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[Bd. 7 S. 79]

16. Kapitel: Deutschlands Kampf um Gleichberechtigung.

1. Phase: Die Vorbereitung der Weltöffentlichkeit, August 1932

  Vorbereitung der Welt  
durch Deutschland

Am 23. Juli 1932 hatte sich die Abrüstungskonferenz auf ein halbes Jahr vertagt mit einer Entschließung, die von Deutschland und Rußland abgelehnt worden war. Diese Entschließung enthielt nämlich nur Redensarten: man werde die Land-, See- und Luftrüstungen wesentlich herabsetzen, man werde die Verminderung der Angriffsmittel als ein "wesentliches Ziel" im Auge behalten. Man rühmte dann das Verbot des bakteriologischen und chemischen Krieges als einen schon errungenen Erfolg, verschwieg aber, daß bereits 1925 ein Abkommen über ein solches Verbot von 34 Staaten, darunter allen europäischen Großmächten, ratifiziert worden war. Und dann wurde die Verlängerung des Rüstungsstillstandes vom 1. November 1932 auf weitere vier Monate beschlossen.

Die deutsche Regierung und das deutsche Volk waren, wie vorauszusehen, herzlich unbefriedigt von diesem Ergebnis. Reichswehrminister Schleicher kam zu folgendem Urteil:

      "Der erste Abschnitt der Abrüstungskonferenz hat keinen merklichen Fortschritt in der Richtung einer allgemeinen Abrüstung gebracht. Die Entschließung vom 23. Juli läßt nicht nur die Gleichberechtigung außer acht, sie zielt vielmehr auf die Fortdauer entwürdigender Sonderbehandlung einzelner Staaten ab. Die nationale Sicherheit Deutschlands bleibt weiterhin in unerträglicher Weise gefährdet. Das drastische Urteil, das der Delegierte einer fremden Macht über die Verhandlungen der Vorbereitenden Abrüstungskommission fällte, gilt auch für den ersten Konferenzabschnitt: man hat wieder einmal eine feierliche Pontifikalmesse für die Abrüstung gelesen mit dem festen Vorsatz, in allen sieben Todsünden des Wettrüstens zu verharren."

  Deutschlands Gleichberechtigung  

Dem Wehrminister fiel die Aufgabe zu, die Weltöffentlichkeit darauf vorzubereiten, daß Deutschland nicht länger Ge- [80] duld habe, als eine Macht minderer Achtung behandelt zu werden, und daß die Reichsregierung nun mit dem Umbau der Wehrmacht beginnen werde. Man dachte an die Herabsetzung der Dienstzeit in der Reichswehr und an die Angliederung einer Pflichtmiliz an das stehende Heer. Schleicher betonte, Deutschland fordere Gleichberechtigung und Wiedergewinnung seiner nationalen Sicherheit, sowohl im Hinblick auf die Wehrverfassung wie im Hinblick auf die sogenannten Angriffswaffen. Die Regierung werde nicht eher wieder einen Vertreter nach Genf schicken, bis Deutschlands Gleichberechtigung anerkannt sei. Entweder müßten die Entwaffnungsbestimmungen des Versailler Diktats auf alle Mächte angewandt werden, oder aber man müsse Deutschland das Recht zubilligen, sein Wehrsystem so umzubauen, daß es seine nationale Sicherheit gewährleiste.

Stellung der Völker
  und ihrer Regierungen  

Grundsätzlich war Präsident Hoover in Amerika der gleichen Ansicht; man müsse den Versailler Vertrag revidieren, wenn man die Welt in Ordnung bringen wolle. In England aber nahm man die deutschen Eröffnungen mit sorgenvoller Miene auf. Macdonald und sein Außenminister Simon stellten zunächst einmal fest, daß die Grundlage der deutschen Gleichberechtigungsforderung im Versailler Vertrag, im Völkerbundstatut, im Briefe der Alliierten vom Juni 1919 und in einem Briefe im Anhang zum Locarnovertrage gegeben sei. Leider seien hier aber widersprechende Auslegungen möglich. Anderseits dürfe eine Großmacht auf die Dauer nicht in einem Zustande der Minderwertigkeit gehalten werden, jedoch könne der Anspruch auf Rüstungsgleichheit sich auch auf See- und Luftrüstung erstrecken und vielleicht zu weiteren politischen Forderungen, wie z. B. Rechte auf Kolonialmandate, führen. Entweder müsse man schrittweise durch ein Abkommen zwischen Deutschland und den übrigen Mächten die bestehenden Ungleichheiten beseitigen, oder, wenn man Zugeständnisse an Deutschland ablehne, müsse man das Risiko eines gegensätzlichen und nicht geregelten Wiederaufbauprozesses auf sich nehmen. Die englischen Kronjuristen kamen Ende August zu folgendem Ergebnis: Deutschlands Forderung ist rechtlich und sittlich berechtigt und man dürfe [81] es nicht dahin kommen lassen, daß Deutschland sich von der Abrüstungskonferenz zurückziehe; möglicherweise könne dies den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund zur Folge haben, und den wünsche England zu vermeiden. Deswegen sei eine dilatorische Politik am Platze: England solle grundsätzlich Deutschland versprechen, daß es später die deutsche Gleichberechtigung anerkennen werde, Deutschland aber solle im Völkerbund bleiben und beim Abschluß der Abrüstungskonferenz mitwirken. Deutschland solle die Möglichkeit haben, seine Forderungen mit größtem Takt und Geschick in Genf vorzubringen. Auf diese Weise glaubten die englischen Staatsmänner einen Kompromiß gefunden zu haben, der Deutschland, Frankreich und England befriedigen sollte. – Die englische Presse, allem voran die Times, hielten es durchaus für nötig, daß man sich mit den deutschen Forderungen beschäftige und Deutschlands Drohung, nicht mehr in der Abrüstungskonferenz zu erscheinen, ernst nehme.

In der Tat betrachteten die Engländer Deutschlands Forderungen als begründet. Der Vollzugsausschuß der englischen Völkerbundsvereinigung, in dem sich Männer wie Lord Cecil, Sir Norman Angell, Professor Murray, Lord Percy und Vizeadmiral Allen befanden, richtete eine Entschließung an die Regierung, worin sie allgemeine Rüstungsherabsetzung in der ganzen Welt und allgemeine Abschaffung der für Deutschland verbotenen Angriffswaffen forderten.

Auch in Italien stimmte man Deutschland bei: die deutschen Forderungen seien rechtlich in den Verträgen klar begründet und es gebe nur eine Entscheidung: entweder rüsten alle Staaten ab oder alle Staaten, Deutschland eingeschlossen, haben das Recht, gemäß ihrer nationalen Notwendigkeiten zu rüsten.

In Frankreich rüstete man sich zu Abwehr und Gegenangriff. Zunächst wurde André Fribourg, der Vorsitzende der Auswärtigen Kommission der Kammer, nach Berlin geschickt, um mit Papen, Neurath und Schleicher zu verhandeln, um sich über das Rüstungsproblem zu orientieren. Die sozialistische Zeitung Populaire machte der Regierung Vorwürfe: die Wiederaufrüstung Deutschlands sei doch die lo- [82] gische Folge, weil Frankreich und seine Verbündeten in der Abrüstungsfrage völlig versagt hätten. Oberst Fabry aber griff zu einem seit Jahren beliebten Mittel: im Intransigeant erzählte er schreckliche Geschichten von systematischen Geheimrüstungen Deutschlands, die deutsche Regierung habe die oberste Heeresleitung und die Generalstäbe wieder eingerichtet, habe die verbotene Waffenfabrikation wieder aufgenommen, unendlich viele Soldaten ausgebildet und ein Mobilisierungssystem geschaffen. Die Reichsregierung könne wohl die militärischen Klauseln von Versailles ablehnen, aber nicht behaupten, sie eingehalten zu haben. Ein großer Teil der deutschen Forderungen sei ja bereits heimlich verwirklicht! Es sei wohl an der Zeit, den deutschen Rüstungsstand genau festzustellen. Es gehe nicht an, daß Frankreich fortgesetzt seine Rüstungen verringere, während Deutschland heimlich aufrüste.

2. Phase: Diplomatische Auseinandersetzung mit Frankreich,
erste Septemberhälfte 1932

Ende August war die politische Atmosphäre in der Welt insoweit mit den deutschen Gedanken vertraut gemacht, daß nun die deutsche Regierung auf der Basis des Konsultativpaktes zunächst mit Paris in die Erörterung über die Beseitigung des V. Teiles des Versailler Diktats und seiner für Deutschland diskriminierenden Bestimmungen eintreten zu können glaubte. Die deutsche These stand unverrückbar fest: entweder allgemeiner tatsächlicher Rüstungsabbau oder Ausbau des deutschen Rüstungssystems, nicht im Wege der Aufrüstung – die sei finanziell nicht durchführbar – sondern der Umrüstung.

Mißerfolg einer
  deutsch-französischen  
Auseinandersetzung

Am 29. August hatte der deutsche Außenminister Neurath mit dem französischen Botschafter in Berlin, François-Poncet, eine vertrauliche Auseinandersetzung über Deutschlands Wünsche. Neurath setzte erst die allgemeine Begründung für das deutsche Vorgehen auseinander: Länger als zehn Jahre warte Deutschland jetzt auf die Erfüllung seines Anspruchs. Die Abrüstungskonferenz sei an einem Punkte angelangt, wo eine Entscheidung über die deutsche Gleichberechtigung fallen [83] müsse und keine Konferenzmacht sich mehr einer klaren Stellungnahme zu dieser Frage entziehen dürfe.

      "Niemand kann Deutschland zumuten, sich noch länger mit einer Diskriminierung abzufinden, die mit der Ehre des deutschen Volkes und seiner Sicherheit unvereinbar ist."

Dann setzte Neurath auseinander, daß die bisherigen Beschlüsse für Deutschland überhaupt keinen Sinn hätten und daß für Deutschland eine weitere Mitwirkung bei der Abrüstungskonferenz in Genf nicht möglich sei, solange nicht Deutschlands Gleichberechtigung anerkannt sei. Und schließlich erörterte der Minister die deutschen Hauptforderungen, wie er sie in seiner bei dieser Gelegenheit François-Poncet überreichten Denkschrift formuliert hat:

      "Auf dem Gebiete der qualitativen Abrüstung ist die deutsche Regierung bereit, jedes Waffenverbot zu akzeptieren, das für alle Staaten gleichmäßig zur Wirkung kommt. Dagegen müßten diejenigen Waffenkategorien, die durch die Konvention nicht allgemein verboten werden, grundsätzlich auch für Deutschland erlaubt sein. Was das Wehrsystem anbetrifft, so muß die deutsche Regierung auch für sich das Recht aller andern Staaten in Anspruch nehmen, es im Rahmen der allgemein gültigen Bestimmungen so zu gestalten, wie es den Bedürfnissen sowie den wirtschaftlichen und sozialen Eigenarten des Landes entspricht. Es kommt dabei einmal auf organisatorische Änderungen, wie z. B. Abstufung der aktiven Dienstzeit der Langdienenden und Freiheit in der Gliederung der Wehrmacht an, zum andern auf die kurzfristige Ausbildung einer besonderen Wehrpflichtmiliz für Zwecke der Aufrechterhaltung der inneren Ordnung sowie des Grenz- und Küstenschutzes." –

Nähere Einzelheiten über die deutschen Absichten erörterte der Reichswehrminister in einer Rundfunkrede.

Die von Neurath überreichte Denkschrift ließ François-Poncet sofort durch einen Kurier nach Paris bringen. Obwohl die Verhandlungen der deutschen Regierung auf deren Wunsch vertraulich behandelt werden sollten, wurde sogleich die französische Presse von dem deutschen Schritt in Kenntnis gesetzt. Sie eröffnete alsbald schwere Angriffe auf der ganzen Linie gegen Deutschland und verlangte von Herriot, daß er [84] den deutschen Forderungen ein schroffes Nein entgegensetze. Man machte ihm den Vorwurf, er sei in Lausanne zu entgegenkommend gewesen. Dann wurden über die deutsche Forderung Unwahrheiten verbreitet, z. B. daß Deutschland ein Heer von 300 000 Mann haben wolle, Befestigungswerke anlegen wolle und 35 neue Fabriken für Kriegsmaterial beanspruche. Ja, manche Blätter behaupteten sogar, der deutsche Schritt trage den Charakter eines Ultimatums.

In der Londoner Regierung brachen infolge des deutschen Schrittes Meinungsverschiedenheiten aus. Der Premierminister Macdonald stand auf Deutschlands Seite, während der Außenminister John Simon wie seit je Frankreich zuneigte. Aus diesem Mißbehagen heraus bildete sich die Meinung des englischen Kabinetts, welches das deutsche Vorgehen als "unzeitgemäß und ungeschickt" bezeichnete.

Während die englische Regierung erklärte, sie werde vorläufig weder für noch gegen Deutschlands Forderung Partei nehmen, stand ein großer Teil der englischen Presse offen auf Deutschlands Seite. Der Star erkannte Deutschlands Gleichberechtigung an und mahnte die alliierten Diplomaten, ihre Hände zu erheben und zu bekennen, daß sie Vertragsbruch begangen haben. Das World Telegram erklärte, die Gerechtigkeit sei auf Deutschlands Seite. Derjenige Teil des Versailler Vertrages, der Deutschland entwaffne, sei auf einer Lüge begründet: Die Kriegsschuldfälschung sei bereits widerlegt worden. Auch die Evening Post erkannte nachdrücklich das Recht Deutschlands an.

Der französische Ministerpräsident Herriot versuchte, die Behandlung der deutschen Forderung möglichst in die Länge zu ziehen, eine direkte offene Aussprache mit Deutschland zu vermeiden und Rückendeckung in London zu suchen. Der französische Ministerrat war der Meinung, daß die Frage der Reorganisation der deutschen Reichswehr alle Signatarmächte des Versailler Vertrages angehe und beabsichtigte, die deutsche Forderung entweder auf der am 24. September in Genf beginnenden Tagung des Präsidiums der Abrüstungskonferenz, oder im Wege internationaler Regierungsverhandlungen auf der Grundlage des französisch-englischen Vertrauenspaktes zu [85] behandeln. Die Taktik der französischen Regierung ging dahin, eine Äußerung auf die deutsche Denkschrift soweit wie möglich hinauszuzögern und sich den Beistand möglichst vieler Regierungen zu sichern.

Deswegen hatte Frankreich auch dem amerikanischen Botschafter in Paris eine Abschrift der deutschen Denkschrift überreicht. Doch die amerikanische Regierung hatte nicht die Absicht, eine Aussprache mit den Signatarmächten herbeizuführen, da Amerika den Versailler Vertrag nicht unterzeichnet habe. Der Senator Johnson allerdings, ein Wortführer der für die Beseitigung des Versailler Vertrages eintretenden Minderheit, sah in dem deutschen Vorgehen den welthistorischen Augenblick gekommen, wo Amerika den schweren Fehler, den es durch einseitiges Eintreten für die Kriegsziele der Alliierten auf sich geladen habe, beseitigen könne.

In Italien herrschte bei Mussolini sowie auch in der Presse einmütig die Überzeugung vor, daß Deutschlands Forderung vollkommen berechtigt sei und daß Frankreich seit 1919 kein anderes Ziel kenne, als alle Bemühungen, Deutschland das gleiche Recht der andern zu verschaffen, restlos zu sabotieren.

Die Dinge standen in der Welt nicht ungünstig für Deutschland, und um die zahllosen Entstellungen in der französischen Presse zu entkräften, veröffentlichte Neurath am 6. September die Denkschrift, die er am 29. August François-Poncet übergeben hatte.

Die Abfassung der französischen Antwort auf die deutsche Denkschrift bereitete Herriot einige Schwierigkeiten. In Amerika, wo Herriot Unterstützung suchte, erklärte man, daß man gänzlich uninteressiert sei an der ganzen Angelegenheit, aber man erwarte, daß Frankreich seine Rüstungen auf einen möglichst niedrigen Stand herabsetze. In England wollte man nichts mit der französischen Antwort zu tun haben, zumal gerade in jenen Tagen Anfang September Henderson, der Präsident der Abrüstungskonferenz, für nachdrückliche und allgemeine Abrüstung sich öffentlich einsetzte. Da eine politische Stellungnahme also nicht von England zu erreichen war, bat Herriot um Beantwortung einiger juristischer Fragen: ob es möglich sei, daß die Frage der deutschen Gleichberechti- [86] gung in deutsch-französischen Sonderverhandlungen behandelt werden könnte, oder ob diese Frage alle Signatarmächte des Versailler Vertrages betreffe und ob eine Aufrüstung im Rahmen des Versailler Vertrages überhaupt vorgesehen und möglich sei? Als dann am 9. September der französische Botschafter im Foreign Office die französische Antwort, die eine kategorische Ablehnung der deutschen Forderung enthielt, vorlegte, nahm sie Sir John Simon lediglich zur Information entgegen, er enthielt sich jedes Urteils und jedes Rates. England sollte, nach dem Willen Macdonalds, die Freiheit behalten, in Genf die Vermittlerrolle zu übernehmen.

Am 11. September, es war ein Sonntag, überreichte François-Poncet dem deutschen Außenminister Neurath die Antwort der französischen Regierung. Sie enthielt ein ruhiges, aber entschlossenes Nein. Die deutsche Auffassung, daß der Verlauf der Abrüstungskonferenz unbefriedigend sei, sei durch nichts begründet. Auch bei der Weiterführung der Konferenzarbeiten werde Frankreich sich nach wie vor im Sinne des Artikels 8 der Völkerbundsatzung betätigen: nicht Aufrüstung, sondern eine kontrollierte allgemeine Abrüstung sei das Ziel. Wenn die deutsche Regierung verlange, daß für Deutschland "keine Sonderbestimmungen" vorgesehen sein sollten und Teil V des Versailler Vertrages durch die Abrüstungskonvention ersetzt werde, so sei das irrig. Weder aus dem Versailler Vertrag noch aus der Völkerbundsatzung gehe hervor, daß durch eine allgemeine Rüstungsbeschränkung die Bestimmungen des V. Teiles des Versailler Vertrages außer Kraft gesetzt würden!

In bezug auf den von Deutschland geforderten Umbau der Reichswehr handle es sich um eine unzweifelhafte Aufrüstung, und diese Aufrüstung werde sich unabwendbar auf alle Staaten ausdehnen, die an ein ähnliches Regime wie Deutschland gebunden seien; es würde also in ganz Ost- und Mitteleuropa ein Wettrüsten beginnen. Da Deutschlands Forderungen sich aber auch auf das Seewesen erstrecken, würde also das gesamte Rüstungssystem der Welt berührt werden, und hierzu Stellung zu nehmen, könne Frankreich als einzelne Macht nicht wagen. Auch die Abrüstungskonferenz könne sich mit der [87] deutschen Gleichberechtigungsforderung nicht befassen, zunächst weil ja das Ziel dieser Konferenz Herabsetzung, nicht Erhöhung der Rüstungen sei, sodann weil an dieser Konferenz Vertreter von Nationen teilnehmen, die an den Friedensverträgen nicht beteiligt gewesen seien.

Auch könnten entsprechende Verhandlungen nicht angebahnt werden ohne vorherige Befragung der Mächte, die den Konsultativpakt vom 13. Juli 1932 geschlossen hätten. Maßgebend für die Erörterungen bleibe stets der Versailler Vertrag, Artikel 164, Absatz 2, und danach lägen die Entscheidungen über Deutschlands Gleichberechtigung allein beim Völkerbund.

Also Ablehnung einer "Aufrüstung" Deutschlands, eines Umbaus der Reichswehr, und Verweisung des Gleichberechtigungsanspruches an den Völkerbund – das war der Inhalt der französischen Antwort.

  Abrüstungskonferenz  
ohne Deutschland

Die Reichsregierung mußte erkennen, daß der Versuch einer unmittelbaren deutsch-französischen Aussprache, die so oft von England angeraten worden war, völlig gescheitert war. Die Folge davon war, daß sich die Reichsregierung entschloß, zu der am 21. September beginnenden Sitzung des Büros der Abrüstungskonferenz keinen Vertreter zu senden. Die nationalen Kreise Deutschlands billigten die Haltung der Regierung, aber in diesem kritischen Augenblick fiel die marxistische Sozialdemokratie ihr in den Rücken; die sozialdemokratische Reichstagsfraktion erklärte am 14. September, daß die Sozialdemokratie die wehrpolitische Aktion der Reichsregierung für verfehlt halte. Die Aktion berge die Gefahr in sich, daß sie den andern den Vorwand zu einem uferlosen Wettrüsten gebe, das am meisten die Sicherheit Deutschlands gefährden und die Völker in eine Katastrophe führen müsse.

3. Phase: Verwirrung in Genf, zweite Septemberhälfte 1932

  Ansichten der Regierungen  

In Genf war man bestürzt, man sah durch das Fernbleiben Deutschlands die Konferenz in ernster Gefahr. In den höchsten Stellen des Sekretariats aber, die mit Paris in enger Verbindung standen, war man voll zorniger Feindseligkeit gegen [88] Deutschland. Die Völker und Regierungen warteten jetzt auf eine Vermittlungstätigkeit Englands. Die englische Regierung schlug in Paris vor, den Beginn der Bürositzung vom 21. September auf einen späteren Tag zu verschieben, um eine Beteiligung Deutschlands vielleicht doch noch zu ermöglichen. Doch der störrische Herriot widersprach: Der Standpunkt Frankreichs in der Gleichberechtigungsfrage werde nicht geändert werden und am 21. September werde die Bürositzung in Genf beginnen, auch ohne Deutschland! England und Amerika mögen anders denken, aber Frankreichs Ansicht werde sich nicht ändern.

An Henderson, den Vorsitzenden der Abrüstungskonferenz, richtete Neurath am 14. September einen Brief, worin er für das Fernbleiben Deutschlands die Gründe auseinandersetzte. Henderson selbst vertrat folgende Meinung: Ein Scheitern der Abrüstungskonferenz würde für Europa und die Welt ein großes Unglück bedeuten. Die deutsche Gleichberechtigungsforderung werde die Konferenz vor die schlimmste Entscheidung stellen. Ein Fernbleiben Deutschlands wäre der schlechteste Weg, den es augenblicklich einschlagen könne. Deutschlands Forderung werde auf der Konferenz mit einigem guten Willen und Versöhnungsgeist nicht nur zum Vorteil Deutschlands, sondern auch Europas und der ganzen Welt behandelt werden. Henderson glaubte, daß auf der Abrüstungskonferenz eine starke Stimmung zugunsten der deutschen Forderung bestehe. Warum sollten die alliierten und assoziierten Mächte nicht erklären, es sei ihre Absicht, Deutschland von seiner Lage der Minderwertigkeit zu befreien und ihm die Stellung der militärischen Gleichberechtigung wiederzugeben? – In seiner Antwort auf Neuraths Brief bedauerte er den deutschen Entschluß, versicherte aber, daß er und alle Beteiligten den festen Willen hätten, die Konferenz zu einem positiven Ergebnis zu führen.

Die englische Regierung schlug andere Töne an. Da sie entschlossen war, die Abrüstungskonferenz nicht durch Deutschlands Fernbleiben scheitern zu lassen, anderseits aber Frankreichs störrischen Sinn nicht zu ändern vermochte, versuchte sie jetzt durch einen schroffen ablehnenden Ton Deutschland [89] einzuschüchtern und zur Teilnahme zu zwingen. Denn darüber herrschte kein Zweifel: jedes Abkommen der Abrüstungskonferenz wäre ohne Deutschlands Unterschrift wertlos. Am Nachmittags des 18. September übergab der englische Botschafter dem Minister Neurath die Stellungnahme der britischen Regierung zur deutschen Gleichberechtigungsforderung: Deutschlands Forderung sei im gegenwärtigen Augenblick unglücklich, ungelegen und unklug. Rechtlich könne Teil V des Versailler Vertrages nur durch ausdrückliche und allgemeine Übereinkunft außer Kraft gesetzt werden. Der deutsche Anspruch ergebe sich nicht aus juristischen Ableitungen aus dem Friedensvertrage, sondern sei vielmehr eine Aufforderung zur Berichtigung der Rüstungen, weil die deutsche Abrüstung der Vorläufer für die Abrüstung der andern sein sollte. Das Ziel der Konferenz lasse sich weder durch eine scharfe Herausforderung noch durch Nichtteilnahme erreichen, sondern nur durch geduldige Verhandlungen. In dieser Antwort hatte die franzosenfreundliche Auffassung John Simons über die versöhnlichere Haltung Macdonalds gesiegt.

Hatte bereits Lloyd George vor dieser Note in der Presse erklärt, daß Deutschland Gleichberechtigung verlangen könne und daß die Siegernationen in der Rüstungsfrage schamlos die Treue gebrochen hätten, so rief die englische Note in der englischen Öffentlichkeit Unmut hervor, im Gegensatz zu Frankreich und Polen, wo sie begeistert aufgenommen wurde. Die Engländer meinten, die Note sei unsinnig und verhängnisvoll, ein psychologischer Mißgriff, der gerade das Gegenteil von der gewünschten Teilnahme Deutschlands an der Abrüstungskonferenz bewirke. Und so war es auch! Die Reichsregierung änderte ihren einmal gefaßten Entschluß keineswegs und entschied, die englische Note nicht zu beantworten.

Henderson war durchaus nicht einer Meinung mit dem in der Note dargelegten Standpunkte des englischen Außenministers John Simon. Die Kernfrage, erklärte Henderson, die jetzt das Büro der Konferenz beschäftige, sei die deutsche Forderung auf militärische Gleichberechtigung. Diese Sache könne nicht umgangen oder ignoriert werden, und er sei [90] überzeugt, daß das Büro ihre Dringlichkeit und die möglichen Konsequenzen für das Werk der Konferenz nicht unterschätzen wird. Angesichts der Verpflichtungen der alliierten Mächte im Versailler Vertrag und im Locarnoabkommen gebe es nur eine Antwort auf den deutschen Anspruch, die mit der Ehre, aber auch mit der Aufrechterhaltung der guten internationalen Beziehungen zu vereinbaren sei und die mit dem Zwecke übereinstimme, zu dem sich die Völker in der Weltabrüstungskonferenz zusammengeschlossen hätten. Die gegenwärtige Lage rufe nach Entschlossenheit und Kühnheit, und die unmittelbar beteiligten Mächte könnten sie sofort entspannen, wenn sie frei ihre Absicht erklärten, die Verpflichtung von Versailles einzulösen.

In diesem Wirrwarr der Auffassungen war es nötig, daß auch Italien seine Meinung klar und deutlich festlegte. Mussolini und hinter ihm das ganze italische Volk erkannten unbedenklich das Verlangen Deutschlands nach Gleichberechtigung an. Trotzdem der Locarnopakt geschlossen sei, trotzdem Deutschland in den Völkerbund aufgenommen sei, befinde sich Deutschland noch immer in einem Zustande der Unterlegenheit. Die Enttäuschung über das Versagen der Abrüstungskonferenz sei allgemein, sei aber in Deutschland besonders groß, wo man zu der Überzeugung gelangt sei, daß die Signatarmächte des Versailler Vertrages mit Ausnahme Italiens nicht die Absicht hätten, eine wirkliche Abrüstungspolitik zu betreiben, also den Vertrag nicht erfüllten. Würde Deutschland durch sein Fernbleiben die Abrüstungskonferenz zum Scheitern bringen, dann würde das auch der tödliche Schlag gegen den Völkerbund sein. Man müsse es als selbstverständlich ansehen, daß Deutschland unter den bewaffneten Nationen nicht hilflos bleiben könne, sofern die Nationen sich nicht Deutschlands Rüstungsstandard anglichen, wie es in Versailles versprochen worden sei. Mussolini stellte aber gleich fest, daß es im ureigensten Interesse Deutschlands läge, seine Gleichberechtigung in gemäßigter Form geltend zu machen, wenn es allen europäischen Staaten, Amerika und der gesamten Weltmeinung gegenüberstehe, und zwar nachdem die [91] Abrüstungskonferenz mit positivem oder negativem Resultat endgültig ihre Arbeit abgeschlossen habe.

Mussolini betrachtete es daher als seine Aufgabe, durch seinen Botschafter Grandi in London Sir John Simon für eine Politik zu gewinnen, die Frankreich zu einer gemäßigteren Haltung nötigen werde. Sollten die Wünsche Italiens bei den kommenden Genfer Besprechungen nicht berücksichtigt werden, dann werde, so drohte Mussolini, Italien aus dem Völkerbunde austreten. Als nun gar die englische Note an Deutschland bekannt wurde, instruierte Mussolini seinen Vertreter bei der Abrüstungskonferenz dahin:

      "Italien muß Deutschland das Recht zuerkennen, den Umfang seiner Rüstungen selbst zu bestimmen, wenn die Gleichberechtigung Deutschlands nicht anerkannt wird."

Amerikas Haltung war zwiespältig: Präsident Hoover erklärte, Amerika sei desinteressiert am Versailler Vertrage, aber ihm liege daran, daß Deutschland weiterhin an der Abrüstungskonferenz mitarbeite und an der Erreichung des großen Zieles mitwirke. Es komme nicht darauf an, daß Deutschland wieder aufrüste, sondern daß alle Mächte der Welt ihre Rüstungen einschränken. Man könne ja Deutschlands gegenwärtiges Heer als Zollstock bezeichnen: auf 60 Millionen Einwohner 100 000 Soldaten, mit zusätzlichen Truppen für die Verteidigung überseeischer Besitzungen. Indessen weilte der Senator Reed in Paris und bot Herriot die amerikanische Unterstützung gegen Deutschland an, wenn Frankreich Amerikas Politik im Fernen Osten unterstützen werde.

Litwinow, der russische Vertreter, hielt sich auf Seiten Deutschlands und Italiens. Er schrieb dem Büro der Abrüstungskonferenz, die Moskauer Regierung werde sich in Zukunft weigern, Vertreter in die technischen Ausschüsse der Konferenz zu senden, solange nicht wesentliche Herabsetzungen der Rüstungen beschlossen würden. Es ging den Russen weniger um die Gleichberechtigung Deutschlands, als vielmehr um das Prinzip der Abrüstung.

Bei der ersten Sitzung des Büros der Abrüstungskonferenz fehlte nicht nur der deutsche Vertreter, sondern auch der Franzose. Auch Macdonald war nicht anwesend. Amerika hatte [92] seinen Berner Gesandten Wilson teilnehmen lassen. Es herrschte allgemeine Ratlosigkeit, die noch dadurch gesteigert wurde, daß Litwinow in scharfen Worten sofort praktische Maßnahmen im Sinne einer Rüstungsherabsetzung auf das von Sowjetrußland angeregte Drittel forderte. Die Stimmung der Delegierten war trostlos, sie standen unter dem Eindruck, daß ihre Arbeit ohne Deutschlands Mitwirkung scheitern müsse.

In der Bürositzung am folgenden Tage, den 22. September, unternahm Litwinow einen neuen Vorstoß, indem er verlangte, daß nach der Behandlung der rein geschäftsmäßigen Fragen nun endlich die für eine wirkliche Abrüstung allein entscheidende Hauptfrage in Angriff genommen würde. Er meinte die Entscheidung über die deutsche Gleichberechtigung. Darauf erklärten John Simon und Paul Boncour, daß nicht das Büro, sondern der Hauptausschuß über politische Probleme zu beraten habe; sie wollten Frankreichs Absicht unterstützen, die deutsche Gleichberechtigungsfrage vor die Vollversammlung des Völkerbunds oder vor den Völkerbundsrat zu bringen. Henderson aber trat offen diesem Wunsche entgegen und kündigte an, daß er möglichst bald die deutsche Gleichberechtigungsfrage vor dem Büro verhandeln werde. Er wollte auf diese Weise Deutschland die Rückkehr zu den Sitzungen ermöglichen. Auch vertagte Henderson die Sitzungen des Büros bis zum 27. September, weil er hoffte, daß inzwischen eine Einigung mit den Deutschen erreicht werden würde. –

Neurath hatte sich zu der am 23. September beginnenden 68. Tagung des Völkerbundsrats nach Genf begeben. Verbindungen zur Abrüstungskonferenz suchte er nicht, wohl aber suchte ihn John Simon am Abend des 23. September auf. Die Aussprache verlief ergebnislos, die Minister erzielten keine Einigung über die Gleichberechtigungsfrage. Wohl aber wurde Simon durch die andauernde Opposition der englischen Öffentlichkeit und Presse bedenklich gestimmt, und der Vorwurf, er habe Frankreich allzusehr nachgegeben, verstimmte ihn. Henderson versuchte mit aller Macht, durch private Besprechungen und Vermittlungen die Gegensätze auszugleichen, so daß am [93] 27. September die Deutschen schon in der Bürositzung wieder erscheinen könnten; auch er hatte keinen Erfolg, seine Unterhaltungen mit Neurath führten zu keinem Erfolge, und so vertagte er denn am 27. September die weiteren Sitzungen des Büros bis zum 10. Oktober. Er erkannte, daß alle Verhandlungen ohne Deutschland ergebnislos verlaufen mußten.

  Hetze in Frankreich  

Während sich die rat- und machtlosen Diplomaten in Genf bemühten, einen Ausweg aus der Sackgasse, in die sie geraten waren, zu finden, bemühte sich Herriot in Paris nicht nur, durch Verzicht auf die bisherige Politik in Japan, China und Mandschurei die Unterstützung Amerikas zu gewinnen, sondern goß auch durch aufreizende Reden immer aufs neue Öl ins Feuer. In Gramat hielt Herriot am 25. September eine Rede, in der er nicht nur das neugebildete Reichskuratorium für Jugendertüchtigung (er bezeichnete es als eine geschickt verschleierte Verletzung des Artikels 177 des Versailler Vertrages) als eine Vorbereitung der Jugend zum Kriege hinstellte, sondern auch die "Wiederaufrüstung", die Deutschland fordere, als die "Wiederkehr neuer Wahnsinnstaten" bezeichnete. Denn Deutschland wolle doch nicht nur sein Heer aufstellen, um sein Land zu verteidigen, sondern auch, um reine Angriffswaffen zu besitzen. Frankreich aber treibe die Politik des Friedens, die auch der Völkerbund befolge; sie bestehe in der "Sicherheit" und, um diese wirklich zu erlangen, in Schiedsgerichten.

Diese Hetzrede rief in Genf, in England und Italien Unwillen und Widerspruch hervor. Sie trug erheblich dazu bei, daß Hendersons Vermittlungsbemühungen scheiterten. Papen wies in öffentlichen Besprechungen nach, daß gerade im Ausland die militärische Jugendertüchtigung betrieben würde mit allen Mitteln, er zeigte, daß Frankreich bis an die Zähne bewaffnet sei, aber mit zweierlei Maß messen wolle. Neurath, der an der Ratsversammlung teilgenommen hatte, reiste am 28. September nach Berlin zurück, ohne auch nur ein Wort, nicht einmal eine Begrüßung mit Herriot gewechselt zu haben. Die Franzosen waren sehr erstaunt! Sie hatten bei Neurath denselben Willen zum Kompromiß erwartet, wie sie ihn bei den früheren Reichsregierungen kennen gelernt hatten. Jetzt [94] waren sie enttäuscht, weil sie mit Deutschland nicht mehr in der gewohnten Weise verfahren konnten. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich waren aufs äußerste zugespitzt.

So war eine weitere Phase des deutschen Kampfes um Gleichberechtigung und Aufhebung der Diskriminierung zu Ende. Die deutsche Regierung war keineswegs gewillt, Zugeständnisse zu machen, die Deutschlands Forderung abschwächen konnten. Zwei Gründe gaben Deutschland das sittliche Recht zu seiner Haltung: Die bisherige Ergebnislosigkeit der Abrüstungskonferenz und die Überrüstung der anderen Staaten. Die Genfer Besprechungen Ende September hatten keine Klärung gebracht, sondern die deutsch-französischen Beziehungen nur noch verschärft. Nun sei es Sache der andern, Vorschläge zu machen, meinte Neurath.

4. Phase: Ergebnisloser Vermittlungsversuch Englands, Oktober 1932

  Englischer Vermittlungsversuch  
einer Fünfmächtekonferenz

Am letzten Septembertage beauftragte das englische Kabinett den Außenminister John Simon, einen Vermittlungsvorschlag auszuarbeiten. Es war, unabhängig von den Stimmungen in Berlin, Englands fester Wille, unter allen Umständen zu versuchen, Deutschland wieder in die Abrüstungskonferenz hineinzubekommen. Macdonald wie Henderson sahen ja im Gelingen dieser Konferenz vielleicht den größten europäischen Erfolg der englischen Politik seit dem Ende des Krieges. Anderseits brach sich in London immer mehr der Gedanke Bahn, daß Deutschlands Gleichberechtigung grundsätzlich anerkannt werden müsse. Simon dachte, einem Wunsche Macdonalds folgend, an eine Konferenz in London oder Brüssel, an der Frankreich, Deutschland, England und Italien teilnehmen und zu der Amerika einen Vertreter entsenden sollte. Zuvor aber hatte Simon eine anderthalbstündige Unterredung mit Herriot am Mittag des 4. Oktober in Paris, und Herriot versuchte, durch gewisse Forderungen den Konferenzplan zum Scheitern zu bringen. So sollte die Konferenz nicht in London, sondern in Genf stattfinden, die kleineren Staaten sollten ihre Zustimmung geben, auch sollten Polen und Belgien bzw. Tsche- [95] choslowakei eingeladen werden, damit Frankreich nicht ganz isoliert sei. Außerdem dürfe die Konferenz keine Entscheidungen treffen, sondern nur Entschließungen und Lösungsvorschläge vorbereiten, welche von der Abrüstungskonferenz zu ratifizieren wären. Und schließlich solle Deutschland vor Einberufung der Konferenz eine Garantie abgeben, daß es von jetzt an loyal und ehrlich mit der Abrüstungskonferenz zusammenarbeiten wolle.

Schon am gleichen 4. Oktober übermittelte der englische Botschafter der deutschen Regierung die Einladung zur Fünfmächtekonferenz. Eine Beteiligung stand bei Deutschland von vornherein nur fest, wenn der deutsche Anspruch auf Gleichberechtigung tatsächlich auch anerkannt würde. Angesichts der französischen und deutschen Forderungen wurde die englische Regierung bereits unmittelbar nach Auftauchen des Konferenzplans wieder schwankend, ob sie ihn durchführen sollte, hielt aber vorläufig noch daran fest. John Simon jedoch machte man den Vorwurf der Voreiligkeit, da er nicht genügende diplomatische Vorarbeit geleistet habe.

Wenn auch der Beginn der Konferenz schon gleich nach Auftauchen der Idee "auf unbestimmte Zeit" hinausgeschoben wurde (man rechnete mit Mitte Oktober), so war Henderson doch entschlossen, die Sitzungen des Büros der Abrüstungskonferenz am 10. Oktober wieder beginnen zu lassen. In London war ein Zustand der Nervosität und Unsicherheit eingetreten, der auch dadurch nicht abgeändert wurde, daß Deutschland am 8. Oktober die grundsätzliche Zusage seiner Teilnahme der englischen Regierung übermitteln ließ. Auch die französische Regierung stimmte, nachdem ihre Hoffnung, Deutschland werde absagen, sich nicht erfüllt hatte, offiziell nun dem Plane Englands zu, nur behalte sie sich vor, die Frage zu prüfen, welcher Ort für die Abhaltung der Konferenz am geeignetsten erscheinen würde. Sie war nicht für London, sondern für Genf.

Ablehnung
  in Paris und Berlin  

In Paris jedoch nahm man den ganzen Konferenzplan nicht mehr ernst. Herriot hatte am 7. Oktober eine längere Aussprache mit dem Führer der amerikanischen Abrüstungsabordnung, Norman Davis, über die tiefstes Stillschweigen bewahrt [96] wurde. Paul Boncour arbeitete inzwischen einen neuen "Abrüstungsvorschlag" aus, der ganz im Sinne des Genfer Protokolls von 1924 Sicherheit, Sanktionen, Kontrollen, Internationalisierung der Luftfahrt und Aufrechterhaltung des Versailler Diktats vorsah. Der Zweck dieses Vorschlages sollte sein, vor einer Behandlung der Gleichberechtigungsfrage die Erörterung der französischen Sicherheitswünsche in der Abrüstungskonferenz zu erzwingen und deren Fortführung auch ohne Deutschland zu sichern.

Am 13. Oktober hatte Herriot mit Macdonald und Simon eine Zusammenkunft in London, um die Meinungsverschiedenheiten wegen der Konferenz zu beheben. Herriot brachte seine Wünsche vor: auch die kleineren Mächte einschließlich Polen sollten zur Konferenz eingeladen werden, man möchte die französischen Sicherheitsforderungen mit der deutschen Gleichberechtigungsforderung verknüpfen. Dann legte Herriot den neuen Abrüstungsplan Frankreichs vor, der vier unerschütterliche Thesen Frankreichs enthält: Die Unverletzbarkeit der allgemeinen Wehrpflicht, keine Herabsetzung der schweren Waffen Frankreichs durch eine qualitative Abrüstung, Verbot einer Aufrüstung schwächerer benachbarter Nationen und Stärkung der französischen Flotte gegen einen etwaigen italischen Angriff im Mittelmeer. Macdonald stand diesen Wünschen kühl gegenüber. Ihm kam es darauf an, durch Einschaltung Deutschlands die Abrüstungskonferenz wieder in Gang zu bringen. Dies war nur möglich durch die Fünfmächtekonferenz; um diese nicht an Frankreichs Starrsinn scheitern zu lassen, war der englische Premierminister bereit, Frankreich nicht nur in bezug auf die Teilnahme der kleinen Mächte nachzugeben, sondern auch Genf als Tagungsort zu akzeptieren. Gegenstand der Tagung sei Prüfung und Vorschlag von Mitteln, die geeignet seien, der Abrüstungskonferenz die wirksame Wiederaufnahme des gemeinsamen Werkes im Rahmen des Völkerbundes zu gestalten.

Italien stimmte dem Vorschlag, Genf als Tagungsort zu wählen, sofort zu. Neurath lehnte ab: Genf sei als Tagungsort für die Reichsregierung nur dann tragbar, wenn vorher von den übrigen Mächten der deutsche Anspruch auf Gleich- [97] berechtigung anerkannt sein würde und eine Mächtekonferenz in Genf diese Anerkennung daher nur zu bekräftigen hätte. Macdonald, der am Ende seiner Bemühungen angekommen war, wollte Deutschlands Gründe für die Ablehnung Genfs nicht gelten lassen, doch als der englische Botschafter in Berlin, Newton, zum zweiten Male am 17. Oktober Neurath Genf als Tagungsort vorschlug, erfuhr er dieselbe Ablehnung wie vorher.

Der Umstand, daß weder Frankreich noch Deutschland nachzugeben bereit waren, versetzten dem Konferenzgedanken Macdonalds vorläufig den Todesstoß. Die Bemühungen um Abrüstung, die bisher auf einer politischen Konzentration des guten Willens aller Mächte gerichtet waren, zerflatterten wieder in der Atmosphäre der öffentlichen Meinung. Die englischen Kirchenführer verlangten von Macdonald, daß die Regierung ihr vor dreizehn Jahren gegebenes Ehrenwort auf Abrüstung einlöse. Mussolini verlangte in einer Rede in Turin, daß Deutschland Gerechtigkeit widerfahren solle. Er sah schon voraus, daß die Abrüstungskonferenz scheitern würde, und deutete den Plan an, daß die vier großen Mächte Europas einen Pakt zur Zusammenarbeit in allen wichtigen Fragen, auch in denen der Abrüstung, eingehen sollten. Interessanterweise kam es über den Abrüstungsplan des französischen Kriegsministers Paul Boncour in Frankreich selbst zu schwerem Konflikt. Der Oberkommandierende der französischen Armee, General Weygand, drohte mit seinem Rücktritt, falls die Regierung sich auf diesen Plan festlegte. Herriot indessen suchte nach immer neuen Auswegen aus der schwierigen Lage, in der er sich befand. Zunächst hielt er zwar an der irrigen These fest, daß Deutschlands Forderung auf Gleichberechtigung einer Aufrüstung gleichkomme, sodann aber wich er zum ersten Male von dem Versailler Vertrag, den er sonst immer im Munde führte, ab, indem er die Berufsheere, in denen er plötzlich erhöhte Kriegsgefahr witterte, durch Milizheere mit allgemeiner Wehrpflicht und kurzer Dienstzeit ersetzen wollte. –

Als die Reichstagswahlen stattfanden, war der heftige Streit um Deutschlands Gleichberechtigung, der drei Monate ausge- [98] füllt hatte, noch zu keinem Ende gekommen. Das ganze, was das Büro der Abrüstungskonferenz erreichte, war, daß in der Sitzung vom 3. November 1932 von 46 Staaten ohne Deutschland und Frankreich einer Verlängerung des Rüstungsfeierjahres um vier Monate, bis zum 1. März 1933 zugestimmt wurde.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra