbund.

Die Genfer Lösung war ein Erfolg Englands. Es wollte Frieden in Europa und diktierte ihn. Es hatte kein Verständnis für irgendwelche Experimente, die das bestehende politische System erschüttern konnten. Vor allem aber hatte der Völkerbund durch einen tatsächlichen Erfolg sein moralisches Ansehen teilweise wiedergewonnen. Darauf kam es den Engländern, die den Völkerbund als die Stelle betrachteten, durch die sie zur Welt sprachen, ganz besonders an. Den ideellen Wert dieser Lösung, die in ausgesprochenem Gegensatz zu den Bestrebungen des französisch-russischen Blockes stand, wußten die Engländer sehr wohl zu schätzen. Den Nutzen trugen Italien und Ungarn davon, und so durfte mit einigem Recht der ungarische Außenminister Kanya am 12. Dezember in einem Privatgespräch mit einem Pariser Journalisten in Genf behaupten: "Mussolini wird Ungarn niemals opfern, selbst wenn es sich um das Einvernehmen mit Frankreich handelt." Man hatte in Belgrad das gleiche Gefühl. Dort fand am [91] 17. Dezember eine gewaltige und leidenschaftliche Kundgebung von 10 000 Menschen gegen Österreich, Ungarn, vor allem aber gegen Italien statt. Mussolini wurde mit starken Schmährufen bedacht.

Bis in die innere Politik Jugoslawiens hinein wirkte die gewaltige Hand Englands. Die erst Ende Oktober neugebildete Regierung Uzunowitsch, die sich auf strikte Einhaltung des bisherigen Kurses festgelegt hatte, trat am 18. Dezember zurück, nachdem Außenminister Jeftitsch nach seiner Rückkehr aus Genf aus innerpolitischen Gründen ausgeschieden war. Jeftitsch bildete jetzt eine neue Regierung mit völlig neuem Kurs: Bruch mit der Diktatur, Verständigung mit Italien, Einbeziehung der nationalen Minderheiten, Kroaten, Slowenen und bosnische Mohammedaner. Er zog Persönlichkeiten heran, die bisher in der Opposition oder überhaupt außerhalb des politischen Lebens standen. Eine solche Regierung bot eine sichere Grundlage für Ruhe und Frieden, sie trug dazu bei, daß dem politischen Terrorismus der bisher ausgeschalteten nationalen Minderheiten der Boden entzogen wurde. England, das in seinem Empire die Gleichberechtigung der Nationen anerkannte, bewirkte, daß die ständige Unruhequelle in Südosteuropa, die exklusive großserbische Idee, im Interesse des Friedens zurücktrat. –

  Italien und Frankreich  

2.

Etwa zu der Zeit, da die südslawische Krisis ihrem Höhepunkte zustrebte, Ende November 1934, kam auch die Kolonialfrage Italiens ins Rollen. Als die großen Mächte Ende des 19. Jahrhunderts Afrika unter sich verteilten, war Italien schlecht weggekommen. Es mußte sich mit Massaua in Erythräa (1884) und Giuba im Somaliland (1889) begnügen. Im Dezember 1900 räumte Frankreich Italien freie Hand in Tripolis ein, um den Dreibund zu erschüttern. Im Verhältnis [92] zu den anderen Mächten war der Kolonialbesitz der Mittelmeermacht Italien in Afrika sehr geringfügig. Bevor Italien 1915 in den Weltkrieg eingriff, schloß es mit den Alliierten am 26. April 1915 einen Vertrag, worin es sich unter anderem eine Erweiterung der afrikanischen Kolonien zusichern ließ.

Im Frühjahr 1934 verkündete Mussolini, das italische Volk sei ein Volk von Bauern und Matrosen, das seine Zukunft in Asien und Afrika suchen müsse. Die Entwicklung in Europa kam ihm zu Hilfe. Barthous gegen Deutschland gerichtete Einkreisungspolitik suchte auch in Rom einen Stützpunkt. Das war der Augenblick, wo der Duce seine Freundschaft preiswert verkaufen konnte: er berief sich auf den bezüglich der Kolonialfragen noch nicht eingelösten Vertrag von 1915 und forderte von Frankreich einen Gebietsstreifen, der südlich von Lybien über Tibesti durch die Sahara bis zum Tschad-See hinunterreichte, er verlangte ferner Nationalitätenschutz für die in Tunesien wohnenden hunderttausend Italier, und schließlich versuchte er er auch noch Französisch-Somaliland mit dem Hafen von Djibuti zu erlangen. Seine Grundidee war die der Dreiteilung Afrikas: Für Frankreich der Westen, für England die Mitte (Kairo–Kapstadt), für Italien der Osten. Der Scheitelpunkt dieses Systems sollte der Tschadsee sein. Die Verhandlungen waren außerordentlich schwierig, sie schleppten sich Monate hin, besonders, seitdem sich Frankreich für Rußlands Eintritt in den Völkerbund eingesetzt hatte, und diese Verzögerung war schuld daran, daß Barthou und dann Laval ihren angekündigten Besuch in Rom immer weiter hinausschoben. Im November meinten die französischen Staatsmänner, Italien solle als Gegenleistung für ein Entgegenkommen Frankreichs in Flotten- und Kolonialfragen die bisherige Unterstützung der ungarischen Revisionsforderungen aufgeben, denn es sei doch für Frankreich unmöglich, mit Italien ein politisches Abkommen zu schließen, wenn dessen Beziehungen zur Kleinen Entente und insbesondere zu Südslawien so schlechte seien. Man glaubte in Paris, die Marseiller Untersuchungsergebnisse als möglichst billiges Druckmittel gegen Italien verwenden zu können, man wollte sie sogar möglichst lange verwenden und wünschte daher eine Erörterung der südslawischen Angelegen- [93] heit im Völkerbund erst im Januar. Doch umsonst! Bereits am 10. Dezember 1934 war die mit so viel Lärm begonnene Sache durch England erledigt. Frankreich hatte seine Trümpfe und das Spiel verloren, es war jetzt, Mitte Dezember, bereit, als Grundlage für eine Besprechung zwischen Mussolini und Laval folgende Zugeständnisse zu machen: Abtretung eines breiten Landstreifens südlich von Lybien und westlich vom Sudan, Abtretung des nördlichen Zipfels von Französisch-Somaliland mit Ausnahme von Djibuti und Abschluß eines Handelsvertrages sowie eines Freundschaftsvertrages. Einst hatte Frankreich Ägypten geopfert (1898), um Englands Freundschaft gegen Deutschland zu gewinnen, dann hatte es Tripolis geopfert (1900), um den Dreibund zu sprengen, jetzt wollte es Teile seines afrikanischen Besitzes opfern, wenn es dadurch möglich wurde, Österreichs Unabhängigkeit zu retten und doch zugleich Italien in den großen gegendeutschen Block einzugliedern.

Es war vorauszusehen, daß solch ein Plan in der französischen Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung und Empörung hervorrief. Kein Fußbreit des Kolonialbesitzes den Italiern! hieß es überall. Besonders bei den Antifaschisten gingen die Wogen der Empörung hoch. Aber die französische Regierung glaubte, durch ihr Opfer Italiens Freundschaft zu erkaufen. Der englischen Zustimmung fühlten sich die Franzosen sowieso sicher. Nachdem in Jugoslawien eine gemäßigte Richtung ans Ruder gelangt war, mußte auch Mussolini gewisse Zugeständnisse zu machen. Das, was Frankreich nun als Entgelt für sein Entgegenkommen in Kolonialfragen vom Duce forderte, sah Ende Dezember 1934 so aus: ein Garantieabkommen über die Unabhängigkeit Österreichs, das von Italien, Südslawien und der Tschechoslowakei unterzeichnet werden sollte; Frankreich, Deutschland, England, Ungarn und Rumänien sollte der Beitritt offen stehen; dazu ein Garantiepakt zur gegenseitigen Anerkennung der Grenzen. War Mussolini nun schon bereit, diese Pakte zu unterzeichnen, so wehrte er sich doch gegen Rumäniens Beteiligung, er wollte nicht, daß die Kleine Entente als Staatenblock beteiligt würde, wodurch das Übergewicht Frankreichs im Donauraume geschaffen würde.

[94] An der Jahreswende 1934/35 verwässerte Österreich den französischen Donauplan gründlich. Die Wiener Regierung beanstandete in Paris die Beteiligung der Nachfolgestaaten am Garantiepakt, und ganz bescheiden schraubte Laval jetzt seine Ansprüche auf einen zwischen Frankreich und Italien abzuschließenden Nichteinmischungspakt zurück, er verzichtete auf einen Garantiepakt unter aktiver Beteiligung der Kleinen Entente. Jetzt lud Mussolini, dem es darauf ankam, in Afrika freie Hand zu erhalten, Laval telefonisch nach Rom ein, und am 4. Januar 1935 traf der französische Außenminister zu zweitägigen Verhandlungen in Rom ein – etwas zu kühl empfangen, wie die Franzosen meinten.

Mussolini und Laval unterzeichnen die römischen Protokolle.
[Bd. 9 S. 144b]      Mussolini und Laval
unterzeichnen die römischen Protokolle.
In der Mitte stehend: Baron Aloisi.

Photo Scherl.
In fünf Protokollen wurde nun die gemeinsame Politik beider Staaten festgestellt. Drei Protokolle betrafen Afrika; Frankreich trat südlich Lybien im Tibestigebiet ein großes Stück (114 000 qkm) an Italien ab, jedoch ohne ihm den Zugang zum Tschad-See zu gewähren; auch in Französisch-Somaliland willigte Frankreich in eine Grenzberichtigung zugunsten Italiens. Bezüglich der Italier in Tunis setzte sich der französische Standpunkt durch: zehnjährige Verlängerung des gegenwärtigen Zustandes mit anschließender Überleitung in die normale Einbürgerungsgesetzgebung. Italien verzichtet auf die Nationalitätenvorrechte des Abkommens von 1896. Jedoch die Gefahr für Frankreich, daß die Zahl der in Tunis lebenden Italier wesentlich größer als die der Franzosen ist, wurde dadurch nicht beseitigt. Die stille Italisierung von Tunis ging weiter. In einem anderen Protokoll wurde die gemeinsame italisch-französische Politik in Südosteuropa behandelt, hierin wurde auch ein französisch-italischer Konsultativpakt über ein gemeinsames Vorgehen bei Bedrohung der österreichischen Unabhängigkeit aufgenommen und schließlich eine Empfehlung an die Nachbar- und Nachfolgestaaten, ein Abkommen über gegenseitige Achtung ihrer Grenzen und Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten abzuschließen. Dieser zweite Pakt sollte zwischen Italien, Deutschland, Österreich, Ungarn, Tschechoslowakei, Polen, Rumänien, Südslawien geschlossen werden, und diese Staaten sollten auch eingeladen werden, dem französisch-italischen Konsultativpakt beizutreten. Ein letztes Protokoll beschäftigte sich mit Rüstungsfragen. (Vgl. Anlage 6.)

[95] Hatte Mussolini durch die Einigung mit Frankreich und seinen Trabanten, der Kleinen Entente, die auf der Konferenz von Laibach am 11. Januar den römischen Beschlüssen zustimmte, zwar auf seine bisherigen revisionistischen Ziele im Donauraum verzichtet, so hatte er doch die Möglichkeit freierer Entfaltung in Afrika, wo die Auseinandersetzung mit Abessinien bevorstand, gewonnen. Frankreich aber hatte sich einen regelrechten Bundesgenossen gegen Deutschland verschafft. Der tiefere Sinn des römischen Vertrages war der: Frankreich war im Begriff, außerhalb des Völkerbundes ein Bündnissystem aufzubauen, das demjenigen der Vorkriegszeit, das der Einkreisung Deutschlands diente, sehr ähnlich oder gar gleich war. Außer der Kleinen Entente standen nun auch Rußland und Italien in der französischen Front. Aber das war eine sonderbare Verbindung. – Die Zukunft mußte lehren, wieweit der Bolschewist und der Faschist am Strange der bürgerlichen Republik Frankreich gemeinsam zu ziehen bereit waren.

3.

Nach dem Zusammenbruch der Abrüstungskonferenz im Juni 1934 standen die Dinge auf dem europäischen Festlande so, daß die drei Großmächte Frankreich, Rußland und Italien für die vom Führer Deutschlands beabsichtigte Friedensaufbaupolitik vorläufig nicht in Frage kamen. Denn auch Italien war vom österreichischen Putsch bis zum Ausbruch des abessinischen Krieges merklich verstimmt gegen Deutschland, eine Tatsache, die durch die französisch-italische Einigung vom Januar 1935 noch besonders unterstrichen wurde.

Es war gleichsam schicksalshaft, daß der Führer in Europa lediglich eine Großmacht fand, die mit ihm durch das gleiche ehrliche Streben nach dem Frieden und seiner Erhaltung verbunden war: Großbritannien. Es gibt in der neueren englischen Geschichte wohl kaum eine so bedeutsame Zeitspanne [96] wie die zweite Hälfte des Jahres 1934, in der die britische Politik eine so tiefe, innere Wandlung erfuhr.

Im ersten Kapitel zeigte ich die unmittelbare Folge, die die Erkenntnis vom Zusammenbruch der Abrüstungskonferenz in England bewirkt hatte: eine vorübergehende Erschöpfung der politischen Kraft, ein Hervortreten militärischer Elemente, heftige Aufrüstung in Anlehnung an Frankreich. Jedoch die Regierung des Empire war nicht willens, in die Fehler von 1919 zurückzufallen. Sie wußte, daß, nachdem Adolf Hitler den Bann von Versailles gebrochen hatte, Aufrüstung allein keine Friedensgewähr bildete. Nicht die Generäle dürfen den Gang der Dinge bestimmen, wie sie es in der auf Bündnisse gerichteten Politik Frankreichs taten, sondern die Staatsmänner; und wenn die aufrichtig den Frieden wollten, dann war er gesichert. Die nüchterne Erwägung, daß man dem neuen Deutschland die geforderte Gleichberechtigung nicht mehr versagen konnte, andererseits der Starrsinn der Franzosen und ihre Hinwendung zu Rußland führte ganz von selbst zu einer Annäherung Englands an das Reich, die durch das Entgegenkommen des Führers erleichtert und gefördert wurde.

  Flottenbesprechungen  

Jedoch bevor wir die Entwicklung der zu den größten Ereignissen führenden deutsch-englischen Annäherung verfolgen, müssen wir ein Ereignis betrachten, das wie eine dunkle Wolke über den Himmel der britischen Politik zog. Es waren die von Mitte Oktober bis Mitte Dezember 1934 auf Englands Veranlassung und Einladung in London abgehaltenen Vorbesprechungen für die 1935 geplante Flottenkonferenz.

Es gibt auf unserer Erde drei große maritime Hochspannungsgebiete: den Stillen Ozean, in dem sich die Interessen der Vereinigten Staaten und Japans kreuzen, den Atlantischen Ozean, an dem England, Frankreich und die Vereinigten Staaten beteiligt sind, und das Mittelmeer, wo Italien, Frankreich und England den Ausgleich ihrer politischen Ziele herzustellen haben. Dem Washingtoner Flottenabkommen folgte das Londoner Flottenabkommen, und dies sollte auf der für 1935 geplanten Konferenz revidiert werden. An diesem Londoner [97] Flottenabkommen waren nur England, die Vereinigten Staaten und Japan beteiligt gewesen. Frankreich war nicht erschienen, weil es sich weigerte, die Flottenparität mit Italien anzuerkennen; es beanspruchte eine größere Flotte, da es eine Mittelmeerküste und eine atlantische Küste zu schützen habe. Für England hatte das Beiseitestehen Frankreichs großen Nachteil gehabt. Denn Englands U-Bootsraum z. B. war in London auf 52 700 t begrenzt worden, während Frankreich 1934 bereits über 90 000 t U-Bootsraum verfügte!

Anderseits war Japan der Ansicht, daß die ihm in Washington und London auferlegte Flottenbeschränkung – es war für Vereinigte Staaten zu England zu Japan das Verhältnis 5 : 5 : 3 festgesetzt worden – wegen seiner wachsenden Bedeutung im Stillen Ozean nicht mehr gerechtfertigt sei. Hier geriet es in Meinungsverschiedenheiten mit den Vereinigten Staaten. Diese suchten jetzt in Rußland ein Gegengewicht gegen Japan und verlangten dessen Hinzuziehung zu den Londoner Vorbesprechungen, was aber von den Japanern abgelehnt wurde. Wenn nun die achtwöchigen Vorbesprechungen in London ergebnislos verliefen, so lag das daran, weil der japanische Admiral Yamamoto und der amerikanische Beauftragte Norman Davis nicht einig werden konnten.

Japan kam mit einem fertigen Programm nach London: Kündigung des Washingtoner und Londoner Abkommens, Parität im Verhältnis 4 : 4 : 4, Höchstmaß für Großkampfschiffe (20 000 Tonnen), Abschaffung der Flugzeugmutterschiffe als Kriegswaffe, keinerlei neue Uferbefestigungen, Beibehaltung der U-Bootsflotte durch Japan mit Rücksicht auf seine besondere geographische Lage am Stillen Ozean. Die Japaner erklärten, sie wünschten nicht etwa eine Flotte, die nun schon gleich so groß sei wie die britische, aber wünschten das Recht, ihre Flotte unter Umständen durch Neubauten auf den Umfang der britischen zu bringen. Obwohl sie anfänglich alle politischen Fragen abgelehnt hatten und sich nur auf technische Fragen beschränken wollten, sahen sie sich doch genötigt, gegen Ausgang November zur Begründung ihrer Forderungen politische Motive heranzuziehen: sie verlangten von vornherein die Absage an jeden Angriff und jede Bedrohung sowie die völlige Gleichstellung [98] mit den beiden anderen Mächten im Hinblick auf die nationale Sicherheit.

England und die Vereinigten Staaten standen mit besorgten Mienen diesen Forderungen des japanischen Meernebenbuhlers gegenüber. England regte bei den Vereinigten Staaten eine "Vertagung" der Vorbesprechungen an, diese waren einverstanden, doch Japan wollte weiterverhandeln. Am 19. Dezember 1934 vertagte dann Sir John Simon die Besprechungen. Sie hatten zwei Folgen: Die bisher etwas getrübten Beziehungen zwischen England und den Vereinigten Staaten wurden infolge der japanischen Haltung aufs neue gefestigt, Japan aber kündigte das Washingtoner Flottenabkommen; der japanische Ministerpräsident erklärte am 13. Dezember in Tokio, weil Amerika und England den japanischen Vorschlägen ablehnend gegenüberstünden, sei Japan gezwungen, das Abkommen zu kündigen. Am 29. Dezember empfing Staatssekretär Hull in Washington die Note, die den Wortlaut hatte: "Gemäß Artikel 23 des Vertrages von Washington gibt die japanische Regierung der Regierung der Vereinigten Staaten hiermit von ihrem Entschluß Kenntnis, den Vertrag zu kündigen, der nach dem 31. Dezember 1936 außer Kraft tritt."––

  Großbritannien und das Reich  

4.

Erfolgreicher waren Englands Friedensbemühungen in Europa. England dämpfte das Kriegsgeschrei, das Anfang November um das Saargebiet sich erhob. England besänftigte den Anfang Dezember sich zwischen Südslawien und Ungarn erhebenden Kriegslärm. England wirkte in Südslawien im Sinne einer Annäherung an Italien und in Italien im Sinne einer Annäherung an Frankreich. Ließ die französische Politik in den beiden widrigsten Fragen des ausgehenden Jahres 1934 deutlich das Hindrängen nach einer kriegerischen Lösung erkennen (Saar und Südslawien), so setzte England diesem Drange seinen absoluten Friedenswillen erfolgreich entgegen. Daß sich die englische Politik gegenüber der französischen durchsetzen konnte, ergab sich aus der ruhigen und sicheren [99] Haltung Adolf Hitlers. Dadurch wurde Deutschland Angelpunkt des europäischen Schicksals. Die Friedenspolitik des Führers ruhte auf zwei Pfeilern: auf der Ablehnung des Ostpaktes und auf der Annäherung an England.

Die Vertiefung der Beziehungen Deutschlands zu England begann mit Ausgang des Sommers 1934, und zwar zunächst auf wirtschaftlichem Gebiete. Schacht hatte eine Änderung in der Bewirtschaftung der Devisen vorgenommen, er hatte die nachträgliche Devisenzuteilung durch eine vorherige ersetzt, um den deutschen Importeuren die Möglichkeit zu geben, von vornherein zu überrechnen, wieviel Einfuhrware sie bezahlen können. Diese Änderung ging auf häufige englische Klagen zurück, Deutschland führe mehr Waren ein, als es hernach bezahlen könne. Allerdings war diese Neuordnung nun auch nicht nach dem Sinne der Engländer, sie sprachen von einer deutschen "Einfuhrkontrolle", die nicht mit dem deutsch-englischen Devisenabkommen übereinstimme. Die Folge dieser Meinungsverschiedenheit war eine von Schacht an den englischen Handel ergehende Einladung zu Besprechungen in Berlin.

Neben diesen Wirtschaftsverhandlungen wuchsen im Laufe der Herbstwochen politische Besprechungen von großer Tragweite heran. Ihr Erfolg wurzelte vor allem in jener englischen Erkenntnis, die Ministerpräsident MacDonald am 29. Oktober etwa so formulierte: Englands guter Wille zur Abrüstung sei fruchtlos gewesen, es sei jetzt an der Zeit, daß England an seinen Schutz denke. Allerdings mußte der Begriff Schutz eindeutig klargestellt werden. Es konnte sich hierbei nicht bloß um Aufrüstung handeln, sondern vor allem um die Organisation eines zuverlässigen Friedenszustandes der Nationen. So faßte es wenigstens das englische Volk auf. Bei den Wahlen Anfang November errang die Arbeiterpartei in England und Schottland, die ausgesprochene Trägerin des pazifistischen Willens, einen gewaltigen Sieg, sie eroberte etwa 60 Prozent der Gemeinderäte, in London z. B. 15 von 28 (1919: 14, 1922: 8, 1931: 3), in Glasgow stieg sie von 8 auf 14 Sitze. Diese politische Entwicklung stellte der militärischen gegenüber das nötige Gleichgewicht her. Sie hat wohl unmittelbar Hendersons Geste vom 5. November ausgelöst, als er das Präsidium [100] der Abrüstungskonferenz auf den 20. November nach Genf einlud. Dies alles bewies, wie außerordentlich heftig die Engländer sich innerlich gegen die drohende Militarisierung der Politik sträubten. – Aus diesem Grund auch beförderte die Verstimmung gegen Frankreich, dem man die Schuld am Scheitern der Abrüstungskonferenz gab, und damit auch gegen die französische Partei innerhalb Englands eine zusehends wachsende Erstarkung der deutschfreundlichen Kreise.

Eine erste Übereinstimmung von hoher Bedeutung zwischen London und Berlin ergab sich Anfang November in der Saarfrage, als Frankreich falschen Kriegslärm machte. Es war eine aufsehenerregende Erklärung, als Simon am 6. November gegenüber den französischen Vorstellungen die Befriedigung der britischen Regierung über die deutsche Loyalitätserklärung ausdrückte (vgl. [6. Teil] Bd. 1 Seite 370). Das war ein Wendepunkt, die Saar war den Engländern ein Prüfstein für den ehrlichen und aufrichtigen Friedenswillen Hitlers geworden. Es läßt sich von nun an in der englischen Öffentlichkeit ein Erstarken der deutschfreundlichen Strömung deutlich feststellen. MacDonald, der überzeugter Pazifist und doch einer der eifrigen Förderer der gegendeutschen Politik in der Vergangenheit war, erklärte in einer Rede am 9. November: Der Frieden sei die Hauptforderung der Zeit; England sei der beständigste und zuverlässigste Arbeiter für den Frieden; es bedaure, wenn Deutschland weiter aus Genf fernbleibe, und seine Regierung werde nie müde werden, dem deutschen Volke nachdrücklichst klarzumachen, daß es sich nicht gerecht werde, wenn es allein bleibe. Aber er sagte auch, eine große Genugtuung herrsche in England über die (deutschen) Erklärungen der letzten Tage, welche eine friedliche Abstimmung im Saargebiet verbürgten. Das war für MacDonald ein kleines Äquivalent für die Enttäuschung über den Zusammenbruch der Abrüstungskonferenz, der nach des Premierministers Meinung durch das Verhalten Deutschlands herbeigeführt worden war. Am gleichen Tage sprach der General Sir Jan Hamilton, ein bekannter Heerführer des Weltkrieges, und bekundete in seinen Worten eine starke Sympathie für Deutschland. Mit einer versteckten Anspielung auf Frankreich sagte er, er ginge lieber mit den [101] Deutschen als mit anderen auf die Tigerjagd, wenn eine solche in Europa abgehalten werden sollte! Am Waffenstillstandstage, dem 11. November, warnte der greise Lloyd George vor einer Wiederholung der Kriegsschrecken: das nächstemal würden Kinder an der Front stehen; er meinte zwar, MacDonalds Rede sei "voll düsterer Ahnungen" gewesen, doch schloß er mit einem bittren persönlichen Angriff auf den franzosenfreundlichen Außenminister John Simon und seine politische Tätigkeit im Kriege. Am 15. November richteten auch die Times scharfe Angriffe gegen den Minister, der die "zweifelhafte Ehre habe, von denen gelobt zu werden, die für Isolierung und Aufrüstung eintreten"; die Zeitung sprach bereits von der Möglichkeit, daß die Regierung umgebildet werde. Sir John Simon, der Sohn des Wallisers und der Französin, hatte in seiner bisherigen Politik zwischen London und Genf stets Paris zwischengeschaltet. Sein Verhalten auf der Abrüstungskonferenz tendierte unverkennbar nach Paris. Die Zeiten hatten sich aber jetzt geändert. Gegen Ausgang 1934 rückte für ihn unter dem Drucke der öffentlichen Meinung die Entscheidung in greifbare Nähe, entweder den Kurs zu ändern oder von der politischen Bühne abzutreten. –

Die Erkenntnis von der Gerechtigkeit der deutschen Forderungen führte in England einen allmählichen, aber nachhaltigen Stimmungsumschwung herbei. Entscheidend war nun, daß am 8. November der Sonderbeauftragte des Führers in Abrüstungsfragen, von Ribbentrop, in London eintraf. Diesem persönlich hochbescheidenen Manne gebührt das geschichtliche Verdienst dafür, daß des Führers gigantische Politik in der Folge so reiche Früchte tragen konnte! Wir wissen heute noch nicht, was Ribbentrop in England verhandelt hat, aber schon am 13. November berichtete die Presse des Auslandes, Ribbentrop wolle England für den Gedanken gewinnen, daß Deutschland im kommenden Frühjahr gewisse Bestimmungen des Versailler Vertrages aufkündigen werde. Lordsiegelbewahrer Eden trat dieser Behauptung am nächsten Tage entgegen: "Über eine freundschaftliche Unterhaltung hinaus hat sich nichts ergeben. Es ist uns keinerlei neuer Vorschlag gemacht worden. Eine neue Entwicklung liegt nicht vor."

[102] Nichts zeigte den sich anbahnenden Umschwung in der englischen Politik, die Hinwendung Großbritanniens zum Deutschland Adolf Hitlers deutlicher als die am 21. November beginnende Parlamentstagung. Sie war beherrscht von dem Widerstreite der militärischen, nach Frankreich neigenden, und der politischen, sich Deutschland zuwendenden Richtung. In seiner Thronrede erklärte König Georg V.:

      "Die Aufrechterhaltung des Weltfriedens ist dauernd ernsteste Sorge meiner Regierung; sie wird fortfahren, die Unterstützung und Erweiterung der Autorität des Völkerbundes zu einem Hauptpunkt ihrer Politik zu machen. Sie hofft ernstlich, daß das allgemeine Werk der Abrüstungskonferenz aktiv in einer politischen Atmosphäre wieder aufgenommen wird, die für die Erzielung endgültiger Ergebnisse günstig ist. Inzwischen werden angestrengte Bemühungen unternommen werden, um internationale Vereinbarungen über Fragen zu erreichen, die gesondert behandelt werden können."

Diese Sätze enthalten den Kern der englischen Bestrebungen, Frieden in der Welt, Verminderung der Rüstungen, tatsächliche Gleichberechtigung Deutschlands. England war im Prinzip bereit, dem neuen Deutschland wehrpolitische Zugeständnisse zu machen, wenn dies seinerseits sich verpflichtete, die Forderungen der englischen Friedenspolitik nach Rüstungsbegrenzung zu erfüllen.

Über die Durchführung allerdings herrschten doch recht abweichende Meinungen innerhalb der Parteien. Am 25. November bezeichnete der Konservative Baldwin das von der pazifistischen Arbeiterpartei geforderte Kollektivfriedenssystem als seltsam, da Deutschland, Japan und die Vereinigten Staaten nicht dem Völkerbunde angehörten. Die Forderung der Arbeiterpartei scheine ihm noch verfrüht. Großbritannien müsse es aber als seine Aufgabe betrachten, nicht bloß den status quo ante herzustellen und Deutschland und Japan in den Völkerbund wieder hineinzubringen, sondern auch die Vereinigten Staaten in ihn hineinzuführen.

Welche tiefen Gegensätze in der britischen Politik jetzt aufzubrechen drohten, das zeigten die Verhandlungen im Unterhaus, am 18. November 1934. In großangelegter Rede bean- [103] tragte Churchill die Erhöhung der britischen Rüstungen, besonders in der Luft; seine Begründung war diese:

      "Welches ist nun das große neue Ereignis, das während der letzten achtzehn Monate über uns hereingebrochen ist? Deutschland rüstet wieder auf! Nach dem, was wir hören, was uns erzählt wird, und was aus allen möglichen Quellen zu uns dringt – obgleich darüber in der Öffentlichkeit wenig gesprochen wird – besitzt Deutschland schon ein mächtiges, wohl ausgerüstetes Heer mit angezeichneter Artillerie und ungeheuren Reserven an ausgebildeten Mannschaften. Die deutschen Waffenfabriken arbeiten kräftig kriegsmäßig, das Kriegsmaterial strömt aus ihnen – bestimmt seit den letzten zwölf Monaten – in immer größerem Umfang."

Diese märchenhafte deutsche Aufrüstung bestimmte Churchill, an England den eindringlichen Appell zu richten, seine Rüstung nicht zu vernachlässigen: Großbritannien wolle beschließen, in den nächsten zehn Jahren eine Luftstreitmacht zu unterhalten, die wesentlich stärker sei als die Deutschlands. Das deutsche Volk zwar habe gegenüber England sehr freundschaftliche Gefühle und die Annahme, daß es England angreifen werde, sei unbegründet. Aber die deutsche Regierung könne dies bald tun, wenn Großbritannien nicht handle, denn alles, was bei der Organisation der deutschen Regierung notwendig sei, um ohne Ankündigung einen Angriff zu eröffnen, sei der Beschluß einer Handvoll Männer. (Dies Ausspielen des deutschen Volkes gegen die deutsche Regierung war eine Taktik, die die britischen Staatsmänner sehr ergiebig im Weltkrieg anwandten, und zwar mit Erfolg, weil die damalige deutsche Regierung nicht ihrer Führeraufgabe dem Volke gegenüber gerecht wurde.) Churchill fuhr fort: Es sei eine Gefahr für ganz Europa, wenn England sich in einer solchen Lage befinde, und sie könne in sehr kurzer Zeit akut werden. Das Geheimnis, das die deutschen Rüstungen, die eine Verletzung des Vertrages darstellten, umgebe, müsse gelüftet werden. Deutschlands ungesetzliche Luftstreitkräfte seien ebenso stark wie die englischen, in drei Jahren würden sie doppelt so stark sein. Großbritannien dürfe seine Verschleppungspolitik nicht weiter treiben.

Baldwin trat im Namen der englischen Regierung diesem [104] Alarmruf Churchills gegen Deutschland entgegen: seine Worte seien unzutreffend. Gewiß, ein Zustand der Nervosität sei eingetreten, der allerdings ein böses Vorzeichen für den Frieden Europas sei; doch hoffe er immer noch auf die Möglichkeit einer Rüstungsbeschränkung. Das gegenwärtige Mißtrauen sei zurückzuführen auf die Unkenntnis außerhalb Deutschlands und die Geheimnistuerei innerhalb Deutschlands.

      "Ich bin der Überzeugung und ich spreche hier mit einem Gefühl der Verantwortung, wenn ich von dem Zustand der Furcht rede, der in ganz Europa herrscht, nicht nur derart, wie ich ihr Ausdruck gab, sondern Furcht vor einem unbekannten Terror, der hereinbrechen kann, eine Furcht, die in der Hauptsache auf der Unkenntnis dessen beruht, was in Deutschland vorgeht."

Eine Kritik des neuen Regimes in Deutschland liege ihm völlig fern (gegen Churchill!). Jedes Land brauche die Regierung, die es für gut halte. Gewiß stelle Deutschland Militärflugzeuge her, aber die deutsche Luftstreitmacht sei nicht halb so stark wie die gegenwärtige Luftflotte Großbritanniens.

Diese Rede bedeutet im ganzen genommen schon ein Abrücken von Churchill und den Kriegskonservativen. Jedoch stimmten beide darin überein, daß die völlige Unkenntnis der militärischen Vorgänge in Deutschland eine Quelle ständiger großer Unruhe für die anderen Völker Europas sei, für die Völker, die befangen in den unwahrhaftigen Vorstellungen der Vorkriegszeit im deutschen Heer den Träger eines aggressiv preußischen Imperialismus erblicken. Die nun folgende Rede Lloyd Georges aber war ein offenes Bekenntnis zu Deutschland und eine Absage an Frankreich. Deutschland warte nun vierzehn Jahre auf die Erfüllung der in Versailles gemachten Abrüstungszusagen, führte Lloyd George aus. Er hielt Deutschlands Heer für gut in der Verteidigung, doch für schlecht im Angriff. Der deutsche Heeresetat betrage nur die Hälfte des französischen. Er könne sich nicht vorstellen, daß Deutschland mutwillig England angreife. Frankreich besitze über vier Millionen ausgebildeter Reserven, es sei für einen großen Krieg gegenwärtig besser gerüstet als 1914. Man leihe Geld an Deutschlands Nachbarn, um mächtige Heere an dessen Grenzen [105] aufzubauen. Wie könne man da überrascht sein, daß die Deutschen schließlich gegen das zur Revolution getrieben würden, was sie als chronische Enttäuschung ansähen? Und dann spielte Lloyd George den letzten und stärksten Trumpf aus, den er, allerdings ohne Erfolg, schon 1919 anwandte:

      "Ich sage voraus, daß in sehr kurzer Zeit – vielleicht nicht ein, vielleicht nicht zwei Jahren – die konservativen Elemente Englands auf Deutschland als ein Bollwerk gegen den Kommunismus in Europa blicken werden. Wenn Deutschland vor dem Kommunismus niederbricht und der Kommunismus Deutschland ergreift, so wird Europa folgen, weil die Deutschen ihn am besten bewerkstelligen würden. Ich bitte die Regierung, zu erwägen, ob nicht eine weitere Möglichkeit besteht, zu versuchen, die Mächte in Europa zu überreden, ihre Zusagen und ihr feierliches Versprechen, abzurüsten, wenn Deutschland dies tut, neu zu erwägen. Ihr werdet nicht Frieden in Europa haben, bis ihr das tut."

Er schloß mit den Worten: "Meine ernste Überzeugung ist, daß die Welt von uns erwartet, daß wir ihr eine Führung geben." Das war das stolze Selbstbewußtsein des britischen Weltbeherrschers, der in Genf nicht der primus inter pares, sondern der primus omnium zu sein beanspruchte.

Zum Schlusse erklärte Außenminister Simon, daß England für geregelte Rüstungsbeschränkung statt für ungeregeltes Wettrüsten sei. –

Seit 1914 hat es wohl keine Parlamentssitzung in London gegeben, die in dem Sinne eine Zeitenwende genannt werden kann wie dieses Parlament, das wenige Monate nach dem Zusammenbruch der Abrüstungskonferenz tagte. Nie war Großbritannien weiter vom Gedanken der Bündnisse entfernt und seiner Idee des Weltreichs näher als in diesen Wochen. Das Parlament spiegelte den Widerstreit zwischen den beiden Prinzipien, wenn man so sagen darf, Versailles und Hitler wider und zeigte gerade dadurch, daß im Innersten der Streit schon entschieden war, indem Volk und Regierung sich von dem Krieg von Versailles abwandten und dem Frieden von Hitler zuneigten.

Ein bedeutsames Zeugnis der Zeitenwende war der Brief, den der englische Zeitungskönig Lord Rothermere, Besitzer der Daily [106] Mail, Daily Mirror, Evening News, Sunday Pictorial, Sunday Dispatch und Beherrscher von 25 anderen großen englischen Zeitungen, Anfang Dezember 1934 in der Daily Mail veröffentlichte. Er sagt darin:

      "Wenn andere leitende Persönlichkeiten vorsichtig wären, so würden sie Deutschland die Freundeshand bieten. Ich gehöre zu denen, die glauben, daß Deutschland und Großbritannien Freunde sein sollten. Es gibt zwischen beiden Ländern keine Gegensätze. Die meisten in England über Deutschland verbreiteten Nachrichten sind Schwindel. Hitler ist der glänzende Führer eines großen Volkes. Das Hitlerregime steht nicht vor dem Zusammenbruch und Deutschlands Wirtschaftslage ist nicht so tragisch. Ginge es nach mir, ich würde die Kriegsschuldfrage des Versailler Vertrages preisgeben, Deutschland alle unter britischem Mandat stehenden afrikanischen Kolonien zurückgeben und der deutschen Regierung mitteilen, daß Großbritannien kein Interesse an der deutschen Politik in Osteuropa habe."

Rothermere bereiste das Saargebiet und sprach unverhohlen seine Bewunderung über die zuchtvolle Haltung der Deutschen aus. Mitte Dezember weilte er, auf Ribbentrops Veranlassung, in Berlin.

Einen kräftigen Anstoß erhielt die englische Politik in der Richtung eines deutsch-englischen Verständnisses im Dezember durch die Vorgänge in Genf und Paris. Eden sagte Anfang Januar 1935, daß die durch die Marseiller Mordtat hervorgerufene Spannung zwischen Ungarn und Südslawien eine noch ernstere Bedrohung des Friedens dargestellt hätte als die Saarfrage. Als treibende Kraft stand Frankreich hinter diesem Konflikt, wie wir sahen. Damals sprach Eden in seiner salomonischen Vermittlerrolle das Machtwort, das Europa und insbesondere England vor schwerer Kriegsgefahr bewahrte. Der Wissende konnte keinen Augenblick darüber im Zweifel sein, daß die Genfer Machtprobe zwischen England und Frankreich zwar zugunsten des ersteren ausgefallen war, daß sie aber zugleich ein Alarmsignal für Großbritannien war, sich auf dem Kontinent nach einem zuverlässigen Freunde umzusehen.

Neue Sturmzeichen wetterleuchteten über der in den gleichen Tagen stattfindenden Veröffentlichung eines französisch-russischen [107] Bündnisses. Die Engländer mußten in dieser Verbindung Frankreichs mit der Sowjetunion eine wahrhaft lebensgefährliche Attacke auf ihr weltumspannendes Kolonialreich, vor allem auf Indien, erblicken. Allein schon dieser Umstand mußte es ihnen als notwendig erscheinen lassen, dem russisch-französischen militärischen Übergewicht auf dem Festlande ein Gegengewicht in irgend einer Weise zu geben. Verbanden sich Rußland und Frankreich, dann war eine Aufrüstung Deutschlands im eigensten Interesse Englands die selbstverständlichste Sache der Welt. Es standen sozusagen eigenste Interessen auf dem Spiele, als Rothermeres Daily Mail kurz vor Weihnachten (20. Dezember) Frankreich mahnte, es möge sich einer internationalen Zusammenarbeit auf einer für alle Beteiligten tragbaren Grundlage nicht entziehen; Großbritannien habe sich bereits den praktischen Standpunkt zu eigen gemacht, daß Deutschland nicht für unbegrenzte Zeit durch starre Einschränkungen gedemütigt werden könne. Dieser Auffassung neige auch Italien zu; Hitlers Haltung sei völlig freimütig gewesen; er wünsche aufrichtig eine Verständigung mit Frankreich, jedoch auf einer Grundlage, der ein ehrliebendes Volk zustimmen könne; wenn Deutschlands Gleichberechtigung zugestanden und eine Revision der Vertragseinschränkungen jetzt im richtigen Geiste vorgenommen werden würden, dann würde die über Europa lagernde Wolke verschwinden. –

Ernst, sehr ernst, stand es in der weihnachtlichen Zeit um Europa! Die Welt war voll banger Erwartung, erfüllt von schweren Kriegssorgen. Das alles beherrschende Gesprächsthema der Londoner war die Frage: "Krieg oder Frieden". Allerdings, an den unmittelbaren Ausbruch eines Krieges wollten sie doch nicht glauben. Sie beurteilten einen europäischen Krieg nur mit fünfzehnprozentiger, einen deutsch-französischen Krieg nur mit fünfprozentiger Wahrscheinlichkeit. Es bestand also an und für sich eine besonnene und ruhige Auffassung der Lage. Anfang Januar 1935 hielt auch die britische Regierung jede Kriegsgefahr für behoben. Eden erklärte am 4. Januar in Newcastle, es sei nicht wahr, daß ein neuer Krieg bevorstehe, "wenn es aber wirklich zu einem Krieg kommt, wird dieser das Ende der heutigen Welt bedeuten und [108] für den Sieger wie für den Besiegten gleichermaßen vernichtend sein." –

Es steht wohl außer Zweifel, daß bereits vor Weihnachten 1934 der neue Kurs der englischen Friedenspolitik in großen Zügen festlag, die Annäherung an Deutschland, das seinerseits durch den Mund Görings erklärte, es wünsche ein Verhältnis fester und ehrlicher Freundschaft mit England, mit dem es durch Bande des Blutes verbunden sei, natürlich auf der Grundlage der Gleichberechtigung. Bevor der englische Außenminister Sir John Simon am 22. Dezember nach Paris fuhr, um Flandin und Laval zu einem Besuch nach London einzuladen, bestand in den Kabinetten Londons und Berlins Übereinstimmung darüber, daß die ungerechten und einseitigen Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrages für Deutschland fallen mußten.

  Großbritannien und Frankreich  

5.

Mit der Unterredung Sir John Simons mit Flandin und Laval in Paris am 22. Dezember, dieser ersten Fühlungnahme zwischen dem zu Deutschland neigenden England und der neuen französisch-russischen Mächtegruppe,

Sir John Simon.
[Bd. 9 S. 96b]    Sir John Simon, der englische
Staatssekretär des Auswärtigen.

Photo Scherl.

Anthony Eden.
[Bd. 9 S. 96b]      Anthony Eden,
der englische Lordsiegelbewahrer.

Photo Scherl.
begann ein neuer Abschnitte: er war ausgefüllt von englisch-französischen Unterhandlungen über die Verwirklichung der deutschen Gleichberechtigung. Simon wagte an jenem Tage einen kräftigen Vorstoß; nachdem er den Franzosen vor Augen geführt hatte, daß die britische Regierung dem Ostpakte Barthous keine Schwierigkeiten bereitet und die Genfer Einigung zwischen Südslawien, Italien und Frankreich gefördert hätte, vermochte er die französischen Minister zu bewegen, von der Note Doumergues und Barthous vom 17. April abzurücken und eine deutsche Aufrüstung unter bestimmten Voraussetzungen anzuerkennen, d. h. auf den Boden der Genfer Gleichberechtigungserklärung vom 11. Dezember 1932 zurückzukehren. Damit war man schon einen Schritt weitergekommen. In England versuchte man den Erfolg festzuhalten und auszubauen. Man [109] dachte an einen großen Vorstoß Simons und Edens in Genf, wo sich der Völkerbundsrat versammelte, um die Saarfrage zu entscheiden. Der englische Botschafter in Berlin, Sir Eric Phipps, regte sogar am 10. Januar bei der Reichsregierung an, ob Deutschland nicht als Ratsmitglied daran teilnehmen wolle. Diesen sicher gut gemeinten Vorschlag mußte aber Hitler ablehnen, da er unter Umständen in bezug auf Hitlers Haltung dem Völkerbunde gegenüber leicht zu einem Präzedenzfall hätte gemacht werden können; England legte ja besonderen Wert auf die Rückkehr des Reiches nach Genf. Mitte Januar 1935 begann das englische Kabinett nichtsdestoweniger an die Frage heranzugehen, ob die Militärklauseln des Versailler Vertrages gestrichen und ein allgemeiner Pakt über die Rüstungsbegrenzung abgeschlossen werden solle. Man dachte hierbei sogar an eine Wiederbelebung der Abrüstungskonferenz im Februar. Gleichzeitig brachten die Times einen wahrscheinlich von Sir John Simon oder Eden inspirierten Artikel, worin ausgeführt wurde, daß heute, nach fünfzehn Jahren, die Bestimmungen über die militärischen Beschränkungen nicht mehr aufrechterhalten werden könnten und die Unterzeichner des Versailler Vertrages beim Völkerbundsrat die Ausschaltung der Militärklauseln im Teil V anregen möchten, vorausgesetzt, daß ein allgemeines System der Begrenzung vereinbart werde und auf alle Staaten ohne Unterschied angewendet würde. Lord Allen of Hurtwood, der politische Beauftragte MacDonalds, stellte nach der Rückkehr von seiner Deutschlandreise in der Presse öffentlich fest, das Reich dürfe nicht mehr als minderwertig behandelt werden, man müsse ihm durch internationale Übereinkunft in der Rüstungsfrage sein Hoheitsrecht zusichern, denn nur durch die Anerkennung der militärischen Gleichberechtigung könne eine wirkliche Verständigung angebahnt werden, um so mehr, als Allen die Überzeugung gewonnen hatte, "daß Deutschland keinen Krieg will".

Der englische Plan, die drei Großmächte Großbritannien, das Reich und Frankreich auf eine gemeinsame Politik zu vereinigen, war dieser: England wünscht Änderung bzw. Aufhebung der Versailler Militärklauseln; die hiermit de facto erreichte Gleichberechtigung soll dann gewissen etappenmäßigen Einschränkungen unterworfen werden, indem [110] sich ihre praktische Verwirklichung innerhalb eines allgemeinen Rüstungsabkommens vollzieht; weiter wünscht England den Beitritt Deutschlands zu einem neuen, internationalen Paktsystem und damit die Zugehörigkeit Deutschlands zum Völkerbunde; zweifelhaft aber war noch, ob England bereit war, den Franzosen über Locarno hinausgehende militärische Garantien zu geben. Anzunehmen war es zunächst nicht.

Die Franzosen folgten der englischen Politik mit einem gewissen inneren Widerstreben. Wenn Ministerpräsident Flandin in einer über den französischen Rundfunk verbreiteten Rede am 12. Januar 1935 betonte, daß die Kriegsgefahren zerstreut seien, so meinte er vorerst jene Gefahren, die sich durch den Marseiller Königsmord erhoben hatten und durch die römische Verständigung gänzlich beseitigt worden waren. Flandin erklärte auch, daß man in den internationalen Beziehungen entgegenkommend sein und realistisch denken müsse, um den Frieden zu verdienen. Und gerade diese letzte Bemerkung barg wieder die ganze Unergründlichkeit der französischen Mentalität in sich! Der englische Journalist Ward Price wiederholte in einem Interview, das er Mitte Januar mit dem Führer hatte, die Äußerung eines hochstehenden französischen Politikers: "Wir glauben, daß Deutschland eine Politik der Versöhnung nur solange treiben wird, bis die Reichswehr sich in der Lage fühlt, einen Krieg erfolgreich führen zu können."

Die Saarabstimmung des 13. Januar 1935 war von derart gebieterischer Eindeutigkeit, daß keine Macht der Welt daran etwas zu ändern vermochte. In den Abendstunden des 17. Januar sprach der Völkerbundsrat das Saargebiet ungeteilt dem Reiche zu. Laval äußerte sich hierzu vor dem Völkerbundsrate folgendermaßen:

      "Indem er die Rückkehr zu Deutschland begrüßte, hat Reichskanzler Hitler noch einmal seinen Friedenswillen betont. Er hat erklärt, daß der Akt vom 13. Januar einen entscheidenden Schritt auf dem Wege der Versöhnung der Völker bedeutet, und daß das Deutsche Reich keine territoriale Forderung gegenüber Frankreich habe. Ich nehme davon Kenntnis. Die Annäherung zwischen unsern beiden Ländern ist in der Tat eine der wesentlichsten Voraussetzungen der wirksamen Gewährleistung des Friedens in Europa. Frankreich ist [111] friedliebend und verfolgt kein selbstsüchtiges Ziel. Es will der Würde, auf die ein großes Volk mit Recht bedacht sein muß, nicht in der geringsten Weise Abbruch tun. Aber die Geschichte lehrt, daß es in Sicherheit leben muß. Die anderen Nationen haben dasselbe Recht. Und um eines der Elemente dieser Sicherheit zu suchen, darf keine Regierung zögern, ihren Teil am Abschluß von Pakten zu übernehmen, die gerade den Zweck haben, jedem der unterzeichnenden Länder die unerläßlichen gegenseitigen Bürgschaften zuzusichern. Erst gestern (16. Januar) hat der französische Botschafter in Berlin der Reichsregierung eine Note über den Ostpakt überreicht. Bald werden wir nach der konkreten Form suchen, die den römischen Abmachungen gegeben werden kann, damit ihre wohltuende Wirkung sich auf alle interessierten Länder erstrecke. So faßt Frankreich seine Solidaritätspflicht auf, und das Gefühl dieser Pflicht ist für seine Schritte bestimmend. Der Friede ist ein Werk der Geduld, der Kühnheit und des Willens."

Hier in Genf, Mitte Januar, trat also die Ende November neubelebte Paktidee wieder beherrschend in den Vordergrund der französischen Gefühle, insbesondere hinsichtlich Deutschlands. Es war von gewisser Bedeutung, daß der Russe Litwinow Frankreich an seine Solidaritätspflicht erinnerte. Rußland erblickte in den römischen Vereinbarungen eine starke Bedrohung des Ostpaktes und erschwerte Lavals Bemühungen, die Zustimmung der Kleinen Entente zum Donaupakte zu erhalten. Litwinow entfachte einen neuen Ostpaktfanatismus, er erklärte, daß der Ostpakt "unabänderlich zum Angelpunkt aller diplomatischen Verhandlungen geworden" sei. Litwinow schrieb Frankreichs weitere Politik vor, indem er Laval folgendes Versprechen geradezu abpreßte: mit Deutschland über keine Frage, auch nicht die Abrüstungsfrage zu verhandeln, bevor Deutschland dem Ostpakt und dem Donaupakt beigetreten sei; bei einer kommenden Abrüstung oder Rüstungsstillstandskonvention dafür zu sorgen, daß Frankreich und Italien einen Rüstungsvorsprung bekämen; im Falle einer deutschen und polnischen Absage an den Ostpakt die Regierungen beider Länder davon zu unterrichten, daß Frankreich mit Rußland und der Tschechoslowakei einen [112] Vertrag ohne Deutschland und Polen schließen werde. Und außerdem war in den französisch-russischen Besprechungen noch von einem russisch-französischen Flottenbündnis und der Rückgabe der Schwarzmeerflotte an Sowjetrußland die Rede. Litwinow hatte gut reden: "Die Aussichten des Zustandekommens des Ostpaktes haben sich bedeutend vermehrt, und der Abschluß des Paktes hängt gegenwärtig nurmehr von Deutschland ab." Daß der polnische Außenminister, Oberst Beck, den Ostpakt, dessen Text noch gar nicht existierte, scharf bekämpfte, störte Litwinow wenig. Es kam darauf an, Deutschland allein vor der Welt als den großen Störenfried hinzustellen, der aus bösem Willen die segensreiche friedensliebende französisch-russische Paktpolitik durchkreuzte! –

Ende Januar befand sich Frankreich in der kuriosen Lage, gebunden an die beiden unter sich gegensätzlichen Prinzipien Rom und Moskau mit England über die deutsche Rüstung verhandeln zu müssen. Die Erklärung vom 11. Dezember 1932, zu der sich Frankreich nun endlich bekannt hatte und aus der sich der Fortfall der Versailler Militärklauseln von selbst ergab, stand doch in einem sonderbaren, unüberbrückbaren inneren Gegensatz zum Ostpakt und zu den russischen Forderungen. Eine Folge dieser Tatsache war eine merkliche Zurückhaltung, ja Abkühlung der Franzosen gegenüber dem englischen Verhandlungswillen. So fand der englische Botschafter in Paris, Sir Clerk, als er, unmittelbar vor dem französischen Staatsbesuch in London, am 16. Januar mit Laval und Flandin auf Wunsch der Londoner Regierung zu einer Aussprache zusammentraf, eine eigentümliche Lage vor. Schwer enttäuscht stellte Clerk fest, daß in Paris die Staatsmänner ganz unter den Einfluß Rußlands, der Kleinen Entente und des Großen Generalstabes geraten waren. Unter Vorahnung dieses Umstandes hatte die englische Regierung bereits ihren ursprünglichen Plan – Verzichtformel der Siegerstaaten auf die militärischen Bestimmungen des Versailler Vertrages, Festlegung der deutschen und französischen Rüstung auf ihren gegenwärtigen Stand unter einer internationalen Kontrolle, Rückkehr Deutschlands nach Genf und Unterzeichnung einer Rüstungsstillstandskonvention – nun doch noch abgeändert durch weit- [113] gehende Berücksichtigung der französischen Sicherheitsforderungen. England bot nach harten und schweren Auseinandersetzungen in der eigenen Regierung ausdrücklich die Erweiterung des Locarnovertrages durch ein Luftlocarno an und schlug vor, die Bestimmungen für die entmilitarisierte Rheinlandzone auch auf militärische Fluganlagen auszudehnen. Weiterhin sollte der Völkerbund die neue Gleichberechtigungserklärung bzw. die Abänderung der Militärklausel des Versailler Vertrages beschließen, und zwar erst nach der Rückkehr Deutschlands in den Völkerbund, nach Abschluß einer Konvention zur Rüstungsbeschränkung und nach Ausarbeitung eines kollektiven Garantie- und Sicherheitsverfahrens durch den Völkerbund.

Selbst dieses Angebot lehnten die Franzosen zunächst ab. Sie beharrten auf dem Ostpakt und auf der Erhöhung der französischen Effektivstärken, bevor überhaupt von der Gleichberechtigung die Rede sein sollte. Nach stundenlangen Verhandlungen endlich gelang es Clerk, ein Mindestmaß von Übereinstimmung mit den Franzosen zu erreichen: Großbritannien stimmt jenem französisch-italischen Protokoll der römischen Einigung zu, wonach ein einseitiges Vorgehen Deutschlands auf dem Gebiete der Rüstungen für unzulässig erklärt wird; die Gleichberechtigungsnote vom 11. Dezember 1932 (vgl. Der Kampf um das Dritte Reich, Band III Seite 152) wird beiderseits als notwendige Voraussetzung zur praktischen Verwirklichung des Gleichheitsgrundsatzes anerkannt, jedoch macht Frankreich zur unerläßlichen Vorbedingung für jegliche Rüstungsverhandlungen mit Deutschland dessen Beitritt zum Ostpakt. England ist bereit, die Rüstungsbeschränkungen der Verträge von 1919 und 1920 außer Kraft zu setzen, vorausgesetzt, daß Deutschland in den Völkerbund zurückkehrt und daß in Genf eine allgemeine Abrüstungsvereinbarung zustande kommt, die die Ausführungsbürgschaften einschließt; Frankreich wünscht von England neue Sicherheitsgarantien gegen einen möglichen Angriff Deutschlands dadurch, daß die im Locarno-Pakt vorgesehene britische Waffenhilfe in einem solchen Falle automatisch eintreten soll; und schließlich sollen der Ostpakt, der mitteleuropäische Nichteinmischungspakt und die internationale Konvention der Rüstungsbeschränkungen in einen all- [114] gemeinen europäischen Friedenspakt verarbeitet werden. All das aber waren erst nur Feststellungen, aber noch keine bindenden Grundlagen für die bevorstehenden Londoner Verhandlungen, denn auch den Engländern war es klar, daß die letzten Pariser Besprechungen keine Übereinstimmung, sondern beträchtliche Meinungsverschiedenheiten ergeben hatten. Ebenso klar mußte ihnen aber auch sein, daß ihre Regierung bereits wieder auf dem Wege war, Frankreich große Zugeständnisse auf Kosten der deutschen Gleichberechtigung zu machen.

Neben den diplomatischen Verhandlungen mit Frankreich lief in England eine starke öffentliche Propaganda für Deutschland, die im klaren Gegensatz zu den Kompromißplänen der Regierung stand. Mit größter Genugtuung hatten die Engländer Hitlers abermalige Erklärung aufgenommen, daß es nach der Regelung der Saarfrage keinerlei territoriale Streitpunkte zwischen Deutschland und Frankreich mehr gebe. Dem englischen Journalisten Ward Price hatte der Führer erklärt, Deutschland habe nur das Ziel, als vollständig gleichwertige Nation anerkannt zu werden; eine Unterscheidung zwischen moralischer und sachlicher Gleichberechtigung empfinde das deutsche Volk als Beleidigung; Deutschland werde von sich aus niemals den Frieden brechen, aber wer Deutschland anfasse, der werde in Dornen und Stacheln greifen; das deutsche Volk liebe den Frieden, aber es liebe auch die Freiheit, die Ehre und die Gleichberechtigung. Lord Allen of Hurtwood, der aus Berlin zurückgekehrt war, sprach von dem gewaltigen Ansehen, das Großbritannien in Deutschland habe. Eden hätte den Eindruck hinterlassen, daß es Großbritannien ehrlich meine und daß es seinen Einfluß bei anderen Nationen geltend machen werde. Rothermeres Daily Mail schilderte Hitlers aufbauende Politik. Die Ausführungen, die des Lobes voll waren über die Leistungen des Führers, schlossen: "Er hat bewiesen, daß er kein Demagoge, sondern ein Staatsmann und echter Reformator ist. Europa darf niemals vergessen, daß es ihm die Tatsache verdankt, daß der Kommunismus entscheidend und endgültig zurückgeschlagen worden ist." Marqueß of Lothian, der Vertreter der liberalen Partei im Oberhaus, der Ende Januar einige Tage in Berlin weilte und dort mit Hitler, Heß, Blomberg, Neurath, Ribbentrop zusam- [115] mentraf, faßte seine Eindrücke zusammen: "Deutschland konsolidiert sich nach der Revolution. Es will bestimmt keinen Krieg." In zwei Times-Aufsätzen setzte der Lord auseinander, daß der Nationalsozialismus eine Bewegung persönlicher und nationaler Selbstachtung sei, daß die Aussichten für den Frieden sehr gute seien, wenn nur die britische Regierung die Zügel fest in der Hand habe. Deutschland wünsche keinen Krieg und sei bereit, auf ihn zu verzichten, wenn es wirkliche Gleichheit erhalte. Wenn auch Deutschlands Aufrüstung und Frankreichs Bündnispolitik eine schwerere Kriegsgefahr als 1914 in sich schlössen, so seien doch für einen wirklichen Frieden die besten Voraussetzungen gegeben. Die Entscheidung liege bei der britischen Regierung.

Deren politische Erkenntnis enthielten auf Grund der amtlichen und privaten Ermittelungen folgende vier Punkte:

1. Das Poincaré-Benesch-System bewaffneter Aufsicht ist zusammengebrochen.

2. Auf den Sturz der nationalsozialistischen Regierung in Deutschland darf man nicht rechnen, man muß sie also als politische Größe anerkennen.

3. Ohne Rücksicht auf den Versailler Vertrag muß man Deutschland unbedingte Gleichberechtigung mit den anderen Staaten zugestehen.

4. Man muß Hitler fragen, ob er bereit sei, sich einer allgemeinen Bürgschaft des territorialen Status quo in Europa für einen gewissen Zeitraum, etwa zehn Jahre, anzuschließen.

Waren sich die Engländer über die ersten drei Punkte vollkommen im klaren, so zweifelten sie auch nicht, daß der vierte Punkt in ihrem Sinne sich erledigen würde. Denn die Überzeugung, daß Hitler nicht den Krieg, sondern den Frieden wolle, hatte sich allmählich in den breitesten Schichten des englischen Volkes durchgesetzt. Und trotzalledem blieb noch die Frage offen, ob und wie weit MacDonald und Simon den Franzosen in den bevorstehenden Verhandlungen entgegenkommen würden.

Es war gewiß Anfang Februar, wenn man so sagen darf, eine starke deutsche Strömung in England vorhanden. Am 1. Februar kamen Flandin und Laval nach London, um mit MacDonald, Baldwin, Simon und Eden drei Tage zu verhandeln. Das gab nun wieder der französischen Partei in London neuen Auftrieb. Diese Gruppe setzte ihre Hoffnungen [116] auf Simon. Die Franzosen kamen nach London mit derselben Absicht, mit der sie nach Rom gegangen waren: einen zuverlässigen Bundesgenossen gegen Deutschland zu erobern, auch sie hofften auf Sir John Simon. Sie hatten da gewisse Richtlinien mitgebracht: bevor Deutschlands Gleichberechtigung zugegeben werde, müsse es nach Genf zurückkehren; bevor mit Deutschland über Rüstungsfragen verhandelt werde, müsse es dem Ostpakt beitreten; und überhaupt müßten zwischen Frankreich und England die gegenseitigen militärischen Garantien befestigt und erweitert werden. Es war eben das, was England in Paris bereits unverbindlich zugestanden hatte, und noch etwas mehr dazu. Vor allem hatten die Franzosen das berühmte Schlagwort von der Unteilbarkeit des Friedens, das ihre Verbindung mit Rußland rechtfertigen sollte, mitgebracht. Die vorsichtigen Engländer gossen allerdings diesmal, wo sie vor ihrer Nation, ihrem Empire und der ganzen Welt große Verantwortung übernehmen sollten, doch viel Wasser in den französischen Wein. Sie wollten nicht unbedingt Deutschlands Rückkehr in den Völkerbund als zeitliche Vorbedingung für Verhandlungen machen, da diese sonst von vornherein aussichtslos sein würden. Sie wollten vielmehr einen allgemeinen Plan schaffen, der neben Deutschlands Rückkehr nach Genf die Frage der Sicherheit für alle beteiligte Länder und ein Abkommen für die Rüstungsbeschränkung enthalten sollte. Auch lehnten es die Engländer ab, sofort fertige Beschlüsse zu fassen, die den Schein erwecken könnten, als wolle man Deutschland vor vollendete Tatsachen stellen; es sollten vielmehr Vorschläge und Empfehlungen gemacht werden; die ganze inhaltsschwere Verhandlung sollte unverbindlichen Charakter tragen.

Anderseits fühlten sich die Engländer in ihrer Vermittlerrolle genötigt, auch auf die Pläne der Franzosen näher einzugehen. Sie billigten das römische Protokoll, insonderheit auch, soweit es "Rüstungen" betraf, sie fanden den Donaupakt in Ordnung und gewannen dem Ostpakt Geschmack ab, etwa wie man einem leicht angesengten Pudding noch Geschmack abgewinnen kann. Als Zugabe bekamen die Franzosen noch das in Paris bereits angebotene Luftlocarno, dessentwegen am [117] Nachmittag des 2. Februar die plötzliche, das ganze Land aufregende Einberufung des britischen Gesamtkabinetts stattfand.

  Das Londoner Kommuniqué  

Aber es waren alles Anregungen, Vorschläge, Empfehlungen, Richtlinien, keine festen, bindenden Beschlüsse. Es wurde noch nicht, wie man das von früheren Konferenzen her genugsam kannte, das letzte Wort gesprochen, es fehlte jetzt hierzu noch jemand, und das war Deutschland. Das Londoner Communiqué vom 3. Februar 1935 (siehe Anlage 7) stellte die bestmögliche Vereinigung der englischen und französischen Meinungen unter den gegenwärtigen Umständen dar, aber es verriet trotz aller englischen Korrektheit doch wieder den richtunggebenden Einschlag eines französischen Windes in die Segel des britischen Schiffes, das sich langsam anschickte, wieder etwas flott zu werden und den Kurs auf Deutschland zu nehmen.

Die britische Regierung lud das Reich, sowie Belgien und Italien, unverzüglich ein, sich mit dem Plane des Luftpaktes zu befassen. Merkwürdigerweise befürwortete die britische Regierung aus innerpolitischen Gründen eine Zweiteilung des Paktes in ein deutsch-französisch-englisch-belgisches Abkommen und in ein englisch-deutsch-italisches Abkommen. Weiterhin ersuchte sie, unter gleichzeitigem Hinweis, daß zwischen England und Frankreich in London kein Geheimbündnis geschlossen sei, die Regierung in Washington, in die Aufhebung der aus dem Versailler Diktat in den Berliner Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland (1922) übernommenen militärischen Bestimmungen einzuwilligen. –

Im Gegensatz zu der Aktivität Großbritanniens stand Flandins Rundfunkrede vom 5. Februar, in der er mit akademischem Beharrungsvermögen die uralten Steckenpferde der französischen Politik ritt. Er sprach hier, wie schon so mancher französische Ministerpräsident der letzten 45 Jahre vor ihm, von dem heiligen Friedenswillen Frankreichs, er pries die Politik der Pakte als der Weisheit letzten Schluß, er bekannte sich sogar zu der Erklärung vom 11. Dezember 1932, stellte dann aber mit verhülltem Unmut, sich, wie er sagte, "jeder Polemik hierzu enthaltend", fest, daß Deutschland sich praktisch von einem Teil der ihm im Versailler Vertrag auferlegten Verpflichtungen freigemacht habe, und ließ seine Ausführungen [118] gipfeln in der Bemerkung, daß die Rückkehr Deutschlands in den Völkerbund gleichzeitig mit dem allgemeinen Programm der Sicherheit und der Rüstungsbeschränkungen erfolgen müsse. So ward das Londoner Kommuniqué erst mit dem Sinne erfüllt, den es für die Franzosen haben mußte: mit der Überzeugung vom gerechten Frankreich und vom ungerechten Deutschland. Das ist die Unzulänglichkeit der Worte: ein Text und zwei Auslegungen. Die Engländer wollten zwischen Deutschland und Frankreich vermitteln, Frankreich wollte sein gutes Recht gegenüber Deutschland feststellen.

Wenn auch Flandin und Laval bei ihrer Rückkehr auf dem Bahnhof ihrer Hauptstadt von der Menge jubelnd empfangen worden waren – die Franzosen hatten das nicht unberechtigte untrügliche Empfinden, daß in London gegenüber der britischen Vermittlungsschwäche der starke französische Wille wieder sich einige Geltung verschafft hatte –, so war ihnen doch nicht wohl zumute. Hinter verschlossenen Türen nahmen sie die Vorwürfe ihrer russischen Freunde in Empfang. Schon bei den römischen Verhandlungen hatten die Moskowiter ihren Unmut nicht verhehlt: sie vermißten darin die eindeutige Isolierung Deutschlands; in London aber schien Frankreich den in den Genfer Januarprotokollen Litwinow gegenüber versprochenen Vorrang der Ostpaktverhandlungen vor anderen politischen Besprechungen glatt preisgegeben zu haben! Laval mußte sich gefallen lassen, daß ihm von den Russen gesagt wurde, er habe sein Versprechen gebrochen, weil er den Luftpakt der Westmächte dringlicher behandelt habe, als den Ostpakt! Ein solches Verhalten aber bilde eine Gefahr für die Unteilbarkeit des Friedens in Ost und West, auf die sich ja Frankreich und Sowjetrußland geeinigt hatten.

In der Tat war in London der Ostpakt, den die Franzosen Ende Januar in Paris noch als unerläßliche Vorbedingung bezeichnet hatten, zu kurz weggekommen.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra