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[Bd. 7 S. 50]

15. Kapitel: Das Ringen zwischen autoritärer Diktatur
und nationalsozialistischer Volksfront.

  Parteivorbereitungen  
für Neuwahl

Das, was sich zwischen dem 12. September und dem 6. November 1932 abspielte, war ein bis zum Äußersten erbitterter Kampf zwischen der zur autoritären Diktatur fortschreitenden Reaktion und dem Nationalsozialismus. Der Kanzler von Papen, an der Spitze einer kleinen, gesellschaftlich ausgewählten feudalen Gruppe, bemühte sich, mit Hilfe des greisen Reichspräsidenten zu einem alten System obrigkeitlichen Staates zurückzukehren, welches etwa den Verhältnissen um 1845 entsprach und die Gesamtheit des Volkes soviel wie möglich von der Mitverantwortung ausschloß. Der autoritäre Staat "aus göttlicher Ordnung", seelisch stark verwandt dem Ideenkreise der Heiligen Allianz, war das Ziel.

Adolf Hitler, an der Spitze einer mächtigen, in sich geschlossenen Volksbewegung, forderte den Staat der völkischen Gemeinschaft. In den Parlamenten hatte der Nationalsozialismus in ihrer Art unerhört kühne Vorstöße gegen die autoritären Regierungen im Reiche wie in Preußen unternommen, nicht, um den Parlamentarismus zu retten, sondern die Rechte des Volkes zu schützen, und das Volk fand eben seinen Ausdruck noch in den Parteien. Im heißen Ringen gegen Papen prägte Hitler das elementare Wort: "Das Fundament des Staates ist nicht die Regierung, sondern das Volk!"

Die Waffen, welche die ehemaligen Verbündeten der Harzburger Front gegeneinander anwandten, waren etwa von gleicher Wucht und Stärke. Papen versuchte den Nationalsozialismus niederzuhalten durch die Macht der Gesetze, die in seiner Hand lag. Hitler aber griff die Regierung an mit der Macht des Volkes, die hinter ihm stand. Die Verfassung und Hitlers ständiger Hinweis auf die beide Teile bindende Legalität hielt den Kampf in Maß und Grenzen. Doch diese Hemmungen nahmen ihm keineswegs den Charakter des Grundsätzlichen, den er von Anfang an trug.

[51] Bei den Auseinandersetzungen spielte der Marxismus eine nur nebensächliche Rolle. Die Sozialdemokratie hatte durch die Ereignisse des 20. Juli eine schwere Niederlage erlitten, die in verstärktem Maße innere Krisen auslöste, gewann aber Ende Oktober durch ein Ereignis, das noch näher geschildert werden wird, wieder eine gewisse innere Kräftigung. Starke Richtungskämpfe erschütterten aber die Sozialdemokratische Partei. Die Jugend der Partei – soweit davon die Rede sein konnte, – wandte sich scharf gegen den Vorsitzenden Wels, dessen Politik ein elendes Fiasko erlitten habe. Wels aber wich nicht von seinem Platze, die Parteibürokratie war zu stark. Dem Reichsbannerführer Höltermann wurde vorgeworfen, er habe sich vollkommen dem Willen von Wels unterworfen. Der Kommunismus war durch die Notverordnung vom 10. August 1932 in seinem meuchelmörderischen Kampfe gegen die Nationalsozialisten gelähmt, hoffte aber doch, aus dem Bruderkampfe innerhalb der Harzburger Front seinen Vorteil ziehen zu können und bereitete in aller Stille einen Umsturz vor.

Das Zentrum und die Bayerische Volkspartei nahmen eine abwartende Haltung ein. Ihr Wunsch, den Parlamentarismus wieder gegenüber der autoritären Diktatur zur Geltung zu bringen, ließ sie dem Nationalsozialismus, der für die Rechte des Volkes kämpfte, zuneigen. Bei der Ungewißheit über den Ausgang des Kampfes aber ließ ihr anderer Wunsch, an der Regierung teilzunehmen, sie zeitweise auch eine Annäherung an Papen versuchen. Die Mittelparteien hofften auf einen Zerfall des Nationalsozialismus. Sie träumten von einer Wiedergeburt des deutschen Bürgertums und wollten die zurückflutenden Massen mit offenen Armen aufnehmen. Die Christlich-Sozialen, die Staatspartei, das Landvolk und die Wirtschaftspartei wollten unter dem Namen einer Hindenburgpartei sich zusammenschließen, aber alle diese Versuche scheiterten Ende September an der liberalistischen Zügellosigkeit der Splitterparteien und auch Weigerung der Deutschen Volkspartei, sich an solchen Sammelbestrebungen zu beteiligen. Diese hielt an ihrem Wahlbündnis mit den Deutschnationalen fest.

[52] Die Nationalsozialisten gingen allein in den Kampf, ohne Bundesgenossen und Freunde. Die Verhandlungen mit dem Zentrum waren eingestellt worden. Hitler kämpfte grundsätzlich für die deutsche Volksgemeinschaft, und nach der Auflösung des Parlamentes lag für ihn kein Grund mehr vor, das Spiel der Koalition fortzusetzen.

Die Deutschnationalen, von Hugenberg geführt, traten hinter die Regierung Papen. Sie kämpften für den autoritären Staat, der aus dem Parteigetriebe völlig gelöst sein sollte. Die Ära der Weimarer Verfassung müsse endgültig abgeschlossen sein. Hugenberg bezeichnete den Kampf der Nationalsozialisten als blind und wunderlich. Es sei eine unbegreifliche Verirrung, daß die N.S.D.A.P. die Hilfe des Zentrums, der Sozialdemokraten und Kommunisten in Anspruch nehme gegen die Reichsregierung. Nicht Papen und die Deutschnationalen seien Träger der Reaktion, sondern die Bonzen und Parteien. Insbesondere aber zeigte sich Hugenberg jetzt unverhüllt als Vorkämpfer des Kapitalismus, der gegen "jede Art von Sozialismus" wetterte und natürlich auch den Nationalsozialismus als etwas Gefährliches verdammte. Alle Versuche der bürgerlichen Splitterparteien, auch die Deutschnationale Partei in die geplante Hindenburg- oder Vaterlandspartei hineinzubeziehen, lehnte Hugenberg mit entschlossener Beharrlichkeit ab. Seite an Seite mit den Deutschnationalen kämpften der Stahlhelm und die Christlichen Gewerkschaften. –

Hindenburg war durch den Gang der Dinge arg verstimmt. Täglich liefen tausende von Protestschreiben bei ihm ein und lösten Zweifel in ihm aus, ob der Papenkurs, den er steuerte, auch der richtige sei. Eine Entscheidung oder Änderung aber wollte er vor den Wahlen nicht treffen, um die Verwirrung nicht noch größer zu machen.

Die Nationalsozialisten hatten im Landtag und Reichstag zwei mächtige Vorstöße gegen das System Papens und Brachts unternommen. Im preußischen Landtag war am 30. August, wie wir bereits wissen, mit Hilfe der Nationalsozialisten ein kommunistischer Antrag angenommen worden, der die Gehorsamsverweigerung der Beamten gegenüber der kommissarischen [53] Regierung sanktionierte. Im Reichstag hatten die Nationalsozialisten am 12. September dem kommunistischen Mißtrauensantrag gegen die Regierung zum Siege verholfen und Göring, der nationalsozialistische Reichstagspräsident, hatte die Auflösungsorder Papens nicht anerkannt. Wir sahen bereits, daß der Reichstagskonflikt durch den Druck, den Papen auf Göring ausübte, im Sinne der Regierung beigelegt wurde. Einige Tage später zwang Papen mit der Macht, die ihm zur Verfügung stand, auch den nationalsozialistischen Präsidenten des preußischen Landtags, Kerrl, den Beschluß vom 30. August zu revidieren.

Am 19. September legte Kerrl in persönlicher Aussprache mit Hindenburg, bei der auch Papen zugegen war, die ablehnende Auffassung des Landtags über die Einsetzung des Reichskommissars dar. Hindenburg aber und Papen erklärten, daß an dem Zustande nichts geändert werden würde. Der Kanzler drohte, es könne sehr ernste Folgen haben, wenn der Beschluß vom 30. August nicht zurückgenommen würde, und stellte die Auflösung des Parlamentes in Aussicht. Zwei Tage darauf erschienen Vertreter der deutschnationalen, der sozialdemokratischen und der Zentrumsfraktion des Landtags bei Kerrl und suchten ihn zur Aufhebung des Gehorsamsverweigerungsbeschlusses zu bewegen. Am folgenden Tage fand eine außerordentlich stürmische Landtagssitzung statt, als der deutschnationale Abgeordnete Steuer den Antrag seiner Fraktion, den Beschluß vom 30. August als gesetzwidrig aufzuheben, begründete. Mit 208 gegen 35 Stimmen und bei 45 Enthaltungen wurde dieser Antrag abgelehnt. Dagegen beantragten die Nationalsozialisten als Ergänzung zum Beschluß vom 30. August, soweit die Verfassung Preußens und des Reiches von der kommissarischen Regierung beachtet und durchgeführt werde, sei es Pflicht der Beamten und Angestellten Preußens, die Verfassung ebenfalls zu achten und zu schützen. Mit 156 gegen 86 Stimmen bei 45 Enthaltungen wurde der Antrag angenommen. So war man Papen entgegengekommen und nahm ihm das Recht zu weiteren Zwangsmaßnahmen. Am 23. September beschloß der Landtag noch Aufhebung der [54] Sondergerichte und Gemeindewahlen zum 6. November, dann vertagte er sich.

So war es dem Kanzler gelungen, Ende September die beiden parlamentarischen Vorstöße der Nationalsozialisten abzuwehren, doch war der Erfolg Papens keineswegs etwa ein Beweis innerer Stärke, sondern nur ein Beweis des Machtbesitzes.

Die Reichsregierung war vor allem bemüht, durch sogenannte "positive Arbeit" dem Nationalsozialismus die moralische Grundlage zu entziehen. Papen griff dabei auf nationalsozialistische Gedanken zurück und suchte sie in seinem Sinne auszuwerten. Es zeigte sich aber bald, daß es hierbei stets nur beim Willen blieb und daß die liberalistischen Methoden fast überall die Durchführung der Pläne durchkreuzten. So wurde am 13. September ein Erlaß über die Bildung eines Reichskuratoriums für Jugendertüchtigung herausgegeben. Den Vorsitz übernahm der von den Nationalsozialisten scharf bekämpfte Reichsinnenminister Freiherr von Gayl, und der geschäftsführende Vorsitz wurde in die Hände des Generals von Stülpnagel gelegt. Die Schwäche dieses Kuratoriums bestand schon darin, daß es nicht in die Freiheit der bereits bestehenden beruflichen, politischen und konfessionellen Verbände eingreifen wollte, sondern nur die Vertreter dieser Verbände, die sich der körperlichen Ausbildung der Jugend widmeten, in sich zu gemeinsamen Richtlinien zusammenfassen wollte. Vor allem sollte jetzt der Geländesport betrieben werden. Es standen etwa 20 Lager in Deutschland zur Verfügung, in denen je 100–200 Mann als Lehrer in dreiwöchigen Kursen ausgebildet werden sollten. Die Auswahl der Lehrer sollte ohne Unterschied der Parteien erfolgen, und für die Teilnahme an den Kursen waren Parteiuniformen verboten. Mitte Oktober begannen in kleinem Umfange die Lehrgänge. – Der Gedanke, den hier Papen zu verwirklichen suchte, war an sich nicht neu. Bereits die Reichsinnenminister Wirth und Gröner hatten derartige Pläne, auch sie hofften, wie Papen, mit dieser Einrichtung die deutsche Jugend allmählich dem Nationalsozialismus zu entfremden und eine Bresche in die S.A. zu schlagen. Aber diese [55] neue Einrichtung hatte keine Seele, keine Weltanschauung. Nur der Verzicht auf eine solche konnte dem liberalistischen System die Möglichkeit geben, die deutsche Jugend von der S.A. bis zum Reichsbanner unter ein Kuratorium zusammenzufassen. –

  Regierungsbemühungen  
um Landwirtschaft

Die Bemühungen Papens, die Wirtschaft wieder herzustellen, welche sich durch den ganzen September und Oktober hinzogen, waren schließlich zu völligem Scheitern verurteilt.

Man machte Papen den Vorwurf, er sorge nicht für die Landwirtschaft. So kam es denn, daß die Reichsregierung Versuche anstellte, der landwirtschaftlichen Produktion zu helfen. Man dachte an eine Zinssenkung für langfristige Kredite. Die Landschaften sollten ersucht werden, die Zinsen der ländlichen Besitzer von 6 auf 4 Prozent zu ermäßigen. Allerdings sollte diese Zinssenkung eine freiwillige sein, sie sollte durchaus der Privatinitiative der Wirtschaft entspringen. Es wurde außerdem an einer besonderen Vergleichs- und Vollstreckungsordnung gearbeitet. Vor allem aber schien es nötig, die Nahrungsmittelversorgung des Volkes aus eigner Scholle sicherzustellen. Die schrankenlose Einfuhr ausländischer Lebensmittel mußte zurückgedrängt werden, und zwar sollte dies nachdrücklicher als durch Zölle durch Kontingentierung der Gemüse- und Fetteinfuhr geschehen. Die einzuführenden Mengen sollten auf ein Mindestmaß herabgedrückt werden, wie Hugenberg das Anfang September vorgeschlagen hatte.

Diese Kontingentierung, die Mitte Oktober beginnen sollte, machte der Regierung die meisten Sorgen. Sofort erhoben sich Widerstände. Die Industrie fürchtete Gegenmaßnahmen des Auslandes. Man kam diesen Bedenken entgegen und wollte die Kontingentierung vorläufig, gleichsam versuchsweise, nur bis zum 31. Dezember durchführen. Aber im Laufe der Verhandlungen überwog der industrielle Einfluß mehr und mehr. Zwischen dem Reichswirtschaftsminister Warmbold und dem Landwirtschaftsminister von Braun kam es zu ernsten Meinungsverschiedenheiten, so daß Braun mit seinem Rücktritt drohte. Besonders die Banken standen auf Warmbolds Seite und lehnten jede Kontingentierung energisch ab. [56] Reichsbankpräsident Dr. Luther schrieb am 11. Oktober einen Brief an Papen, der folgende Stellen enthielt:

      "Die uns über den gegenwärtigen Stand der Verhandlungen in Rom betr. die Kontingentierungsfrage und betr. die Devisenbeziehungen zwischen Deutschland und Italien zugegangenen Nachrichten, ferner die Nachrichten über die Rückwirkungen dieser Verhandlungen in Italien und über die sonstigen Auswirkungen der Kontingentierungsbestrebungen, endlich die Beobachtungen, welche der Präsident unseres Kollegiums und das Mitglied unseres Kollegiums, Geheimer Finanzrat Dr. Vocke, gelegentlich der gestrigen Verwaltungsratssitzung der Bank für internationalen Zahlungsausgleich in Basel gemacht haben, legen uns im Interesse der deutschen Währung die Verpflichtung auf, der Reichsregierung gegenüber auszusprechen, daß wir ernste Gefahren für die deutsche Währung und für die deutsche Wirtschaft heraufziehen sehen, wenn nicht als entscheidender Gesichtspunkt der deutschen Handelspolitik die Gewinnung eines möglichst großen Devisenüberschusses aus dem deutschen Wirtschaftsverkehr mit dem Auslande betrachtet und die tatsächliche Handelspolitik auf dieses Ziel gerichtet wird. Wir können uns angesichts der für die Währung drohenden Gefahren der Verpflichtung zu diesen Darlegungen nicht entziehen, obwohl es uns fernliegt, zu der Handelspolitik als solcher irgendwie Stellung nehmen zu wollen...
      Wir haben die Erwähnungen vielmehr nur gemacht, um darauf hinzuweisen, daß bis jetzt ein Zustand der Stabilität mit leichter Besserung in den primären Deckungsmitteln der Reichsbank aufrecht erhalten worden ist und daß auch gewisse Aussichten der Aufrechterhaltung dieser Stabilität für die Zukunft bestehen. Diese Stabilität (die an sich natürlich nicht genügt, sondern allmählich einer fühlbaren Besserung der Devisenlage Platz machen muß) wird, wie wir überzeugt sind, durch die zurzeit schwebenden oder in Angriff genommenen Kontingentierungsmaßnahmen in ernste Gefahr gebracht. Wir können in keiner Weise annehmen, daß künstliche Einfuhrdrosselungen derart, wie sie jetzt in Erörterung stehen, für die Devisenbilanz Nutzen bringen...
[57]     Wir möchten hoffen, daß diejenigen nicht recht haben, die glauben, bereits jetzt sei ein Schaden entstanden, der nicht völlig wieder gut zu machen wäre. Wir sehen indessen die Sachlage nunmehr als so ernst an, daß wir uns im Interesse der deutschen Währung verpflichtet fühlen, Ihnen, sehr geehrter Herr Reichskanzler, diese dringenden Vorstellungen zu unterbreiten. Wir haben uns gestattet, Abschrift dieses von den in Berlin anwesenden Mitgliedern unseres Kollegiums unterzeichneten Schreibens an alle Mitglieder der Reichsregierung zu senden."

Mitte Oktober war man denn endlich in der Reichsregierung soweit, daß die Kontingentierungsverhandlungen, deren Beginn durch viele Worte in breiter Öffentlichkeit angekündigt worden war, bis nach der Wahl vertagt wurden.

Man führte zwar in Brüssel, im Haag, in Paris, in Rom und Kopenhagen die Kontingentierungsverhandlungen mit dem Auslande noch einige Zeit weiter, kam aber zu keinem abschließenden Ergebnis. Schließlich nahm das Reichskabinett bei seinen Versuchen, der Landwirtschaft zu helfen, seine Zuflucht zu dem Plane, die Getreidepreise zu stützen und deren weiteres Abgleiten zu verhindern. Und auch dies war noch zuviel, so daß man schließlich nur noch an Zollerhöhungen dachte. Die Agrarpolitik Papens war ganz und gar zusammengebrochen.

Versagen des
  Wirtschaftsprogramms  

Viel bedenklicher aber war es, daß auch das mit großen Hoffnungen begonnene Wirtschaftsprogramm versagte. Zwar berichtete die papenfreundliche Presse täglich von neuen Arbeitereinstellungen in den Betrieben, und in der Tat schien die Zahl der Arbeitslosen sich zu verringern. Man zählte Ende August 5 140 000 Arbeitslose, Mitte September 5 263 000 und Ende September 5 103 000. Der Rückgang von 40 000, der zum guten Teil durch Saisonarbeiten herbeigeführt wurde, entsprach in keiner Weise den Hoffnungen, die man auf den Papenplan gesetzt hatte. Zudem erfolgten bei der Eisenbahn tausende von neuen Arbeiterentlassungen. Auch der Roheisenabsatz hatte sich im September abermals sehr verschlechtert, in diesem Monat wurden wieder 8 Hochöfen stillgelegt, so daß nur noch 32 im Betrieb waren, wäh- [58] rend Anfang 1932 von den 155 deutschen Hochöfen noch 48 arbeiteten. Alles, was die Roheisenindustrie hatte, war die Hoffnung, daß mit Hilfe des Papenplanes bis Ende des Jahres 1932 die Zahl der arbeitenden Hochöfen auf 44 vermehrt werden konnte. – Gewiß gelang es Papen, das Anwachsen der Arbeitslosigkeit zum Stillstand zu bringen, denn Ende Oktober betrug die Zahl der Arbeitslosen nur 5 109 000, während im Vorjahr der Zugang im Oktober 269 000 betragen hatte. Dieser Erfolg war aber nur scheinbar. Es war die Folge der Beschäftigungsprämie, welche die Unternehmer anreizte, und der weiteren Verringerung des Existenzminimums der noch arbeitenden Bevölkerung, welche heftigen Groll hervorrief.

Lediglich der freiwillige Arbeitsdienst schien einen kleinen Aufschwung zu nehmen. Die Zahl der hier Beschäftigten betrug Ende August 144 000, Ende September etwa 200 000 und Ende Oktober rund 250 000.

Nun setzte aber Papen im Verfolg seiner Verordnung zur Erhaltung und Vermehrung der Arbeitsgelegenheiten vom 5. September die vierzigstündige Arbeitswoche fest und gab den Arbeitgebern das Recht, im Interesse von Neueinstellungen die bereits stark gesenkten Löhne noch weiter zu kürzen. Auf diese Weise glaubte Papen seine Aufgabe, die Arbeitslosigkeit zu vermindern und die Arbeitsgelegenheiten zu vermehren, am besten lösen zu können. Dem Reichsarbeitsminister Schäffer gelang es, die Christlichen Gewerkschaften, welche derartigen Plänen mißtrauisch gegenüberstanden, zu beruhigen und zur Mitarbeit zu gewinnen, und infolge dieser Entwicklung lebte in den Kreisen des Industriekapitals der Gedanke auf, die früheren Werksgemeinschaften neu zu begründen. Die Regierung selbst machte sich den Gedanken zu eigen und suchte seine Verwirklichung zu fördern.

  Streiks  

Doch in den Kreisen des arbeitenden Volkes wuchs gewaltiger Zorn empor. Es blieb nicht dabei, daß man Papen unsozial nannte, sondern in allen Teilen des Reiches brachen gegen den Widerstand der Christlichen Gewerkschaften Massenstreiks aus. In Weißenfels traten die Schuharbeiter in den Ausstand, in Berlin die Möbeltransportarbeiter. In Ham- [59] burg traten 8000 Mann der Verkehrsbetriebe in den Streik ein, so daß alle Verkehrsmittel ruhten. Die Berliner Metallarbeiter und Taxichauffeure, die Hochseefischer in Wesermünde, die Metallarbeiter in Breslau, die Textilarbeiter in Sachsen und im Rheinland, im Ruhrgebiet und in Oberschlesien – überall brachen Ende September und im Oktober riesige Streiks aus.

Papen war ratlos. Die Industriellen verlangten Gewaltmaßnahmen. Sie drohten den Streikenden mit Ausschluß von der Arbeit, sie forderten von der Regierung, daß sie ein Streikverbot verhänge. Doch dazu war Papen nicht bereit. In diesen Augenblicken fühlte er so recht seine Ohnmacht. Selbst das Arbeitsministerium war in seiner Ansicht nicht einig; es gab Referenten, welche die von Papen geförderten Lohnkürzungen ablehnten. Der Reichskanzler, der jetzt so recht fühlte, daß das Volk nicht hinter ihm stand, konnte nichts anderes tun als den Industriellen und den Schlichtern raten, sich friedlich mit den Arbeitnehmern zu einigen.

Verkehrsstreik in Berlin, November 1932.
[Bd. 7 S. 16a]      Verkehrsstreik in Berlin:
November 1932.
      [Photo Scherl?]
Besonders verhängnisvoll konnte diese Streikbewegung für die Regierung Papen dadurch werden, daß sie fast allenthalben von der nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation geleitet wurde. Die Nationalsozialisten traten nachdrücklich für die Rechte der Arbeiterschaft gegen die kapitalistischen Unternehmer ein und bekämpften daher aufs rücksichtsloseste Papens Wirtschaftsverordnungen. Die nationalsozialistische Abwehrbewegung des schaffenden Volkes gegen Papens wirtschaftspolitische Absichten fand ihren Höhepunkt in einem gewaltigen Streik bei der Berliner Verkehrsgesellschaft. Am Morgen des 3. November ruhten sämtliche Verkehrsmittel Berlins. Der Grund war, daß die Löhne der Arbeiter und Angestellten um 2 Pfennige je Stunde, d. h. also um 5–6 Mark im Monat gekürzt werden sollten, während die hohen Gehälter der leitenden Beamten, die das Fünf- bis Zehnfache der Arbeitslöhne betrugen, nicht angerührt wurden. Die christlichen Gewerkschaften und die sozialdemokratischen freien Gewerkschaften wollten sich zwar dem Schiedsspruch des Schlichters vom 3. November fügen, der die Lohnkürzung bestätigte, doch Nationalsozialisten und [60] Kommunisten führten mit allen Mitteln den Streik weiter.

November 1932, Streikende am Straßenbahnhof.
[Bd. 7 S. 16b]      November 1932:
Streikende am Straßenbahnhof.
      Photo Scherl.
Verkehrsstreik in Berlin, November 1932.
[Bd. 7 S. 16b]      Verkehrsstreik in Berlin, November 1932: Demonstranten bringen Straßenbahn zum Stehen.     Photo Scherl.

Die Spannung in der Reichshauptstadt stieg von Stunde zu Stunde. Es kam zu Zusammenstößen zwischen Streikposten und Arbeitswilligen, in verschiedenen Stadtteilen wurden Barrikaden errichtet.

Unruhen in Berlin.
[Bd. 7 S. 32a]     Unruhen in Berlin: Barrikaden in der Hermannstraße zu Neukölln.     Photo Scherl.

Am 5. November wurde die Polizei mit allen Machtmitteln eingesetzt, um den Streik zu brechen. Hunderte von Funktionären und Streikposten wurden verhaftet; es wurde sogar geschossen und es gab Tote, die Direktion der Verkehrsgesellschaft drohte den Streikenden mit Aussperrung, aber alle Mittel waren vergebens, der Streik dauerte über die Wahlen hinaus an und kam erst am 8. November zum Erlöschen, nachdem Tausende entlassen und ausgesperrt und Hunderte in Gerichtsverfahren verwickelt worden waren. Da kapitulierten die Kommunisten, und die Nationalsozialisten waren gezwungen, den Streik abzubrechen. –

  Abermals Regierungspläne  
einer Verfassungsreform

Papen konnte sich keineswegs über die innere Schwäche und den Zusammenbruch seiner Wirtschaftspolitik täuschen, und so geschah es, daß er, je näher die Wahl heranrückte, den Schwerpunkt seiner Politik mehr und mehr auf die von ihm geplante Verfassungsreform verlegte. Aber auch hier war er keineswegs glücklich. Es gab allzuviel widerstreitende Wünsche, die berücksichtigt sein wollten. In Süddeutschland z. B. wollte man eine Verfassungsreform im Sinne der Demokratie; man war unter Umständen gewillt, die Verwaltung Preußens und des Reiches – wie Papen das wollte und wie das den süddeutschen Ministern schwere Sorgen bereitet hatte – vereinigen zu lassen, wenn die preußischen Provinzen als Reichsländer dezentralisiert würden, d. h. wenn Preußen also tatsächlich aufgelöst würde, und wenn den süddeutschen Ländern wesentliche Teile ihrer finanziellen Selbständigkeit zurückgegeben würden. Der bayrische Ministerpräsident Held und der Führer der Bayrischen Volkspartei, Schäffer, weilten am 19. September in Berlin und überreichten Papen eine diesbezügliche Denkschrift, worin sie auch einen Volksentscheid über die geplante Reichs- und Verfassungsreform vorschlugen. Es schien auch bei Papens Besuch in München am 11. Oktober, als solle zwischen Berlin und München endlich eine Einigung auf dem Boden des Föderalismus herbeigeführt werden. Es [61] kam ein Einvernehmen, eine Versöhnung zustande, der noch verwaiste bayrische Gesandtenposten in Berlin wurde neubesetzt. Die bayerische Presse sang ein Lied der Versöhnung in allen Tönen, man lobte Papen, daß er zum Bismarckschen Bundesreiche, zum Föderalismus zurückkehren wolle. Denn man erblickte in der Beseitigung der Weimarer Verfassung und in der Wiedererweckung des föderalistischen Reiches die beste Garantie für das Eigenleben des bayerischen Volkes. Sogar die Bayerische Volkspartei brachte Papen ihre Freundschaft entgegen und beschloß im weiteren Verlauf des Wahlkampfes für die Reichsregierung einzutreten. Papen bezeichnete dies als den größten Erfolg seiner Münchener Reise, allerdings war er nur von kurzer Dauer. Immerhin läßt sich bei Papen das Bestreben feststellen, seine Machtstellung nach dem Bruche mit dem Parlament durch neue freundschaftliche Beziehungen zu den Länderregierungen wieder zu festigen. Allerdings gelang ihm das nicht.

Die Reichsregierung rechnete, daß die Arbeiten der Länderkommission zur Vorbereitung der Verfassungsreform bis zum Dezember beendet sein würden und daß im April 1933 die neue Verfassung in Kraft treten könnte. Sie war sich auch bereits Mitte Oktober darüber klar, daß der neue Reichstag kaum den Verfassungsentwurf verabschieden würde, und erwog die Einberufung einer neuen Nationalversammlung im November nach Potsdam. Es liefen Gerüchte um, daß diese Nationalversammlung der Auftakt zu einer Reichsverweserschaft mit dem Endziel der Wiederherstellung der Monarchie sein sollte. Andere Gerüchte wieder wollten von der Schaffung eines "Präsidentschaftsrates" wissen, den der Reichspräsident "vorläufig zu seiner Beratung und Unterstützung heranziehen" sollte. Es handelte sich also um eine Art Kronrat.

Die Reformpläne beschäftigten sich vor allem mit drei Hauptfragen: mit der Eingliederung Preußens in das Reich, d. h. also mit der Beseitigung des 1919 geschaffenen Dualismus zwischen Reich und Preußen, mit der Erneuerung des Parlamentarismus, d. h. also mit der Schaffung eines Oberhauses aus dem Reichsrat, mit dem Zwecke, die Macht des Reichstages einzuschränken, und mit einer Verstärkung der Macht des [62] Reichspräsidenten, und schließlich mit der Schaffung eines neuen Wahlrechts, d. h. also mit der Heraufsetzung des Wahlalters und der Einführung von Pluralstimmen.

Mitte Oktober 1932 lagen die Grundzüge des Reformwerkes fest. Am dringlichsten schien die preußische Frage. Die Tätigkeit des Staatskommissars sollte nach Hindenburgs Willen erst dann aufhören, wenn die Verfassungsfrage zwischen Reich und Preußen zugunsten der Reichsregierung entschieden sei und die preußische Exekutivgewalt auf das Reich übergehe. Im übrigen versprach sich die Reichsregierung durch die Vereinfachung der Verwaltung in Preußen eine jährliche Ersparnis von zwei bis drei Milliarden Mark. Der Reichspräsident sollte zugleich preußischer Staatspräsident werden und den preußischen Ministerpräsidenten und die Minister ernennen. Diese Personalunion sollte auch auf Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten wie auch auf einige andere Minister ausgedehnt werden. Nur zwei preußische Ministerien sollen selbständig bestehen bleiben, das für Inneres und das für Justiz.

Dem Landtage wollte man das Recht zugestehen, einmal zu Beginn der vierjährigen Parlamentsperiode zu der vom Reichs- bzw. Staatspräsidenten ernannten Regierung Stellung zu nehmen. Im Falle des parlamentarischen Vertrauens würde dann die Regierung vier Jahre im Amte bleiben.

Ein besonderes Zugeständnis an die geschäftsführenden Zentrumsregierungen Süddeutschlands war die Absicht, den einzelnen Ländern die Wahl der Staatsform zu überlassen. So könnte Bayern ohne weiteres wieder Königreich werden. Auch wollte man den Ländern ein Recht auf Änderung des Wahlsystems zugestehen und ihnen die Möglichkeit geben, den Sturz der Regierung an eine qualifizierte Mehrheit, zwei Drittel oder drei Viertel, zu binden. Dieser Punkt würde also die Möglichkeit in sich schließen, daß eine Regierung weiter im Amte bleiben könne, wenn sie auch nur zu einem Drittel oder gar Viertel das Volk hinter sich hat.

Die Reichsregierung sollte von den Parteimehrheiten des Reichstages unabhängig gemacht werden. Dazu sollte eine erste Kammer neben dem Reichstag gebildet werden, und [63] Beschlüsse sollten erst dann Rechtskraft erlangen, wenn sie von der gesetzlichen Mehrheit beider Häuser angenommen worden sind. Reichstagsbeschlüsse mit Zweidrittelmehrheit dürfen von der ersten Kammer nicht abgelehnt werden. Diese Bestimmungen würden natürlich auch auf den Sturz der Reichsregierung anzuwenden sein, wodurch Artikel 54 der Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt würde, der bestimmt, daß Reichskanzler und Reichsminister zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags bedürfen.

Die erste Kammer nun sollte bestehen zu einem Drittel aus den von den Ländern ernannten Mitgliedern des Reichsrates, zum zweiten Drittel aus Mitgliedern des Reichswirtschaftsrates, also Vertretern der Berufsorganisationen und Verbände, und zum letzten Drittel aus "um Staat und Volk verdienten Persönlichkeiten, die der Reichspräsident von sich aus ernennt". Reichsrat und Reichswirtschaftsrat sollten verschwinden.

Natürlich sollte auch das Wahlrecht geändert werden: das aktive Wahlrecht sollte auf 25, das passive auf 30 Jahre erhöht werden. Für das Gemeindewahlrecht wurden Zusatzstimmen für Kriegsteilnehmer und Familienväter geplant, so daß also ein Familienvater, der am Kriege teilgenommen hatte, das Anrecht auf drei Stimmen bekam!

Papens sehnlichster Wunsch war es gewesen, die Änderungen des Wahlrechts bereits bei den Novemberwahlen in Kraft treten zu lassen, durch Notverordnung, aber Hitlers ständige kategorische Forderung, legal zu bleiben, die Verfassung nicht zu brechen, ließen ihn doch von diesem Plane absehen.

Das Verhältniswahlrecht sollte durch den Ein-Mann-Wahlkreis mit der Möglichkeit der Stichwahl ersetzt werden. Es würde also in Zukunft jeder Wahlkreis nur einen Abgeordneten in den Reichstag schicken. Die für den Reichstag gewählten preußischen Abgeordneten sollten gleichzeitig den preußischen Landtag bilden.

Im Verhältnis des Reiches zu den übrigen Ländern sollten die föderalistischen Ideen Geltung haben, wie sie Papen in München entwickelt hatte.

[64] Diese Verfassungsreform, die in der Hauptsache das Werk des Reichsinnenministers Freiherrn von Gayl war, verzichtete auf etwas grundsätzlich Neues und wollte nur "mangelhafte Einrichtungen durch bessere" ersetzen. So wurde von einer Änderung der Staatsform vollkommen abgesehen. Der Zweck war die Herbeiführung einer Beständigkeit, die Zurückdrängung der Parteileidenschaften, die Dezentralisierung der Reichsverwaltung, ihre Vereinfachung und Verbilligung. So löblich diese Bemühungen waren, so verderblich waren sie aber auch. Diese Verfassungsreform war geboren aus dem Parteigeist einer exklusiveren Gesellschaftsklasse und daher unfähig des großen, erwarteten Neuen, nämlich der endgültigen und mutigen Beseitigung des Parteiwesens. Geboren aus dem Liberalismus, fehlte dieser Verfassung der Mut in die Zukunft, sie mußte ein Jahrhundert in die Vergangenheit zurückgreifen, um aus den Anfängen des Parlamentarismus die Heilmittel zu holen gegen die Auswüchse der Gegenwart. Das war paradox; kann man einen kranken Greis heilen, indem man ihm das Blut seiner Jugend einspritzt? Das ist unmöglich! So war dieser Plan einer Verfassungsreform tot und starr, ehe er das Licht der Welt erblickte. Die beiden Kammern, die Heraufsetzung des Wahlalters und die Pluralwahlstimmen, alte Theaterkulissen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, erweckten nur das Gelächter des Volkes, und über die Wiedererweckung des Föderalismus des Bismarckreiches ging das Volk als unzeitgemäß und überaltert hinweg. Der Verfassungsentwurf der Regierung Papen war das kläglichste und stümperhafteste Machwerk, das je das Zeitalter des deutschen Liberalismus zu Wege gebracht hatte!

Günstig für die Regierungspläne war der Umstand, daß die Sozialdemokratie als politischer Faktor fast gänzlich ausgeschaltet war. Mit den Sozialisierungsanträgen, welche die Parteileitung am laufenden Bande produzierte, konnte sie keine zugkräftige Wahlpropaganda mehr treiben. Auch das andere Argument, das bis zum 31. Juli weidlich verwandt wurde, daß nämlich Hitler und Papen sich zur Unterdrückung des werktätigen Volkes verbündet hätten, erwies sich allmählich als hundertprozentige Lüge. Dazu wurde Tag um [65] Tag ein neuer Korruptionsskandal sozialdemokratischer Größen an das Licht der Öffentlichkeit gezogen, und es erwies sich alsbald vor dem Volke, daß die gesamte sozialdemokratische Bonzokratie, von den Ministern angefangen bis hinab zum Ortsvorsteher des kleinsten Dorfes, in Korruption verrottet und verseucht war und mit öffentlichen Geldern schamlosesten Eigennutz getrieben hatte. Daß die Regierung Braun am 20. Juli ohne allen Widerstand sich hatte beseitigen lassen, hatte die Massen der sozialdemokratischen Wählerschaft innerlich sehr erschüttert. Es bildete sich eine aktivistische Opposition gegen den liberalistischen Regierungsschlendrian in der Parteileitung. Eine Versammlung Ende September im Bezirk Groß-Berlin erwies die starke Unzufriedenheit der Partei. Dort wurde mit 358 gegen 17 Stimmen der Rücktritt der Wels, Hilferding, Breitscheid, Stelling gefordert. Es ging sehr erregt zu. Künstler, der Bezirksvorsitzende, wurde niedergeschrien. Severing, der das Referat halten sollte, war gar nicht erschienen! Der Partei wurde vorgeworfen, sie habe aufs schwerste versagt. Von den Gewerkschaften wurde dasselbe behauptet. Man forderte neue Männer an die Spitze, in der Partei, in den Gewerkschaften, in der Presse.

  Staatsgerichtshofsurteil  
über Preußen

Da kam der in schwerer Not befindlichen Sozialdemokratie ein unerwartetes Ereignis noch zu Hilfe. Bekanntlich thronte, wie ein König ohne Land, die am 20. Juli abgesetzte geschäftsführende Preußenregierung Braun-Severing in Berlin weiter, neben Bracht, und bezog die großen Ministergehälter nach wie vor. Braun hatte ja nun in Leipzig die Sache vor dem Staatsgerichtshof anhängig gemacht, aber die Verhandlung wurde von Woche zu Woche verschoben, bis sie endlich am 10. Oktober begann. Tagelang wurde von den Parteien das Für und Wider der Vorgänge am 20. Juli erörtert, und der bayerische Vertreter – die Länder hatten ja auch Partei für Braun-Severing genommen und sich der Klage gegen das Reich angeschlossen – gab dabei die interessante Erklärung ab, Bayern bestreite, daß für die Länder eine Treupflicht gegenüber dem Reiche bestehe, zumindest sei sie nicht innenpolitisch vorhanden! Die Länderpflichten seien verfassungsmäßig fest- [66] gelegt, von einer Treupflicht aber stehe nichts in der Verfassung!

Preußische "Hoheitsregierung"
gegen
  kommissarische Exekutivregierung  

Am 25. Oktober verkündete der Staatsgerichtshof das Urteil: Die auf Grund der Verordnung des Reichspräsidenten zur Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe und Ordnung in Preußen erfolgte Einsetzung der Reichskommissare sei durch die Verfassung zu rechtfertigen, doch könne dem preußischen Staatsministerium und seinen Mitgliedern die Vertretung des Landes Preußen im Reichsrat, im Reichstag oder sonst gegenüber Preußen oder anderen Ländern nicht entzogen werden. Durch dieses Urteil wurde ein kurioser Zustand geschaffen. Preußen hatte jetzt in aller Form des Rechtes zwei Regierungen, die "Hoheitsregierung" der Braun und Severing, welche das Land staatsrechtlich im Reich, in den Parlamenten usw. zu vertreten hatte, und die kommissarische "Exekutivregierung" der Papen und Bracht, welche für die öffentliche Ruhe und Ordnung zu sorgen hatten!

Papen, der durch seine liberalistische Saumseligkeit es überhaupt erst ermöglicht hatte, daß der Staatsgerichtshof ein Urteil fällen konnte, befand sich in einer unangenehmen Lage. Notgedrungen mußte er jetzt eine Form der Zusammenarbeit zwischen geschäftsführender und kommissarischer Preußenregierung finden, wenn er auch sogleich erklärte, daß die bisherigen Maßnahmen der kommissarischen Regierung durch das Urteil keineswegs berührt würden.

Braun aber und Severing frohlockten. Der demonstrative Einzug der Minister in die Geschäftsräume des ihnen zur Verfügung gestellten preußischen Wohlfahrtsministeriums artete in eine öffentliche Huldigung des Reichsbanners aus, und gleich am folgenden Tage, dem 26. Oktober, hielt Braun eine Kabinettssitzung ab, die der kommissarischen Regierung den Kampf ansagte. Im Wohlfahrtsministerium, wo das "Kabinett" tagte, setzte jetzt ein reges Kommen und Gehen ein. Die von Bracht gestürzten Größen, die Gewerkschaftsführer und Pressevertreter, alle treuen Paladine des Systems stellten sich ihren Herren wieder vor, und eine Anzahl der von Bracht abgesetzten Beamten wurde in neue Ämter eingeführt.

[67] Für Papen war diese Wendung der Dinge der Anlaß, die geplante Reichsreform und die Personalunion zwischen Reich und Preußen zu beschleunigen. Auch Hindenburg war bemüht, einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden. "Das Reich muß gerettet werden, aber die beschworene Verfassung ist mir heilig" äußerte er. Am 29. Oktober erschien Braun bei Hindenburg zu einer Unterredung, an der auch der Reichskanzler teilnahm. Braun forderte, Bracht solle sich nur auf solche Maßnahmen beschränken, welche die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung beträfen; mit den personellen Veränderungen solle er aufhören. Dem aber widersprach Papen: Der Kommissar müsse die gesamte Exekutive haben und habe daher die Pflicht, die preußische Verwaltungsreform durchzuführen; die personellen Veränderungen seien nur aus sachlichen Gründen vorgenommen worden; der Reichskommissar werde der preußischen Regierung die Möglichkeit geben, die ihr im Leipziger Urteil zuerkannten Rechte auszuüben; aber Eingriffe in die Befugnisse des Reichskommissars werde man nicht dulden. Braun entgegnete, die Verwaltungsreform solle nicht ohne vorherige Verständigung mit der preußischen Regierung durchgeführt werden. Hindenburg hob nun hervor, daß zur Wiederherstellung gefestigter Verhältnisse es weiterhin notwendig sei, die staatlichen Machtmittel Preußens und des Reiches in einer Hand zu behalten und die Politik Preußens und des Reiches in einheitliche Bahnen zu führen. Eine Verständigung zwischen Braun und Papen kam daher nicht zustande.

Die Folge davon war, daß noch am gleichen Tage Papens Verordnung zur Verbilligung und Vereinfachung der Verwaltung in Preußen bekanntgemacht wurde. Sechs Fachministerien für Inneres, Finanzen, Landwirtschaft, Wirtschaft und Arbeit, Kultur und Justiz wurden kommissarisch besetzt und der Innenminister Dr. Bracht sowie der Landwirtschaftsminister Dr. Popitz wurden zu Reichsministern ohne Portefeuille ernannt, damit die neue Preußenregierung zugleich in der Reichsregierung vertreten und der Dualismus Reich–Preußen ausgeschaltet sei.

[68] Aber Braun gab nicht nach. Die Reichsregierung hatte den Reichsrat, dessen Tätigkeit drei Monate geruht hatte, auf den 10. November einberufen. Braun verlangte, daß er am 3. November zusammentrete. Sein Verlangen wurde nicht berücksichtigt. Am gleichen 3. November schrieb Braun einen Brief an den Reichspräsidenten, worin er forderte, daß der Reichspräsident als Hüter der Verfassung die Reichsregierung zur loyalen Erfüllung des Leipziger Urteils anhalte. Es würden der preußischen Regierung zahllose kleinliche Schwierigkeiten bereitet. Hier meinte Braun vor allem den Umstand, daß Bracht der Preußenregierung nicht sämtliche beanspruchte Regierungsamtsgebäude zurückgab, sondern ihr nur das Wohlfahrtsministerium einräumte, sowie daß der Preußenregierung der Verkehr mit den Beamten und die geforderte Einsicht in die Akten verweigert wurde. Weiterhin bezeichnete Braun als eine "selbstverständliche Pflicht", daß die von Hindenburg neu ernannten Minister sich der "Hoheitsregierung" vorzustellen und ihre Beglaubigung von ihr einzuholen hätten. Falls dieser letzte Versuch einer Verständigung scheitere, werde die Preußenregierung aufs neue den Staatsgerichtshof anrufen. Hindenburg gab das Schreiben an Papen weiter. Und so war der Konflikt zwischen der Preußenregierung und der Reichsregierung, als die Wahlen heranrückten, noch in keiner Weise der Klärung einen Schritt näher gekommen. Papen und Bracht aber hatten nicht bloß den preußischen Landtag, sondern nun auch noch die alte Regierung Braun zum Gegner: die Dinge wurden immer verworrener.

  Spannung zwischen  
Reich und Bayern

Schlimm aber war es, daß jetzt wieder die bayerischen Separatisten in heftiger Opposition zur Reichsregierung standen. Im Namen des gesamten bayerischen Staatsministeriums protestierte Held bei Hindenburg gegen die Preußenverordnung vom 29. Oktober. Sie enthalte schwere Eingriffe in die verfassungsmäßige Stellung aller deutschen Länder gegenüber dem Reiche und untereinander. Eine Reichsreform könne doch nur auf gesetzlichem Wege und nur nach Verhandlungen mit den Ländern eingeleitet werden. Der Ministerrat bitte daher den Reichspräsidenten, keine Entscheidungen zu treffen, bevor nicht mit den andern Ländern verhandelt wor- [69] den sei. Hindenburg ließ Held antworten, dieser gehe von falschen Voraussetzungen aus, denn die preußischen Maßnahmen lägen durchaus im Rahmen der durch den Staatsgerichtshof dem Staatskommissar zugewiesenen Aufgaben.

Held aber, der durch seine Attacke sich das Lob der Sozialdemokraten und den Tadel aller nationalen bayerischen Kreise verdient hatte, führte den hartnäckigen Kampf gegen die Reichsregierung weiter. Er hielt in Süddeutschland öffentliche Wahlreden, in denen er Papen ausgiebig angriff: Wer heute unter dem Deckmantel des Kampfes gegen die Parteien den Parlamentarismus und die Volksvertreter selbst angreife, der sei in Wahrheit ein Feind des Vaterlandes! Das ganze Volk sei es, das bei der Schmälerung der Rechte der Volksvertretung die Rechnung zu bezahlen habe. Was das Vorgehen des Reichs in Preußen betreffe, so schaffe die Aushöhlung der Länderrechte dieselbe verderbliche innerpolitische Spannung wie eine Verpreußung des Reiches. In Stuttgart sah sich der bayerische Ministerpräsident genötigt, noch einmal zu "warnen" und an den Maßnahmen der Reichsregierung "ernste Kritik zu üben." In einer Rede am 1. November in einer Zentrumsversammlung bezeichnete er Papens Föderalismus als "Opportunismus". Die Maßregeln in Preußen kehrten die Grundlage der Reichsverfassung völlig um. Er, Held, habe jetzt den Glauben an das Kabinett von Papen verloren und müsse bekennen, daß er aufs schwerste enttäuscht worden sei. Er halte es für seine Pflicht als bayerischer Ministerpräsident, öffentlich gegen Papen aufzutreten und seine Maßregeln zu bekämpfen, da die Lösung des Dualismus zwischen Reich und Preußen gegen die Verfassung versucht werde.

Papen beantwortete diese ganz unerhörte Fronde mit der Mitteilung, daß der Verkehr zwischen Berlin und München aufs äußerste beschränkt werde, bis Held sich entschuldigt habe. Aber Held dachte nicht daran. Stur und starr hielt er an seiner Vorstellung fest, die Gleichschaltung Reich–Preußen bedeute eine große Gefahr für die Selbständigkeit der Länder; man könne sich des Gedankens nicht erwehren, daß eine absolute zentralistische Reichsreform gemacht werden solle. Natürlich rückte jetzt auch wieder die Bayerische Volkspartei, [70] von welcher der Prälat Leicht am 26. Oktober noch erklärt hatte, daß sie sich in "leichter" Opposition zu Papen befände, in eine entschlossene Kampfstellung gegen den Kanzler.

Wohin man blickte, erhoben sich ungeheure Schwierigkeiten gegen Papen. Sie ergaben sich aus der Zwitterstellung der Reichsregierung zwischen zwei politischen Weltanschauungen. Behaftet mit dem Geiste des Liberalismus, den Papen zerstörend in Wirtschaft und Staat gewähren ließ, versuchte er autoritär gegen das Volk zu regieren. Den entschlossenen Bruch mit dem Alten, mit dem Parteiwesen, konnte und durfte er nicht vollziehen, weil das Volk nicht hinter ihm stand. Alle seine Reformen bewegten sich innerhalb der liberalistischen Gedankengänge, jener Ideen, die nicht fähig waren, die große Volksgemeinschaft herbeizuführen. Doch umsonst waren alle seine Bemühungen, der revolutionären Sturmflut einen konservativen Damm entgegenzusetzen.

So versuchte er denn durch einige kleine Maßnahmen wenigstens etwas aus dem großen Schiffbruch seiner Regierung zu retten. Mitte Oktober beschloß das Kabinett in der Arbeitslosenversicherung für die Wintermonate einen nach dem Familienstande gestaffelten Zuschlag zu den Unterstützungssätzen. Die Reichszuschüsse an die Gemeinden wurden also zur Erhöhung der Wohlfahrtshilfe im Oktober von 50 auf 60, im November auf 65 Millionen heraufgesetzt. Auch wurden die Härten der Notverordnung vom 14. Juni 1932 in den Leistungen der Arbeitslosen-, Kranken- und Unfallversicherung beseitigt. Das Reich entschloß sich, die jährliche Mehrbelastung von 70 Millionen zu übernehmen. Auch wollte man das Arbeitsbeschaffungsprogramm ausbauen, um Städte und Gemeinden zu entlasten. Man wollte ursprünglich 1½ Milliarden anwenden, um eine Million Erwerbslose zu beschäftigen. Da man aber nicht wußte, woher man das Geld nehmen sollte, ging man alsbald auf die Hälfte zurück und gedachte, die erforderliche ¾ Milliarde zu einem Drittel durch Ersparnis der Unterstützungskosten, zu zwei Drittel durch Steuergutscheine aufzubringen. Ja, Papen plante sogar einen mutigen Schritt gegen die Industrie, indem er Ende Oktober eine Notverordnung ankündigte, welche die Höchst- [71] gehälter in den Subventionsbetrieben kürzen sollte. Diese Notverordnung jedoch ist nicht Wirklichkeit geworden.

Trotz aller Fehlschläge und Enttäuschungen blieb Papens politisches Ziel die Regierung über den Parteien, oder, wie er es nannte, die "konservative Weltanschauung" und ihre "Verankerung in der göttlichen Ordnung der Dinge". So wurde er zum Gegner des Nationalsozialismus, weil dieser seiner Ansicht nach aus dem Prinzip der Totalität, der Ausschließlichkeit heraus am 13. August die Alleinherrschaft der Partei verlangt habe. Der 13. August sollte nach dem Willen Papens die Synthese aller wahrhaft nationalen Kräfte bringen, welche die Reichsregierung seit Beginn ihrer Tätigkeit proklamiert, gefördert und gehofft habe. Volk gegen Partei, das war Papens Losung im Kampfe gegen Hitler: wer sich in diesem Kampfe nicht eindeutig und geschlossen hinter die Regierung stelle, sei ein Feind des deutschen Volkes. Der Fehlschluß aber war, daß Papen, entgegen den Tatsachen, das Volk auf seiner Seite zu haben glaubte. Es war nicht die Idee des Nationalsozialismus, gegen die Papen anging, versuchte er doch selbst manche nationalsozialistische Gedankengänge, besonders in der Arbeitsbeschaffung, zu verwirklichen, es war der politische Charakter als Partei, die der Kanzler ablehnte und bekämpfte.

Hugenberg und die Deutschnationalen gingen erheblich weiter. Sie kämpften zwar auch für den autoritären Staat gegen den Parteistaat, waren aber vermessen, ihre winzige, fast ausschließlich aus Angehörigen der oberen Gesellschaftsklassen bestehende Partei als Träger der ersehnten Volksgemeinschaft, als den deutschen Nationalverein des Dritten Reiches zu bezeichnen. Dann aber zeigten sich die Deutschnationalen unverhüllt auch als die Vorkämpfer des Kapitalismus. Sie wandten sich gegen die Nationalsozialisten, weil sie die "Schwenkung zum reinen Sozialismus" vorgenommen hätten. Die Brechung der schwarz-braunen Mehrheit im Reichstag bezeichnete Hugenberg geradezu als das wichtigste Ziel der bevorstehenden Wahl. In einem Rededuell zwischen dem Deutschnationalen Schmidt und dem Nationalsozialisten Dr. Göbbels in Berlin am 19. Oktober wies Göbbels die deutschnationalen Angriffe mit größter Schlagfertigkeit zu- [72] rück: Die Nationalsozialisten hätten zwar faktisch Umwege [...] in erobern, im Auge behalten, um damit dem Nationalsozialismus zum Durchbruch zu verhelfen. [Scriptorium merkt an: der Text ist im Original hier unvollständig.] Die Nationalsozialisten hätten nicht mit dem Zentrum verhandelt, um das Parlament zu retten, sondern um die Rechte des Volkes, die nun einmal in den Parteien zum Ausdruck kämen, zu verteidigen gegen eine Regierung, die nicht den mindesten Anhang im Volke habe. Wenn Papen mit seiner Politik Schiffbruch erleide, so ziehe er sich zurück und die Nation werde nicht erschüttert. Erleide aber Hitler Schiffbruch, so verlören 14 Millionen Deutsche ihre Hoffnung. Der Einsatz könne nur gewagt werden, wenn die Sicherheit bestehe, daß er zum Erfolge führe.

Aber die Deutschnationalen hofften auf einen großen Sieg am 6. November: Die Massen der Enttäuschten würden zu Millionen zur Hugenberg-Partei zurückkehren und mit dem Nationalsozialismus werde es vorbei sein! Sie zogen ihre Hoffnung aus gelegentlichen kleinen Gemeindewahlen, die in der Tat hier und da das Ausbrechen einiger zager Seelen aus der nationalsozialistischen Front erwiesen. Ihre Hoffnungen aber standen auf dem schwankenden Grunde der Verzweiflung über die jahrelangen Mißerfolge ihrer eigenen winzigen Partei.

  Deutschnationale  
und Stahlhelm
für Papen

Gemeinsam mit den Deutschnationalen setzten sich Stahlhelm und vaterländische Verbände für die Regierung Papen ein. Ende Oktober erklärte der Nationalsozialist Graf Reventlow, die Nationalsozialisten seien entschiedene Gegner des Stahlhelm, da er sich in den Dienst des Kapitalismus gestellt habe. Andere Verbündete aber hatte Papen nicht. Wir sahen, daß die bayerische Volkspartei nach vorübergehender Annäherung wieder weit von der Reichsregierung abgerückt war. Der Zentrumsführer Prälat Kaas erklärte Mitte Oktober, daß seine Partei zu sachlicher Mitarbeit an einer Präsidialregierung bereit sei und die Hand bieten wolle zu jeder gemeinsamen Besserung der Lage des deutschen Volkes, das sich in so schwerer Not befinde. Mit Papen aber, das ließ das Zentrum allezeit erkennen, wollte es nicht zusammen- [73] arbeiten. Im übrigen hüllte sich die Partei in tiefes Schweigen und wartete die Entwicklung ab, um die günstigste Konjunktur zur Wiedereinschaltung in die Macht rechtzeitig zu erfassen.

Regierung gegen
  Nationalsozialisten  

In seinem Kampfe um die Macht war der Nationalsozialismus ganz allein auf sich gestellt. Aber mit der feurigen Leidenschaft seiner Führer, Adolf Hitlers, Hermann Görings und Joseph Göbbels, riß er die Massen mit sich fort und begeisterte sie stets von neuem, den Kampf um die Befreiung des deutschen Volkes zum siegreichen Ende zu führen. Den Auftakt der gewaltigen Kundgebungen bildete der machtvolle Aufmarsch der Hitlerjugend am 1. Oktober in Potsdam, an dem sich 100 000 deutsche Jungens und Mädels beteiligten. In allen Teilen Deutschlands fanden begeisterte Riesenversammlungen statt. Schonungslos gingen die Redner mit Papen ins Gericht, zeigten den Zusammenbruch seiner Wirtschaftspolitik, entwickelten die Gefahren seiner Reichsreform. Adolf Hitler war von einem gewaltigen und unerschütterlichen Glauben an seinen Sieg erfüllt: "Im Bewußtsein, für das Recht und die Zukunft des Volkes zu kämpfen", sagte er einmal Anfang Oktober,

"geht die nationalsozialistische Bewegung von dem gleichen Kampfgeist beseelt mit dem Einsatz ihrer ganzen Kraft in den Wahlkampf hinein. Sie besitzt in ihrer Organisation alle Voraussetzungen eines erfolgreichen Kampfes, die überhaupt denkbar sind. Wir werden für den 6. November kämpfen, als ob davon Deutschlands Sein oder Nichtsein abhängen werde. Ich sehe dem Kampf mit absoluter Zuversicht entgegen. Die Schlacht kann beginnen, in vier Wochen werden wir aus ihr als Sieger hervorgehen."

Als Papen in München seine schweren Anklagen gegen Hitler vorgebracht hatte, antwortete dieser mit einem offenen Briefe aus Koburg vom 16. Oktober. Am Schlusse dieses Briefes schreibt Hitler:

      "Ich halte, Herr Reichskanzler, aus meinem geistigen, sozialen und politischen Gewissen heraus Ihre Innen-, Wirtschafts- und Außenpolitik für falsch, ja für im höchsten Maße verderb- [74] lich für Deutschland. Ich sehe als Folge eines Andauerns Ihrer Regierung über eine längere Zeit nicht nur ein erneutes Aufreißen unserer alten Klassengegensätze, sondern die drohende Gefahr einer dann nicht mehr zu verhindernden Bolschewisierung. Ich setze mich daher gegen Sie und Ihre Politik mit meiner Bewegung so zur Wehr, als ob wir das geistige, soziale und politische Gewissen der Nation seien. Daß Sie aber, Herr Reichskanzler, uns deshalb, weil wir insbesondere die unmögliche Art der Wahrnehmung der außenpolitischen Interessen der deutschen Nation durch Ihre Regierung ablehnen, einfach als 'Feinde des deutschen Volkes' hinstellen, ist so unnatürlich, daß uns nur die legale Befolgung der Gesetze verhindert, Ihnen die darauf nötige Antwort zu geben. Ich wende mich aber an die Millionen meiner Anhänger, die ich bitte, diese meine Darlegungen nüchtern prüfen und in Vergleich zu Ihrer Rede setzen zu wollen. Der Urteilsspruch dieser Millionen ist mir heute schon klar. Am 6. November wird Ihnen, Herr von Papen, und den Sie begleitenden Parteien und Interessengruppen das deutsche Volk wohl die Erkenntnis vermitteln, daß mangelnde staatsmännische Qualität nicht durch Berufung auf übernatürliche Herkunft ausgeglichen werden kann."

Es blieb bei der Leidenschaft der Nationalsozialisten nicht aus, daß es in deutschnationalen Wahlversammlungen, wo es Angriffe und Verleumdungen gegen die Hitlerbewegung hagelte, zu teilweise recht schweren Zusammenstößen mit Angehörigen der Hitlerbewegung kam. Ende September sprengten die Nationalsozialisten deutschnationale Versammlungen in Berlin, in Frankfurt an der Oder. In Neukölln fand am 6. Oktober eine wahre Saalschlacht statt, bei der es 14 Verwundete gab. Am nächsten Tage mußte die Polizei mit dem Gummiknüppel die kämpfenden Menschenmassen einer Versammlung in Düsseldorf trennen. In Minden, Berlin, Hamburg, Stolp in Pommern wiederholten sich solche Vorfälle. Der Stahlhelm hatte den Saalschutz der Deutschnationalen übernommen, und so geschah es, daß sich häufig S.A. und Stahlhelm in ein Handgemenge verwickelten.

[75] Die Regierung hielt es für nötig, mit Machtmitteln gegen den "braunen Versammlungsterror" vorzugehen. In der Rheinprovinz verbot der dem Zentrum angehörige Oberpräsident sämtliche nationalsozialistischen Zeitungen. In Düsseldorf untersagte der Polizeipräsident sämtliche nationalsozialistischen Wahlversammlungen. In Koburg wurden zum Hitlertag am 15. und 16. Oktober alle Standkonzerte und der geplante Propagandamarsch verboten. In Berlin hatte bereits am 12. Oktober auf Anordnung Brachts der deutschnationale Polizeipräsident eine große nationalsozialistische Versammlung im Sportpalast verboten, wo Göbbels und Kerrl reden sollten. Die Verbotspraxis schien der Regierung und Polizei das wirksamste Kampfmittel gegen die "undisziplinierten" Nationalsozialisten zu sein. –

  Erneuter politischer  
Meuchelmord

Einen geheimen Feind aber gab es in Deutschland, der mit Vergnügen den Kampf zwischen Hitler, Papen und Hugenberg verfolgte. Das waren die Kommunisten. Auf der Sitzung des Politbüros vom 14. August 1932 in Moskau erklärte der Vertreter der III. Internationale, Manuilsky, daß die gegenwärtige Lage Deutschlands für einen kommunistischen Umsturz außerordentlich günstig sei. Allerdings, so meinte er, sei die größte Gefahr für den Kommunismus eine Koalition zwischen Nationalsozialismus und Zentrum. Losowsky, der für die revolutionäre Gewerkschaftsinternationale sprach, forderte rücksichtslose Ausnutzung der Lage und entwickelte die Methoden des Terrors und des Bürgerkriegs. In dem Augenblick, wo der deutsche Staatsapparat schwach werde, müsse man sofort die Verwirrung und den Verfall durch die Organisation von Streik, Sabotage und die Anwendung der Methoden des Massen- und individuellen Terrors verstärken. Man müsse vor allem auch den Stahlhelm genau überwachen. Stalin empfahl dann Anlegung von Blutlisten und Verstärkung der Waffen- und Sprengstofflager.

Nun hatte ja die Regierung Papen den Kommunisten das Handwerk gelegt. Die kommunistische Presse war verboten, Versammlungen durften nicht abgehalten werden. Um so eifriger aber wühlten die Kommunisten im Geheimen.

[76] Die Reichsregierung sah sich genötigt, in der Nacht vom 12. zum 13. September bei der kommunistischen Reichstagsfraktion eine Haussuchung vornehmen zu lassen. Schon am nächsten Tage konnte in Berlin eine Geheimdruckerei ausgehoben werden, in der man 50 Zentner Zersetzungsmaterial, darunter 50 000 Stück der illegalen Roten Sturmfahne, fand.

Der politische Meuchelmord hatte allerdings infolge der Notverordnung vom 10. August 1932 nahezu sein Ende erreicht. Bis Ende September ereigneten sich nur drei Terrortodesfälle, verschwindend wenig im Verhältnis zu den vorhergehenden Monaten. Als aber die Leidenschaft des Wahlkampfes im Oktober ihrem Höhepunkte zusteuerte, kam es wieder zu schweren blutigen Auseinandersetzungen. Kommunisten und Reichsbanner überfielen die Nationalsozialisten; so kam es am 16. Oktober in Dortmund zu schweren Schießereien, eine Woche später streckten Reichsbannerangehörige in Bochum und Kommunisten in Castrop zwei S.A.-Leute nieder. Am gleichen Sonntag überfielen Kommunisten und Reichsbannerangehörige in verschiedenen Stadtteilen Leipzigs S.A.-Leute und Nationalsozialisten, verletzten 16 von diesen, darunter fünf schwer. In allen Teilen des Reiches rührte sich der marxistische Meuchelmord wieder. Besonders in Hamburg setzte in der letzten Woche vor der Wahl eine blutige Mordwelle ein. In den unsicheren Vierteln wurden S.A.-Leute von Reichsbanner und Kommunisten angefallen und niedergestochen. Am 2. November, morgens 7 Uhr, entwickelte sich am Gängeviertel ein regelrechtes Feuergefecht, in dessen Verlauf 12 Menschen verletzt wurden.

Welche Hoffnungen die Kommunisten hegten, bewies ein entdecktes geheimes "Rundschreiben der Parteiexekutive des Zentralkomitees der K.P.D." Es enthielt, getreu den Moskauer Vorschriften, genaue Anweisungen für einen am 15. November geplanten bewaffneten Aufstand, der die "zweite Revolution" einleiten sollte. Generalstreik, Machtergreifung und Standrecht für alle gegnerischen Parteien waren vorgesehen. –

Reichstagswahl
  am 6. November 1932  

Es war in der Tat, wie Hitler sagte: von der Wahl des [77] 6. November hing Deutschlands Sein oder Nichtsein ab. Der Nationalsozialismus war das starke Bollwerk gegen den Bolschewismus, das letzte Bollwerk! Worauf hofften denn auch die Verblendeten, die den Zusammenbruch der Hitlerbewegung ersehnten? Sie, die Liberalisten, waren unfähig zu erkennen, daß nach Hitler nur das Chaos kam.

Die Wahl am 6. November hatte folgendes Ergebnis:

6. XI. 32 31. VII. 32
Stimmen    Sitze %  Stimmen    Sitze % 
Nationalsoz. 11 705 256 196    33,5     13 772 748 230    37,9
Deutschnationale 3 061 626 51  8,6 2 184 971 37  6,0
Dt. Volkspartei 659 703 11  434 548
Wirtschaftspartei 110 117 146 261
Chr.-Soz. Volksd. 412 523 364 749
Deutsch. Landvolk 46 186 –  91 316
Staatspartei 338 064 371 871
Sozialdemokraten 7 231 404 121  7 953 986 133 
Soz. Arbeiterpartei 45 036 –  73 982 – 
Kommunisten 5 970 833 100  5 365 666 89 
Zentrum 4 228 322 69  4 587 477 75 
Bayr. Volkspartei 1 088 595 19  1 190 463 22 

Zusammen: 582  608 

Das Ergebnis entsprach der Lage des Volkes. Die Regierung Papen hatte eine Niederlage erlitten. Der Nationalsozialismus hatte sich behauptet, wenn er auch zwei Millionen schwankender und unzuverlässiger Wähler verloren hatte. Die Regierungsparteien, Deutschnationale und Deutsche Volkspartei, hatten kaum 10 Prozent der Sitze im neuen Reichstag inne. Die Sozialdemokraten verloren zugunsten der Kommunisten 11 Mandate, Zentrum und Bayerische Volkspartei büßten 9 Sitze ein. Die Nutznießer der Wahl waren die bürgerlichen Parteien, Splitterparteien, und die Kommunisten, aber dieser Erfolg lag gewiß nicht im Sinne des deutschen Volkes, er war [78] das Ergebnis der Regierungspolitik Papens.

Die Sieger der Wahl blieben die Nationalsozialisten, doch dieser Sieg lag nicht im Sinne Hindenburgs und Papens. Das bisherige Regierungssystem des autoritären Staates hatte eine schwere Niederlage erlitten.

Deutlicher konnte es nicht zum Ausdruck kommen: Papen war legal unterlegen, Hitler hatte legal gesiegt. Und darum war es ja gegangen bei dieser Wahl, daß in aller verfassungsmäßigen Ordnung der nationalsozialistische Führergedanke den "autoritären Staat" der liberalistischen Ära überwand. So war der 6. November ebenso wie der 12. September die unmittelbare Folge des 13. August, ein weiterer Schritt, den Reichspräsidenten zu überzeugen, daß ein entschlossener Wechsel in der Leitung des Reiches und Volkes vonnöten sei.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra