SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor



[Bd. 5 S. 311]

6. Kapitel: Äußere Schicksale Deutschlands.

Seit der zweiten Haager Konferenz sank die deutsche Außenpolitik in einen Zustand der Ermattung zurück. Das Zusammenwirken einer Fülle von gegensätzlichen Bestrebungen führte dahin, daß sich die ganze beschämende Schwäche Deutschlands vor den Augen der ganzen Welt rücksichtslos enthüllte in der Frage der Zollunion mit Österreich.

  Polnische Übergriffe  
und Gewalttaten

Vor allem setzte Polen den Deutschen und dem Deutschtum in unwürdiger Weise zu. Das polnisch-deutsche Liquidationsabkommen, das im Herbst 1929 abgeschlossen wurde und das auf der zweiten Haager Konferenz dazu verwendet werden sollte, ein "Ostlocarno" vorzubereiten, hatte nicht die Versöhnung gebracht, die Deutschland erhofft hatte. Die deutsche Regierung kam den Polen außerdem mit einem Wirtschaftsabkommen entgegen, das im Reichsrat am 28. Mai mit 40 gegen 25 Stimmen angenommen wurde – dagegengestimmt hatten die Länder Thüringen, Bayern, Württemberg, Oldenburg und die Provinzen Ostpreußen, Brandenburg, Pommern, Sachsen, Schleswig-Holstein und Grenzmark – und das den Polen ein Einfuhrkontingent an Schweinen von 200–350 000 Stück und an Kohle in Höhe von 320 000 Tonnen zugestand. Beide Abkommen, sowohl das über die Liquidationen wie das über die polnische Einfuhr, wurden vom deutschen Volke mit großem Widerspruch aufgenommen, da man hierin nur nutzlose Opfer erblickte; denn eine Besserung der Beziehungen zu Polen wurden nicht erreicht.

Im Gegenteil! Polen, das zum besseren Schutze seines westpreußischen Besitzes seit langem zähe und erfolglos auf ein Ostlocarno hingearbeitet hatte, wurde in seinen Maßnahmen gegen die Deutschen immer rigoroser. Die Frage der ungerechten und unhaltbaren deutschen Ostgrenze begann allmählich auch die anderen Völker zu interessieren und in Amerika suchte man sich an die Möglichkeit einer Revision der deutschen Ostgrenze zu gewöhnen. Die Frage wurde umso lauter, als [312] auch Deutschland infolge unaufhörlicher Grenzverletzungen eine Revision der Ostgrenze, wenn auch nicht offiziell, so doch aber um so mehr durch den Mund der politischen Führer, forderte. War doch da folgender Fall vorgekommen: Seit Herbst 1929 hatten polnische Beamte vergeblich versucht, deutsche Grenzbeamte in Marienwerder zur Aushändigung von Geheimmaterial zu veranlassen. Endlich gaben die Deutschen zum Scheine nach und Ende Mai begaben sich zwei polnische Grenzschutzbeamte in die Baracke der deutschen Grenzwache, um das Geheimmaterial, eine Gasmaske und verschiedene Schriftstücke, in Empfang zu nehmen. Als nun deutsche Kriminalbeamte die beiden Polen festnehmen wollten, riefen diese eine Schießerei hervor, wobei ein Pole tödlich verwundet wurde. Gleichzeitig überschritten polnische Grenzsoldaten die deutsche Grenze und feuerten auf die deutsche Baracke bei Neuhöfen. Dieses Ereignis rief Verwicklungen zwischen Berlin und Warschau hervor. Eine deutsch-polnische Kommission, welche die Schuldfrage klären sollte (sie stand ja eigentlich nach dem ganzen Sachverhalt schon fest), kam zu keinem Ergebnis, weil die Polen ungerechtfertigterweise alle Schuld von sich wiesen. Noch hatte sich die Erregung hierüber nicht gelegt, als schon zwei neue Fälle schwerer Grenzverletzung durch die Polen vorkamen. In dem einen Falle wurde eine Frau, die ihre Kühe molk, festgenommen und fortgeführt, im andern Falle wurde ein deutscher Zollbeamter auf deutschem Gebiete im Walde bei Proßken von einem in Zivil gekleideten polnischen Zollbeamten beschossen. Doch der Deutsche erschoß in Notwehr den Polen.

Unter dem Eindruck dieser Ereignisse forderte Treviranus in einer Wahlkampfrede energisch Revision der deutschen Ostgrenze, worüber man sich sowohl in Warschau wie in Paris sehr entrüstete. Die Franzosen waren besonders in Sorge, da die Äußerung von einem Minister getan war, und sie forderten eine amtliche Zurücknahme der Erklärung durch die deutsche Regierung. Aber diese wurde abgelehnt.

Allen Grenzrevisionsfragen suchte Polen durch eine rücksichtslose Entdeutschungspolitik zuvorzukommen. Trotzdem das Liquidationsabkommen mit Deutschland für Polen die Bedingung enthielt, alle weiteren Zwangsenteignungen deutscher [313] Güter einzustellen, sah die polnische Regierung für 1930 auf Grund des Agrarreformgesetzes für Posen und Pommerellen Zwangsparzellierungen von 13 820 Hektar vor, wovon 10 000 in deutschem Besitz waren. Von den übrigen 27 000 Hektar, die ebenfalls enteignet werden sollten, war auch der weitaus größte Teil deutscher Besitz. Hand in Hand mit dieser Entdeutschung des Besitzes ging die Entdeutschung der Kultur. In Posen und Pommerellen (Korridor) mußten 15 000 deutsche Kinder polnische Schulen besuchen, davon erhielten 11 800 überhaupt keinen deutschen Unterricht, 2400 hatten wöchentlich ein bis zwei Stunden, 1075 drei bis vier Stunden Deutschunterricht. Seit Bestehen des polnischen Staates bis Ende 1929 waren über 400 deutsche Volksschulen in Kongreßpolen geschlossen worden.

  Oberschlesiens Martyrium  

Ganz schlimm war es in Oberschlesien. Von den 70 deutschen Minderheitenschulen standen, ganz im Gegensatz zur Genfer Konvention, 52 unter polnischer Verwaltung und Leitung. Mitte Juni 1930 wurde im Schlesischen Sejm durch Mehrheitsbeschluß die deutsche Sprache abgeschafft. Wie rechtlos die Deutschen waren, zeigte sich darin, daß von den seit 1. April 1929 bis 31. März 1930 erhobenen 571 Beschwerden des deutschen Volksbundes in Kattowitz, welcher etwa 30 000 Mitglieder zählte, nur 20 erledigt worden waren und 264 unerledigt blieben, während der Rest zurückgezogen worden war.

Ende September 1930 löste Staatspräsident Moscicki den Warschauer Sejm und Senat auf, gleichzeitig löste der oberschlesische Wojwode Grascinski den Schlesischen Sejm auf. Der neue Wahlfeldzug sollte ein Vernichtungsschlag gegen die deutsche Minderheit werden. Zunächst ließ Moscicki auf Marschall Pilsudskis Betreiben zahlreiche oppositionelle Abgeordnete, darunter viele Deutsche verhaften, die im Festungsgefängnis von Brest-Litowsk eine tierische Behandlung erfuhren. So wurde der Führer der Sozialisten, Dr. Liebermann, auf dem Wege nach Brest von Polizisten und Gendarmen solange geschlagen, bis er das Bewußtsein verlor. Von den furchtbaren Mißhandlungen trug er zwanzig blutende Wunden davon. Im Gefängnis mußten die Verhafteten widerwärtige Arbeiten verrichten. Sie konnten nur verunreinigtes Wasser trinken und nagten vor Hunger am Stroh ihrer Strohsäcke. Mit Stöcken und Peitschen [314] wurden sie geschlagen. Eines nachts zog man sie nackt aus, stellte sie mit dem Gesicht an die Wand und kündigte ihnen die Hinrichtung an. Tatsächlich schlugen Revolverkugeln neben ihren Köpfen in die Mauer. Dergestalt wurden die Unglücklichen in steter und tiefer Erniedrigung gemartert.

Noch schlimmer aber war der Terror, der die Wahlen zum Sejm und zum Senat im November 1930 begleitete. Zwar brachte die antideutsche Woche in Oberschlesien vom 19. bis 26. Oktober noch nicht den befürchteten Ausbruch des Terrors. Aber man schikanierte die Deutschen, indem man mit und ohne jeden Grund ihre Wahllisten ungültig erklärte, so in Graudenz, Czarnikau, Samter, Bielitz, Teschen, Rybnik. Durch die Anfechtung von Unterschriften und Unstimmigkeiten in den Wählerlisten gingen etwa 30 000 deutsche Stimmen verloren. Noch viel raffinierter ging der oberschlesische Wojwode zu Werke, er ließ amtlich bekanntmachen, daß, wer sich zur Regierungspartei bekenne, den Stimmzettel offen abgebe, aber den, der nicht offen wähle, müsse er als Staatsfeind betrachten.

Wahlpropaganda war den Deutschen unmöglich gemacht. Wahlversammlungen durften sie nicht abhalten, wenn sie nicht überfallen, halbtot geschlagen oder gar ins Gefängnis geschleppt werden wollten. Graszinski mobilisierte den Verband der Schlesischen Aufständischen, dessen Ehrenvorsitzender er war, und der etwa 40 000 Mitglieder zählte. Dieser Verband hatte sich 1921 gegründet und arbeitete jetzt wieder mit den schrecklichen Terrormethoden gegen die Deutschen. Gemeinsam mit dem Westmarkenverein gab er aufreizende Aufrufe heraus gegen den deutschen Volksbund und die deutsche Wahlgemeinschaft und stellte seine Arbeit unter die Losung: "Unsere Antwort an Treviranus!" Tag und Nacht durchzogen Tausende von Aufständischen in Uniform die Straßen, um "ihre Macht zu zeigen und den Feinden zu imponieren"! Dutzende von Wohnungen friedlicher Bürger wurden überfallen, die Einrichtungen zerstört, Hunderte von Deutschen wurden in ihren Wohnungen oder auf der Straße oder in öffentlichen Lokalen brutal mißhandelt mit Gummiknüppel und Ochsenziemer. Scharen verstörter Flüchtlinge strömten über die deutsche [315] Grenze. Die rigorose Zensur über die deutsche Presse wurde nicht nur von den polnischen Staatsanwälten, sondern auch von den Aufständischen ausgeübt. Zeitungsträgerinnen wurden überfallen, die geraubten Zeitungen an Ort und Stelle verbrannt.

Am schlimmsten waren die Deutschenverfolgungen an den Wahltagen. Was dabei herauskam, ließ sich denken. Bei den Wahlen zum Sejm am 16. November 1930 erhielten die Deutschen 5 Mandate von 444, vorher hatten sie 19 Sitze von 414 inne. Die Wahlen zum Senat am 23. November brachten den Deutschen 3 Sitze von den 111, während sie vorher 5 innehatten! Natürlich erhob die Deutsche Wahlgemeinschaft in allen drei schlesischen Wahlkreisen Einspruch gegen diese Terrorwahlen beim Völkerbund. Jetzt war auch der Zeitpunkt gekommen, daß die deutsche Regierung schützend für das Recht ihrer Minderheit in Polen eintrat. Sie reichte eine umfangreiche Beschwerdeschrift beim Völkerbund in Genf ein.

Es war das erstemal, daß die Reichsregierung selbständig neben der Beschwerde der deutschen Minderheit in Genf gegen den polnischen Terror protestierte. Bisher war es immer so gewesen, daß die deutsche Regierung lediglich die Beschwerdenoten der oberschlesischen Deutschen unterstützt hatte, diesmal aber machte sie das Schicksal der Deutschen in Polnisch-Oberschlesien zu ihrer eigenen Angelegenheit, indem sie sich auf ihr Recht als Mitglied des Völkerbundsrates bezog. Die deutsche Beschwerdeschrift schilderte die grauenhaften Qualen der Deutschen an 22 besonders schrecklichen Einzelfällen und betonte, daß der deutschen Regierung insgesamt 200 Fälle von Körperverletzungen, Sachbeschädigungen, Bedrohungen oder Hausfriedensbrüchen bekannt geworden seien. Der Völkerbund möge alle diejenigen Maßnahmen ergreifen, die notwendig seien, um dem Zustand der Rechtlosigkeit und Bedrückung abzuhelfen, unter dem die deutsche Minderheit in Oberschlesien zu leiden habe.

  Deutschland und Polen  
vor dem Völkerbund

Das war eine erregte Ratssitzung, die vom 19. bis 24. Januar 1931 in Genf stattfand. Der deutsche Außenminister Curtius erhob die bittersten Vorwürfe gegen Polen, das ein planmäßiges Vorgehen, ein regelrechtes System der Unterdrückung und Einschüchterung gegen die Deutschen befolge. Es gelang dem [316] polnischen Außenminister Zaleski nicht, die harten Anklagen von deutscher Seite zu entkräften. Aber er wagte persönliche Anspielungen, indem er den polnischen Insurgentenverband mit dem deutschen Stahlhelm verglich und auf die deutschen Bestrebungen auf eine Grenzrevision im Osten hinwies. Demgegenüber lehnte Curtius jeden Vergleich der zügellosen, brutalen, verbrecherischen Insurgentenvereinigung mit dem disziplinierten deutschen Stahlhelm ab und, soweit von einer Revision der Ostgrenzen die Rede war, bekannte sich Curtius frei und offen dazu, erklärte aber, Deutschland wolle nur mit friedlichen Mitteln diese Ziele erreichen. Es war das erstemal, daß der amtliche deutsche Vertreter sich über die Frage des Ostens im Völkerbunde äußerte, ohne Widerspruch zu finden.

Überhaupt war der Erfolg des Redekampfes zwischen Curtius und Zaleski der, daß die Teilnahme der Versammlung sich den Deutschen zuwandte und die Polen vor aller Welt als schwer belastet dastanden. Selbst das oberschlesische Organ Korfantys, Polonia, hatte den Eindruck, daß das System der Polnischen Regierung verurteilt worden sei und Zaleski nur noch um mildernde Umstände gebeten habe. Im Völkerbundsrate wurde die deutsche Beweisführung, selbst mit Briands Zustimmung, als vollständig ausreichend anerkannt, und zum ersten Male seit seinem Bestehen entschied der Völkerbund klar und unzweifelhaft, daß eine Verletzung der Minderheitenverträge vorliege. Das ergab sich aus dem Berichte des japanischen Referenten. Diese Verletzung mußte durch Polen gesühnt werden, und Curtius verlangte ausdrücklich, daß der Völkerbundsrat die versprochenen Sühnemaßnahmen überwache und Sicherheiten schaffe, daß ähnliche Dinge in Zukunft nicht wieder vorkommen.

Unter dem Vorsitz Hendersons faßte der Rat eine Entschließung, die in folgenden Sätzen gipfelte:

      "Der Völkerbund hat aus den vorgelegten Urkunden den Eindruck gewonnen, daß der Verband der Aufständischen von einem Geist beseelt war, der sicher nicht geeignet war, die Annäherung zwischen beiden Elementen der Bevölkerung zu erleichtern. In jedem Falle ist es unerläßlich, daß der deutschen Minderheit in der Wojwodschaft Schlesien das Gefühl des Vertrauens wiederge- [317] geben wird, das leider aufs tiefste erschüttert zu sein scheint und ohne das eine Zusammenarbeit zwischen dem Staat und der Minderheit nicht hergestellt werden kann. Die internationalen Verträge und die Beschlüsse der Vollversammlung legen diese Zusammenarbeit dem Staat und den interessierten Minderheiten als eine unabweisbare Pflicht auf. Der Völkerbundsrat wird daher zu gegebener Zeit, noch vor der nächsten Tagung des Völkerbundsrates, von den Beschlüssen Kenntnis zu nehmen haben, die die polnische Regierung in dieser Frage ergreift."

Die amtlichen Stellen Deutschlands bezeichneten diese Regelung als befriedigend. In Anbetracht des Umstandes, daß dem Reiche keinerlei Machtmittel zur Verfügung standen, die Polen zur Durchführung der Sühnemaßnahmen zu zwingen, hatte diese Auffassung eine gewisse Berechtigung. Es war der deutschen Regierung gelungen, den Polen vor aller Welt eine Niederlage zu bereiten, wenn auch nur eine moralische Niederlage. Dennoch empfanden weite Kreise Deutschlands die Lücke, die dadurch entstanden war, daß es Deutschland nicht gelang, unmittelbaren Einfluß auf die Durchführung der polnischen Maßnahmen zu gewinnen. Wenn die sozialistische und demokratische Presse von einem "Erfolge" sprach, so ging das viel zu weit. Die nationalen Kreise machten weniger Curtius, als vielmehr dem Völkerbundsrat einen Vorwurf, sie wiesen auf seine Halbheit und sein Ausweichen hin. Das Zentrum fand es bedenklich, daß es den Polen ganz allein überlassen bleibe, eine Änderung in der Behandlung der Minderheiten herbeizuführen.

Das deutsche Mißtrauen war wohl begründet. Wenige Tage nach den Genfer Beschlüssen lehnte die polnische Regierung die Einsprüche der deutschen Wahlgemeinschaft Oberschlesien gegen die Terrorwahlen in den Kreisen Kattowitz und Königshütte ab, weil sie zu spät eingereicht worden seien. Die Germania war "fassungslos erstaunt" über diese "Sabotage der Genfer Beschlüsse". –

In Genf machte Deutschland auf einem anderen Gebiete ebenfalls einen Vorstoß: in der Abrüstungsfrage. Hier kündigte sich gleichsam auch das neue Zeitalter an, das durch die Wendung vom 14. September eingeleitet worden war. Die drängende nationale Kraft des jungen Deutschland nötigte die [318] Reichsregierung, mit Energie ihre Forderungen zu erheben und zu befolgen.

Vorbereitende
  Abrüstungskonferenz  

Seit dem 6. November 1930 hielt in Genf der "Ausschuß des Völkerbundes zur Vorbereitung der Abrüstungskonferenz" in Fortsetzung der am 9. Mai 1929 unterbrochenen 6. Tagung seine Schlußtagung ab, die fast fünf Wochen dauerte und 32 Völkerdelegationen vereinigte. Schärfer als bei den früheren Tagungen stießen hier die Gegensätze aufeinander: Das ungestüme auf Weltabrüstung drängende Deutschland, vertreten durch den energischen Grafen Bernstorff, und die zögernden Gegner, Frankreich und England, vertreten durch Tardieu und Lord Cecil. In einem allerdings war man sich einig: man wollte nun endlich mit der vorbereitenden Arbeit, die 4½ Jahr gedauert hatte, Schluß machen. Allerdings war in dieser Arbeit nicht viel geleistet worden; alle, hauptsächlich von deutscher Seite vorgeschlagenen Mittel, eine wirkliche Herabsetzung oder auch nur wirksame Kontrolle der Heeresaufwendungen zu erreichen, waren abgewiesen worden, so die Einbeziehung der Reserven in die Heeresstärken, die Beschränkung des Kriegsmaterials, die Kontrolle der Heeresetats. All dies scheiterte vornehmlich an Frankreichs Forderung: "Erst Sicherheit, dann Abrüstung".

  Konventionsentwurf  
November 1930

Der im November 1930 vorgelegte Konventionsentwurf entsprach ganz den Wünschen Frankreichs, das unbequeme Deutschland durch eine scheinbare Abrüstung zu täuschen. Er gliederte sich in 6 Teile über Personal-, Material-, Haushaltsausgaben, Nachrichtenaustausch, chemische Waffen und allgemeine Bestimmungen. Wichtig war, daß die allgemeine Wehrpflicht nicht abgeschafft wurde, daß die Polizeikräfte, Gendarmen, Zollbeamten und Förster sowie die ausgebildeten Reserven nicht in den Abrüstungskomplex einbezogen wurden. Schon diese Vorbehalte zeigten, daß von einer Gleichberechtigung Deutschlands mit den andern nicht die Rede war. Nun wurde noch dazu den Regierungen gestattet, eine noch festzusetzende Höchstdienstzeit zu überschreiten, wenn die Jahrgänge infolge Geburtenrückganges zu klein würden. Ferner war es bedenklich, daß für die Abrüstung der Landheere nur die indirekte Methode durch Beschränkung der Ausgaben für Unterhalt, Ankauf und Herstellung des Kriegsmaterials vorgesehen war. Der deutsche [319] Graf Bernstorff protestierte gegen diese Umgehungsversuche, er forderte, wie das im Versailler Vertrag Deutschland diktiert war, auch für die andern Einbeziehung der Reserven und des Reservematerials, Verbot der schweren Artillerie, der Tanks und der Luftrüstung sowie des Bombenabwurfs aus der Luft. Doch vergeblich.

Der vierte Teil sprach von regelmäßigen Mitteilungen der Staaten über ihre Rüstungen an das Generalsekretariat des Völkerbundes. Aber diese Mitteilungen sollten sich nur auf solche jungen Leute erstrecken, die eine "obligatorische militärische Vorbildung erhalten", nicht aber auf die freiwillige militärische Vorbildung. So berührte der Entwurf in keiner Weise die militärische Vorbereitung der Jugend, die ein Eckpfeiler der militärischen Organisation Frankreichs darstellte, während diese dem deutschen Volke in Versailles verboten worden war.

Die ganze Scheinheiligkeit des Entwurfes zeigte sich im letzten Teil über allgemeine Bestimmungen. Hier war einerseits gesagt: wenn einer der Vertragspartner während der Dauer des Vertrages infolge "veränderter Verhältnisse" seine "nationale Sicherheit" bedroht sehe, könne er die Bestimmungen des Vertrages für sich vorübergehend außer Kraft setzen. Anderseits bestimmte Artikel 53:

      "Der vorliegende Vertrag berührt die Abmachungen früherer Verträge nicht, auf Grund derer gewisse hohe vertragschließende Teile eine Beschränkung ihrer Rüstungen zu Lande, zur See und in der Luft auf sich genommen haben und damit wechselseitig ihre Pflichten und Rechte auf diesem Gebiete festgelegt haben. Folgende hohe vertragschließende Teile..., die diese Verträge unterzeichnet haben, erklären, daß die im vorliegenden Vertrage für ihre Rüstungen festgelegten Grenzen von ihnen im Hinblick auf die Wirksamkeit der im vorhergehenden Absatz erwähnten Abmachungen angenommen werden und daß ihr Inkraftbleiben für sie eine wesentliche Voraussetzung für die Einhaltung des vorliegenden Vertrages ist."

Das war nichts anderes, als daß man von Deutschland eine freiwillige und endgültige Anerkennung der Versailler Entwaffnungsbestimmungen verlangte. Von der Sicherheit und der Gleichberechtigung Deutschlands war keine Rede in diesem Entwurf, wohl aber stellte er den entschlossenen [320] Versuch Frankreichs dar, endgültig die Entwaffnungsforderung der Völkerbundssatzung zu sabotieren und den im Versailler Vertrage geschaffenen militärischen Zustand zu verewigen. Der Entwurf beabsichtigt also nur eine Scheinlösung der Abrüstungsfrage und eine Verschleierung des wahren Rüstungsstandes. So war es Frankreichs Wille, aber Deutschland konnte einem solchen Vorhaben nicht zustimmen. –

Immerhin, jetzt endlich war man also so weit, daß die entscheidende Abrüstungskonferenz einberufen werden solle. Graf Bernstorff setzte als Termin den 2. November 1931. Das ginge nicht, sagten die andern, man dürfe der Entscheidung des Völkerbundsrates nicht vorgreifen! Schließlich einigte man sich auf den Vorschlag Lord Cecils, der Völkerbundsrat möge auf seiner Januartagung das Datum festsetzen. Diese verbindliche Erklärung gab Lord Cecil nur mit schwerem Herzen ab, und er entschädigte sich und alle Gegner der Abrüstung mit der Erneuerung eines Antrags aus dem Jahre 1927, wonach der Ausschuß beschließen sollte, daß die bereits bestehenden Abrüstungsverpflichtungen, die Entwaffnung Deutschlands und seiner ehemaligen Bundesgenossen durch die etwaigen Beschlüsse der Abrüstungskonferenz nicht berührt werden könnten. Tardieu verlangte noch schärfer, daß die Aufrechterhaltung der bestehenden Verträge die Vorbedingung für das Inkrafttreten eines Abrüstungsabkommens bilden müsse. Es war ein merkwürdiges Widerspiel der Unehrlichkeit. Diejenigen, die sich trotz allem inneren Widerstreben ihrem einmal feierlich gegebenen Worte nicht länger entziehen konnten, suchten von vornhinein Deutschland so zu knebeln und seiner Handlungsfreiheit zu berauben, daß es keinen Fortschritt von der Abrüstungskonferenz erhoffen durfte.

  Streit um Konventionsentwurf  

Graf Bernstorff lehnte den vorgelegten Konventionsentwurf mit seinen Mängeln (die oben erwähnten Unterlassungen) im ganzen und den englisch-französischen Antrag im besonderen ab. Sowjetrußland, Italien, Bulgarien und die Türkei standen auf deutscher Seite. Deutschland wurde überstimmt, wie das zu erwarten war. Bernstorff, durch diese Hartnäckigkeit gereizt, erklärte, daß er keinen Entwurf mit diesem gegen Deutschland gerichteten Artikel unterzeichnen, sondern bei dessen Ein- [321] fügung den ganzen Entwurf ablehnen werde. Der gegenwärtige Konventionsentwurf habe mit Abrüstung, soweit es sich um die Landstreitkräfte handle, überhaupt nichts mehr gemeinsam als die Überschrift.

      "Vielleicht gibt es Delegierte in unserer Kommission", fuhr Bernstorff fort, "die in dem Glauben leben, man könne meiner Regierung einen Vertrag zur Unterzeichnung anbieten, der, statt eine wirkliche Abrüstung zu bringen, den Rüstungsstand der Welt zu Lande verschleiert oder gar seine Erhöhung gestattet und der für mich gleichzeitig eine Erneuerung der deutschen Unterschrift unter die Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrages bedeuten würde. Ich muß Sie bitten, einer solchen Illusion endgültig zu entsagen. Unser Standpunkt ist, daß Deutschland einen Abrüstungsvertrag nur dann als solchen anerkennen kann, wenn er eine gerechte, der Sicherheit aller Staaten Rechnung tragende Lösung bringt. Diese Auffassung hat erst vor wenigen Wochen der Reichsaußenminister Dr. Curtius hier in Genf wiederholt. Ich selbst habe mich stets im gleichen Sinne ausgesprochen. Deutschland wird die Abrüstungskonvention danach beurteilen, ob sie als Gegenleistung für die deutsche Abrüstung endlich den Grundsatz paritätischer Sicherheit verwirklicht. Der Entwurf, den Sie in den letzten fünf Jahren ausgearbeitet haben, tut das nicht."

Dagegen allerdings vertraten Lord Cecil und Tardieu die Auffassung, daß die Verträge nur Deutschland, aber nicht den Siegerstaaten die Verpflichtung zur Abrüstung auferlegt hätten. [Scriptorium merkt an: !!!!!!.....] Noch einmal in der Schlußsitzung am 9. Dezember sagte Bernstorff, man vermisse den starken Willen zur Abrüstung. Der kommenden Abrüstungskonferenz seien die letzten Chancen gegeben. "Mögen die Völker nicht vergessen, welch schwere Gefahren am Horizont erscheinen könnten, wenn die Aufgabe der Abrüstung nicht erfüllt wird!" Doch der Konventionsentwurf wurde von der Konferenz angenommen.

  Unwillen in Deutschland  

Die Abrüstungsfrage war wohl dasjenige außenpolitische Problem, das um die Jahreswende 1930–1931 am heftigsten das deutsche Volk bewegte. Reichswehrminister Gröner stellte einmal die deutsche Wehrlosigkeit den gigantischen Rüstungen Frankreichs gegenüber und sagte dann, man gefährde den Frie- [322] den, solange die Abrüstung auf ein Land beschränkt sei und es jedem feindlichen Einfall wehrlos preisgegeben sei: Das Bedürfnis nach nationaler Sicherheit sei berechtigt und in der Völkerbundssatzung verankert. Dem unerträglichen Mißverhältnis der Rüstungen innerhalb Europas müsse ein Ende gemacht werden.

Dieser letzte Satz Gröners ließ eine sehr weite Auslegung zu: er forderte, wenn die Abrüstung der andern nicht verwirklicht werde, die Aufrüstung Deutschlands. Ähnliche Anträge wurden bereits dem Auswärtigen Ausschuß des Reichstages unterbreitet, dessen Vorsitz der Nationalsozialist Dr. Frick innehatte. Die englischen Liberalen erkannten deutlich die neue Wendung in der Abrüstungsfrage, die durch die deutsche Aktivität hervorgerufen wurde. In den News Chronicle schrieb Spender, nahezu alle Deutschen empfänden es, daß Deutschland, wenn die andern Nationen nicht abrüsten, sich mit seiner eigenen Abrüstung auf die Dauer nicht abfinden könne, da dies ein Zeichen der Ungleichheit und Unterlegenheit wäre. Übrigens bestätigte Lloyd George selbst in dieser Zeit, daß die Mantelnote Clemenceaus in klaren Worten das Versprechen enthalte, die Bewaffnung der Verbündeten auf das Maß der Bewaffnung Deutschlands herabzusetzen.

Auch der Reichsaußenminister Curtius trat mit Entschlossenheit für eine gerechte Lösung des Abrüstungsproblems ein. Er polemisierte gegen Tardieu, dessen Abrüstungstheorie den Bestand des Völkerbundes und alle andern Friedenssicherungen aufs schwerste gefährden würde, denn die Voraussetzung all dieser Verträge sei die Gleichberechtigung der Völker und Vertragspartner. Ja, man wurde von deutscher Seite immer aggressiver. Kurz vor Eröffnung der Tagung des Völkerbundsrates im Januar 1931 erklärte Curtius, Deutschland werde aus dem Völkerbunde austreten, wenn die Abrüstungskonferenz nicht festgelegt werde. Die Drohung mit dem Austritt aus dem Völkerbund wurde immer lauter. Generaloberst von Seeckt befürwortete sie, denn der Völkerbund versage ja doch in allen Fragen, die Deutschland angingen, so vor allem in der Frage der Minderheiten und der Abrüstung. Ja, Anfang Februar unterstützten Nationalsozialisten, Deutschnationale und Kommunisten im [323] Auswärtigen Ausschuß einen Antrag auf Austritt aus dem Völkerbunde, der allerdings abgelehnt wurde.

Inzwischen hatte am 19. Januar in Genf die Ratstagung begonnen. Für sie bildete die Festsetzung der Abrüstungskonferenz einen sehr schwer verdaulichen Bissen. Wie Bernstorff lehnte jetzt Curtius den vorgelegten Konventionsentwurf ab, der höchstens auf eine Stabilisierung des gegenwärtigen Rüstungsstandes hinauslaufe und zum Teil sogar noch eine Erhöhung erlaube. Auch Deutschland habe das Recht auf paritätische Sicherheiten.

      "Würde der Völkerbund diesen Grundsatz preisgeben, würde er bei dieser Aufgabe versagen, die darin besteht, durch Abrüstung allen seinen Mitgliedern Sicherheit zu verschaffen, so würde er seine Friedensaufgaben verfehlen, sein eigenes Dasein erschüttern und seine Existenzberechtigung verlieren. Erfüllt er aber seine Abrüstungsverpflichtung, so werden wir die ersten sein, das anzuerkennen. Niemandem kann mehr an Abrüstung gelegen sein als dem deutschen Volke."

Trotzdem man sich weder über die Organisation noch über den Vorsitz der Abrüstungskonferenz einig wurde, setzte man, dem deutschen Drängen folgend, ihren Beginn auf den 2. Februar 1932 fest. –

Nun trat gelegentlich der Ratstagung auch die Paneuropakommission wieder in Genf zusammen. Das "Studienkomitee für eine europäische Union" versammelte vom 16.–21. Januar 27 europäische Außenminister. Doch die Arbeit war recht mager. Man beschloß, die Weltwirtschaftskrise zu studieren, soweit sie die europäischen Staaten gemeinsam angehe, und man beschloß ferner auf deutsche Veranlassung, auch Nichtmitglieder des Völkerbundes, vor allem Rußland, die Türkei, dann auch Island, zu den Beratungen heranzuziehen. Man begann schon allmählich an dem Erfolg der Paneuropakommission zu zweifeln, und ungeduldig rief der ehemalige holländische Außenminister Colijn der Versammlung zu:

      "Meine Herren, Sie haben sich selbst die Aufgabe gesetzt, die Völker Europas einander näher zu bringen und eine engere Zusammenarbeit zwischen ihnen herzustellen. Müssen Sie da nicht in erster Linie dafür sorgen, daß die Völker sich nicht allmählich mehr voneinander entfernen? Der drohende Zollkrieg wird für Ihr Ziel das ernsteste [324] Hindernis sein. Dagegen wäre eine Verbesserung der wirtschaftlichen Beziehungen eine unerläßliche Vorbedingung für die Ziele dieser Kommission. Aber ich wiederhole: es ist allerhöchste Zeit!"

Doch die Paneuropakommission liebte keine stürmischen Aktionen, sie ging gemächlich Schritt für Schritt weiter. Sie setzte noch eine Anzahl Unterkommissionen ein, welche die verschiedensten Fragen zu studieren hatten, sie empfahl allen Staaten, das allgemeine Handelsabkommen in Kraft zu setzen, und erließ schließlich im Namen Deutschlands, Englands, Frankreichs und Italiens Briands "Europäisches Manifest", das zum Schlusse erklärte:

      "Das Beste, was wir tun konnten, um die wirtschaftliche Lage zu verbessern, ist, keinen Zweifel an der Unerschütterlichkeit des Friedens in Europa aufkommen zu lassen. In unserer Eigenschaft als Minister des Äußeren und verantwortliche Vertreter der europäischen Staaten erklären wir, daß wir mehr als je entschlossen sind, uns des Organs des Völkerbundes zu bedienen, um jede Anwendung von Gewalt zu verhindern."

Dabei blieb es auch. Im übrigen zeigte sich, daß dieser gute Wille sich lediglich auf die Paneuropakommission beschränkte. Das allgemeine Handelsabkommen, auf das dieses Komitee so große Hoffnungen setzte und durch dessen Zustandekommen die Kommission erst ihre Existenzberechtigung im Sinne Colijns erwiesen hätte, scheiterte endgültig auf der dritten Tagung der europäischen Wirtschaftskonferenz am 17. März 1931. Es gelang nicht, das provisorische Genfer Zollabkommen vom 24. März 1930 endgültig vom 1. April 1931 in Kraft zu setzen. Eine Reihe Staaten, darunter Deutschland, hatten sich zwar dafür ausgesprochen, aber die ablehnende Haltung Englands, der sich dann auch die Schweiz, Frankreich, Ost- und Südosteuropa anschlossen, ließ das Abkommen scheitern. So war die Hoffnung auf eine gemeinsame europäische Zollpolitik geschwunden. Die Staaten blieben bei ihrem bisherigen zollpolitischen Wirtschaftsselbstschutz. –

Scheitern der
  französischen Europapolitik  

Unverkennbare starke Spannungen beherrschten den Völkerbund. Sie wirkten sich vor allem auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiete aus. Nicht zum wenigsten wurde diese Ent- [325] wicklung durch das Drängen des nationalen Volksteiles in Deutschland gefördert. Diesem Drängen mußte die deutsche Regierung in Genf gewisse Zugeständnisse machen, in Gestalt eines energischeren, nach absoluter Gleichberechtigung verlangenden Auftretens. Den schwersten Stoß erhielt hierbei die französische Europapolitik. Schritt für Schritt verlor Frankreich Stützpunkte seiner Stellungen gegen Deutschland. Die Rheinlandräumung Ende Juni 1930 wurde in Paris als eine Niederlage empfunden. Alle hochfliegenden Pläne, die Frankreich in bezug auf das Rheinland hatte, waren zu Wasser geworden. Dann kamen die Septemberwahlen. Ihr Ergebnis erfüllte die Prestigepolitiker mit schweren Sorgen. Selbst Briand, der sich einer gemäßigten Haltung befleißigte, hatte seine Befürchtungen über das Anwachsen der deutschen Kreise, die der bisherigen französischen Politik ausgesprochen feindselig gegenüberstanden. Frankreich versuchte, Deutschland für diese Wahl durch Kündigung umfangreicher kurzfristiger Kredite zu bestrafen. Nach dem 14. September wurden in Deutschland rund 2 Milliarden ausländischer Kredite zum Jahresende gekündigt.

Es war ein eigenartiges Zusammentreffen, daß im gleichen Augenblick, da die Nationalsozialisten Deutschlands Wahlschlacht gewannen, in Genf Briands Paneuropaidee scheiterte. Denn etwas anderes bedeuteten nicht die mehr oder weniger verklausulierten Absagen der europäischen Regierungen. Auch dieser Schlag traf hart die französischen Staatsmänner.

  Französische Sorgen  

Nun kam noch das deutsche Drängen nach der Abrüstung der anderen hinzu. Schwer lastete dies auf den französischen Seelen. Eine panikartige Nervosität befiel die Politiker. Ende Oktober organisierte der Pariser Abgeordnete Taittinger, Gründer und Leiter der Jeunesse Patriote, eine neue Partei: Die nationale und soziale republikanische Partei, die zwar den Frieden wolle, aber einen Frieden, der hauptsächlich die Sicherheit Frankreichs garantiere. Ein durch die sofortige Abrüstung Frankreichs verwirklichter Frieden um jeden Preis würde aber den Krieg zur Folge haben.

Die Niedergeschlagenheit der Franzosen drückte sich auch in der Rede aus, die Briand Mitte November 1930 vor der Kammer hielt. Er gebe zu, daß man gegenwärtig einem schlecht gestimm- [326] ten Deutschland gegenüberstehe. Das zwinge Frankreich zum Klarblick, ja zum Mißtrauen. Aber als er, Briand, die eindrucksvollen Zahlen über das Ergebnis der Reichstagswahlen las, erinnerte er sich der Bestimmungen der deutschen Verfassung. Er wisse, daß es in Preußen Männer gebe, welche der republikanischen Verfassung ergeben seien. In Frankreich und in Deutschland gebe es Männer, die gefährliche Reden hielten und die Völker zur Feindschaft aufreizten. Aber man müsse deshalb kaltes Blut bewahren. Allzu oft seien die Völker mitten in einer schlimmen Wirklichkeit aufgewacht. Nach dem letzten Kriege hätten die leitenden Männer in Frankreich wie auch aller Länder die Pflicht, die Völker vor der Wiederholung solcher Möglichkeiten zu schützen, die Fühlungnahme zwischen den Völkern herzustellen und nicht den Mut zu verlieren. Das hindere sie nicht, die Verträge zu verteidigen und die Grenze zu sichern.

Auch Tardieu bemühte sich um einen Ausweg aus der fatalen Abrüstungsklemme. Er erklärte, daß hinsichtlich der Abrüstungsfrage im Völkerbunde zwischen Deutschland und Frankreich Meinungsverschiedenheiten bestünden. Es sei doch klar, daß sich Frankreich an den Friedensvertrag halte, der es Deutschland zur Pflicht mache, abzurüsten, während er den Alliierten nur die Möglichkeit einer freiwilligen Abrüstung gebe. Natürlich sei es auch Unsinn, wenn Deutschland im Osten, gegen Polen, Grenzrevision verlange.

Daß der Kriegsminister Maginot die Abrüstung bekämpfte, verstand sich von selbst. Frankreich sei gewiß für internationale Lösungen zu haben, verlange aber gleichzeitig nationale Sicherheit. Maginot wurde noch von einer andern Sorge bedrückt. Infolge des Geburtenausfalles während des Krieges werde man 1935 nicht mehr das normale Heereskontingent von 240 000 Rekruten erreichen, sondern müsse mit höchstens 140 000 Mann rechnen. Das komme effektiv einer Verkürzung der Dienstzeit auf sechs Monate gleich. Es sei klar, daß, bevor dieser Zeitpunkt da sei, neue militärische Lösungen geschaffen werden müssen. Man werde vor die Wahl gestellt zwischen einem stehenden Heer und einer Miliz.

Das Gespenst der Abrüstung beunruhigte Frankreich um so mehr, als auch Italien, das sich von Frankreich nicht hinreichend [327] als Großmacht gewürdigt fühlte, in dieser Frage auf Seiten Deutschlands stand.

Zudem litt Frankreich in den letzten Monaten an einer starken Wirtschaftskrise. Bankenzusammenbrüche ließen Rentner und Sparer für ihre Vermögen fürchten. Alle diese ungünstigen Ereignisse der inneren und äußeren Politik trugen schließlich zum Sturze des Kabinetts Tardieu bei, und es war sehr bezeichnend, daß sich in dieser kritischen Zeit kaum ein Mann fand, der den Mut hatte, eine neue Regierung zu bilden.

Barthou und der Senator Pierre Laval lehnten ab. Endlich kam ein radikales Ministerium unter der Leitung von Steeg zusammen, das die Folgerungen aus der Lage zog und betonte, es werde nachdrücklich und mit Wachsamkeit die Politik europäischer Aussöhnung verfolgen, nicht aus Furcht oder Schwäche, sondern weil sie in ihrem menschlichen Idealismus die realistischste aller Arten von Politik sei. Damit lud sie den Zorn der Republikanischen Partei (Fraktion Poincaré) auf sich, die sich gegen die neue Regierung erklärte, weil sie mit einer Partei zusammenarbeite, deren Programm außen- und innenpolitisch den Interessen Frankreichs gefährlich sei.

Das Kabinett Steeg hatte keine lange Lebensdauer. Ende Januar 1931 stolperte es über landwirtschaftliche Fragen, und nun bildete der früher sozialistische, jetzt "unabhängige" Senator Pierre Laval eine neue Regierung, die in die Fußstapfen des früheren Kabinetts Tardieu zurückkehrte. Die internationale Aussöhnung trat wieder zurück hinter die nationale Sicherheit.

Laval begann, eine ganz neuartige Politik zur Beherrschung Deutschlands zu entfalten. Nun, wo alle politischen und militärischen Stützen Frankreichs zu wanken drohten, versuchte Laval, die Weltwirtschaftskrise für Frankreich gegen Deutschland auszunutzen. Man mußte jetzt, wo man nicht mehr das Rheinland in der Hand hatte und mit Abrüstung bedroht wurde, versuchen, durch die Anhäufung kapitalistischer Machtmittel in Paris das unbotmäßige Deutschland gefügig zu machen, zu unterjochen. Das wirtschaftlich stärkere Frankreich sollte das wirtschaftlich schwächere Deutschland beherrschen.

Es war ein Verhängnis, daß Curtius sich nicht von den längst überholten Theorien der Stresemann-Ära freimachen konnte [328] und immer noch mit Eifer auf ein gutes Einvernehmen mit Frankreich hinarbeitete. Das war der ganze Inhalt seiner illusionistischen Politik, die Freundschaft Frankreichs zu gewinnen. Die völlige Verkennung der französischen Mentalität verleitete die Reichsregierung zu dem Schritte, dasselbe Frankreich, das soeben hunderte von Millionen aus der deutschen Wirtschaft herausgezogen hatte, im Januar um einen neuen Kredit von mehreren Hundert Millionen anzugehen. Wochenlang wurde verhandelt, und endlich, Ende Februar, wurde in Paris den deutschen Unterhändlern – es waren Zentrumsbeauftragte, Abgeordnete Brauns, Joos, Vorkel u. a. – erklärt, Deutschland erhalte keinen Pfennig. Langfristige Kredite zu geben, sei nicht möglich, an eine Anleihe sei ganz und gar nicht zu denken.

Übrigens wurden bei diesen deutsch-französischen Verhandlungen, die von deutscher Seite mit werbendem Drängen, von französischer Seite mit abwehrender Verzögerung geführt wurden, ganz eigenartige Pläne entwickelte. Von den Deutschen wurde den Franzosen ein Bündnis gegen Sowjetrußland angeboten. Die Franzosen sollten eine halbe Million Soldaten, die Deutschen eine Armee von 300 000 Mann zur Bekämpfung Rußlands zur Verfügung stellen. Es war die alte Idee des auf antibolschewistischer Tendenz beruhenden deutsch-französischen Militärbündnisses, das seit Locarno von dem Großindustriellen Arnold Rechberg und Artur Mahraun sehr eifrig befürwortet wurde. Es wurde aber jetzt ebenso wenig daraus wie fünf Jahre vorher. –

  Rußland  

Rußland hatte seit einiger Zeit wieder den Schwerpunkt seiner Außenpolitik auf die illegale Seite gelegt, und das erschwerte die guten Beziehungen zur Regierung Brüning. Von Moskau aus wurde die deutsche kommunistische Partei unablässig zu Aktionen gedrängt, um nun endlich das längst verheißene Sowjetdeutschland zu verwirklichen. Aber alle Versuche schlugen fehl, und die kommunistische Internationale sparte nicht mit Vorwürfen. Dennoch waren die Verbindungen der deutschen Kommunisten mit Rußland sehr innig, wenn auch die Russen in ihren deutschen Genossen nur Schwächlinge erblickten. Max Hölz, der Bandenführer des Aufruhrs von 1921, [329] bewohnte, stark von der politischen Polizei der Sowjets bewacht, vier elegant eingerichtete Räume in Leningrad, um dort die Theorie und Praxis des Klassenkampfes zu studieren. Sein Urteil über Rußland faßte er einem deutschen Genossen gegenüber, der ihn besuchte, in folgende Worte zusammen: "Hier ist alles gut, hier herrscht eine tolle Schweinerei, die reinste Bonzokratie."

Hatte also die deutsche Regierung wenig Lust, mit Rußland eine großzügige aktive Politik zu betreiben, so interessierte sich doch die deutsche Wirtschaft sehr für dies Land. So begab sich im Februar eine Kommission von deutschen Industriellen nach Rußland, um dort die staatlichen Industriewerke zu besichtigen. Die Deutschen waren hochbefriedigt und der oberste Volkswirtschaftssowjet gab eine amtliche Nachricht heraus, daß beide Teile zu dem Ergebnis gekommen seien, die gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen zu vertiefen und zu erweitern. Mit neuen Aufträgen für 300 Millionen Mark kehrten die Deutschen in die Heimat zurück und verlangten, daß zu 40 Prozent das Reich, zu 30 Prozent die Länder die Garantie für die 300 Millionen übernehmen sollten. Der Optimismus der Rußlandfahrer begegnete doch in weiten Teilen der deutschen Industrie starken Zweifeln. Schließlich aber wurde doch Mitte April ein deutsch-russisches Abkommen für die Zeit vom 15. April bis 31. August 1931 und über deutsche Lieferungen in Höhe von 300 Millionen Mark abgeschlossen. Es gab Leute in Deutschland, die hiervon viel für das darniederliegende deutsche Wirtschaftsleben erhofften. –

  England  

Diese deutsche Wirtschaftsaktion in Rußland rief starke Verstimmung in England hervor. Im Februar machte sich eine englische Abordnung von 30 Holzindustriellen und Gewerkschaftlern ihrerseits auf den Weg nach Rußland, um dort auch noch einige Aufträge zu erhaschen. So trug auch diese russische Angelegenheit neben dem deutschen Abrüstungsvorstoß dazu bei, daß sich zwischen Deutschland und England gewisse Spannungen bildeten. Nun hat ja die deutsche Regierung trotz der günstigen Gelegenheit auf den Haager Konferenzen nie besondern Wert darauf gelegt, mit England engere Fühlung zu bekommen, denn das auswärtige Amt litt unter der Vorstellung, [330] daß vor allem gute Beziehungen mit Frankreich hergestellt werden müßten. So war es ganz natürlich, daß England sich von Deutschland abwandte und wieder näher an Frankreich heranrückte. Dieser Frontwechsel kam in dem französisch-italienischen Flottenabkommen von Rom Anfang März 1931 zum Ausdruck. Baldwin kommentierte dieses Ereignis, das eine neue Übereinstimmung der ehemals alliierten Großmächte herbeiführte, dahin, daß Deutschland nun in die Arme Rußlands getrieben würde. Der römische Tevere aber höhnte, das deutsche Volk habe sich gute Gelegenheiten entgehen lassen, seine Außenpolitik leide an einer Bewegungslosigkeit, die geradezu an Lähmung grenze.

Beginnende
  Weltwirtschaftskrise  

Nun gab es aber eine Tatsache, welche mit höherer Gewalt alle Staaten, deren Bestrebungen weit auseinandergingen, zu gemeinsamen Handeln zwang: die mächtig heraufziehende Weltwirtschaftskrise. Die großen Mächte waren wie durch einen Fluch zusammengekoppelt und all ihrer Bewegungsfreiheit beraubt. Sie waren zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammengeschmiedet durch das Band der Kriegsschulden, und das ursprünglich nur auf Deutschland und seine Verbündeten beschränkte Reparationsschicksal hatte allmählich die ganze Welt in seinen Bann gezogen. Es ergab sich immer deutlicher die Unmöglichkeit eines Zustandes, in dem ein Volk bis auf nichts ausgeplündert, andere Völker aber bis zum Platzen mit Geld und Gold und Waren vollgestopft worden. Die Welt war aus dem wirtschaftlichen Gleichgewicht gekommen.

Das deutsche Volk ächzte unter der Tributlast. Nach amerikanischer Schätzung hatte es von 1924 bis 1930 etwa 10½ Milliarden Reichsmark gezahlt. Bereits Anfang 1931 erwog man in Berlin die Notwendigkeit eines Zahlungsaufschubes. Aber Brüning zögerte sehr, diesen Plan zu verwirklichen. Die Reparationen seien zwar eine außerordentliche Belastung für die Zinsbildung, aber man müsse sehr vorsichtig sein mit dem Antrag eines Moratoriums, dies stelle keine endgültige Lösung des Reparationsproblems dar, es könne vielmehr diese Lösung verbarrikadieren.

Seufzte das deutsche Volk seit Jahren unter seiner Not, so zeigten sich jetzt auch bei den angelsächsischen Völkern bedenk- [331] liche Vorgänge. In den ersten Wochen des Jahres 1931 brachen in den Vereinigten Staaten 260 Banken zusammen. In jener Zeit begann der Gedanke im amerikanischen Volke Fuß zu fassen, ob es nicht besser sei, alle Kriegsschulden überhaupt zu streichen. Die Großbanken waren einverstanden mit einer völligen Schuldenstreichung, sie wäre für die amerikanische Regierung ein "gutes Geschäft". Oder wenigstens solle man die deutschen Reparationen herabsetzen. Die New York Times vertraten dieselbe Auffassung. Es wurde auch vorgeschlagen, die internationalen Schulden herabzusetzen gegen Übernahme der Abrüstungsverpflichtung, ein Gedanke, der den Franzosen außerordentlich unsympathisch war. Immerhin griff Graf d'Ormesson in Paris die Idee auf; etwaige Tributerleichterungen mit Abstrichen am französischen und deutschen Wehretat zu verkoppeln. – Doch die Meinung der amerikanischen Regierung war eine andere. Beharrlich widersetzte sie sich allen Versuchen, an dem durch den Youngplan neugeregelten Reparationsproblem zu rühren.

Auch in England ließen sich Stimmen vernehmen, die für eine Herabsetzung der Kriegsschulden eintraten, denn auf die Dauer sei die Last für Deutschland untragbar. Vor allem trat Balfour für eine vernünftige Regelung der Schuldenfrage ein. So bereitete sich, gleichsam durch die Entwicklung in allen Staaten erzwungen, eine Neuaufrollung des Youngplans vor, dessen Unantastbarkeit noch kaum vor Jahresfrist feierlich verkündet war.

Nun aber ereignete sich im Frühjahr 1931 etwas, das den Zorn und den Schrecken all der Staaten hervorrief, die auf einen neuen Aufstieg Deutschlands eifersüchtig waren. Bereits im Februar 1930 hatte der Bundeskanzler Österreichs, Schober, nachdem er in Rom gewesen war, und dort die Freundschaft Österreichs mit Italien durch einen Schiedsvertrag besiegelt hatte, der deutschen Regierung einen Besuch abgestattet. Mit großer Herzlichkeit wurde Schober vom deutschen Reichskanzler Müller und seinen Ministern begrüßt und bei dieser Gelegenheit ging endlich der seit Jahren betriebene Handelsvertrag zwischen beiden Völkern seiner Vollendung entgegen. Bei den Besprechungen wurde das international verfängliche [332] Thema des Anschlusses nicht berührt, da, wie Schober sagte, dieses Thema nicht aktuell sei. Beurteilte man in Rom Schobers Besuch in Berlin mit einigem Wohlwollen, so war man in Paris vom schlimmsten Argwohn erfüllt. Man fürchtete, daß in Berlin Anschlußkomplotte geschmiedet würden aus einem gewissen mystischen Gefühl heraus, gegen das Vernunft nicht aufkäme. Aber es gäbe ja noch Mächte, die stark genug seien, die Bestimmungen des Versailler Vertrages zu schützen. Den schwersten Schaden einer abwegigen Politik habe nur Österreich. Die Franzosen waren erst wieder versöhnt, als Schober nach seinem Berliner Aufenthalt nach Paris fuhr und sich den Orden der Ehrenlegion umhängen ließ.

  Deutschlands Zollunion  
mit Österreich

Allerdings waren im deutschen wie im österreichischen Volke neue Anschlußhoffnungen geweckt worden. In der Presse und in Versammlungen forderte man die Vereinigung der beiden deutschen Reiche, und es gab viele Deutsche, die über Schobers Reise nach Paris enttäuscht waren und behaupteten, der Bundeskanzler habe dort an der Anschlußbewegung Verrat geübt. In Berlin wie in Wien gab es Leute, die doch noch an eine Verwirklichung Großdeutschlands glaubten, allerdings auf Umwegen. So forderte Schobers Amtsvorgänger Streeruwitz den Anschluß. Die Auffassung, der Anschluß habe Zeit, sagte er, sei bedenklich, denn auf diese Weise habe man früher die Schweiz und die Niederlande verloren. Mit Österreich würde Deutschland wertvolle Verbindungen nach Osten verlieren. – Als Mitte Mai 1930 im österreichischen Nationalrat der Handelsvertrag mit Deutschland besprochen wurde, sagte der Landbündler Schönbauer, die Schwierigkeiten, die von Österreich schwer empfunden würden, lägen in der Meistbegünstigungsklausel, dagegen gebe es nur ein dauerndes und wirksames Mittel: die Zollunion. Und als Anfang Dezember 1930 das neue Kabinett Ender sich dem Nationalrat vorstellte, belebten dessen Ausführungen aufs neue den Anschlußgedanken.

Unter dem Drucke der Weltwirtschaftskrise traten Anfang 1931 deutsche und österreichische Staatsmänner dem Gedanken einer wirtschaftlichen Vereinigung ihrer beiden Länder näher. Österreich hatte bereits auf der ersten Paneuropakonferenz in Genf den Abschluß regionaler Wirtschaftsverträge angeregt. [333] Der deutsche Außenminister Curtius hatte dann im Januar 1931 auf der zweiten Tagung des Europa-Ausschusses darauf hingewiesen, daß durch Abschluß zunächst zweiseitiger Präferenzverträge dem Problem des Zollabbaues und der Organisation Europas nähergekommen werden könne. So hatte man die Welt auf die geplante Zollunion zwischen Deutschland und Österreich vorbereitet.

Anfang März 1931 weilte Curtius in Wien und legte mit der dortigen Regierung die Richtlinien der Zollunion fest. Unbeschadet ihrer staatlichen Souveränität wollten sich beide Länder mit einer gemeinsamen Zollgrenze umgeben. Es sollte ein einheitlicher deutsch-österreichischer Wirtschaftsraum geschaffen werden bei völliger Wahrung der wirtschaftlichen und politischen Unabhängigkeit beider Länder. Dies sollte der erste Anfang einer gesamteuropäischen Konsolidierung sein, es sollte andern Ländern, besonders in erster Linie südeuropäischen, der Beitritt zur Zollunion freistehen. So wollten Deutschland und Österreich die Initiative in der innerhalb Briands Paneuropaplan vorgesehenen europäischen Zollunion ergreifen, sie wollten nach dem Scheitern der Genfer Zollkonvention einen ersten praktischen Versuch machen, die Gedanken wirtschaftlicher Neuorientierung durchzuführen, und diese Formulierung erschien den beiderseitigen Politikern völkerrechtlich unanfechtbar.

  Sturm um Zollunion  

Zwei Tage nach der Abfassung des Protokolls über die Zollunion, also am 21. März, teilten die deutschen und österreichischen Gesandten den Regierungen in London, Paris und Rom den Schritt der deutschen Mächte mit. Man wies darauf hin, daß sich die Zollunion, geboren aus den Wirtschaftssorgen und der Wirtschaftsnot der beiden Länder, sich völlig bewege in den Bahnen der gesamteuropäischen Kooperation. Sofort erhoben die Regierungen Frankreichs, der Tschechoslowakei und Italiens Einspruch in Wien. Allerdings zog sich Mussolini alsbald auf eine nüchtern-sachliche und abwartende Haltung zurück, so, wie England eine solche einnahm. Rumänien, Jugoslawien, die skandinavischen Staaten, Japan und Amerika betrachteten die Entwicklung sogar mit einer gewissen Sympathie und Freundlichkeit.

[334] Nur in Paris und Prag zeterte man in allen Tönen. Die Pariser Journée Industrielle schrieb, indem Deutschland mit Österreich nicht ein Abkommen, sondern eine Vereinigung eingehe, bringe es die Gesamtheit der Staaten aus dem Gleichgewicht. Poincaré drohte mit militärischen Maßnahmen, indem er erklärte, die Zollunion sei ein Friedensbruch und stehe auf gleicher Stufe mit dem deutschen Einmarsch in Belgien. Man schob bewußt die ganze Angelegenheit vom wirtschaftlichen auf das politische Gebiet und gab ihr so ein ganz anderes Gesicht. Die Franzosen verlangten, daß die Zollunion zur politischen Untersuchung vor das Forum des Völkerbundes gebracht würde, da sie sowohl gegen den Versailler Vertrag wie gegen das Genfer Abkommen verstoße.

Mit allen Mitteln versuchten die Franzosen, Österreich und Deutschland zu zwingen, den Plan der Zollunion aufzugeben. Französische Banken kündigten kurzfristige Kredite, und die Deutschen waren gezwungen, in Amerika Anleihen aufzunehmen. Briand erklärte vor dem Senat, die Zollunion widerspreche allen Bedingungen einer europäischen Zusammenarbeit, in den Beziehungen zu Deutschland sei ein Stillstand eingetreten. In Paris wurde der Plan einer großen Zollunion zwischen Polen, Tschechoslowakei, Südslawien, Rumänien und Griechenland erörtert. Zweck sollte sein, die drohende wirtschaftspolitische Ausdehnung Deutschlands zu vereiteln. Briand ließ den Plan auftauchen, eine internationale Landwirtschaftsbank zu gründen, um die Pläne Österreichs zu durchkreuzen, indem er sich zum Retter Südosteuropas aus der Landwirtschaftskrise machte. Die Franzosen ließen auch wissen, daß unter den veränderten Verhältnissen auch die für Anfang 1932 in Aussicht genommene Abrüstungskonferenz in Frage gestellt werde. Ja, es gab französische Zeitungen, welche die Wiederbesetzung des Rheinlandes forderten.

Zwischen Frankreich und Deutschland war wieder einmal ein Zustand höchster Spannung eingetreten. Die Reichsregierung ließ sich durch die französischen Angriffe zunächst nicht beirren. Die mit Österreich eingeleiteten Verhandlungen über die zoll- und handelspolitische Angleichung nahmen ihren Fortgang, ja Österreich kündigte am 1. April zum 1. Juli die Zollverträge [335] mit Südslawien und Ungarn und deutete an, daß es zu neuen Verhandlungen bereit sei, die einen Beitritt der beiden Staaten zur Zollunion bezwecken würden. In Deutschland verfolgte der größte Teil des Volkes voll Hoffnung den Gang der Zollunion, und in Österreich war dasselbe der Fall. Hier stand nur eine kleine Gruppe christlich-sozialer Politiker, eine habsburgische Separatistenklique, abseits. Diese klerikalen Kreise setzten der Zollunion Widerstand entgegen und verhandelten gleichzeitig insgeheim mit der ehemaligen Kaiserin Zita sowie mit Vertretern Frankreichs und Ungarns.

England versuchte, in diesem Streite einer Vermittlerrolle einzunehmen, doch standen offensichtlich seine Sympathien auf Deutschlands Seite. Einige Blätter sprachen recht drastisch von der "hysterischen Reaktion" Frankreichs. Die Times stellten die Argumente für und gegen die Rechtlichkeit der Zollunion zusammen. Den französischen Einwänden, daß die österreichische Unabhängigkeit gefährdet sei, stehe das Beispiel Luxemburgs gegenüber, das durch seine Zollunion mit Belgien auch nicht seine Unabhängigkeit verloren habe. Die englischen Juristen erklärten, daß zwischen der Zollunion und dem Versailler Vertrag sowie dem Genfer Protokoll von 1922 keine Widersprüche beständen. Henderson machte der deutschen Regierung den Vermittlungsvorschlag, man möge das Projekt dem Völkerbundsrate unterbreiten, nicht um ein politisches Gutachten zu erwirken, sondern nur um die juristische Seite zu prüfen. Brüning möge alle weiteren Verhandlungen mit Österreich sechs Wochen aufschieben, bis nach der Genfer Ratstagung.

Hierauf erklärte Brüning, eine politische Diskussion über die Zollunion in Genf komme überhaupt nicht in Frage, eine Erörterung der Rechtsfrage brauche Deutschland nicht zu befürchten, aber sie werde deutscherseits nicht für erforderlich gehalten, "da der ganze Plan auf unserer und Österreichs Überzeugung beruht, daß er sich völlig im Rahmen der internationalen Verträge hält." Den sechswöchigen Aufschub der Verhandlungen mit Österreich lehnte der Kanzler ab, und Daily Herald bezeichnete diese Ablehnung als "rohe Unhöflichkeit". Und Curtius, der Reichsaußenminister, beantwortete Briands Staatsrede damit, daß er erklärte, die Zoll- [336] union sei nur der Anfang einer gesamteuropäischen Union. Der Gedanke regionaler Wirtschaftsvereinbarungen mache von selbst eine Erörterung der Rechtsfrage überflüssig. "Wir brauchen aber eine Behandlung der Rechtsfrage im Völkerbundsrate in keiner Weise zu fürchten. Wir können nichts dagegen einwenden, wenn Herr Henderson die Angelegenheit auf die Tagesordnung der nächsten Ratstagung setzen will." Von einer Gefährdung des Friedens könne keine Rede sein. Deshalb sei der Plan der Zollunion auch kein Hemmnis für die festgesetzte Abrüstungskonferenz.

Nun hatte der englische Ministerpräsident Macdonald bereits Mitte März, noch vor dem Bekanntwerden der Zollunion, den deutschen Kanzler und Außenminister zu einer Besprechung nach London im April eingeladen. Henderson sprach die Hoffnung aus, daß auch Briand zugegen sein werde. Der Zweck der Zusammenkunft war eine freundschaftliche Geste Englands den Deutschen gegenüber, um die Atmosphäre zwischen Deutschland und England und überhaupt in Europa zu verbessern. Deutschland hatte es England, Frankreich und Italien übelgenommen, daß es nicht offiziell über das Ergebnis der Flottenabrüstungskonferenz unterrichtet worden war. Das wollten Macdonald und Henderson nachholen, auch über Abrüstung und Reparationen sollte gesprochen werden.

Brüning und Curtius erwiderten, sie könnten im April nicht kommen. Man möge einen späteren Zeitpunkt bestimmen. In der Tat wurde dann Anfang Juni für die Zusammenkunft in Chequers festgesetzt. Da nun die Sache mit der Zollunion akut geworden war, vermieden die deutschen Staatsmänner ängstlich vor Frankreich den Schein, als konspirierten sie mit England. Es war dieselbe Erscheinung, wie sie das deutsche Volk schon zweimal erlebt hatte bei den beiden Haager Konferenzen 1929 und 1930: die Hand, die England den Deutschen entgegenstreckte, wurde zurückgewiesen – aus Liebe zu Frankreich, das Deutschland dafür mit Peitschenhieben traktierte!

Um so mehr diente diese Einladung dazu, um in Frankreich eine starke Verstimmung gegen England aufkommen zu lassen. Briand wollte zunächst nicht nach London gehen, weil er einen Mißerfolg fürchtete. Aber er erging sich in Drohungen: das [337] Flottenabkommen sei in Frage gestellt. Überhaupt war man in Paris verstimmt, daß England eine vermittelnde Schiedsrichterrolle zugunsten Deutschlands und Österreichs einnehmen wollte. Das war den Franzosen höchst unerwünscht. Dazu vertiefte sich der Gegensatz Frankreichs zu Italien, auch auf Grund des Flottenabkommens. Frankreich fürchtete den Verlust seiner Stellung im Mittelmeer. Man war in Paris überzeugt, daß die Lage außerordentlich ernst war. Das Flottenabkommen stehe vor dem Zusammenbruch. Der Ernst der Lage bewog schließlich Briand, es noch nicht zu entscheiden, ob er nach London gehen werde. Aber vorläufig sei er stark beschäftigt. Die Präsidentenwahl stehe vor der Tür. Immerhin, man dürfe in London nicht fehlen, schon um eine deutsch-englische Verständigung zu verhindern.

  Zollunion vor Völkerbund  

Am 10. April stellte die französische Regierung beim Völkerbundssekretariat in Genf für die in vier Wochen stattfindende Ratssitzung den Antrag, den deutsch-österreichischen Zollanschlußvertrag als unvereinbar mit den von Deutschland und Österreich eingegangenen Verpflichtungen zu erklären. Zwei Tage später ging Englands Antrag ein, die Zollunion juristisch zu untersuchen. Es war dies der von England gewählte Mittelweg, der weder Frankreich noch Deutschland beleidigen sollte. In welcher Weise nach Englands Meinung diese Prüfung ausfallen sollte, das ließen die englischen Kronjuristen erkennen: sie stellten endgültig fest, daß die Zollunion nicht gegen die anderweitigen Abmachungen verstoße. Der Londoner Observer aber meinte, die Lage sei ernster als je nach dem Waffenstillstande, infolge der rücksichtslosen Unterdrückungspolitik Frankreichs. England sei ein wirklicher Freund Deutschlands wie auch Frankreichs, es sei bemüht, das europäische Gleichgewicht wiederherzustellen.

Inzwischen wollten Deutschland und Österreich ihre Verhandlungen beschleunigen und zum Abschluß bringen, um die Genfer Tagung vor eine vollendete Tatsache zu stellen. Österreich war entschlossen, nicht nachzugeben. Man müsse nun endlich die politische Flickschusterei durch eine großzügige Lösung der Zollunion beenden. Noch am 1. Mai beschloß das Reichskabinett in Berlin, daß in Genf erklärt werden sollte, Deutsch- [338] land werde jeden Einspruch dritter Mächte aus juristischen, verfassungs- und völkerrechtlichen Gründen zurückweisen. Eine ähnliche Erklärung wollte Österreich abgeben.

Briand aber knüpfte seine Fäden. Die Journée Industrielle drohte Ende April dem Völkerbund: die Schaffung eines geeinten Mitteleuropa sei ein Wunsch, den das Recht nicht zulasse und weder in zehn noch in fünfzig Jahren zulassen oder sanktionieren werde. Das sei ein direkter Angriff auf den europäischen Status und auf die bestehenden Verträge. Wenn Genf sich unfähig zeigen sollte, diesen Plan zu unterdrücken, dann sei es erwiesen, daß man zu andern Mitteln greifen müsse, um die Ordnung und den Frieden aufrecht zu erhalten. Wenn Deutschland dieser Angriff gelinge, dann gewinne es das Ansehen einer Macht, die ganz Europa ihre Gesetze diktieren könne und freie Hand zu anderen Aktionen gewinne, die Frankreich noch weit stärker berühren würden. In Regierungskreisen wurde erwogen, die Abrüstungskonferenz, deren Beginn auf den 2. Februar 1932 festgesetzt war, zu verschieben. Briand wies Benesch an, eine wirtschaftliche Donauföderation zu schaffen, die Österreich, Ungarn, Rumänien, Polen, Bulgarien, Südslawien und Tschechoslowakei umfassen und Prag als Mittelpunkt haben sollte. Deutschland sollte ausgeschlossen sein. Und die Donauföderation sollte sich als starker Riegel zwischen Deutschland und Italien schieben. Bei seiner Arbeit bediente sich Benesch des beliebten Pariser Arguments, daß er in der geplanten deutsch-österreichischen Zollunion den Keim einer neuen politischen Blockbildung sehe. Er müsse aber jede Blockbildung auf das entschiedenste bekämpfen, weil sie eine Gefahr für den europäischen Frieden bedeute.

Das war überhaupt Briands Plan: es sollte ein Wirtschaftsblock vom Schwarzen Meer bis zum Ozean entstehen, in dem aber Deutschland und Österreich fehlten. Diesem Projekt stimmte der französische Ministerrat zu, und an seiner Durchführung arbeitete man energisch am Quai d'Orsay. Der Plan gipfelte darin, Südosteuropa von der Tschechei bis nach Griechenland wirtschaftlich fest an Frankreich zu ketten. Frankreich war bereit, den Südoststaaten gegen Gold ihre überschüssigen Getreidemengen abzukaufen und sie in Frankreich, [339] das dieses Getreide gar nicht brauchte, einzulagern – nur um Deutschland in Südosteuropa auszuschalten.

  Briands Ablehnung  

Am 8. Mai sprach Briand vor der Kammer: "Deutschland und Österreich behaupten, das Recht für einen derartigen Plan zu besitzen. Ich antworte: Nein! Denn wenn sie diesen Gedanken hatten, so hätten sie ihn mit andern Mächten besprechen müssen und insbesondere mit derjenigen, die ihnen Anleihen gegeben hat!" Damit meinte er Frankreich, das sein Prestigegefühl beleidigt sieht. Wenn in Genf keine Einigung erzielt werde, müsse der Plan der Zollunion dem Internationalen Gerichtshof vorgelegt werden. Dann wurde die Tagesordnung angenommen, die in aller Form den Plan des deutsch-österreichischen Zollabkommens verurteilte, weil er im Widerspruch zur Verständigungspolitik einer weitgehenden und ehrlichen Zusammenarbeit der europäischen Völker und zu den Verträgen stehe. Mit diesem Ergebnis glaubte Briand, daß seine Chancen für die bevorstehende Präsidentenwahl wieder gestiegen seien. Sie waren schon tief gesunken. Briand war zufrieden. Aber der Schein trog. Bei der Wahl am 14. Mai erhielt Briand nur 401 Stimmen und unterlag so gegenüber Doumer, der 442 Stimmen bekam. Die Niederlage Briands legte das Journal de Genève Curtius zur Last, der mit seiner Zollunion denjenigen Mann in Frankreich kompromittiert habe, von dem die Zukunft der deutschfranzösischen Verständigung und der Befriedung Europas abhänge. Immerhin, nach Genf wollte Briand noch gehen, bevor er ins Privatleben zurückkehrte.

Doch je näher die Genfer Tagung heranrückte, entschwand den deutschen Staatsmännern der Mut, ihr Ziel gegen die Entschlossenheit der Franzosen zu verfolgen. Auch Brüning und Curtius gehörten zu den Männern, die im entscheidenden Augenblick vor dem Schicksal kapitulierten, anstatt ihm entgegenzutreten. Als Curtius bereits seine Koffer für Genf packte, am 9. Mai 1931, sah er sich nochmals genötigt, auf die Kammerrede Briands vom Tage zuvor zu erwidern. Die französischen Vorwürfe seien unberechtigt. Unmittelbar nach der Erzielung eines Einverständnisses über die Richtlinien der Zollunion zwischen Deutschland und Österreich seien die anderen Regierungen in vollem Umfange unterrichtet worden. Die Geißel fürchterlich- [340] ster Arbeitslosigkeit und der Druck schwerster Reparationen zwinge Deutschland zur Zollunion. Österreichs Unabhängigkeit werde nicht angetastet. Es gehe nicht an, die Rechtsfrage durch Erwägungen wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit und politischer Wünsche zu verdunkeln. Selbstverständlich würden Deutschland und Österreich in Genf alle anderen Vorschläge und umfassenden Pläne für die Sanierung der europäischen Wirtschaft begrüßen und sich intensiv daran beteiligen. – Mit diesen Worten trat Curtius bereits den Rückzug vor Frankreich an: er will mit sich reden lassen, ist bereit, den deutschen Plan mit französischen Wünschen in Einklang zu bringen! Aber das war es ja nicht allein! Diese Bereitwilligkeit war zugleich der erste Schritt zur Unterwerfung, mit deren Möglichkeit Curtius bereits rechnete, um sich dadurch bei der zunehmenden deutschen Wirtschaftsnot den Weg der Aufnahme französischer Anleihen offen zu halten.

Und nun kam, nach Schobers Worten "wie ein Blitz aus heitrem Himmel", die Katastrophe des größten österreichischen Bankinstituts am 11. Mai 1931 hinzu. Die "österreichische Kreditanstalt", welche die Rolle einer staatlichen Bundesbank versah, war durch die Entziehung französischer Anleihen an den Rand des Abgrunds getrieben. Das gesamte Aktienkapital war verloren. Der Staat versuchte Schatzwechsel über 150 Millionen Schilling (= 100 Millionen Mark) auszugeben, die aber keine Abnehmer fanden. Da reiste der französische Präsident Quesnay der Tributbank in Basel nach Wien und versprach Sanierung durch französisches Geld – falls Österreich die Zollunion aufgebe! Nur mit größter Mühe konnte die österreichische Regierung den völligen Zusammenbruch des Instituts abwenden. Die französische Kreditdrosselung hatte ihre Wirkung gehabt.

So gingen, bereits innerlich gebrochen, Deutschland und Österreich nach Genf, wo am 15. Mai der zweite Akt der Tragödie um die Zollunion ihren Anfang nahm. Zunächst befaßte sich die Europakommission mit der Zollfrage. Curtius, im Innern unsicher und verzagt, versuchte in recht gedämpften Tönen ganz allgemein den Gedanken regionaler Zollunionen zu verteidigen. Er sei bereit, "mit jedem Lande, sei es groß oder klein, sofort in einen Gedankenaustausch über die Möglich- [341] keit der Einführung einer Zollunion einzutreten. Ich mache dabei keinen Unterschied in der Richtung, ob Verhandlungen zu zweien oder von vornherein Verhandlungen einer regionalen Gruppe in Betracht kommen. Ich darf die dringende Bitte aussprechen, diese Aufforderung ernst zu nehmen."

Curtius hatte vorsichtig gesprochen, sich in allgemeinen Ausdrücken bewegt, ganz ängstlich vermieden, mit seinem Zollunionsgedanken die andern schmerzlich zu berühren. Briand ging frisch und froh gleich ins Konkrete. Scharf lehnte er den Plan der deutschösterreichischen Zollunion ab. Frankreich könne das Abkommen nicht zulassen, da es gegen die internationalen Abmachungen und Verträge verstoße. Ja, am 17. Mai übermittelte das Generalsekretariat den Mitgliedern des Völkerbundes eine umfangreiche französische Denkschrift, worin gefordert wurde, die Zollunion solle im Rate – entgegen dem englischen Antrag, nicht nur nach rechtlichen, sondern auch nach politischen und wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten behandelt werden. Deutschland und Österreich waren sehr erstaunt.

  Englands Vermittlung  

Henderson befand sich in keiner beneidenswerten Lage. Er erinnerte sich stets, daß England keine Erschütterung in Europa brauchen kann, daß man mit dem sanften Mittel der Kompromisse versuchen müsse, das europäische Gleichgewicht wiederherzustellen. Am 18. Mai, als die Ratstagung eröffnet war, brachte der englische Außenminister nach einer neuerlichen ermüdenden Rede von Curtius über die Methode der wirtschaftlichen Orientierung Europas "von unten her" den Antrag ein, den Internationalen Gerichtshof im Haag um ein Gutachten darüber zu ersuchen, ob das Zollprotokoll vom 19. März 1931 mit Artikel 88 des Vertrages von St. Germain und mit dem Genfer Protokoll Nr. 1 vom 4. Oktober 1922 vereinbar sei. Auf diese Weise wurde eine drohende langwierige Diskussion im Völkerbundsrate vermieden. Nun ging Henderson aber noch einen Schritt weiter: um wenigstens für die Sommermonate Europas Ruhe nicht trüben zu lassen, fragte er jetzt kurz und klar Schober, ob bis zur Erledigung der Angelegenheit durch den Rat jede Verhandlung unterbliebe. Schober konnte nur mit einem ebenso klaren Ja antworten. Er dachte an die Öster- [342] reichische Kreditanstalt und das französische Geld, so blieb ihm keine andre Antwort übrig.

Der Antrag Hendersons, die Frage an Schober und die Antwort des Bundespräsidenten, das war das einzige wirklich Positive, was Genf im Frühjahr für die Zollunion tat. Nicht Briand und Curtius, sondern Henderson war der aktive Staatsmann. Es ist bemerkenswert, wie sehr Briand, der früher die Völkerbundstagungen beherrschte, diesmal im Hintergrund blieb.

Es wurde noch am 19. Mai in Genf über den deutsch-österreichischen Plan gesprochen. Und jetzt tauchten all die Vorwürfe und argwöhnischen Unterstellungen auf, die Curtius zu zerstreuen sich vergeblich bemüht hatte. Benesch, der tschechoslowakische Außenminister, wies auf die politischen Momente der Zollunion hin. Und der jugoslawische Außenminister Marinkowitsch schlug in dieselbe Kerbe, indem er erklärte, jede wirtschaftliche Tatsache habe ihre politischen Rückwirkungen und werde damit zu einer politischen Angelegenheit.

Dieses ewige, bewußt unaufrichtige Hinüberspielen der ganzen Frage auf das politische Gebiet brachte Curtius aus der Ruhe:

      "Wir haben ausdrücklich erklärt, daß die Unabhängigkeit Österreichs in keiner Weise angetastet wird. Es liegt keine Veranlassung vor, an der Ernsthaftigkeit dieses Willens zu zweifeln. Kommt der Haag zu der Feststellung, daß keine Verletzungen der völkerrechtlichen Verpflichtungen Österreichs vorliegen, dann halte ich es nicht für angebracht, den Vorwurf zu machen, daß wir eine Störung des Friedens herbeigeführt hätten... Ich lehne es ausdrücklich ab, mich als Störer des Friedens vor ein internationales Forum ziehen zu lassen."

Als sich mit dem 21. Mai der letzte Genfer Verhandlungstag seinem Ende zuneigte, gingen die Völker auseinander mit dem Bewußtsein, daß Deutschland eine große diplomatische Schlacht verloren habe. Am folgenden Tage traf Briand in Paris ein. Eine ungeheure Menschenmenge feierte den Staatsmann wie einen Sieger. Damen überreichten Sträuße roter Rosen. Ununterbrochen ertönten Rufe wie: "Es lebe Briand! Es lebe der Friede!"

Tiefe Niedergeschlagenheit drückte weite Kreise des deutschen Volkes. Man empfand es in Deutschland als eine Schmach, [343] daß Curtius seine Zollaktion so ungenügend vorbereitet hatte. Keine einzige Stimme in Genf hatte für Deutschland und Österreich gesprochen. Beide Länder waren vollkommen isoliert. Hatte denn die ganze deutsche Diplomatie im Ausland versagt in der Zeit vom 21. März bis 15. Mai? Hatte das Außenministerium versagt? Etwas anderes konnte es doch nicht sein. Mit welch kläglicher Hilflosigkeit stand Curtius den Franzosen gegenüber! Ohne Kraft, ohne Mut, sich gegen die bewußt unwahren Angriffe durch Gegenangriffe zu wehren, die auf Recht und Wahrheit gegründet, mit flammender Leidenschaft Briand die Maske vom Gesicht gerissen hätten. Nichts von alledem! Curtius stand als ein vollkommen unfähiger Außenminister da! Kein Wunder, daß er keine Sympathien zu wecken verstand, weder in England, noch in Italien, die nur auf ein kraftvolles deutsches Wort warteten!

Gerade in der deutsch-österreichischen Frage war für die Reichsleitung Taktgefühl und Energie nötig. Hier handelte es sich um die großdeutsche Einheit, die von breiten Massen des Volkes nicht verstandesmäßig, sondern gefühlsmäßig erfaßt und erstrebt wurde. Ein Versagen der Reichsregierung in dieser Frage empfanden weite Teile des Volkes als eine Brüskierung ihrer heiligsten Gefühle nicht nur durch das Ausland, sondern durch die eigene Regierung.

Der Unmut in Deutschland wuchs. Die Deutsche Allgemeine Zeitung forderte Deutschlands Austritt aus dem Völkerbunde, da Brünings Ansehen durch die Genfer Vorgänge stark gefährdet sei. Das war ein ehrliches, überzeugtes Wort. Die Reichsregierung aber, statt dankbar zu sein, wenn ihr so der Rücken gesteift wurde, fühlte sich beleidigt. Sie fand den traurigen Mut, die Deutsche Allgemeine Zeitung zu rüffeln: nicht die Genfer Vorgänge, sondern die Auslassungen der Zeitung seien geeignet, das Ansehen des Reichsaußenministers zu schädigen. So verblendet waren die Herostraten in ihrer Schwäche, daß sie in maßloser Selbstüberhebung ihr jämmerliches Werk als erhaben über alle Kritik hinzustellen versuchten! Ja, sie konstruierten sogar noch für sich einen Erfolg in Genf!

      "Eins aber ist festzuhalten, daß der Rat kein politisches Veto gegen die Zollunion ausgesprochen hat, sooft auch einzelne [344] Mitglieder den Versuch dazu machten. Acht Tage lang ging diese Debatte im Europaausschuß und im Rat, wobei die deutsch-österreichische Kampfgruppe mit Mut und Geschick ihre Stellung behauptete. In der Endbilanz ist keine Position verlorengegangen."

So schrieb der offiziöse Heimatdienst! –

In den folgenden Monaten tauchte die Zollunion im Wirbel der wachsenden Wirtschaftskatastrophe Deutschlands unter. Doch bei den Kreditverhandlungen, die das reiche Frankreich mit Österreich und Deutschland führte, schwang als Unterton stets die französische Forderung mit, den Gedanken der Zollunion restlos aufzugeben.

Der letzte Akt des traurigen Schauspiels ging im September 1931 vor sich. Unter dem übermächtigen Finanzdruck Frankreichs mußten Österreich und Deutschland in aller Form den Verzicht auf die Zollunion erklären. Besonders demütigend für die Vertreter der Mittelmächte war es, daß sie den Franzosen verschiedene Formeln der Verzichterklärung vorlegen mußten, die aber von diesen als ungenügend verworfen wurden. Zunächst ging Schober nach Canossa, am 4. September in der Europakommission:

      "Die österreichische Regierung erklärt, das Projekt der österreichischen Zollunion nicht weiter verfolgen zu wollen, und hofft, daß diese Erklärung dazu beitragen werde, die notwendige allgemeine Beruhigung herbeizuführen und eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen den Regierungen zu schaffen. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise wird zu einem größeren Teil außerordentlich verschärft durch die bestehende weitreichende Vertrauenskrise, die die Grundlagen der europäischen Wirtschaft erschüttert. Die abgegebene Erklärung soll zur Wiederherstellung des Vertrauens beitragen und die engere europäische Zusammenarbeit für die Zukunft sichern."

Dann beugte sich Curtius unter das kaudinische Joch Frankreichs:

      "In Erwartung eines fruchtbaren Ergebnisses der Arbeiten der europäischen Studienkommission hat die deutsche Regierung im Einvernehmen mit der österreichischen Regierung nicht die Absicht, das ursprünglich ins Auge gefaßte Projekt weiter zu verfolgen."

  Haager Spruch  

[345] Nach der Abgabe dieser Verzichterklärungen traf das Gutachten aus dem Haag ein. Es war für den 2. September erwartet worden. Aber innerhalb des Haager Gerichtshofes war ein harter Streit ausgebrochen. Der englische Richter Hurst war eifrig bemüht, eine Entscheidung herbeizuführen, in der sich der Gerichtshof in der Frage der Zollunion als nicht zuständig erklärte. Das hätte am meisten in Englands Interesse gelegen. Aber diese Entscheidung kam nicht zustande. Statt dessen erklärten der japanische Präsident, der amerikanische, englische, niederländische, deutsche, belgische und chinesische Richter, daß gegen die Zollunion nichts einzuwenden sei. Den entgegengesetzten Standpunkt nahmen ein: Frankreich, Polen, Rumänien, Spanien, Salvador und Kolumbien. Dem Franzosen gelang es noch, Italien und Kuba auf seine Seite zu ziehen, obwiohl diese von Frankreichs Meinung abweichende Begründungen für ihre Ablehnung der Zollunion gaben. Mit acht gegen sieben Stimmen wurde folgendes Ergebnis festgestellt: "Ein auf der Grundlage und in den Grenzen der Grundsätze des Protokolls vom 19. März 1931 errichtetes Zollregime zwischen Deutschland und Österreich würde mit dem am 4. Oktober 1922 in Genf unterzeichneten Protokoll Nr. 1 nicht vereinbar sein."

  Scheitern der Zollunion  

Schober und Curtius hatten bereits vor Eintreffen dieses Spruches in Genf den Verzicht erklärt, um zu verhindern, daß sich in der Ratssitzung lange Diskussionen entspannen. So nahm der Rat die Erklärungen der Staatsmänner und des Haager Hofes ohne Debatte zur Kenntnis, und der Fall war erledigt.

In Paris war man natürlich nicht zufrieden. Die Rechtsblätter verlangten, daß Curtius und Schober erklärten, sie würden für die nächsten zehn Jahre auf jede Wiederaufnahme der Anschlußverhandlungen verzichten. In Österreich wühlte die Genfer Niederlage tief die Volksseele auf. Die habsburgischen Separatisten bekamen Luft, und von ihnen gedrängt, unternahm Dr. Pfriemer am 13. September einen Heimwehrputsch, der alsbald unterdrückt wurde. In Deutschland empfand man das Genfer Ergebnis als die tiefste Demütigung seit Versailles 1919. Selbst innerhalb der Volkspartei wurde die Forderung erhoben, daß ihr eigener Minister Curtius, der sich unmöglich gemacht habe, zurücktrete. Doch Brüning hielt seine schützende [346] Hand über den schwachen Mann, der eine Tat unternommen hatte, ohne die nötige Kraft zu ihrer Durchführung zu besitzen.

  Tschechisch-französische  
Umtriebe

Durch die geschickte österreichische Politik der deutschen Reichsregierung war vor allem die Tschechoslowakei aufgescheucht worden. Der Gedanke, zwischen einem wirtschaftlich geeinten Deutschland und Österreich eingekeilt zu sitzen, war ihr furchtbar. Und deshalb war die Tschechoslowakei bemüht, in diesen Fragen mitzureden. Ende Oktober 1931 schlug Benesch der Wiener Regierung vor, eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Österreich und der Tschechoslowakei herzustellen, etwa nach den Plänen der deutsch-französischen Wirtschaftsverständigung eine gemischte österreichisch-tschechische Wirtschaftskommission zu bilden und Abmachungen zwischen den Industriekartellen beider Nachbarländer zu treffen.

Hinter diesem Plane stand Briand. Wie ja denn die Franzosen in Genf und Paris geradezu haarsträubende Gedanken erwogen. Ihr Prinzip war es, einen zentraleuropäischen, zunächst wirtschaftlich orientierten Völkerbund zwischen Österreich, Tschechoslowakei, Ungarn, Südslawien und Rumänien, möglicherweise auch Polen, aber unter strikter Fernhaltung Deutschlands zu schaffen. Ja, ganz verwegene Politiker an der Seine glaubten, in diese "Donauföderation" auch Bayern einbeziehen zu können und so das Deutsche Reich zu zerschlagen.

Schober, der Leiter der Wiener Regierung, verhielt sich dem tschechischen Vorschlag gegenüber zunächst abwartend. Eine Ablehnung wäre ein Schlag gegen Frankreich gewesen, und dieses Land machte ja der Wiener Regierung jetzt gerade Hoffnung auf einen 60-Millionen-Kredit. Und die Sorge um die Finanzen seines Landes bewegte Schober jetzt mehr als jede andere Frage. Aber die Stimmen des Volkes mehrten sich gegen die tschechisch-französischen Pläne. Die Presse erklärte, eine Lösung ohne oder gegen Deutschland komme nicht in Frage. Karl Anton Prinz Rohan schrieb, für Österreich gebe es nur eins: Alle Kombinationen mit, keine ohne Deutschland, die österreichische Wirtschaft müsse haben ein "Präferenzsystem im Raum zwischen Hamburg–Konstantinopel".

Noch in den folgenden Monaten bewegte die Frage der Donauföderation die große Politik Europas.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra