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[Bd. 5 S. 140]

2. Kapitel: Besiegelung des Youngplanes:
Zweite Haager Konferenz, Rheinlandräumung.

  Haager Konferenz  
Januar 1930

Nicht allzu hoffnungsfroh sah die deutsche Regierung der Eröffnung der zweiten Haager Konferenz entgegen. Zwar, das Ergebnis des Volksentscheids war für Hermann Müller ein gewisser Trost, denn es zeigte, daß die Zahl derer in ständigem Wachsen begriffen sei, "die die Unmöglichkeit einer Außenpolitik auf unrealer Grundlage begreift", wie sich der Volksparteiler Dingeldey ausdrückte. Aber die Abwehr der Volksentscheidspropaganda habe doch die Reichsregierung genötigt, über Gebühr stark den Youngplan zu loben, oder wie Dingeldey mit unfreiwilligem Humor meint, "in seinen positiven Eigenschaften zu schildern". Aber darüber könne doch kein Zweifel sein, daß die Reichsregierung mit der überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes in voller Einmütigkeit die durch den Youngplan der deutschen Wirtschaft auferlegten Lasten als für die Dauer untragbar ansehe.

      "Wenn die deutschen Sachverständigen im Einklang mit der Reichsregierung den Youngplan gleichwohl unterschrieben haben, so in der Erkenntnis, daß die Bestimmungen über das deutsche Moratorium und den bei der Internationalen Bank eingesetzten Sachverständigenausschuß in sich ohne weiteres die Möglichkeit einer neuen Nachprüfung der Sachlage nach absehbarer Frist eröffnen."

Soweit Dingeldey, und Dingeldey war das Sprachrohr von Curtius, dem Außenminister.

Den deutschen Ministern war keineswegs wohl zumute. Sie erkannten alle die gefährlichen Ziele der Gegner, und sie wußten auch, daß sie als die moralisch Schwächeren zu Kreuze kriechen mußten. Denn wann hätte man es auch nur einmal erlebt, daß seit 1918 ein deutscher Minister mit Mut und Selbstbewußtsein die Forderungen seiner Nation vor den anderen verteidigt hätte? Da lauerten im Haag Verzichte und Drohungen aller Art, Verzichte auf Ersatz liquidierten deutschen Eigentums in Polen und England, Drohungen der Sanktionen von Frankreichs Seite. Denn in Frankreich hatte Tardieu als Minister- [141] präsident das Heft in der Hand, der berüchtigte Verfasser des Versailler Diktatvertrages und Schüler Clemenceaus. Und Tardieu strebte nach der Hegemonie Frankreichs durch Niederhaltung Deutschlands. Aber die deutsche Regierung nahm gern alles auf sich für das eine Ziel: Räumung der Rheinlande.

Bereits vor Weihnachten begann Frankreich nach der Art eines Tintenfisches die Atmosphäre vom Haag zu verdunkeln. Das Echo de Paris sprach davon, daß der englische Schatzkanzler Snowden Aufnahme von Sanktionsklauseln in den Youngplan verlangt hätte, und die französische Zeitung fügte hinzu, für diesen Zweck empfehle sich Beibehaltung der Reparationskommission.

Hierüber war man in Berlin entrüstet, und in London dementierte man mit Befremden und Bedauern. Es handelte sich in Wahrheit um einen Vorstoß Frankreichs, einen Versuch, auch in Zukunft die Hand an der Gurgel Deutschlands halten zu können. –

Am 3. Januar nachmittags wurde in der Hauptstadt der Niederlande die zweite Haager Konferenz eröffnet. 16 Mächte waren erschienen. Die englische Abordnung wurde von Graham geführt, Snowden befand sich in ihr; die Franzosen rückten von Tardieu geführt an, Briand, Loucheur, Chéron und die Finanzgewaltigen Moreau und Quesnoy. Die Amerikaner waren nur als Beobachter, nicht als Verhandlungsteilnehmer erschienen. An der Spitze einer Abordnung von 45 Mann traf Curtius als Vertreter Deutschlands ein. Dann waren da die Italiener, Belgier, Tschechen, Polen, Ungarn, Österreicher, Japaner usw. usw. Den Vorsitz führte der belgische Ministerpräsident Jaspar.

Schon bei den ersten Arbeiten der Konferenz kam es zu Reibungen. Es wurden drei Ausschüsse gebildet, einer für Reparationen, ein anderer für die Ostreparationen und ein dritter für die Finanzsachverständigen. In diesem Finanzausschuß sollten nur die sechs einladenden Mächte vertreten sein, wogegen die kleinen Mächte unter Führung Rumäniens (Titulescu) und Polens (Ullrich) protestierten, doch vergeblich. Die sechs Mächte, Deutschland, England, Frankreich, Italien, Japan, Belgien, beschlossen, den Vorsitz im Ausschuß der deutschen Re- [142] parationen Jaspar, im Ausschuß der nichtdeutschen Reparationen Loucheur zu übertragen. Im großen Ganzen war die Gruppierung im Haag so, daß Deutschland allein stand, während Frankreich und das abwartende England zu gegenseitiger Unterstützung bereit waren mit Ausnahme in der Frage der Sanktionen.

Eine neue Differenz ergab sich, als der Führer der polnischen Abordnung Morosowsky, der an Stelle des Außenministers Zaleski im Haag anwesend war, erklärte, das deutsch-polnische Liquidationsabkommen vom 31. Oktober 1929 bilde einen integrierenden Bestandteil der gesamten Haager Vereinbarungen. Curtius lehnte diese Verflechtung der polnischen Angelegenheit mit dem Gesamtkomplex der Haager Probleme ab, und Jaspar erklärte, dieser Streitfall interessiere die Konferenz in keiner Weise.

  Konflikte im Haag  

Doch die eigentlichen Schwierigkeiten erhoben sich bei den Verhandlungen Deutschlands mit den fünf Gläubigermächten, denn über diesen Verhandlungen lag auf beiden Seiten der Abglanz des Volksentscheides, der vor zwei Wochen ergebnislos ausgegangen war. Die Gläubigermächte litten unter Unruhe und Nervosität, sie suchten sich möglichst umfassend und wirksam gegen die Möglichkeit zu sichern, daß einmal in Deutschland eine Regierung ans Ruder kommen könne, die den Youngplan zerreiße. Eine solche Möglichkeit sei durchaus nicht chimärisch, denn der Volksentscheid beweise, daß sie vorhanden sei. Die Deutschen ihrerseits, argwöhnisch und schwach, aufgescheucht durch die ergiebige Kritik der letzten Monate an der Youngpolitik, witterten ängstlich überall Fallstricke und fürchteten die Verantwortung zu Hause. Sie verhielten sich daher defensiv, ausweichend und überließen ihren Gegnern die Verhandlungsführung.

  Zahlungstermin  

Zunächst konnte man sich nicht über die Zahlungstermine einigen. Die deutschen Vertreter meinten, die monatlichen Zahlungen des Youngplans sollten am Monatsende bei der Bank für internationale Zahlungen erfolgen, das sei der Sinn der Pariser Abmachungen und so sei das allgemein üblich. Dem widersprachen aber die Gläubigermächte. Sie müßten ihre Schulden am Monatsende zahlen, und deshalb sei es nötig, daß [143] Deutschland bereits Anfang, spätestens aber Mitte des Monats die fälligen Raten pränumerando überweise. Aber dieser Vorschlag kam einer Mehrbelastung von 80 Millionen über den Youngplan hinaus gleich, deswegen lehnten die Deutschen ihn ab. Aber auch eine von Snowden vorgeschlagene Zwischenlösung, Deutschland solle die Raten am 15. jeden Monats auf die Bank für internationale Zahlungen einzahlen, die Bank solle aber erst am 30. die Beträge den Gläubigern transferieren und den Zinsgewinn in der zweiten Monatshälfte zur Deckung ihrer Unkosten verwenden, fand bei den Deutschen keine Zustimmung. Moldenhauer erklärte, man könne die Unkosten der Bank nicht übernehmen, diese hätten die Gläubigermächte zu zahlen. Man wollte hören, was die Pariser Sachverständigen über den Zahlungstermin beschlossen hatten. Deshalb zitierte man Schacht nach dem Haag. Aber es stellte sich heraus, daß in Paris über die Zahlungstermine nichts Genaues bestimmt worden war, und so kam denn am 14. Januar, nachdem die Gläubiger Moldenhauers Vorschlag, Owen Young als Unparteiischen zu hören, abgelehnt hatten, eine dahingehende Einigung zustande, daß die Zahlungen der Reichsbahn am Monatsende, die übrigen Zahlungen Deutschlands am 15. jeden Monats zu leisten sind.

  Moratorium  

Sodann stritt man sich über die Bestimmungen des Moratoriums. Die Gläubigermächte waren der Ansicht, daß Deutschland die gestundeten Beträge nach Wiederaufnahme der Zahlungen entweder sofort im ganzen oder den laufenden Raten angepaßt zu entrichten hätte. Darauf erwiderten die Deutschen, daß eine derartige Auslegung die Moratoriumsbedingungen für die Praxis illusorisch mache. Auch lehnte Deutschland ab, daß irgendeine fremde Macht darüber entscheide, ob Deutschland ein Moratorium beantragen dürfe oder nicht. Noch am 10. Januar behaupteten die Gläubigermächte einmütig, Deutschland dürfe ein neues Zahlungsmoratorium nicht beantragen, solange nicht die während des ersten Moratoriums aufgelaufenen Summen an die Gläubigermächte abgetragen seien. Moldenhauer bestritt dies ganz energisch. Als dann die Gläubigermächte noch behaupteten, Deutschland dürfe ein Zahlungsmoratorium nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen in einer ganz be- [144] stimmten Lage, z. B. einer wirtschaftlichen Depression, fordern, und daß Deutschland eine dahingehende Erklärung abzugeben habe, widersetzte sich Moldenhauer mit aller Entschlossenheit. Man befragte die Juristen, und auf ihr Urteil gestanden die Gläubiger der deutschen Regierung das völlig selbständige Recht zu, ohne jede Einmischung selbständig über die Notwendigkeit eines Moratorium-Antrages zu entscheiden. Schließlich setzte sich auch der deutsche Standpunkt in bezug auf die Behandlung der aufgeschobenen Zahlungen durch: nach Ablauf eines Moratoriums hat der im Youngplan vorgesehene Sonderausschuß mit der deutschen Regierung über den Zahlungsmodus zu verhandeln, um finanzielle und wirtschaftliche Schwierigkeiten zu vermeiden.

Im Haager Abkommen erhielt also Artikel VIII folgende Fassung:

      "Um das gute Arbeiten des Neuen Planes zu erleichtern, legt die deutsche Regierung Wert darauf, aus freien Stücken zu erklären, daß sie fest entschlossen ist, auf jede mögliche Weise bemüht zu sein, eine Moratoriumserklärung zu vermeiden und dazu erst dann zu schreiten, wenn sie im guten Glauben zu dem Ergebnis gelangt, daß die Währung und das Wirtschaftsleben Deutschlands durch den teilweisen oder vollständigen Transfer des aufschiebbaren Teils die Annuitäten ernstlich gefährdet werden könnte. Dabei herrscht Einverständnis darüber, daß Deutschland allein berechtigt ist, darüber zu entscheiden, ob zu einer Moratoriumserklärung, so wie sie im Neuen Plan vorgesehen ist, Anlaß besteht."

  Pfänder  

Die Frage der Pfänder bereitete den Gläubigern große Sorge. Man müsse doch für seine Forderungen gesichert sein; wenn man den Volksentscheid und das Memorandum Schachts ansehe, sei dies Verlangen gerechtfertigt. So argumentierten die Engländer und Franzosen. Sie verlangten die Umwandlung des negativen Pfandrechtes, daß der Youngplan vorsah, in ein positives, direktes, sie erstrebten die unmittelbare Kontrolle über zu verpfändende Einnahmen aus Biersteuer, Weinsteuer, Spritmonopol usw., so eben wie es der Dawesplan geschaffen hatte. Die Deutschen lehnten diese Pfänderpolitik als unwürdig ab; am 14. Januar ließen die Gläubiger ihre Forderung auf Aktivierung des indirekten Pfandes an die Reichsbahn- [145] gesellschaft fallen, und die im Youngplan vorgesehenen indirekten Pfänder sollten als solche bestehen bleiben. Die beharrliche und erfolgreiche Ablehnung der positiven Pfänder durch Deutschland verhinderten es, daß nach dem Willen der Gläubigermächte in die wirtschaftlichen Abmachungen eine sanktionsähnliche Bresche geschlagen wurde.

Der Artikel XIV des Haager Abkommens besagte demnach folgendes:

      "Die Gläubigermächte erkennen an, daß ihre Annahme der feierlichen Verpflichtung der deutschen Regierung alle zur Zeit etwa bestehenden Pfänder, Kontrollen, Garantien und Vorrechte ersetzt",

unter Vorbehalt derjenigen für die Reparationsanleihe von 1924, für die Reichsbahn und einige Steuern. Die Reparationsanleihe von 1924 stand überhaupt außerhalb des Youngplans, ihr Zinsendienst, mit in den Annuitäten begriffen, hatte den Vorrang vor den eigentlichen Youngreparationszahlungen.

Im Laufe der Konferenz wurde der Wunsch der Gläubigermächte, besonders Frankreichs laut, einen Teil der deutschen Youngschuld auf dem Anleihewege sofort zu mobilisieren, um über das so beschaffte Geld verfügen zu können. Am 10. Januar überreichten die Franzosen der deutschen Abordnung eine Denkschrift, worin die Mobilisierung des ersten Abschnittes der deutschen Youngzahlungen erörtert wurde. Man verlangte von der deutschen Reichsregierung, daß sie sich verpflichte, bis zum 1. Oktober 1930 keine Auslandsanleihen aufzunehmen, um nicht die Mobilisierungsaktion zu gefährden. Die Kommerzialisierung der deutschen Zahlungen dürfe nicht durch andere deutsche Finanzoperationen am internationalen Kapitalsmarkte gestört werden. Tardieu vervollständigte am nächsten Tage den französischen Vorschlag dahin, daß sofort die erste Rate der Youngzahlungen in Höhe von ein- bis zweihundert Millionen Dollar mobilisiert werden sollte, wovon ein Teil in Frankreich, der Rest auf dem internationalen Kapitalmarkte untergebracht werden solle.

Der deutsche Finanzminister Moldenhauer erklärte zunächst, daß Deutschland angesichts seiner wirtschaftlichen Lage sich unmöglich verpflichten könne, für längere Zeit auf Auslandsanleihen zu verzichten. Doch eine endgültige Antwort wolle [146] erst abgeben, wenn Dr. Schacht im Haag eingetroffen sei. Tardieu verwies dann darauf, daß Frankreich keinen Einspruch gegen die Kreugeranleihe gegen Verpfändung des Zündholzmonopols erhoben habe, worauf Moldenhauer erwiderte, daß die Kreugeranleihe in keiner Weise die französischen Mobilisierungsabsichten berühre. Der Engländer Snowden bemerkte, daß er an dieser Frage in keiner Weise interessiert sei, bei der Mobilisierungsfrage handele es sich um ein Gentlemen-Agreement zwischen Deutschland und Frankreich für kurze Frist.

Man stritt hin und her. Ivar Kreuger, der schwedische Finanzmagnat und Betrüger von weltpolitischer Großartigkeit, Postminister Schätzel und der Generaldirektor der Reichsbahn, Dorpmüller, wurden nach dem Haag zitiert, um sich über die schwierige Frage zu verbreiten. Moldenhauer wehrte sich nach wie vor gegen die Sperrfrist für Auslandsanleihen und gegen die Übernahme eines Teils der Reparationsbonds durch Reichspost und Reichsbahn. Die Mobilisierungsfrage hänge ganz vom amerikanischen Kapitalmarkte ab. So standen sich die beiden Auffassungen gegenüber. Die französische, welche fürchtete, die Younganleihe könne nicht untergebracht werden, wenn Deutschland seine Anleihepolitik fortsetze, und die deutsche, welche befürchtete, das deutsche Wirtschaftsleben könne durch die Younganleihe gefährdet werden.

Endlich, am Schluß der Konferenz, kam auch hier eine Einigung zustande, eine Kompromißlösung. Ein erster Abschnitt der Mobilisierungsanleihe in Höhe von 300 Millionen Dollar sollte bis zum 1. Oktober 1930 aufgelegt werden. Deutschland mußte bis dahin auf jede auswärtige Anleihe verzichten. Sollte die Bank für internationale Zahlungen feststellen, daß der Markt bis zum 1. Oktober 1930 für die Mobilisierungsanleihe nicht aufnahmefähig sei, dann sollte die Sperrfrist für auswärtige Anleihen um ein halbes Jahr verlängert werden. Deutschland konnte sich nach freiem Ermessen mit 100 Millionen Dollar beteiligen, welche Reichsbahn und Reichspost übernehmen sollten. Allerdings durfte Deutschland auf die Beteiligung verzichten, wenn ihm die Bedingungen zu ungünstig erscheinen sollten.

[147] Diese Mobilisierungsaktion war von bedenklicher Natur, sie war gewissermaßen ein Wechsel auf die Zukunft, durch den sich Frankreich zu sichern gedachte. Aber sie schloß in sich auch eine große Gefahr. Bei einer unvorhergesehenen Finanzkatastrophe Deutschlands waren die hier investierten Gelder aufs schwerste gefährdet. Der Kurs konnte dann bis auf nichts herabsinken. So kommt der Younganleihe weniger der Charakter einer auf wirtschaftliches Vertrauen gegründeten Transaktion zu als vielmehr der Charakter einer finanziell vollzogenen politischen Bindung Deutschlands, die im Interesse der französischen Politik lag.

  Sanktionen  

Daß für Frankreich die politischen Probleme im Haag ebenso wichtig waren wie die finanziellen, ganz im Gegensatz zu England, erwies sich auch in der Frage der Sanktionen. Wir wissen, daß die ganze Reparationsfrage bis zum Jahre 1924 eine fast ausschließlich politische Angelegenheit war und daß Frankreich bei jedem deutschen Versagen in diesem Punkte sogleich mit Sanktionen bei der Hand war. Durch Dawes wurde der Zustand insofern geändert, als daß das wirtschaftliche Moment als das bestimmende betont wurde, nicht ohne die Drohung mit Sanktionen im Hintergrund zu halten. Die Youngkommission war nun bemüht, die ganze Angelegenheit der Reparationen ausschließlich als eine finanziell-wirtschaftliche zu behandeln. Dagegen nun erhob sich der Widerstand der Franzosen, die in rückläufiger Bewegung danach trachteten, ihre gepanzerte Faust auch fernerhin an der Gurgel Deutschlands zu halten.

Die Sanktionsfrage war seit Monaten in einem Teil der französischen Presse das vorherrschende politische Problem. Und in der Behandlung dieses Problems und den diesbezüglichen Forderungen Frankreichs setzte sich dieser Staat in ausgesprochenen Gegensatz zum Youngplan und der sich darauf stützenden deutschen Auffassung. Diese ist folgende: Die Paragraphen 17 und 18 des Reparationskapitels des Versailler Vertrages sehen vor, daß im Falle deutscher Verfehlungen die Regierungen alle Maßnahmen, die erforderlich erscheinen, zu ergreifen berechtigt sind. Artikel 430 des Versailler Vertrages sieht ferner die Wiederbesetzung des besetzten deutschen Ge- [148] bietes vor für den Fall, daß die Reparationskommission deutsche Verfehlungen feststellt. Demgegenüber erklärt der Youngplan in Übereinstimmung mit seinem Geist und seiner Verfassung in völlig unzweideutiger Weise in Kapitel 6: "Die Beziehungen der Reparationskommission zu Deutschland hören auf!" Damit fällt derjenige Organismus, der allein eine Wiederbesetzung der ehemals besetzten Gebiete herbeiführen kann. Ferner erklärt der Youngplan, daß durch die feierlichen Verpflichtungen, die die deutsche Regierung in dem Youngplan übernehme, alle Garantien, Pfänder und Kontrollen, die bestehen oder entstehen könnten, ersetzt würden. – So war es die Linie der deutschen Politik im Haag, zu verhindern, daß die Befugnisse der Reparationskommission auf einen andern Organismus übertragen wurden, und daran festhalten, daß die im Youngplan vorgesehenen schiedsgerichtlichen Entscheidungen aller aus ihm sich ergebenden Streitigkeiten allgemein anerkannt wurde. Demgegenüber wollten die Franzosen eine juristische Formel finden, welche die politischen Befugnisse der Reparationskommission auf den Sonderausschuß der Bank für Internationale Zahlungen übertrug.

Am 7. Januar überreichte Tardieu der deutschen Abordnung ein Memorandum zur Sanktionsfrage. Für den Fall, daß Deutschland vorsätzlich und böswillig den Youngplan zerreiße, sollten die Sanktionsbestimmungen des Versailler Vertrages wieder in vollem Umfange in Kraft treten, ein Fall, von dem Frankreich nicht hoffe, daß er je eintrete. Auch dann müsse Deutschland seinen Gläubigern Sanktionsrechte zuerkennen, wenn nach Ablauf eines zweijährigen Moratoriums das im Youngplan vorgesehene Schiedsgericht oder der internationale Gerichtshof als höchste Instanz eine etwaige "Nichterfüllung" Deutschlands feststelle. Die Franzosen nannten die auf diese Weise ausgelösten Repressiv-Maßnahmen nicht mehr Sanktionen, sondern "juristische Konsequenzen", um den "Schuldner nicht abzuschrecken". Der englische Schatzkanzler Snowden war zwar für militärische Sanktionen nicht zu haben, aber in einer Besprechung mit Tardieu vermied er eine eindeutige Stellungnahme.

Die Verhandlungen über die Sanktionen waren wohl mit [149] die schwerste Arbeit der Konferenz, vor allem deshalb, weil die französische Presse seit Monaten das Volk in dieser Frage aufpeitschte und nicht mehr zur Ruhe kommen ließ. Tardieu wurde durch die öffentliche Meinung seines Landes gezwungen, hartnäckig an seinen Forderungen festzuhalten. Er nahm damit eine vollkommen isolierte Stellung im Haag ein, denn Snowden erklärte wiederholt, er sei nicht an der Formulierung der Sanktionsklausel beteiligt. Am Vormittag des 9. Januar fand zwischen Curtius, Tardieu und Briand die erste Unterredung über die Sanktionen statt, die anderthalb Stunden dauerte. Sie war ergebnislos. Schroff und unversöhnlich standen sich die Ansichten gegenüber. Die Franzosen hielten an ihrer allgemeinen elastischen Formel fest, die über eine Entscheidung des Haager Gerichtshofs Sanktionsmaßnahmen durch die Internationale Bank ermöglichte. Curtius lehnte rundweg das Ansinnen ab, denn erstens kenne der Youngplan keine Sanktionen, zweitens aber schließe Deutschlands Zugehörigkeit zum Völkerbund und zum Locarnopakt von selbst jede Sanktionsmaßnahmen aus.

Zwei Tage später, am 11. Januar, legte Curtius seinen Standpunkt in einer abermaligen Unterredung mit Tardieu schriftlich fest. Folgende drei Punkte waren die wichtigen:

1. Deutschland ist der Ansicht, daß in einem Vertrag, der wie der Youngplan auf gegenseitigem Vertrauen beruht, nicht eine Klausel aufgenommen werden kann, die bereits Unehrlichkeit und bösen Willen Deutschlands vorsieht. Aus diesem Grunde können in dem Schlußprotokoll der Haager Konferenz keinerlei Bestimmungen aufgenommen werden, die die Ehrlichkeit Deutschlands und den guten Willen, seine im Youngplan feierlich übernommenen Verpflichtungen zu erfüllen, irgendwie in Frage stellen.

2. Die deutsche Abordnung ist der Ansicht, daß nach der Kommerzialisierung der deutschen Youngzahlungen nur noch privatrechtliche und finanzielle Maßnahmen in Frage kommen können.

3. Gegen die Zusammensetzung des Schiedsgerichtes des Youngplans (1 Deutscher, 1 Franzose, 2 Neutrale, Vorsitzender Amerikaner) wird Einspruch erhoben und eine Erweiterung der deutschen Vertretung im Schiedsgericht verlangt.

[150] Doch Tardieu hielt zäh an seinen Sanktionsforderungen fest. Um sie den unnachgiebigen Deutschen schmackhafter zu machen, erklärte er am folgenden Tage, eine Wiederbesetzung deutschen Gebietes im Falle der Lossagung Deutschlands vom Youngplan sei nicht als eine kriegerische, sondern als eine friedliche Maßnahme zu betrachten; Deutschland solle diesen Standpunkt annehmen. Doch Curtius war unnachgiebig.

  Einigung in der Sanktionsfrage  

Endlich, am 15. Januar, kam eine Einigung, ein Kompromiß in der Sanktionsfrage zustande. Es wurden darüber zwischen der deutschen und den fünf alliierten Vertretungen Noten gewechselt. Die gemeinsame Note der fünf Gläubigermächte hatte folgenden Inhalt:

Der Ständige Internationale Haager Gerichtshof hat darüber zu entscheiden, ob eine deutsche Regierung "Handlungen vollzogen hat, die ihren Willen bekunden, den Neuen Plan zu zerreißen". Jede einzelne Gläubigermacht hat das Recht, selbständig die Klage auf Vertragsbruch gegen Deutschland vor den Internationalen Haager Gerichtshof zu bringen und gewinnt nach erfolgter Entscheidung volle Handlungsfreiheit gegen Deutschland, ohne daß dadurch die Stellung der übrigen Gläubigermächte in irgendeiner Weise berührt wird. Die Gläubiger brauchen also keineswegs geschlossen gegen Deutschland zu klagen, die Klage einer einzelnen Macht genügt vollkommen.

Die deutsche Erklärung bedauerte es, daß eine solche Eventualität in Betracht gezogen werde, welche die deutsche Regierung ihrerseits für unmöglich halte. Immerhin sei sie mit den Gläubigerregierungen einverstanden, daß der Haager Gerichtshof eine Entscheidung fälle, wenn nun schon eine Klage vorgebracht werde. Im Falle einer bejahenden Haager Entscheidung erkenne sie den Gläubigermächten insgesamt und einzeln das Recht zu, daß sie ihre volle Handlungsfreiheit wiedergewinnen, um die Ausführung der sich aus dem Neuen Plan ergebenden finanziellen Verbindlichkeiten des Schuldnerlandes sicherzustellen.

  Der "äußerste Fall"  

Das bedeutete nichts anderes als ein Nachgeben der Deutschen im letzten Augenblick. Die deutsche Abordnung suchte ihre Haltung folgendermaßen zu begründen: Die Hauptaufgabe war, den "äußersten Fall", die Lossagung Deutschlands von [151] dem Youngplan, klar zu definieren. Wenn bei der Durchführung des Youngplanes ernste Schwierigkeiten eintreten sollten, so mußte diese Kategorie von Schwierigkeiten stark abgrenzt werden gegenüber jenem Fall, wo eine deutsche Regierung sich mit eindeutigen Worten außerhalb des Youngplanes stellt. Die positiven Punkte der Vereinbarungen sind, daß

1. die Funktionen der Reparationskommission und ihre damit zusammenhängende Stellung in Berlin am Tage des Inkrafttretens des Neuen Planes aufhören und

2. die Befugnisse der Gläubigermächte während des Bestehens des Youngplanes durch diesen Plan begrenzt werden.

Damit sind während des Bestehens des Youngplanes alle Sanktionsmaßnahmen ausgeschlossen. Für den äußersten Fall der Lossagung Deutschlands ist die gegenwärtig bestehende internationale Rechtsinstanz, des Ständigen Internationalen Gerichtshofs im Haag, als letzte entscheidende Instanz eingeschaltet. Erst wenn dieser Gerichtshof feststellt, daß Deutschland den Youngplan gebrochen hat, gewinnen die klageführenden Gläubigermächte volle Handlungsfreiheit.

Nun aber kam das tragische Moment in der Sanktionsfrage! In der Sitzung der sechs einladenden Mächte, worin die Vereinbarung in der Sanktionsfrage angenommen wurde, gaben Snowden und Tardieu ihre Erklärungen ab. Der englische Schatzkanzler Snowden betonte, daß England an den Sanktionsverhandlungen nicht teilgenommen habe und bedauerte ausdrücklich die Aufrollung dieser Frage. Immerhin sei es gut, daß eine Vereinbarung getroffen sei. Allerdings sei ein Punkt ungeklärt: durch einen Bruch des Youngplanes von deutscher Seite würde nämlich nicht eine einzelne Macht, sondern sämtliche Gläubigermächte berührt, deshalb sollte von Rechts wegen die Klage beim Internationalen Gerichtshof im Haag nicht, wie vorgesehen, durch eine einzelne Gläubigermacht, sondern durch die Gesamtheit der Gläubigermächte vorgebracht werden. Hierauf entgegnete Tardieu in sehr bezeichnender Weise: ein Vertragsbruch durch Deutschland müßte der politischen Beurteilung und Stellungnahme jeder einzelnen Gläubigermacht überlassen bleiben, diese Stellungnahme könne aber sehr verschieden sein! Da geschah das Unglaubliche. Dr. Wirth [152] ergriff nicht die Waffe, die ihm England zum eigenen Vorteil des deutschen Volkes bot, sondern er erklärte ausdrücklich, daß nach der Vereinbarung jede einzelne Macht das Recht habe, sich an den Ständigen Internationalen Gerichtshof im Haag zu wenden! Selbst Tardieu war erstaunt. Die Verblendung, mit der Wirth die willig angebotene englische Bundesgenossenschaft ablehnte, verhalf den Franzosen zu einem neuen politischen Siege in Europa. Mit Erfolg hatte Tardieu um die politische Hegemonie seines Landes in Europa gekämpft. Er wußte ja, daß die deutschen Zentrumspolitiker ihre Vorliebe für Frankreich über die politische Notwendigkeit der Nation, England zu gewinnen, stellten.

Die offizielle politische Presse in Deutschland, z. B. der Heimatdienst, bezeichnete es als großes Verdienst, daß der "äußerste Fall" klar und eindeutig festgelegt worden sei. Man war auch sehr optimistisch, daß der Haager Gerichtshof kaum je den "äußersten Fall" zuungunsten Deutschlands als gegeben feststellen könnte. Täte er es trotzdem, so könnten die Gläubigermächte dennoch nicht auf die Sanktionsklauseln des Versailler Vertrages zurückgreifen. Die "volle Handlungsfreiheit" sei nicht die des Versailler Vertrages, sondern die des allgemeinen Völkerrechts, das nur unter gewissen Voraussetzungen Repressalien kenne. Die Gläubigermächte müßten jede einzelne Maßnahme rechtfertigen und in Einklang bringen mit dem Völkerbundspakt, dem Locarnopakt und dem Kelloggpakt. Jedenfalls sei der Versailler Vertrag keine Rechtsgrundlage mehr. Damit sei eine wichtige Rehabilitierung Deutschlands gelungen und vom deutschen Rheinland das Wiederbesetzungsrecht des Versailler Vertrages endgültig abgewandt. Aber gerade über die verhängnisvolle Wendung der "vollen Handlungsfreiheit" ging man hinweg. Gerade der Umstand, daß Briand die Räumung des Rheinlandes automatisch von der Ratifikation des Youngplanes abhängig machte, mußte erkennen lassen, daß die Besetzung von Rechts wegen automatisch wieder erfolgte oder erfolgen durfte, sobald von deutscher Seite dem Youngplan fernere Anerkenntnis versagt würde. In der französischen Politik und Geschichte spielte die Besetzung des Rheinlandes eine wesentlich wichtigere Rolle als [153] finanzielle Fragen, und so hatte in der Tat Tardieu im Haag sich das Recht der Neubesetzung erobert, indem ihm die Deutschen die volle Handlungsfreiheit zugestanden hatten. Die geschaffene Lage war folgende: Frankreich konnte als einzelne Gläubigermacht vor dem Internationalen Schiedsgericht gegen Deutschland klagen. Fiel der Spruch gegen Deutschland aus, so bekam Frankreich seine volle Handlungsfreiheit wieder, es konnte automatisch das Rheinland wieder besetzen, da die Räumung von der Anerkenntnis des Youngplans abhängig gemacht war!

Tatsächlich lagen die Dinge anders. Tatsächlich erkannte Deutschland jegliche Maßnahme der Gläubigerregierung an, durfte also im gegebenen Falle auch eine Wiederbesetzung des Rheinlandes nicht als kriegerische Handlung auffassen. Und wenn nach dem Versailler Vertrag Frankreich allein und politisch für sein Vorgehen die Verantwortung trug, so konnte dies jetzt rechtlich begründet werden, es konnte ein Unrecht in ein Recht verkehrt werden, indem es durch den Haager Gerichtshof legalisiert wurde. Und darin, daß Deutschland nicht in die Vereinbarung die ausdrückliche Berufung auf das allgemeine Völkerrecht, den Völkerbund, den Locarnopakt und den Kelloggpakt hineingebracht hat, hat es tatsächlich auf diese verzichtet. Alle Vergeltungsmaßnahmen also, die sich aus dem Sonderfall des Youngplans herleiten würden, würden also außerhalb aller Verträge des letzten Jahrfünfts stehen! Am schwersten aber wog die moralische Niederlage Deutschlands: indem es den "äußersten Fall" ächtete, schnitt es auf ein halbes Jahrhundert seinem Volke jede selbständige Politik ab; diese Ächtung des "äußersten Falles" war die bedingungslose Übernahme des kaudinischen Joches für das 20. Jahrhundert!

Frankreich
  gegen Deutschland  

Über der Haager Konferenz lagerte eine eigentümliche Atmosphäre nervöser Spannung und Unruhe. Die Führung der Gläubigermächte lag unzweifelhaft bei den Franzosen, in den Händen Tardieus. Dieser hatte das natürliche Bestreben, den rein kaufmännischen Youngplan den aus dem Versailler Vertrag hergeleiteten Vorteilen Frankreichs unterzuordnen. Aber er litt zugleich unter dem Argwohn, daß die französischen Machtansprüche durch die Rechtsansprüche Deutschlands gegen- [154] standslos gemacht werden könnten. Dieser Argwohn richtete sich zwar nun nicht so sehr gegen Curtius und die deutsche Regierung, als vielmehr gegen die Kreise, welche den Volksentscheid gefordert und durchgeführt hatten, und gegen die Kreise, die hinter dem Reichsbankpräsidenten Schacht, dem tüchtigsten deutschen Finanzfachmann, standen. Es war die Sorge vor der Zukunft, vor denen, die nach Curtius und Wirth kommen würden. Für die Haager Konferenz erschien den Franzosen Schacht als die nächste, unmittelbarste Gefahr, denn als Mitglied des Ausschusses der Bank für internationalen Zahlungsausgleich mußte Schacht Mitte Januar im Haag erscheinen. Dann konnte er Kritik üben, und das liebte man nicht.

So nahm es nicht weiter wunder, daß die Pariser Zeitungen Anfang Januar ganz offen Schachts Erscheinen im Haag als eine Gefahr bezeichneten. Der Temps fragte besorgt, in welcher geistigen Verfassung Schacht wohl eintreffen werde, und ob er wohl "ehrlich" an der Gründung der Internationalen Bank mitarbeiten werde. Nach seinem Memorandum müsse man das bezweifeln. In dieser Propaganda gegen Schacht hatte auch der Reparationsagent Parker Gilbert die Hand im Spiele, der mit Briand, Tardieu, Loucheur Unterredungen hatte und diesen seinen Pessimismus über die Haltung Schachts "nicht vorenthielt".

Für die Deutschen anderseits war die Lage im Haag außerordentlich ungemütlich. Der Führer, Außenminister Curtius, stand zum ersten Male an einer Stelle, wo Verantwortungsbewußtsein und Entschlußkraft von ihm verlangt wurden. Das persönliche Verhältnis, das Stresemann durch jahrelange Arbeit in der großen Politik gewonnen hatte und das es ihm ermöglichte, sein Werk mit seiner persönlichen Kraft zu durchdringen, fehlte noch dem Nachfolger, dessen Aufgabe von vornherein klar gezeichnet war: nicht selbst zu schaffen, sondern fortzusetzen, zu vollenden. Hinzu kam, daß die bis auf die Spitze getriebene innere Gegnerschaft das Selbstvertrauen der Deutschen schwächte, insbesondere, daß die Vertreter der deutschen Regierung auf die fachmännische Beratung Schachts nach seinem Dezembermemorandum verzichten mußten. Das wirkte [155] erschwerend, verschleppend, ängstlich waren die Deutschen bemüht, kein, auch, nicht das geringste Zugeständnis über das bereits Zugestandene hinaus zu machen, und die deutsche Abordnung fühlte sich daher stärker in der Abwehr gegnerischer Übergriffe als im Angriff, und diese Abwehr hatte teilweise einen hilflosen, teilweise einen geradezu störrischen Charakter. Zudem litt die deutsche Vertretung an der inneren Schwäche der Gegensätze. Curtius und Moldenhauer waren nicht stark genug, um die franzosenfreundlichen Bestrebungen Wirths und Schmidts zurückzuweisen, wie diese sich denn auch in der Sanktionsfrage durchsetzen konnten.

Diese Spannung zwischen Gläubigern und Schuldner führte öfter zu leidenschaftlichen Auseinandersetzungen. Die Gläubiger wollten ihre Erfolge sicherstellen, ehe Schacht eintraf, deshalb drängten sie die Deutschen, die ihrerseits in der Ablehnung beharrten. Schon in den ersten Tagen, am 7. Januar, ließ Tardieu sich zu heftigen Vorwürfen gegen die Deutschen hinreißen. Er sagte sinngemäß etwa folgendes (der Wortlaut wurde von deutscher Seite energisch bestritten):

      "Wir versichern, daß Ihre feierliche Verpflichtung, den Youngplan auszuführen, allein genügt, um alle Pfänder zu ersetzen, die wir früher in der Hand hatten. Wir alle haben das Vertrauen zu der feierlichen Verpflichtung der hier anwesenden Reichsminister. Indessen lassen unsere Beratungen fortwährend irreführende Feststellungen auftauchen. Sie fordern, daß man Vertrauen zu Ihnen haben soll, und Sie scheinen kein Vertrauen zu sich selbst zu haben. Als gestern die Rede von dem endgültigen Charakter des in Kraft zu setzenden Abkommens war, ließ die allgemeine Aussprache bei Ihnen beunruhigende Revisionsabsichten erkennen. Dasselbe war heute vormittag der Fall in der Frage der Zahlung der Rückstände im Falle eines Moratoriums. Dasselbe beginnt heute abend von neuem bei Gelegenheit der vorbehaltenen Einnahmen. Sie sagen, daß Sie den Youngplan annehmen, und jedesmal, wenn man seine genaue Anwendung festlegen will, lehnen Sie ab. Eine derartige Haltung führt uns dazu, an Ihrer allgemeinen Verhandlungsfähigkeit zu zweifeln. Die Frage mußte ich früher oder später stellen. Ich ziehe es vor, sie bereits heute zu stellen, [156] da Ihre Haltung unsere Arbeitsgrundlage völlig verändern kann!"

Als man auch am 12. Januar, unmittelbar vor der Ankunft Schachts, noch in keinem Punkte zu einem Ergebnis gekommen war, drohte Snowden, die Alliierten seien bereit, die Fortsetzung des Dawesplanes der Inkraftsetzung des Youngplanes vorzuziehen. Und die Pariser Presse ergänzte diesen Ausspruch, daß die Franzosen es dann auch vorziehen würden, in Mainz zu bleiben. Denn Deutschland bereite nicht die Liquidation des Krieges, sondern die Liquidation des Youngplanes vor, ehe dieser in Kraft getreten sei. Allgemein wurden die Deutschen mit Vorwürfen überhäuft, sie suchten die Verhandlungen bis zum Eintreffen Schachts zu verschleppen. Dagegen verwahrte sich Curtius. Die deutsche Abordnung habe nie mit der Hinzuziehung Schachts gedroht. Vielmehr die Gläubigermächte hätten den Baden-Badener Ausschuß für die Internationale Bank nach dem Haag gerufen. Aufs schärfste müsse er, Curtius, den Vorwurf zurückweisen, als verzögerten die deutschen Unterhändler absichtlich die Verhandlungen bis zum Eintreffen Schachts. Die deutschen Unterhändler seien selbstverständlich in der Lage, ohne in jedem einzelnen Punkte mit der Berliner Regierung Fühlung zu nehmen, selbständig Entscheidungen zu treffen und sofort verantwortliche Erklärungen abzugeben.

  Dr. Schacht im Haag  

Am 13. Januar war Schacht im Haag, und sein Erscheinen erschütterte die Konferenz aufs Tiefste! Der Organisationsausschuß der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich hielt am Nachmittag eine Sitzung ab, an welcher die sieben Notenbankpräsidenten der Gläubigermächte, Deutschlands und der Vereinigten Staaten teilnahmen. Den Vorsitz führte der Präsident der First-National-Bank, Reynold. Dieser verlas einen Brief Schachts vom 30. Dezember, worin er ausführte, die Reichsbank könne sich nicht mit 100 Millionen Mark an der zu errichtenden Internationalen Bank beteiligen, wenn nicht folgende Bedingungen erfüllt würden: Verzicht Englands auf Liquidation deutschen Eigentums, Verzicht Frankreichs auf alle militärischen und politischen Sanktionen, Rückkehr zum Youngplan in der ursprünglich auf der Pariser Sachverständigenkonferenz [157] ausgearbeiteten Fassung. Jede politische Verfälschung des Youngplanes müsse abgelehnt werden.

Große Bestürzung bei allen Konferenzteilnehmern folgte. Besonders in den Kreisen der deutschen Abordnung herrschte ungeheure Erbitterung gegen Schacht. Er falle den Politikern in den Rücken, jetzt, wo das Zusammenwirken aller führenden Organe des Staates höchste Notwendigkeit sei. Und bei dieser Gelegenheit unternahm die deutsche Delegation den einzigen energischen Schritt auf der Konferenz: sie beantragte in aller Form die Abänderung des Entwurfs für das neue Reichsbankgesetz im Sinne der Einschränkung der Rechte des Reichsbankpräsidenten. Dieser Schritt fand lebhaften Widerhall bei der deutschen Sozialdemokratie. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion faßte eine Entschließung, worin sie die Beseitigung der unerträglichen Nebenregierung der Reichsbank durch Schachts Rücktritt forderte und gesetzliche Beschränkung der Befugnisse des Präsidenten verlangte. Im Haag aber erklärten Curtius, Moldenhauer und Wirth, sie würden die Beteiligung der Reichsbank an der Internationalen Bank durch Reichsgesetz gewinnen. Damit war der Zwischenfall erledigt.

So war man denn endlich bis zum Schlusse der Konferenz vorgedrungen. Aber noch einmal erhob sich ein unerwarteter Widerstand. Die kleine Entente war mit der Regelung der Reparationen nicht einverstanden. Benesch, der Vertreter der Tschechoslowakei, forderte, daß Deutschland auf alle seine Forderungen aus der Liquidierung privaten deutschen Eigentums in der Tschechoslowakei verzichten solle. Das aber wurde abgelehnt. Auch Portugals Ansinnen, über die bereits bestehenden Abmachungen hinaus an den deutschen Reparationszahlungen beteiligt zu sein, wies Curtius zurück. Am 20. Januar fand die Unterzeichnung des aus 14 Dokumenten bestehenden Haager Abkommens statt. Dabei gab der tschechische Delegierte Osusky eine Erklärung zu Protokoll, nach der die Tschechoslowakei auf die Liquidationsrechte aus dem Versailler Vertrag nicht verzichten könne. Der portugiesische Delegierte erklärte seinerseits, die bereits in den Verhandlungen gemachten Reserven aufrechterhalten zu müssen.

Dann wurden die letzten Reden gehalten. Snowden und [158] Jaspar gaben ihrer Befriedigung über das Ergebnis der Konferenz Ausdruck. Man lobte die Deutschen, die mutig die Interessen ihres Vaterlandes vertreten hätten. Man erinnerte sich der Königin der Niederlande und dankte ihr für die gewährte Gastfreundschaft.

Beurteilung des
  Haager Abkommens  

Der Historiker hat die Pflicht, ein Ereignis wie die Haager Konferenz unter großen Perspektiven zu würdigen. Haag reihte sich als drittes grundlegendes und die Richtung Deutschlands bestimmendes Ereignis der Locarnokonferenz und der Aufnahme in den Völkerbund an. Das Ergebnis vom Haag beruht zunächst einmal im teilweisen Versuch eines entschlossenen Bruches mit einer zehnjährigen Vergangenheit, die aus Versailles herleitete. Es war zweifellos ein Fortschritt, daß nun die Räumung der Rheinlande vor dem vertragsmäßigen Ablauf der Frist endgültig gesichert war. So wurde wenigstens ein politisches und moralisches Minus, durch welches Deutschland schwer belastet wurde, endlich ausgeglichen. Eine Preisgabe andrerseits bedeutete der Verzicht Deutschlands auf sämtliche Abrechnungen zu seinen Gunsten, die es etwa aus dem Verkehr mit der Reparationskommission, aus der Erfüllung des Dawesplanes oder aus der Liquidierung deutschen Eigentums in ehemals feindlichen Ländern herleiten könne. Deutschland, arm und ausgeplündert, verschenkte Milliarden und begab sich des Anspruchs, je einen Entgelt dafür zu fordern! Welch anderes Volk hätte das getan?

Das zweite wichtige Moment war das Verschwinden der Reparationskommission. Ihre Befugnisse, soweit sie innerhalb der Grenzen des Neuen Planes lagen, sollten auf den "kleinen Sonderausschuß" der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich übergehen. So verschwand der grausamste Tyrann und Quälgeist, der Zuchtmeister des deutschen Volkes. Dafür aber gab Deutschland das Recht der freien Willensäußerung preis durch die "Ächtung des äußersten Falles". Frankreichs politische Hegemonie in Europa wurde damit für lange Jahrzehnte anerkannt. Es war allen Einsichtigen in der Welt klar, daß die Sanktionsregelung für Tardieu ein größerer Erfolg geworden war, als man erwartet hatte.

Diejenigen Erfolge, die die Befürworter der Haager Kon- [159] ferenz rühmten, waren mikroskopischer Natur. Es waren kleine Vorfeldgefechte, in denen man, auch nicht immer erfolgreich, Angriffsversuche der Gegner zurückwies. Der Großkampf und sein befreiender Sieg ist nicht das gnadenreiche Los derer, die in dienstgebundener Gewissenhaftigkeit sich an der Bezwingung der Kleinigkeiten erfreuen, aber vor dem Großen und Gewaltigen in Furcht versinken. Im Haag gruben die Vertreter einer versinkenden deutschen Generation ihr eigenes Grab. –

  Verhandlungen im Reichstag  

Noch einmal regte der Youngplan das deutsche Volk auf, als die Haager Abmachungen vom Reichstag angenommen werden sollten. Schon gleich nach Beendigung der Haager Konferenz wurden Stimmen des Unwillens in Deutschland laut. Hugenberg kritisierte die Sanktionsklausel, die eine Wiederbesetzung des Rheinlandes offen lasse. Daß die Saarfrage nicht zusammen mit der Rheinlandräumung erledigt worden sei, gebe zu Bedenken Anlaß und das polnische Liquidationsabkommen verschenke zwei Milliarden, ohne daß man sichere Gewähr dafür habe, daß die 12 000 deutschen Siedlerfamilien in Polen, die etwa 80 000 Köpfe zählen und rund 50 000 Hektar innehätten, nun in Zukunft vor allen polnischen Enteignungsgelüsten sicher seien. Alle diese Punkte gaben auch der Volkspartei Anlaß zu Zweifeln. Insbesondere wies die Volkspartei auf die Verschärfung der innenpolitischen Gegensätze hin, die durch den Kampf der Sozialdemokratie gegen den Reichsbankpräsidenten Dr. Schacht und durch die infolge von Hilferdings Unfähigkeit hervorgerufene katastrophale Finanzlage des Reiches sich wieder aufgetan hätten. In der Tat war Schacht das Opfer, das fiel. Anfang März trat er vom Reichsbankpräsidium zurück, da er seine persönliche Auffassung vom Youngplan nicht mit derjenigen der Regierung Müller in Übereinstimmung bringen konnte. Sein Nachfolger wurde Dr. Luther, ein Beamter, diffizil im Kleinen, aber ohne großen Schwung, ohne das beherrschende Wissen und die Wucht der Persönlichkeit eines Schacht. Doch gebührte ihm das Verdienst und die Anerkennung, daß er in den kommenden schweren Jahren Deutschlands ein Abgleiten der Währung in eine neue Inflation mit aller Energie verhindert hat. Und das war gewiß ein Verdienst, das manche andre Schwäche verzeihen ließ.

[160] Am 5. Februar nahm der Reichsrat den "Neuen Plan" und die darauf bezüglichen Gesetze an. Bayern und Mecklenburg-Schwerin enthielten sich der Stimme, Thüringen, Ostpreußen, Brandenburg, Niederschlesien und Pommern stimmten durch ihre Vertreter gegen die Annahme. Eine Woche später, vom 11. bis 13. Februar, fand die erste Lesung der Youngplangesetze im Reichstag statt. Der Außenminister Curtius gab zunächst in langer Rede einen Überblick über die politische Entwicklung. Am 3. Juli 1928 habe sein Vorgänger Stresemann folgende Ziele für seine Politik aufgestellt: Befreiung der noch besetzten Gebiete, befriedigende Lösung der Saarfrage und endgültige Regelung des Reparationsproblems. "Ich habe nach dem augenblicklichen Stand der Saarfrage keinen Anlaß, daran zu zweifeln, daß sie auch von der Gegenseite mit dem positiven Willen zu baldmöglichem Abschluß geführt wird." Das war seine allzu optimistische Ansicht. Im Vordergrunde der deutschen Politik habe die Räumungsfrage gestanden. Die Parallelität der Genfer Beschlüsse vom 16. September 1928 habe allerdings das Risiko enthalten, daß Deutschland für die Räumung besondere finanzielle Opfer zugemutet werden könnten. Dennoch sei die Reichsregierung dies Opfer eingegangen, um nicht beide Gelegenheiten zu verpassen und die Lösung beider Fragen im Ungewissen entschwinden zu sehen. Es sei Stresemann im Haag gelungen, für Annahme und Ingangsetzung des Youngplanes einen festen Räumungstermin zu erhalten. In der zweiten Haager Konferenz sei das Versailler Sanktionssystem beseitigt und Deutschland vor jeder Willkür und Gewalt geschützt. Alle Vorwürfe wegen Mehrbelastungen durch die Liquidationsabkommen seien ungerecht. Durch den polnischen Vertrag sei es gelungen, 12 000 deutsche Rentengutsbesitzer mit einer Kopfzahl von 80 000 sicherzustellen. Die zweite Haager Konferenz sei ein großer Fortschritt Deutschlands. Deutschlands Kapitalschuld, die laut Londoner Abkommen von 1931 auf 132 Milliarden festgesetzt gewesen sei, sei auf 34,5 Milliarden ermäßigt worden. Die durchschnittliche Jahreslast sei gegenüber dem Dawesplan um 500 Millionen niedriger, dabei sei der Wohlstandsindex noch gar nicht berücksichtigt.

  Die Parteien über Haag  

Der Sozialdemokrat Breitscheidt unterstützte diese Ausfüh- [161] rungen mit der Bemerkung, daß kein vernünftiger Mensch die Fortschritte der letzten zehn Jahre leugnen könne, und daß Deutschland eingerückt sei in die Linie der politischen Gleichberechtigung. Dem entgegnete Hugenberg, daß der Youngplan unerfüllbar sei, seine Annahme bedeute die Vollmacht zur Zerstörung des Reiches durch die Sanktionsklausel. Ein ehrliches Nein werde im Ausland besser gewertet als ein unehrliches Ja. Auch der Zentrumsvertreter Brüning erhob gewisse Bedenken. Er wandte sich gegen eine hastige Durchpeitschung der Gesetzesvorlagen. In der Saarfrage vermisse man Frankreichs Verständigungswillen, in der Zerreißungsfrage vermisse man den Locarnogeist. Dem Polenabkommen könne das Zentrum nicht zustimmen. Darauf bezeichnete der Kommunist Thälmann den Youngplan als einen Sklavenvertrag, dem die Kommunisten die Zustimmung verweigerten. Der Volksparteiler Freiherr von Rheinbaben gab eine sozusagen welthistorische Perspektive. Das Haager Vertragswerk sei der Abschluß der zweiten Nachkriegsepoche seit Herbst 1923. Dem Ziele der Wiedergewinnung der territorialen Staatshoheit müsse sich vieles sonst Wünschenswerte unterordnen, da ohne die Entfernung der Besatzung die elementarste Voraussetzung für eine nach neuer Macht und Geltung strebenden Entwicklung fehle. Graf Reventlow lehnte für die Nationalsozialisten die Younggesetze ab, da sie nicht die Liquidation des Krieges, sondern der Vernichtung der deutschen Freiheit dienten.

Dies waren die Erörterungen des ersten Tages. An den beiden folgenden lehnten auch die Christlich-nationale Arbeitsgemeinschaft und die Volksrechtspartei den Youngplan ab. Der Kommunist Stöcker nahm die Gelegenheit wahr, ausdrücklich zu erklären, er zweifle nicht im geringsten daran, daß auch Hugenberg und Hitler die jetzt von ihnen bekämpfte Erfüllungspolitik betreiben würden, wenn sie an die Macht kämen. Das Ergebnis der zehnjährigen Nachkriegspolitik sei ein dauernder Niedergang der Arbeiterklasse und ein ständiges Steigen der Macht des Kapitals, ein Zustand, an dem in ganz besonderem Maße die deutsche Sozialdemokratie mit ihrer kapitalfreundlichen Einstellung schuld sei. Noch einmal kam dann Graf Reventlow auf die Zerreißungsklausel zurück und meinte, es [162] hänge ganz vom Haager Schiedsgericht ab, ob es den Zerreißungsfall konstruieren wolle. Es sei eine nicht zu überbietende Frivolität der deutschen Abordnung gewesen, daß sie die Entscheidung über Leben und Tod des deutschen Volkes in die Hände des Haager Schiedsgerichtshofes gelegt habe.

Unmittelbar nach dieser ersten Aussprache begaben sich Hugenberg und Oberfohren zum Reichspräsidenten von Hindenburg, um ihm ihre Bedenken gegen den Youngplan vorzutragen.

Die zweite Lesung der Gesetze, die vom 6.–10. März stattfand, brachte nichts bemerkenswertes Neues außer der Rede des Fraktionsredners der Deutschen Volkspartei, Dauch. Die Volkspartei sehe im Youngplan keine endgültige Liquidation der Kriegsära, sondern eine Gewalttätigkeit der andern gegen Deutschland. Tatsächlich habe Deutschland das gezahlt, was ihm in den Waffenstillstandsbedingungen auferlegt worden sei: es habe bisher 34 Milliarden aufgebracht, eine ungeheure Leistung! Der Youngplan sei gar kein freiwillig abgeschlossener Vertrag, sondern gründe sich auf die beiden Diktate von Versailles und London. Die deutsche Volkspartei würde nicht zustimmen, wenn er nicht auch wesentliche Erleichterungen gegenüber dem Dawesplan bringe. Das sei aber der Fall. Die Kritiker würdigten nicht den großen Erfolg, der in der Befreiung der Rheinlande und im Wegfall der ausländischen Kontrollinstanzen liege.

Bei der dritten Lesung am 12. März nahm der Reichskanzler Müller das Wort zu außerordentlich optimistischen Ausführungen. Das Rheinland werde geräumt, man werde zu stabilen und stetigen Wirtschaftsverhältnissen zurückkehren. Wenn es gelinge, die Wirtschaft wieder anzukurbeln, werde sich die Erwerbslosigkeit nicht mehr so ungünstig auswirken wie gegenwärtig. Mit allem Nachdruck werde die Reichsregierung bemüht sein, die deutsche Sozialpolitik in den bewährten Bahnen fortzuführen. Der Agrarnot werde man abhelfen. Eine Gefährdung der Währung sei ausgeschlossen. Die Regierung sei stark genug, um alle Putschgelüste von rechts und links zu unterdrücken. Die deutsche Republik stehe heute unerschütterlich da.

[163] Die Schlußabstimmungen ergaben 270 Stimmen für, 192 gegen den Youngplan. Drei Abgeordnete enthielten sich der Stimme. Gegen den Plan gestimmt hatten die Deutschnationalen, die Nationalsozialisten, die Christlich-nationalen, die Wirtschaftspartei, die Kommunisten und der größere Teil der Bayrischen Volkspartei. Dann behandelte der Reichstag den Antrag aller Oppositionsparteien, die Verkündung der Youngplangesetze zwei Monate auszusetzen. Zur Annahme genügte die Zustimmung eines Drittels der Abgeordneten. Das erforderliche Drittel wurde erreicht, denn 173 stimmten für, 289 gegen den Antrag. Der Antrag war also angenommen. Nun aber kamen die Regierungsparteien und ließen namentlich über ihren Antrag abstimmen, die Young-Gesetze für dringlich zu erklären. Zur Annahme genügte die einfache Mehrheit. So wurde dieser Antrag mit 283 gegen 174 Stimmen angenommen. Durch diesen Beschluß wurde, wenn auch der Reichsrat die Gesetze für dringlich erklärte, erreicht, daß der Reichspräsident ungeachtet des Aussetzungsbeschlusses die Young-Gesetze verkünden konnte.

Schon am nächsten Tage unterzeichnete Hindenburg den Youngplan. Er gab eine lange Erklärung dazu ab. Trotz schwerer Bedenken habe er sich bereit gefunden, zu unterzeichnen. Die Sorgen seien nicht vom deutschen Volk genommen, aber ein Schritt zu seiner Befreiung sei doch getan: das Rheinland werde geräumt. Eine Ablehnung aber werde ungeheure Zerrüttung über die Wirtschaft und die Staatsfinanzen Deutschlands bringen.

Dieser Schritt Hindenburgs veranlaßte den Stahlhelm, sich von dem Generalfeldmarschall in seiner Eigenschaft als Reichspräsident loszusagen. Der Bundesvorstand unter Vorsitz Seldtes faßte am 23. März folgenden Beschluß:

      "Wir erkennen die Annahme des Youngplanes und des deutsch-polnischen Liquidationsabkommens durch den Reichstag nicht als für das deutsche Volk verpflichtend an. Wir sind entschlossen, jede politische Möglichkeit zu benutzen, um die Ketten der auf der Kriegsschuldlüge aufgebauten 'Friedensverträge' und aller aus ihnen abgeleiteten Verpflichtungen jedweder Art zu zerbrechen. Auch die Unterschrift des Herrn [164] Reichspräsidenten ändert an dieser Auffassung nichts. Der Sieger von Tannenberg und der große Führer des deutschen Heeres im Weltkriege bleibt für uns der erste Soldat der alten Armee. Dem Reichspräsidenten aber, der die Verantwortung für die Verknechtung des deutschen Volkes auf Geschlechter hinaus glaubt auf sich nehmen zu müssen, vermag das Frontsoldatengeschlecht aus seinem Verantwortungsbewußtsein heraus nicht zu folgen. Wir haben das Vertrauen verloren, daß eine Regierungsgewalt, die dem deutschen Volke die Freiheit wiederbringen wird, unter dem heutigen System geschaffen und getragen werden kann von Parteien und von irgendeiner aus Parteiabgeordneten zusammengesetzten Volksvertretung. Wir fordern für den Staatsaufbau eine wahrhaft freie, von keiner Partei und Interessenpolitik gefesselte Führung, eine starke Reichsgewalt, unter deren Schutz und Förderung die Bundesstaaten ihr Eigenleben zur höchsten Leistung für die Nation entfalten können. Wir fordern als Vorbedingung des gesunden staatlichen Lebens die Wiederaufrichtung der deutschen Wehrmacht, deren Grundlage die Erziehung der Jugend zur Ehrfurcht vor der großen Vergangenheit unseres Volkes, zum Wehrwillen und zur christlichen Lebensführung ist."

Dieser Beschluß zeigt, wie tief die Kluft zwischen den Generationen im Frühjahr 1930 sich auftat. Es gab keine Brücke mehr zwischen der Generation, welche die Revolution gemacht hatte und nun ihr Werk durch den Youngplan zu krönen meinte, und der Generation, die an der Front gekämpft hatte und nun mit ihren Söhnen entschlossen war, ein neues Reich aufzurichten.

Der Widerstand der Oppositionsparteien richtete sich insbesondere gegen die Sanktionsklausel des Haager Abkommens, denn sie sehen darin nichts anderes als das Recht Frankreichs, die Rheinlande wieder zu besetzen. Nachdem nun der Youngplan von Deutschland angenommen war, bestätigte Tardieu die Richtigkeit dieser Auffassung. Vor den vereinigten Kammerausschüssen wurde er am 24. März von einem Abgeordneten gefragt, wie die Bestimmung auszulegen sei, daß "der oder die Staaten ihre volle Handlungsfreiheit wiedererlangen würden, wenn das internationale Schiedsgericht die böswillige [165] Zahlungseinstellung Deutschlands feststelle". Tardieu erklärte hierauf, man müsse dann auf das internationale Recht zurückgreifen, in dem festgelegt sei, was Handlungsfreiheit bedeute. Der Abgeordnete stellte seine Frage sodann noch genauer, indem er Tardieu um Aufklärung darüber bat, ob eine Wiederbesetzung des Rheinlandes unter der Formel "Handlungsfreiheit" verstanden werden könne. Tardieu antwortete, Frankreich habe in diesem Falle völlige Handlungsfreiheit. Nach Tardieus Ansicht dürfe also Frankreich das Rheinland wieder besetzen. – Ganz im Gegensatz zu den Beteuerungen Wirths, Curtius' und Hermann Müllers stand diese Auslegung der Sanktionsklausel durch Tardieu, aber sie entsprach durchaus dem, was die nationale Opposition Deutschlands mit Sorgen immer kritisiert und bekämpft hatte.

Ingangsetzung
  des Youngplanes  

Im Laufe der folgenden Monate wurde die Bank für internationalen Zahlungsausgleich in Basel organisiert. Inzwischen wurde das Haager Abkommen von den beteiligten Mächten ratifiziert. Am 17. Mai konnte die Reparationskommission unter dem Vorsitz des französischen Senators Chapsal feststellen, daß das Haager Abkommen von Deutschland ratifiziert und die Verkündung der darauf bezüglichen deutschen Gesetze erfolgt sei, daß das Haager Abkommen durch Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien ratifiziert sei, und daß schließlich die Internationale Zahlungsbank in Basel nach ihrer Konstituierung die ihr nach dem Haager Abkommen zufallenden Verpflichtungen übernommen habe und die Schuldenzertifikate der deutschen Regierung und das Zertifikat der Reichsbahn entgegengenommen habe. Damit war der Youngplan in Kraft getreten, die letzte Stunde der Reparationskommission hatte geschlagen. Chapsal hielt eine Rede, worin er einen Überblick über die zehnjährige Tätigkeit der Kommission gab. Sie habe insgesamt von Deutschland 18 Milliarden Goldmark erhalten: 2½ Milliarde in Form abgetretener Staatsgüter, 9½ Milliarde in Form von Sachlieferungen, 6 Milliarden in barem Gelde. Möge das Youngplansystem einen ebenso günstigen Verlauf nehmen wie der Dawesplan! Die Pazifizierung der Welt und die Aussöhnung Europas könne nur durch gegenseitige Zugeständnisse erreicht werden. – Chapsal hatte, wie [166] das die Reparationskommission immer tat, den Wert der abgetretenen Güter und der Sachlieferungen um die Hälfte zu tief bemessen. Am nächsten Tage vollzog sich in Paris ein feierlicher Akt. Chapsal, der Vorsitzende der deutschen Kriegslastenkommission Ruppel, und Hientzsch von der Reichsschuldenverwaltung hatten sich versammelt, um die auf Grund des Londoner Ultimatums von 1921 ausgestellten deutschen Schuldverschreibungen der Serien A, B und C in Höhe von 132 Goldmilliarden sowie die Schuldverschreibung der Reichsbahn in Höhe von 11 Goldmilliarden zu verbrennen. So ward auch hier mit der Vergangenheit gebrochen.

Anfang Juni hatte sich in Paris eine Konferenz von Bankiers zusammengefunden, um die Emissionsbedingungen für die Younganleihe (Mobilisierungsanleihe) festzusetzen. Die Emission sollte zum Kurs von 90 Prozent erfolgen. Um nach Abzug der Unkosten den vollen Betrag von 300 Millionen flüssig zu machen, mußte man den Nominalbetrag auf 350 Millionen erhöhen. Die Verteilung in die einzelnen Länder war diese: die Vereinigten Staaten übernahmen 98¼ Millionen Dollars, Frankreich 98⅔, England 58,3, Holland 30,55, Schweden 29,55; Schweiz 17,80; Deutschland 8,5; Belgien 4,9; Italien 5¾. Der Rest wurde Portugal und Südslawien gegeben. Die Anleihe sollte in 35 Jahren getilgt werden, sie war, im Gegensatz zur Dawesanleihe, von 1935 an kündbar und konvertierbar. Von dem Erlös der Anleihe stellten zwei Drittel die Kapitalisierung eines Teiles der ungeschützten Annuitäten dar, die Deutschland nach dem neuen Plan an die Gläubigermächte zu entrichten hatte. Dieser Betrag sollte an die Internationale Bank in Basel für Rechnung der beteiligten Gläubigermächte abgeführt werden. Das letzte Drittel sollte für Rechnung der deutschen Regierung auf die Internationale Bank gezahlt und für die Bedürfnisse der deutschen Reichsbahn und der deutschen Reichspost verwendet werden. – Es gelang, die Anleihe unterzubringen, so daß die Sperrfrist für auswärtige Anleihen Deutschlands nicht über den 1. Oktober hinaus verlängert zu werden brauchte. –

  Bedeutung der Konferenz  

So war die Sache mit dem Youngplan endgültig geregelt worden. Es war bemerkenswert, daß diese Endkämpfe um die [167] deutschen Tribute unter der Kanzlerschaft eines Sozialdemokraten geführt wurden, der seinen Namen bereits unter das Versailler Diktat gesetzt hatte: Hermann Müller. Die Epoche von 1918 bis 1930 war einheitlich und geschlossen, in System und in Persönlichkeiten.

Dennoch bedeutete das Frühjahr 1929 bis zum Frühjahr 1930 einen Wendepunkt der deutschen Geschichte. Der Endkampf um den Youngplan riß eine tiefe Kluft zwischen die Parteien der demokratischen Koalition und diejenigen der nationalen Opposition. Der Youngplan leitete den Zerfall der demokratischen Gewalt ein. Die Koalitionsparteien, seit je erfüllt von weltfremdem Optimismus, rühmten die Fortschritte zur Freiheit, die im Youngplan erreicht würden: Befreiung der Rheinlande, Verschwinden der Reparationskommission als Kontrollinstanz, Fortfall der politischen Sanktionen, an deren Stelle eben die juristischen Sanktionen traten. Im Vergleich zu diesen Erfolgen schien es von geringer Bedeutung, daß das deutsche Volk für zwei Generationen tributpflichtig gemacht wurde. Was wollte das besagen, da man doch an den bald wiederkehrenden Aufstieg Deutschlands zum Wohlstand glaubte!

Anders die nationale Opposition. Von vornherein erfüllt von tiefem Mißtrauen und Pessimismus gegen alles, was Frankreich den Deutschen als gut und nützlich pries, stellte sie wesentlich weitergehende Forderungen: völlige Beseitigung des Tributsystems, da es wirtschaftlicher Wahnsinn sei, Auslöschung der Lüge von der deutschen Kriegsschuld, Gleichberechtigung Deutschlands in allen weltpolitischen Fragen. Die nationale Opposition glaubte nicht an den versprochenen Wohlstand, den das System der demokratischen Koalition ein Jahrzehnt hindurch durch Pump und Schuldenwirtschaft vorzutäuschen versucht hatte.

So hob nun, hervorgerufen durch den Youngplan und gefördert durch seine Folgen, zwischen den demokratischen Machthabern, die sich seit ihren Wahlerfolgen von 1928 auf der Höhe ihrer Macht wähnten, und ihren Gegnern von der nationalen Opposition ein Ringen an, das Stück um Stück den Regierenden der Koalitionsparteien die Macht aus den Händen schlug. Der Preis, um den die Männer von 1917, 1918, 1919 [168] und 1930 ihre Herrschaft erkauft hatten, war dem deutschen Volke zu teuer geworden. Es rief nach andern Männern, die in keiner Weise belastet waren, und die kräftig genug waren, um die Knoten zu lösen, die in Versailles, London, Paris und im Haag geknüpft worden waren. Doch bis dahin war ein weiter Weg voller Krisen und Erschütterungen zurückzulegen!

  Räumung besetzten Gebietes  

Infolge der Locarno- und Völkerbundspolitik war es Stresemann gelungen, die Westmächte einer vorzeitigen Rheinlandräumung geneigt zu machen. Die Bevölkerung des Rheinlandes wehrte sich zwar dagegen, daß die Räumung durch besondere finanzielle Opfer des deutschen Volkes erkauft werden sollte. Frankreich und England forderten keine Opfer, aber Briand verstand es, auf der ersten Haager Konferenz im August 1929 die Räumung der dritten Zone von der Ratifizierung des Youngplanes durch Deutschland abhängig zu machen. Am 30. August 1929, am letzten Tage der ersten Haager Konferenz, kam zwischen Deutschland und den Besatzungsmächten folgende Vereinbarung zustande:

      "Im Verlaufe der Arbeiten der politischen Kommission der Haager Konferenz sind die drei Besatzungsmächte übereingekommen, die Räumung des Rheinlandes während des Monats September... zu beginnen. Die Zurückziehung der belgischen und britischen Truppen wird innerhalb einer Frist von drei Monaten, gerechnet vom Beginn der Räumungsoperationen, vollständig durchgeführt sein. Die französischen Truppen werden die zweite Zone innerhalb derselben Frist räumen. Die Räumung der dritten Zone durch die französischen Truppen wird unmittelbar nach der Ratifikation des Youngplanes durch das deutsche und französische Parlament und der Ingangsetzung dieses Planes beginnen. Die Räumung wird ohne Unterbrechung und so schnell durchgeführt werden, wie es die natürlichen Bedingungen erlauben; sie wird in jedem Falle spätestens in einem Zeitraum von acht Monaten, der sich jedoch nicht über das Ende des Monats Juni 1930 hinaus erstrecken darf, beendet werden."

Befreiungsfeier am Niederwalddenkmal im Scheinwerferlicht von Bingen aus.
[Bd. 5 S. 160a]      Befreiungsfeier
am Niederwalddenkmal im Scheinwerferlicht von Bingen aus.

Photo Scherl.
Infolgedessen verließen die Besatzungstruppen in den Herbst- [169] wochen das Rheinland. Mitte September begannen die ersten englischen Besatzungstruppen, Deutschland zu verlassen. Bis Ende Oktober war der englische Bahnschutz aus dem Saargebiet zurückgezogen. Am 22. November verlegte die Interalliierte Rheinlandkommission ihren Sitz von Koblenz nach Wiesbaden. Am letzten Novembertage wurde amtlich die Besetzung der zweiten Zone aufgehoben, sechs Wochen vor der vertragsmäßigen Frist, die am 10. Januar 1930 gemäß Versailler Vertrag ablief. Am 12. Dezember verließen die letzten britischen Truppen das deutsche Land. Damit hatte sich die Besatzungsmacht von 56 000 (darunter 51 000 Franzosen) auf 35 000 verringert (nur Franzosen).

In den Frühjahrswochen des Jahres 1930 kündeten französische Truppenbewegungen im Rheinland die bevorstehende Räumung an. Als am 17. Mai die Reparationskommission das Ingangsetzen des Youngplanes festgestellt hatte, ordnete Tardieu noch am gleichen Tage die Räumung der dritten Zone an. Noch im Mai sind Zweibrücken, Germersheim, Speyer, Ludwigshafen, Worms und Bingen freigeworden.

Franzosen räumen Worms 1930.
[Bd. 5 S. 80a]      Franzosen räumen Worms 1930.      Photo Scherl.

In den ersten Junitagen wurden zum größten Teile Kehl, Mainz und Trier geräumt, wenig später zogen die Franzosen aus Kaiserslautern ab. In den letzten vier Tagen des Juni verließen die Franzosen endgültig Trier, Landau, Neustadt an der Hardt, Kehl und Mainz. Am Abend des 30. Juni wurden in Wiesbaden auf dem Hotel, in dem die Interalliierte Rheinlandkommission residierte, die Flaggen Englands, Frankreichs und Belgiens niedergeholt. Die Interalliierte Rheinlandkommission hatte aufgehört zu bestehen, das deutsche Rheinland war frei! Und in der hellen Mitternacht kündeten die Glocken der Dome am Rhein die neue Freiheit deutschen Landes.

Abschiedsparade der französischen Truppen in Mainz vor ihrem endgültigen Abmarsch, Juni 1930.
[Bd. 5 S. 64b]      Abschiedsparade der französischen Truppen in Mainz vor ihrem endgültigen Abmarsch, Juni 1930.
Photo Scherl.
Niederholen der Trikolore vom Sitz der 
Rheinland-Kommission in Wiesbaden unter militärischen Ehren.
[Bd. 5 S. 80b]      Niederholen der Trikolore vom Sitz der Rheinland-Kommission in Wiesbaden unter militärischen Ehren.
Photo Scherl.

Die Saardeutschen feiern die Rheinlandbefreiung.
[Bd. 5 S. 112b]      Die Saardeutschen feiern die Rheinlandbefreiung. Vor dem illuminierten Rathaus in Saarbrücken.      Photo Scherl.

Saarschleife bei Mettlach.
[Bd. 5 S. 112b]      Saarschleife bei Mettlach.
Photo Scherl.

Befreiungsfeier in Mainz.
[Bd. 5 S. 128b]      Befreiungsfeier in Mainz.
Photo Scherl.
In langen Aufrufen feierten die Reichsregierung und der Reichspräsident, die Regierungen Preußens, Bayerns, Badens, Hessens die Befreiung. In dem gemeinsamen Aufruf des Reichspräsidenten, des Reichskanzlers und der Reichsregierung hieß es:

      "Der Tag der Befreiung soll ein Tag der Dankbarkeit sein. Unser erstes Gedenken gehört heute denen, die im Kampfe für die Freiheit Deutschlands geblieben sind, die ihr Leben gaben für das Vaterland. Zu ihnen gehören auch alle, die während [170] der harten Jahre der Besetzung ein Opfer ihrer Vaterlandsliebe wurden. Unvergessen sollen die Leiden der Männer und Frauen bleiben, die in der schweren Prüfungszeit seelisch und körperlich für Deutschland geduldet haben, und stets werden wir der vielen Tausende gedenken, die wegen ihrer Treue zu Vaterland und beschworener Pflicht durch fremde Machtwillkür von Haus und Hof vertrieben wurden. Ihnen allen schulden wir unauslöschlichen Dank! Wir wollen ihn abstatten durch das Versprechen, uns aller gebrachten Opfer durch Dienst an Volk und Vaterland würdig zu erweisen... Ein Volk, das, ganz auf sich allein gestellt, trotz härtester Bedrängnis sich selbst behauptet hat, ein Land, das auf den Gebieten der Wissenschaft, Kunst und Technik auch in bitterer Notzeit Leistungen vollbracht hat, die in der ganzen Welt anerkannt und bewundert werden, hat ein Recht darauf, mit Selbstvertrauen und mit Zuversicht seiner Zukunft entgegenzusehen... Das Gelöbnis in dieser feierlichen Stunde sei Einigkeit! Einig wollen wir sein in dem Streben, unser geliebtes Vaterland auf friedlichem Wege nach Jahren der Not einem besseren und helleren Tag entgegenzuführen. Einig wollen wir sein in dem Schwur: 'Deutschland, Deutschland über alles!'"

Stahlhelm in Koblenz nach der Rheinlandbefreiung, 5. September 1930.
[Bd. 5 S. 128a]      Stahlhelm in Koblenz nach der Rheinlandbefreiung, 5. September 1930.
Photo Scherl.

Nachdem es Hindenburg bei Severing durchgesetzt hatte, daß das nun dreiviertel Jahr dauernde Verbot des Stahlhelms in Rheinland und Westfalen aufgehoben wurde, reiste der Reichspräsident am 19. Juli nach Koblenz, wo drei Tage später die Hauptbefreiungsfeier stattfand. Die Spitzen der preußischen Staatsregierung und Behörden, Ministerpräsident Braun, Oberpräsident Fuchs, der Oberbürgermeister Russel aus Koblenz und schließlich Hindenburg hielten Ansprachen an die nach vielen Tausenden zählende Menge. Die festliche Beleuchtung des Ehrenbreitstein und des deutschen Eck in den Abendstunden hatte dichte Menschenmassen herbeigelockt. Als nun die Menge am deutschen Eck über die Pontonbrücke zurückflutete, da kenterte diese und 40 Menschen ertranken in den Fluten der Mosel. So fanden die Befreiungsfeiern einen tragischen, unheimlichen Abschluß.

Hindenburg am Deutschen Eck.
[Bd. 4 S. 256b]      Hindenburg am Deutschen Eck.      Atlantic-Photo.

In England, Amerika und Italien wurde die Räumung der Rheinlande mit großer Freude begrüßt. Man meinte dort, [171] die Räumung hätte schon längst erfolgen müssen und sei erst vollständig, wenn auch das Saargebiet freigegeben werde. Nur in Paris war man elegisch. Die Linkspresse frisierte die Rheinlandräumung als Beweis französischer Generosität und guten Willens. Das Journal aber meinte, die Räumung sei in dem Augenblick erfolgt, da Deutschlands Finanzen sehr ungünstig stünden; vielleicht habe man übereilt gehandelt und hätte vorsichtshalber einige Kompagnien in Trier und Landau lassen sollen. Aber das Blatt tröstete sich: "Die Truppen sind zurückgezogen, aber der Versailler Vertrag bleibt bestehen. Er gibt das Recht jederzeitiger Wiederbesetzung, wenn Deutschland seine Pflichten verletzt."

Bilanz der
  Rheinlandbesetzung  

Eine Zeit der Schrecken und Qualen war erfüllt. Die Grausamkeit der feindlichen Richter hatte ihr Ende erreicht. Die drei französischen Militärgerichte in der Pfalz, in Landau und Kaiserslautern haben 837 Jahre Gefängnis, 30 Jahre Zuchthaus, 5 Monate Zwangsarbeit und dreimal lebenslängliche Zwangsarbeit verhängt. Sie haben eine Viertelmillion Mark und 40 000 Franken Geldstrafen verteilt, sie haben 7325 Verurteilungen in der Zeit vom 1. Dezember 1922 bis 31. Mai 1930 ausgesprochen! Insgesamt wurden im Okkupationsgebiet während der 140 Monate dauernden Besatzung 18 590 Deutsche von französischen Gerichten verurteilt, das waren aller zwei Tage neun Verurteilungen! In der Zeit, als das Ruhrgebiet besetzt war, wurden 130 000 Menschen von Haus und Hof vertrieben, vom 11. Januar 1923 bis 1. August 1924. Es wurden in der gleichen Zeit getötet 137, verletzt 603 Menschen. Die Besatzung kostete dem Deutschen Reiche insgesamt 6,6 Milliarden Goldmark, nicht mitgerechnet all die Aufwendungen des Reiches für Einrichtungen und Maßnahmen, die durch die Besatzung notwendig geworden waren. Und außerdem hinterließen Engländer, Belgier und Franzosen etwa 15 000 uneheliche Kinder im Rheinland!

Eine böse Begleiterscheinung der Besatzung war die Separatistenplage. Viele unglückliche und unschuldige Deutsche sind durch die Denunziation dieser Verräter schwer bestraft worden. Nun, nachdem die feindliche Macht abgezogen war und ihre separatistischen Trabanten nicht mehr schützen konnte, [172] nahm die Wut des Volkes gegen die Verräter ihren freien Lauf. Zwar die Führer hatten sich in Sicherheit gebracht, Dorten hatte die schützenden Gefilde der Riviera in Südfrankreich aufgesucht, aber die kleinen Größen blieben zurück und wurden vom Volke zur Verantwortung gezogen. Im Juli begannen die Separatistenverfolgungen im Rheinland, in Mainz und Koblenz, in Trier und Wiesbaden, und griffen auch auf Düren und Euskirchen über. Zahlreiche Läden wurden angegriffen, Schaufenster zertrümmert, Einrichtungen zerstört bei Kaufleuten, die der separatistischen Bewegung nahestanden.

  Separatistenverfolgungen  

In Kaiserslautern begannen die Separatistenverfolgungen im Anschluß an die Befreiungsfeiern am 1. Juli in der Frühe um 3 Uhr. Von Straße zu Straße zog die rasende Volksmenge, zertrümmerte Läden und warf ganze Wohnungseinrichtungen auf die Straße. Verräter wurden halbtot geschlagen, Häuser wurden in Brand gesteckt. Die Polizei war wehrlos, mit Gummiknüppel und blanker Waffe mußte sie ihrem Worte Geltung verschaffen, die Feuerwehr mußte abwechselnd Feuer löschen und den Wasserstrahl gegen die tobende Menge richten. Seit dem Abend des 2. Juli stand Mainz in hellem Aufruhr. Die Volkswut war entfesselt. Die ganze Nacht zogen Trupps von mehreren hundert Menschen, meist Leute im Alter von 16 bis 30 Jahren, allen Kreisen der Mainzer Bevölkerung angehörend, alle Parteirichtungen von den Nationalsozialisten bis Rotfront umfassend, patriotische Lieder singend durch die Straßen, zertrümmerten Fensterscheiben in den Häusern der Separatisten, die bisher von den Franzosen geschützt waren, schlugen Haustüren ein, zerstörten Möbel. Die Separatisten flohen in ihrer Angst über die Dächer oder sprangen aus den Fenstern auf die Straße. Polizei, die aus den Nachbarorten herbeigerufen war, war machtlos. Ein Arzt, Dr. Rothe, ehemaliger separatistischer Provinzialdirektor, der bis zum letzten Tage im Dienste des französischen Pressebüros gestanden hatte und viel Schuld an harten Strafmaßnahmen der Franzosen trug, suchte sich und seine Frau zu vergiften, während die Separatistenverfolger seine Wohnung belagerten. Unter starkem Polizeiaufgebot wurden beide ins städtische Krankenhaus gebracht.

Den ganzen 3. Juli dauerte das Strafgericht an, [173] gewann in den folgenden Tagen immer größeren Umfang. In der Provinz Rheinhessen fanden allnächtlich Jagden auf Separatisten statt. In mehr als hundert Ortschaften kam es zu Zusammenstößen. In Alzey und Worms wurden zahlreiche Wohnungen demoliert. In Mainz wurde eine Liste mit den Namen von 320 Separatisten ausgegeben, die boykottiert werden sollten. Vor allem verlangte man Entfernung der Separatisten aus dem Stadtparlament. Auch in der Pfalz, in Kaiserslautern, Neustadt, Pirmasens hatten sich Komitees gebildet "zur Reinigung der Pfalz von den Separatisten". In Ludwigshafen erreichten die Arbeiter der Anilinwerke die Entlassung von 19 Arbeitern, die als Separatisten einst der Schrecken der übrigen Arbeiterschaft waren. Auch in Frankenthal erhob sich das Volk, hier hatten die Separatisten am schandbarsten gehaust und 13 Bürger und Arbeiter in französische Strafhaft gebracht.

Nur drei Berichte über diese Unruhen sollen noch wiedergegeben sein:

      "Während sich in Wiesbaden selbst keine Ausschreitungen gegen Separatisten mehr ereignet haben, ist es in dem Vorort Kloppenheim zu einem schweren Zwischenfall gekommen. Gegen 3 Uhr nachts wurde die Polizei alarmiert (6. Juli). Gleichzeitig ertönte Feueralarm. Die Polizei mußte feststellen, daß das Grundstück des Landwirts Kunz, der als Separatist bezeichnet wird, angegriffen wurde. An zwei Stellen des Besitztums war Feuer angelegt worden. Aus den Fenstern des Hauses schossen Kunz und dessen Sohn auf die Angreifer. Auch die Polizei, die die Ordnung wiederherstellen wollte, wurde beschossen, während die Feuerwehr mit den Löscharbeiten nicht beginnen konnte. Die Polizei sah sich schließlich gezwungen, selbst von der Schußwaffe Gebrauch zu machen und Kunz zur Übergabe des brennenden Grundstücks zu bewegen. Auf die Schüsse kam Kunz mit erhobenen Händen aus dem Hause heraus und ergab sich. Kunz, sein Sohn und seine Frau wurden in Schutzhaft genommen."

Ein anderer Bericht aus Trier meldete vom Sonntag, dem 6. Juli:

      "In der Nacht zum Sonntag wurden in verschiedenen Wohnungen von Separatisten die Fensterscheiben eingeschlagen und die Fensterläden mit Steinen zertrümmert. In die Häuser [174] selbst sind die Täter nicht eingedrungen. Die bekanntesten Sonderbündler haben die Stadt verlassen. Der berüchtigte Separatistenführer und 'Polizeipräsident von Trier' Gastwirt Hubert Marzel ist nach Frankreich geflüchtet. Er soll sich in Straßburg aufhalten."

Und aus Düren wurde am 11. Juli gemeldet:

      "Der Rachefeldzug gegen die ehemaligen rheinischen Separatisten scheint sich immer mehr auszudehnen. Nun ist es auch hier zu schwereren Ausschreitungen gekommen. In der vergangenen Nacht wurden nicht weniger als sieben Geschäfte, deren Inhaber einst mit den Sonderbündlern sympathisierten, angegriffen und Schaufenster und Ladeneinrichtungen vollkommen zertrümmert. Natürlich machen sich berufsmäßige Einbrecher die Gelegenheit zunutze, um zu stehlen. Davon wurde ein Schneidergeschäft betroffen, dessen Stofflager vollständig geplündert wurde. Die Zerstörungen und Plünderungen fanden statt, bevor die zahlenmäßig stark unterlegene Polizei eingreifen konnte."

In der Nacht vom 19. zum 20. Juli kamen auch in Euskirchen Racheakte gegen die Separatisten vor: an verschiedenen Stellen der Stadt wurden Fensterscheiben eingeworfen.

Über diese Vorgänge war der Reichsinnenminister Wirth von großer Sorge erfüllt. Er fürchtete nicht nur Interpellationen im Reichstag, sondern auch außenpolitische Schwierigkeiten. In der Tat führten der Pariser Figaro und Matin eine drohende Sprache. Die Separatistenverfolgungen seien ein Verstoß gegen die Voraussetzungen beim Abzug der französischen Truppen. Das nationale Frankreich erwarte von Briand ein entsprechendes Vorgehen gegen Deutschland.

Frankreich und
  die Separatisten  

Natürlich bereiteten Briand diese Vorgänge auch große Kopfschmerzen, lagen ihm doch die Separatisten in den Ohren, daß er sich für sie einsetze. Briand erwog Anfang Juli ernstlich, ob er eine offizielle Note nach Berlin schicken solle. Er teilte das auch dem deutschen Botschafter von Hösch mit: Die Zwischenfälle und Unruhen in den rheinischen Städten stünden im Widerspruch zu dem zwischen den alliierten und deutschen amtlichen Stellen getroffenen Vereinbarungen. Denn es sei ausdrücklich festgelegt, daß alle Vergeltungsmaßnahmen gegen [175] Personen, die zur Besatzung in näheren Beziehungen gestanden hätten, zu unterbleiben hätten. Dies war in der Tat im August 1924 – Londoner Abkommen – vereinbart worden, bezog sich aber auf das Verhalten amtlicher deutscher Stellen. Daß die Behörden nicht in der Lage waren, der entfesselten Volkswut zu wehren, konnte ihnen nicht als Verletzung der internationalen Vereinbarungen zur Last gelegt werden. Briand sah daher von einem offiziellen Schritt ab und beauftragte lediglich die französischen Konsulate in Deutschland, ihm dringlich und ausführlich über die Ereignisse zu berichten. Im übrigen sorgte die deutsche Polizei dafür, daß die Vergeltungstaten aufhörten, und mancher Verräter entging unter dem Schutze des Staates der wohlverdienten Strafe. – Die Separatisten aber, die aus dem Rheinland nach dem Elsaß geflohen waren, gründeten Ende Juli in Metz einen Verein "Halt am Rhein". Die Vizepräsidentin dieser Liga, Frau Dutreb, übermittelte den Separatisten die Wünsche des französischen Wohlfahrtsministers; sie sagte unter anderem: "Die Separatisten hätten in Deutschland eine Rabenmutter verloren, aber in Frankreich hätten sie ihre rechte Mutter wiedergefunden." Dann sangen die Separatisten eines ihrer Lieder und brüllten: "Es lebe Frankreich!", worauf der Bürgermeister von Metz und der Generalrat des Moseldepartements noch einige Worte sprachen.

Übrigens erhielten sich auch nach Beendigung der Besatzung Beziehungen zwischen amtlichen französischen Stellen und Separatisten im Rheinland. Anfang Februar 1931 wurden in Rheinland und Pfalz, vor allem in Kaiserslautern, eine Anzahl Subjekte festgenommen, die immer noch an dem alten Traume Frankreichs hingen und mit Unterstützung französischer Regierungsstellen das Rheinland vom deutschen Reiche losreißen zu können glaubten.

  Die Saarfrage  

Doch ein Problem blieb ungelöst: Die Saarfrage. Es war Stresemanns Absicht, dieses Problem zugleich mit der Rheinlandräumung aufzurollen, aber er stieß auf den Widerstand Frankreichs. Briand charakterisierte am 8. November 1929 in der Kammer diesen Fragenkomplex folgendermaßen:

      "Die Saarfrage hat keinerlei Zusammenhang mit der Rheinlandfrage; [176] zunächst einmal halten wir das Saargebiet nicht besetzt, denn es wird vom Völkerbund verwaltet. Dann wurde die Saarfrage im Haag nicht auf die Tagesordnung gesetzt, sondern ganz im Gegenteil vertagt. Die Saarfrage ist keine interalliierte, sondern eine rein deutsch-französische Frage. Wir sind Besitzer der Saargruben; haben wir aber ein Interesse daran, noch fünf Jahre zu warten, um die Gruben zu verkaufen? Gewiß nicht: in fünf Jahren wird die Volksabstimmung gegen uns ausfallen. Wir werden abziehen müssen und dann gezwungen sein, die Gruben zu verkaufen, aber nicht zu einem Preise, den wir selbst, sondern den eine schiedsgerichtliche Kommission festsetzt. Wir haben also jetzt noch ein Pfand in der Hand, das wir aushandeln können. Aber wir haben nicht das Recht, über die Saarbevölkerung willkürlich zu verfügen."

Dennoch traf im Frühjahr 1930 in Paris eine deutsche Saardelegation ein, um über die Klärung der Saarfrage zu verhandeln. Die Verhandlungen wurden bis Anfang Juli verschleppt und dann abgebrochen, da keine Einigung in den Fragen der Entschädigung für die Gruben und der Zölle erzielt werden konnte. Im französischen Senat vertrat Senator Eccard die Meinung: das Beste sei Beibehaltung des jetzigen Zustandes. Das Interesse Frankreichs und des Saargebietes verlange dies gebieterisch. Jede Änderung würde vernichtende Wirkungen für die Saarindustrie und die französische Handelsbilanz haben. Nur die Völkerbundsregierung gebe Frankreich und dem Saargebiet Garantien für die Sicherheit ihrer wirtschaftlichen Interessen und für das Zustandekommen einer fruchtbaren deutsch-französischen Zusammenarbeit.

Wiewohl die Saarbevölkerung in ihren Aufrufen immer wieder verlangte, ebenfalls wie das Rheinland befreit zu werden, so wehrte sie sich doch gegen die Zumutung, daß Deutschland durch neue finanzielle Opfer die Freiheit der Saar erkaufen solle. Dennoch bewegte tiefer Schmerz die Saardeutschen, als die Verhandlungen ohne Ergebnis abgebrochen waren. Auf der 10. Tagung des Bundes der Saarvereine in Trier Anfang Juli wurde folgende Entschließung angenommen:

      "Bei der Feier der Befreiung der Rheinlande von dem Drucke [177] der fremden Besatzung in Trier gedenken die Befreiten in tiefer Trauer vereint mit Tausenden ihrer Brüder und Schwestern aus dem Saargebiet der dort dauernden Fremdherrschaft. Sie wiederholen, was die Bevölkerung des Saargebietes in einmütigen Kundgebungen fortgesetzt fordert:
      Unverzügliche Rückkehr des Saargebietes unter die deutsche Regierung als Wiedergutmachung des begangenen Unrechts. Diesem deutschen Willen des Volkes an der Saar haben sich alle andern Rücksichten unterzuordnen. Die Menschen an der Saar sind es müde, sich als ein Anhängsel wirtschaftlicher Belange behandeln zu lassen. Hand in Hand mit der Rückkehr unter die deutsche Regierung muß der Rückerwerb der Gruben durch das deutsche Reich so vorbehaltlos erfolgen, wie ihn der Versailler Vertrag selbst für den Fall der Rückkehr des Landes unter die deutsche Regierung vorsieht. Bei gutem Willen läßt sich auf den Grundlagen der Rückkehr unter die deutsche Herrschaft und des Rückerwerbs der Gruben durch das deutsche Reich eine Ordnung der wirtschaftlichen Beziehungen erreichen, die dem Saargebiete, Deutschland und Frankreich zum Segen gereichen.
      Einer Mißachtung dieser Grundlagen aber zieht das Volk an der Saar die freventlich aufgezwungene Fremdherrschaft noch weitere fünf Jahre vor. Dann wird die Volksabstimmung die heißersehnte Befreiung bringen, ohne Bedingungen, ohne Bindungen und ohne Vorbehalte."

So war der deutsche Wille zur Ohnmacht verurteilt durch den stärkeren Willen Frankreichs. Die französischen Grubendirektoren aber setzten ihre eifrigen, doch vergeblichen Bemühungen fort, durch große Geldzuwendungen die Presse und Propaganda kleiner separatistischer Kreise, in denen Peter Klos und der Professor Friedrich Wilhelm Förster eine Rolle spielten, zu unterstützen. Die Saarbevölkerung jedoch lehnte alle diese Quertreibereien ab.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra