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[Bd. 5 S. 100]

1. Kapitel: Die Reichstagswahl von 1928. Angriffe und Widerstände.

  Wahlergebnis  

Die Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 brachte den Marxisten einen großen Stimmenzuwachs; die Sozialdemokraten, die 1924 etwa 7,9 Millionen Stimmen auf sich vereinigten, konnten diesmal etwa 9,3 Millionen Anhänger zählen. Die Gefolgschaft der Kommunisten vermehrte sich von 2,7 auf 3,2 Millionen. Im bürgerlichen Lager dagegen trug eine außerordentliche Interessenzersplitterung zu einer teilweise recht erheblichen Schwächung der alten und großen Parteien bei. Die Deutschnationale Volkspartei verringerte ihre Stimmenzahl von 6,2 auf 4,5 Millionen, die Deutsche Volkspartei von 3,1 auf 2,7, die Demokraten gingen von 1,9 auf 1,5, das Zentrum von 4,1 auf 3,7 und die Bayrische Volkspartei von 1,1 auf 0,9 Millionen Stimmen zurück. Auch die Nationalsozialisten büßten von ihren ehedem 900 000 Stimmen etwa 7 Prozent ein.

Dagegen hielten die Splitterparteien reiche Ernte. Die Wirtschaftspartei verdoppelte sich auf 1,4 Millionen; der Landbund, der 1924 eine halbe Million Stimmen ergattern konnte, sank auf weniger als die Hälfte, doch zum Ausgleich sproßte neben ihm neu und kräftig die Christlich-nationale Bauern- und Landvolkpartei mit 770 100 Stimmen. Die Volksrechtspartei, die nicht ganz eine halbe Million Stimmen zusammenbrachte, war ebenfalls ein neues Gebilde und lebte von der Unzufriedenheit aller, denen die Aufwertungsgesetze nicht genügten. Der völkischnationale Block mit seinen 300 000 Stimmen wollte die vereinten völkischen und protestantischen Ziele Wulles und des ehemaligen Hofpredigers Döhrings zum Siege führen, während die Evangelische Partei Deutschlands mit 51 000, die Christlich-soziale Reichspartei mit 110 000 und der Evangelische Volksdienst mit nicht 5000 Stimmen aus der Wahl hervorgingen.

Dergestalt zeigte sich im bürgerlichen Flügel des Volkes ein Ermatten der parlamentarischen Energien, die Tendenz des [101] Zerfließens und der Auflösung, deren Nutznießer die Sozialdemokraten und Kommunisten waren. Dieselbe Erscheinung offenbarte sich bei den Landtagswahlen, die am gleichen Tage in Preußen und Bayern, in Württemberg, Anhalt und Oldenburg stattfanden. Es schien, als sei die Uhr des Volkes zurückgedreht, als breche eine neue Epoche der Macht für die Sozialdemokratie, die führende Partei der Regierungskoalition, an. Alle Errungenschaften der Deutschnationalen Volkspartei, die sie unter Mühen und Kämpfen der letzten vier Jahre erreicht hatte, gingen in Trümmer: sie verlor 40 Sitze im Reichstag, während die Sozialdemokratie ihre Sitze von 131 auf 153 vermehrte und damit mehr als doppelt so stark wie die deutschnationale Fraktion wurde.

  Regierung Hermann Müller  

Die Wahl war für die bürgerlichen Parteien eine empfindliche Niederlage, geradezu eine Katastrophe. Die Partei der revolutionären Generation aber fühlte sich mit hochgesteigertem Machtwillen geladen. Die Regierungsbildung vom 29. Juni brachte dies klar zum Ausdruck. Das Amt des Reichskanzlers übernahm der Sozialdemokrat Hermann Müller, der schon einmal von Ende März bis Anfang Juni 1920 Reichskanzler gewesen war. In seinem Kabinett vereinigte er außerdem die Sozialdemokraten Severing (Innenministerium), Hilferding (Finanzen), und Wissell (Arbeit). Die Justiz und das Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft übernahmen zwei Demokraten, Erich Koch und Dietrich. Die besetzten Gebiete und der Verkehr wurden dem Zentrum zugestanden, während der Bayrische Volksparteiler Schätzel das Postministerium behielt. Der Außenminister Stresemann und der Wirtschaftsminister Curtius gehörten der deutschen Volkspartei an. Vier Sozialdemokraten, zwei Demokraten, zwei, bzw. drei Zentrumsanhänger und zwei Volksparteiler – das war die neue Koalitionsregierung. Das Kabinett Marx, das vom 29. Januar 1927 bis zum 12. Juni 1928 regierte, bestand aus vier Deutschnationalen, zwei Volksparteilern und drei, bzw. vier Zentrumsanhängern. Das Schwergewicht hatte sich wieder einmal nach links verschoben.

Die Regierung Hermann Müller war es also, die sich berufen fühlte, die nachrevolutionäre Politik Deutschlands im [102] Sinne des herrschenden Systems auf ihren Höhepunkt zu führen, das heißt, die es sich zum Ziele setzte, eine endgültige Regelung der Tributversklavung zu erreichen und, gleichsam als moralischen Erfolg, als ideellen Ausgleich für materielle und nationale Opfer, die restlose Befreiung der Rheinlande herbeizuführen. In den langen und langwierigen Verhandlungen über den Youngplan und seine Durchführung, die sich vom Frühjahr 1929 bis in den Frühsommer 1930 hinzogen, fand nicht nur das Kabinett Hermann Müller die Aufgabe, die zu lösen es sich vorgesetzt hatte, sondern sie bildeten die Krönung, den Höhepunkt der ganzen bisherigen demokratischen Politik. Aber insofern bildeten sie zugleich den Wendepunkt des Systems. Die nationale Opposition, zwar von der Regierung ausgeschaltet, sammelte aber doch ihre Kräfte nicht nur zum Widerstand, sondern zum Angriff auf das System. Nicht so sehr die Deutschnationale Volkspartei entwickelte sich zum durchschlagenden Faktor. Sie litt an allzuviel Hemmungen, da sie in alten Anschauungen und Vorstellungen wurzelte. Viel mehr der nationale Sozialismus, der weder von bürgerlichen noch marxistischen Ideologien beschwert war, übernahm in der Folgezeit die Führung der nationalen Opposition.

Bei den Unterlegenen des 20. Mai verbreitete sich zunächst eine Art Panikstimmung. Am schlimmsten war die Angst vor einer weiteren Zerrüttung der wirtschaftlichen Grundlagen in den landwirtschaftlichen Kreisen. Die Hoffnung auf Besserung ihrer Lage hatte sich nicht erfüllt, jetzt aber glaubten sie, den sicheren Tod vor Augen zu sehen. In der Tat hatten derartige Befürchtungen eine gewisse Begründung. Man war machtlos gegen die zunehmende Verschuldung. Die Schulden der deutschen Landwirtschaft betrugen an den letzten Tagen der Jahre 1925: 3,2 Milliarden, 1926: 4,3, 1927: 5,7, 1928: 6,8 Milliarden, sie vermehrten sich bis zum 31. Dezember 1929 auf 7,3, bis zur Mitte 1931 auf rund 11,5 Milliarden. Die Konkurse nahmen besonders bei den mittleren und größeren Betrieben zu: Es fanden Zwangsversteigerungen statt vom 1. April 1925 bis 31. März 1926: 1268 mit 9638 Hektar Fläche, 1926–27: 2489 mit 35 944 Hektar, 1927–28: 2403 mit 37 875 Hektar, 1928–1929: 2367 mit 50 432 Hektar! In Ostpreußen wurden [103] 1928: 14 000 Hektar zwangsweise versteigert, bereits im folgenden Jahre war eine zehnmal so große Fläche konkursreif.

  Bombenattentate  

Diese bittere Not und die seelische Depression über die Wahlniederlage im Mai sowie die Aussicht, keine Besserung der Verhältnisse je zu erleben, verleitete einige junge Hitzköpfe, mit Gewalttat und Terror gegen ein System vorzugehen, das mit Steuern, Reparationen und ungenügendem Zollschutz die Landwirtschaft zugrunde richtete. In der Zeit vom November 1928 bis zum November 1929 wurden mehrere Bombenattentate verübt, in Holstein und Niedersachsen, aber auch in Berlin. So wurde Ende November nachts das Haus des Amts- und Gemeindevorstehers in Hollenstädt, Schleswig, angegriffen. In der nächsten Nacht wurde ein Dynamitattentat auf das Auto des Amtsvorstehers in Lunden (Norddithmarschen) verübt. Gleichzeitig fand man in Beidenfleth Bomben vor dem Hause des Amtsvorstehers. In einer der ersten Aprilnächte 1929 explodierten in Wesselburen Handgranaten. Einige Wochen später erfolgte im Landratsamt von Itzehoe eine Explosion; kurz darauf erlebte, ebenfalls nachts, der Schulrat von Hohenwestedt eine Pulverexplosion in seiner Autogarage. Darauf wurde das Wohnhaus des Landrats in Niebüll (Schleswig) Gegenstand eines Angriffs. In Lüneburg wurde die Villa eines Rechtsanwalts in der ersten Augustnacht 1929 Schauplatz eines Attentats. Vier Wochen später unternahm man einen Bombenanschlag gegen das Wohnhaus des Vizepräsidenten Grimpe in Schleswig. Auch das Reichstagsgebäude in Berlin wurde nicht verschont. Hier erfolgte ein Bombenattentat am 1. September. Und schließlich, am 6. November, wurde auch das Regierungsgebäude in Lüneburg attackiert.

Die Attentate vernichteten keine Menschenleben. Sie sollten das Volk aufrütteln aus seiner Lethargie, es sollte das marxistische Joch abschütteln; der Polizei gelang es verhältnismäßig leicht, die Attentäter zu fassen. Sie nahm Massenverhaftungen vor; die Attentäter legten Geständnisse ab, belasteten die nationalsozialistische Partei. Die Nationalsozialisten erklärten, sie hätten nicht das Geringste mit der holsteinischen Landvolkbewegung zu tun. Dennoch wurden im September 1929 [104] bei der Verfolgung der Bombenleger Haussuchungen bei Nationalsozialisten bis nach Ostpreußen hin, in Königsberg und Tilsit, vorgenommen. Ja, man erwog im preußischen Innenministerium die Auflösung der Partei, trotzdem es nicht gelungen war, den geringsten Zusammenhang zwischen den Nationalsozialisten und den Bombenlegern nachzuweisen. Tatsächlich aber wurde Mitte Oktober verschiedenen Nationalsozialisten, die in überfüllten öffentlichen Versammlungen gegen den Youngplan sprechen wollten, das Reden verboten, ja, einige wurden sogar verhaftet! Auch die Rathenaumörder von Salomon und Techow wurden in die Angelegenheit verwickelt.

Zum Bombenattentäterprozeß.
[Bd. 5 S. 128b]   Zum Bombenattentäterprozeß:
Bauernführer Claus Heim. Ankunft in Berlin.

Photo Scherl.
Die Heißsporne hatten nichts mit ihrer Mühe erreicht; sie kamen ins Gefängnis, und dann wurde in Altona der "große Bombenlegerprozeß" gegen die schleswig-holsteinischen Landwirte geführt, der im Oktober 1930 damit endete, daß elf Angeklagte mit rund 50 Jahren Zuchthaus bestraft wurden. Die Rechtspresse fand das Urteil ausgesucht schwer, es vertiefe die Kluft im Volke aufs neue. Die linksdemokratische Vossische Zeitung dagegen meinte, daß das Urteil mit seiner nüchternen Abwägung aller Umstände am besten geeignet sei, eine Epoche des Unverstandes und der Verwirrung abzuschließen, die unverantwortliche Führer angerichtet hätten. Doch schon im Juni 1932 wurden die Verurteilten in Freiheit gesetzt, nachdem im preußischen Landtag ein nationalsozialistischer Amnestieantrag angenommen worden war. –

Doch mit solchen Gewaltmaßnahmen war dem System nicht beizukommen. Viel wichtiger war es, daß die Deutschnationale Volkspartei infolge der Maiwahlen beschloß, das seit 1924 geübte Verfahren der direkten oder indirekten Unterstützung der Regierung aufzugeben und wieder in die unbedingte Opposition zurückzukehren.

Dr. Alfred Hugenberg, Vorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei.
[Bd. 5 S. 32a]   Dr. Alfred Hugenberg, Vorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei.      Photo Scherl.
Man erklärte sich die Unzufriedenheit der Wählerschaft damit, daß man zu sehr der demokratischen Linie gefolgt sei. Infolgedessen trat Graf Westarp, der die Partei im Zeichen positiver Regierungsmitarbeit geführt hatte, zurück, und mit nur fünf Stimmen Mehrheit wählte man am 20. Oktober 1928 den Geheimrat Hugenberg zum Vorsitzenden. In seiner Programmrede am folgenden Tage bezeichnete Hugenberg die Politik Stresemanns als zu eilig, zu unaufrichtig. Sie [105] habe nicht alle Möglichkeiten ausgenutzt. Die entscheidende Frage der deutschen Außenpolitik sei jetzt, ob Deutschland Gefahr laufe, das Schlachtfeld der Welt zu werden. Man müsse mit den zahllosen Fehlern des parlamentarischen Systems, mit den zahllosen und unnützen Kommissionsberatungen ein Ende machen und die auch im Parlament vorhandenen guten Kräfte wieder für gesunde Arbeit einsetzen. Aufgabe der Deutschnationalen Volkspartei sei es, die überparteilichen Kräfte der Wirtschaft und der Wehrverbände zu positiver Mitarbeit an Deutschlands innerer Stärkung anzuregen. Die Verantwortung bestehe nicht darin, daß man Kompromisse mache, sondern daß man die Probleme wirklich meistere.

Hugenberg und
  die Deutschnationalen  

Nun hatte allerdings mit Hugenbergs Wahl eine ganz bestimmte, scharf ausgeprägte Richtung in der Deutschnationalen Volkspartei die Herrschaft erlangt. Hugenberg war Industrieller, und auf die Bauern brauchte man ja weniger Rücksicht zu nehmen, seitdem sie ihre eigenen Vertretungen ins Parlament schickten. Hugenberg war aber ein Vertreter der Plutokratie, wie ihn nur die besten Jahre der untergegangenen Zeiten des Finanzimperialismus hervorbringen konnten. Er herrschte über einen Konzern, der mehr als hundert Millionen Mark Vermögen besaß. Er verfügte über die nationale Presse der Reichshauptstadt, da ihm seit 1916 das umfangreiche Scherlunternehmen gehörte. Er hatte sich durch die Vera-Verlagsgesellschaft Einfluß auf die Provinzpresse erobert. Die große Anzeigen-Aktien-Gesellschaft "Ala" war Hugenberg hörig. Die Telegrafen-Union, nächst Wolff der größte deutsche Nachrichtendienst, war ein Unternehmen Hugenbergs. Die Universal-Film-Aktiengesellschaft (Ufa) schließlich war ebenfalls ein Hugenbergsches Unternehmen. Durch die Macht des Geldes eroberte Hugenberg sich die Diktatur über die nationale Politik. Von den 3000 deutschen Zeitungen wurden mehr als die Hälfte durch die Telegrafen-Union beliefert; diese selbst war ein Riesenunternehmen, das 90 Redakteure, 500–600 festangestellte Beamte und 2000 Mitarbeiter beschäftigte.

Mit einem solchen Apparat finanzieller Macht ausgerüstet bemächtigte sich Hugenberg der Diktatur über die Deutschnationale Partei. Alle vorwärtsdrängenden Kräfte in Bauerntum, [106] Arbeiterschaft, alle nationalen Idealisten, drängte er aus der Partei. Er selbst, ein Mann von 63 Jahren, hatte keine seelischen Beziehungen zur ringenden Generation des nationalen Sozialismus. Die Partei war eine Partei des Besitzes, des Materialismus geworden, in der sich alle die sammelten, die mit der neuen Zeit nichts anzufangen wußten: alte Generäle, pensionierte Pfarrer, Geheimrätinnen, studierte Frauen alten Stiles, die, wiewohl sie nie das Glück hatten, Mütter zu werden, sich anmaßten, tausendmal besser als alle Mütter und Frauen Bescheid zu wissen über die einschlägigen Fragen. Mit einem Wort: die deutschnationale Volkspartei sank zu einem Instrument Hugenbergs herab, aber Hugenberg selbst verkörperte die Reaktion in der nationalen Bewegung: er war kein nationaler Sozialist, sondern ein Klassenkämpfer für den Besitz.

  Hugenberg an Amerika  

So war denn die ganze Kraft Hugenbergs gegen die sozialdemokratische Regierungstätigkeit gerichtet. Und darin lag die Begründung Hugenbergscher Politik, er setzte dem Klassenkampf der Marxisten den Klassenkampf des Besitzes entgegen. Aber das war doch nur negativ und konnte schließlich nichts Neues aufbauen, konnte die Entwicklung nicht fördern. Die Aufrollung der Reparationsfrage im Frühjahr 1929 ließ Hugenberg die Möglichkeit erkennen, sich als nationale Opposition in den großen Gang des Weltgeschehens einzureihen. So begann der Diktator der Deutschnationalen Volkspartei seinen Kampf gegen die von der Regierung Müller in Paris neu begonnenen Reparationsverhandlungen mit einem längeren Schreiben, das er am 5. März an etwa 3000 amerikanische Wirtschaftsführer, Politiker und Beamte versandte. Auf diese Weise wollte er die Amerikaner beeinflussen, eine Atmosphäre zu schaffen, die in Paris das Gegengewicht gegen die allzugroße Willfährigkeit der deutschen Vertreter bilden sollte. Erreicht hat er allerdings nichts. Das Schreiben hatte folgenden Wortlaut:

      "Die augenblicklichen Diskussionen über die definitive Regelung der Frage der Tribute, die Deutschland zahlen soll, geben einer Anzahl prominenter amerikanischer Persönlichkeiten ausgezeichnete Gelegenheit, ihren gewichtigen Einfluß für eine endgültige Befriedung Europas und damit der ganzen Welt in die [107] Wagschale zu werfen. Diese Befriedung ist jedoch unerreichbar, solange eine definitive Regelung nicht in Übereinstimmung gebracht wird mit den Gesetzen der Vernunft und der Gerechtigkeit und solange sie nicht auf Deutschlands Zahlungsfähigkeit abgestellt wird. Sie kann nicht erreicht werden, wenn Deutschland nicht die Position behaupten kann, durch die es instand gesetzt wird, Wächter der Kultur in dem Sinne zu bleiben, in dem die Kultur von den Vereinigten Staaten, die uns unsern Anteil am gemeinsamen Streben nicht mißgönnen, behütet wird.
      Die Feinde des deutschen Volkes außerhalb und innerhalb unserer Grenzen bestehen darauf, daß Deutschland und hauptsächlich der konservative Teil seiner Bevölkerung, dem im allgemeinen die vage Bezeichnung der "Reaktionäre" gegeben wird, verantwortlich für den Kriegsausbruch war. Das Werk jener berühmten Historiker jedoch, die ihre Arbeit der Aufhellung dieser Frage widmeten – von denen die amerikanischen Professoren Fay, Burgess, Barnes an erster Stelle erwähnt zu werden verdienen –, und umfangreiches dokumentarisches Archivmaterial, das bisher veröffentlicht wurde, haben die Wahrheit der Worte bewiesen, die Hindenburg auf dem Tannenberger Schlachtfeld sprach: "Wir traten reinen Herzens in den Krieg ein und benutzten unser Schwert mit reinen Händen." Noch viel weniger hegt die Deutschnationale Volkspartei am gegenwärtigen Tag den Gedanken eines Angriffskrieges, der in der Tat bedeutungslos sein würde angesichts unserer Abrüstung. Deswegen müssen wir aber nicht ohne Protest uns der Vernichtung unseres guten Namens durch den Schimpf, allein verantwortlich für den Krieg gewesen zu sein, unterwerfen.
      Die Deutschnationale Volkspartei erkennt durchaus den hohen Wert der Bemühungen des Staatssekretärs Kellogg an, die Ächtung des Krieges durch einen Pakt, der alle Nationen vereinigt, herbeizuführen. Wir sympathisieren mit diesen Bemühungen. Die Tatsache, daß wir trotzdem beschlossen, Deutschlands Beitritt im Reichstag abzulehnen, resultiert aus der Unmöglichkeit, freiwillig den untragbaren status quo anzuerkennen, der durch den Versailler Vertrag geschaffen wird. Dieser Vertrag beraubte Deutschland seiner Souveränität und soll Deutschland auf den Status einer bloßen Kolonie für die [108] Alliierten herabdrücken. Wir warten auf den gerechten Frieden, der Deutschland wirkliche Gleichberechtigung unter den Völkern gibt. Wir wünschen, daß das Selbstbestimmungsrecht vom Präsidenten Wilson für alle Nationen verkündet, auch für Deutschland Gültigkeit habe. Jeder neue Vertrag, der auf dem status quo aufgebaut ist, muß aber die moralische Unterstützung des Versailler Vertrages darstellen. Wir haben keine Absicht, Krieg zu führen, aber wir wünschen unseren Teil an Recht und Freiheit.
      Ohne fremde Hilfe ist Deutschland außerstande, die Lasten der Zahlungen, die bisher geleistet wurden, zu tragen. Tatsächlich konnten die Zahlungen deutscher Tribute nur durch Anleihen, die Deutschland hauptsächlich von Amerika gewährt wurden, aufgebracht werden. Deutschland ist seit dem Dawesabkommen nicht imstande gewesen, irgendwelchen Betrag aus eigenen Mitteln zu zahlen. Die Amerikaner zahlen deswegen in Wirklichkeit die Tributlasten, die Deutschland aufgezwungen wurden. Die Amerikaner sind es, die – zweifellos im guten Glauben, aber nichtsdestoweniger tatsächlich – den französischen Militarismus finanzieren und England die Mittel liefern, seine Kriegsschiffe zu bauen. Die Amerikaner sind es auch, die dem deutschen Marxismus die Mittel für die sozialdemokratischen Experimente in Verwaltung und Wirtschaft liefern. Deutschland verliert allmählich durch die Tribute, die es durch Anleihen zahlt, seine finanzielle Substanz. Es ist eine absolute Lüge, zu behaupten, daß Deutschlands Prosperität zunimmt, ebenso wie es eine absolute Lüge ist, Deutschland für zahlungsfähig zu erklären. Die akkumulierende Last seiner Schulden muß zerstörend auf gerade diese Anleihen und auf Deutschlands Währung wirken. Es ist daher – auch in bezug auf das in Deutschland investierte Kapital – nicht im Interesse der Vereinigten Staaten, eine Reparationsregelung zu begünstigen, die Deutschlands Zahlungsfähigkeit übersteigt. Die Deutschnationale Volkspartei wünscht eine verständige und gerechte Lösung des Tributproblems und der Fragen, die damit zusammenhängen. Die Revision, die endgültig sein soll, muß innerhalb der Grundsätze bleiben, die Präsident Wilson in seinen vierzehn Punkten proklamierte und auf deren Grund- [109] lage das deutsche Volk seine Waffen niederlegte. Sie muß notwendigerweise auf Deutschlands wirtschaftliche Leistungsfähigkeit basiert sein und muß gewissenhaft in Rechnung setzen, was Deutschland bereits seinen Gläubigern gezahlt hat. Nur eine gerechte Endlösung wird Deutschland in den Stand setzen, die Aufgaben zu erfüllen, die ihm durch die geographische Lage aufgezwungen wurden, nämlich den Schutz der zivilisierten Welt vor dem Bolschewismus – eine Aufgabe, zu deren Erfüllung die kultivierten und fortschrittlichen Elemente der ganzen Welt wirklich einhellig beitragen sollten. Wenn Deutschland durch unverständliche Politik und durch untragbare Lasten in Verzweiflung getrieben wird, wird es ebenfalls in die Arme des Bolschewismus getrieben. Nur dann und nicht vorher wird Deutschland wahrscheinlich eine Gefahr für die ganze Welt werden.
      Die Deutschnationale Volkspartei hält den Gedanken des Privateigentums aufrecht als Basis jeder Art staatlichen Lebens. Sie lehnt daher ab, mit dem Sozialismus ein Kompromiß zu schließen. Sie weigert sich auch aus dem gleichen Grunde, als einzige große Partei Deutschlands, die Regierung mit Sozialdemokraten zu teilen. Daher ist es nur durch die Hilfe anderer Parteien möglich, daß die Sozialdemokratie sich ihre marxistischen Regierungsexperimente leisten kann. Der Sozialismus ist der erste Schritt zum Bolschewismus. Deswegen stellt die Deutschnationale Volkspartei das einzige Bollwerk gegen das Chaos dar. Unsere besondere Sache ist ebenso die Sache aller derjenigen Mitglieder jedes Volkes, die wünschen, das Chaos zu bekämpfen. Wenn durch unverständige Lösung der Tributfrage der Kampf vereitelt wird, wird ein gewaltsamer Einbruch des Chaos in Deutschland und Europa die Folge sein, und dieses Ereignis könnte die ganze zivilisierte Welt gefährden, denn der Bolschewismus und der Sozialismus sind nicht besondere Produkte Rußlands, sondern eine seelische Krankheit der industriellen Menschheit, die wie die Grippe über die Ozeane rasen kann. Unsere Sache ist die Ihre." –

Mitte Juni fielen die Würfel in Paris. Es war nun klar, daß das deutsche Volk auf zwei Generationen hinaus unter das Tributjoch gebeugt werden sollte. Das war das letzte Wort der [110] Wirtschaftsführer, und den Staatsmännern blieb nur noch übrig, ihre Zustimmung auszudrücken. Es waren da noch verschiedene Formalitäten nötig, denn die Umwandlung eines bisher politischen Problems in ein rein wirtschaftliches verlangte einige Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Staaten und der Weltwirtschaft. Aber gerade an diesem Punkte kamen die verschieden gerichteten Bewegungen des deutschen Volkes in Fluß, Energien prallten aufeinander, Machtfaktoren rieben sich schwer aneinander wie knirschende Mühlsteine.

  Kampf gegen den Youngplan  

Nicht nur die nationale Opposition, die sich in gewaltigen Kundgebungen gegen den Youngplan erging, erhob ihre Stimme, die strikte Ablehnung forderte. Auch das Zentrum erhob Bedenken. Dr. Kaas schrieb am 10. Juli Dr. Wirth, daß eine dauernde Kontrolle des Rheinlandes durch Frankreich nach aufgehobener Besetzung für das Zentrum infolge seiner innigen Verbundenheit mit den westdeutschen Gebieten unannehmbar sei. Wirth erwiderte, nach Locarno und Deutschlands Eintritt in den Völkerbund würde die "Feststellungs- und Vergleichskommission", welche die französische Presse fordere, als ständige Einrichtung ein stärkster Einbruch in die moralische Autorität des Völkerbundes sein. Die Erfüllung seiner Aufgabe der Friedenssicherung könne dadurch gefährdet werden. Das abgerüstete Deutschland, das auf die Entwicklung des Rechts und die Völkergemeinschaft vertraue, könne unmöglich diesen Sprung vom sicheren Boden der Rechtsordnung des Völkerbundes in den unsicheren Strudel von Regelungen machen, die in schwierigen Zeiten, da der innere Ausgleich fehle, die Belastungsprobe nicht bestehen würden. Deutschland könne nicht zu seiner Wehrlosigkeit noch seine Rechtlosigkeit fügen. Eine Dauerkommission über die Rheinlande sei indes, wenngleich in gleißender Verbrämung, ein Schlag gegen Deutschlands Recht, der dem Ruhreinbruch verglichen werden könnte, und ein Rückschritt in der ganzen friedlichen Entwicklung. Daß überdies eine solche französische Forderung zu den von Frankreich zu bietenden Gegenleistungen in groteskem Mißverhältnis stehen würde, springe in die Augen. Um des Rechts und des Friedens willen werde eine Forderung, die eine Dauerkontrolle für die Rheinlande verlange, allerschärfste Ablehnung von sei- [111] ten Deutschlands finden. – Im Haag kam es aber zu einem Vergleich, der diese Worte Wirths ganz erheblich einschränkte. Darüber ist im 4. Bande der Geschichte unserer Zeit berichtet.

Hugenberg aber war entschlossen, die stärkste legale Waffe gegen die Annahme des Youngplanes ins Feld zu führen, er bereitete einen Volksentscheid vor. Es ist das erstemal in der Geschichte der deutschen Republik, daß die nationale Opposition sich des in der Reichsverfassung gewährten Mittels der Volksgesetzgebung bediente. In gewaltigen und unzähligen Versammlungen wurde hierfür Propaganda gemacht und Hugenberg war seines Erfolges gewiß. Er versicherte sich gleichgesinnter Bundesgenossen, der nationalsozialistischen Partei, der Christlich-nationalen Bauernpartei und des Landbundes. Sie alle vier hatten bei der Maiwahl sechs Millionen Stimmen auf sich vereinigt. Auch der Stahlhelm hatte sich dafür erklärt, er bildete gleichsam den interparteilichen Kitt der betreffenden Parteien. Ein Reichsausschuß für das deutsche Volksbegehren wurde gebildet, worin Hugenberg, Hitler und Seldte die Führung hatten. Als die Vorarbeiten beendet waren, gab der Reichsausschuß am 11. September folgende Erklärung heraus:

Volksbegehren
  und Volksentscheid  
gegen Youngplan

      "Die Vorbereitungen für das Volksbegehren gegen die Versklavung des Deutschen Volkes sind abgeschlossen. Dem Volksbegehren ist ein Gesetzentwurf zu Grunde gelegt, der grundsätzliche außenpolitische Forderungen enthält.
      Die außenpolitischen Forderungen des Reichsausschusses fußten auf der Tatsache, daß Deutschland nicht die Schuld am Kriege trägt. Die Anerkennung dieser Tatsache durch die Mächte, die das Diktat von Versailles unterzeichnet haben, kann und wird erreicht werden. Die Befreiung Deutschlands von dem Vorwurf der Kriegsschuld muß die Grundlage der deutschen Außenpolitik sein.
      Auf diesem Grundgesetz bauen sich folgende außenpolitische Ziele auf:
      Es gilt, unter Abkehr von den bisher geübten Verfahren eine Regelung der Reparationsfrage zu erreichen, die unter voller Anrechnung aller von Deutschland bereits durchgeführten Leistungen im Einklang mit der tatsächlichen deutschen Leistungsfähigkeit steht.
      [112] Voraussetzung für eine wirkliche "Liquidierung des Krieges" ist die Anerkennung der deutschen Lebensnotwendigkeiten. Zu ihnen gehört die Wiederherstellung des für das deutsche Volk lebensnotwendigen Raumes. Dies bedeutet, daß insbesondere Rheinland und Saargebiet, befreit von allen die Souveränität irgendwie beeinträchtigenden Sonderbestimmungen, unbelastet zum Reiche kommen. Zu den deutschen Lebensnotwendigkeiten gehört ferner der selbst in Versailles vorgesehene Rüstungsausgleich zwischen dem entwaffneten Deutschland und den zur See, zu Lande und in der Luftwaffe aufgerüsteten europäischen Mächten.
      Als erster Schritt zur Erreichung dieser außenpolitischen Ziele soll das mit dem Gesetzentwurf näher gekennzeichnete Volksbegehren dienen. Die dem Reichsausschuß angeschlossenen Parteien werden gleichzeitig im Reichstage bei der Beratung der für die Haager Vereinbarungen notwendigen Gesetze die Aussetzung der Verkündung dieser Gesetze beantragen. Sie kann mit einem Drittel der Reichstagsstimmen beschlossen werden.
      Neben dieser auf Artikel 72 gestützten Maßnahme wird der Reichsausschuß dem Reichsminister des Innern den für das Volksbegehren ausgearbeiteten selbständigen Gesetzentwurf einreichen. Dieser Gesetzentwurf mußte in Form und Inhalt die augenblickliche völkerrechtliche Lage Deutschlands berücksichtigen und sich den staatsrechtlichen Bestimmungen über ein Volksbegehren anpassen. Der Gesetzentwurf ist die Einleitung zu der vom Reichsausschuß für das deutsche Volksbegehren erstrebten völligen Umstellung der deutschen Außenpolitik. Er hat folgenden Wortlaut:
      § 1: Die Reichsregierung hat den auswärtigen Mächten unverzüglich in feierlicher Form Kenntnis davon zu geben, daß das erzwungene Kriegsschuldanerkenntnis des Versailler Vertrages der geschichtlichen Wahrheit widerspricht, auf falschen Voraussetzungen beruht und völkerrechtlich unverbindlich ist.
      § 2: Die Reichsregierung hat darauf hinzuwirken, daß das Kriegsschuldanerkenntnis des Artikel 231 sowie die Art. 429 und 430 des Versailler Vertrages förmlich außer Kraft gesetzt werden. Sie hat ferner darauf hinzuwirken, daß die besetzten [112] Gebiete nunmehr unverzüglich und bedingungslos sowie unter Ausschluß jeder Kontrolle über deutsches Gebiet geräumt werden, unabhängig von Annahme oder Ablehnung der Beschlüsse der Haager Konferenz.
      § 3: Auswärtigen Mächten gegenüber dürfen neue Lasten und Verpflichtungen nicht übernommen werden, die auf dem Kriegsschuldanerkenntnis beruhen. Hierunter fallen auch die Lasten und Verpflichtungen, die auf Grund der Vorschläge der Pariser Sachverständigen und nach den daraus hervorgehenden Vereinbarungen von Deutschland übernommen werden sollen.
      § 4: Reichskanzler und Reichsminister sowie Bevollmächtigte des deutschen Reiches, die entgegen der Vorschrift des § 3 Verträge mit auswärtigen Mächten zeichnen, unterliegen den im § 92, 3. St.G.B. vorgesehenen Strafen.
      § 5: Dieses Gesetz tritt mit seiner Verkündung in Kraft."

Nachdem Ende September Hugenberg und Seldte beim Reichsinnenminister Severing den Zulassungsantrag zum Volksbegehren gestellt hatten, entbrannte sofort der Kampf der gegeneinander gerichteten Gewalten. Es zeigte sich zunächst, daß die Deutsche Volkspartei in schroffster Weise das Volksbegehren bekämpfte. Der Reichsausschuß dieser Partei erließ am letzten Septembertage einen Aufruf, worin er etwa folgendes erklärte: Das ganze Volk lehne die Kriegsschuldlüge ab, mit seiner diesbezüglichen Forderung renne Hugenberg also offene Türen ein. Der Youngplan bringe die endliche Befreiung Deutschlands von fremder Besatzung und schaffe das jedem deutschen Gefühl unerträgliche Kontrollsystem ab. Das sei Stresemanns Verdienst.

      "Die Urheber des Volksbegehrens treiben ein frivoles Spiel mit den heiligsten nationalen Empfindungen und der wirtschaftlichen Not des deutschen Volkes. Der Reichsausschuß erwartet von den Mitgliedern der deutschen Volkspartei, daß sie das ihrige tun, um das Volk über den wahren Sinn des Volksbegehrens in seiner nunmehrigen Gestalt aufzuklären, damit es das Spiel durchschaut und ihm ein Ende bereitet."

Allerdings bestand innerhalb der Deutschen Volkspartei keine absolute Einigkeit in der Auffassung. Besonders nach dem Tode Stresemanns am 3. Oktober machten sich in allen Teilen des Reiches Stimmen der Jungvolksparteiler be- [114] merkbar, die eine Unterstützung des Volksbegehrens forderten und zur Gründung einer Partei der nationalen Mitte aufforderten. Aber noch stand die Politik Stresemanns trennend zwischen der Deutschen Volkspartei und der nationalen Opposition.

Kampf der Regierungen
  gegen das Volksbegehren  

Am nachdrücklichsten jedoch setzte der Kampf gegen die nationale Aktion von der Seite der Regierung her ein. Das war ganz natürlich, denn das herrschende System witterte von dieser Seite eine gefährliche Bedrohung seines Werkes, ja seiner Existenz überhaupt! Alle Mittel wurden angewendet, um das Vorgehen Hugenbergs scheitern zu lassen. Die Reichsregierung ließ sich die Bekämpfung des Volksbegehrens trotz aller finanziellen Nöte eine drittel Million Mark kosten! Der preußische Innenminister Grzesinski löste mit ausdrücklicher Zustimmung von Severing und Curtius am 9. Oktober auf Grund des Gesetzes, das am 22. März 1921 zur Ausführung der militärischen Bestimmungen des Friedensvertrages erlassen worden war, den Stahlhelm und die ihm angeschlossenen Organisationen in Rheinland und Westfalen auf. Man habe diese staatsgefährliche Organisation schon viel zu lange geduldet! Man hielt bei den Führern Haussuchungen ab, nahm ihnen die Unterlagen für das Volksbegehren weg, sperrte ihre Postscheckkonten. Ein Einspruch der Betroffenen war erfolglos. Auch der preußische Staatsrat stellte sich zwei Monate später auf die Seite der Regierung und lehnte eine Aufhebung des Verbotes ab.

Obwohl es nicht gestattet war, den Rundfunk für politische Propagandazwecke zu benutzen, hielten doch jetzt in ihm Minister, so Severing, Reden gegen das Volksbegehren. Die Beamten ließ die preußische Regierung und der Reichsinnenminister Severing wissen, daß sie jeden Staats- oder Reichsbeamten, der sich zum Volksbegehren einzeichne, disziplinarisch verfolgen und seines Amtes entheben würden. Das war ein Terror, der offensichtlich die in der Reichsverfassung gewährte Freiheit verletzte. In der Tat wurden Beamte aus diesem Anlaß gemaßregelt. So wurde in Düsseldorf ein Regierungsrat Bierbach seines Amtes enthoben, weil er einen Aufruf für das Volksbegehren mit unterzeichnet hatte. Aus dem gleichen Grunde wurde gegen einen Regierungsrat Fabricius vom Lan- [115] desfinanzamt Brandenburg das Dienststrafverfahren eröffnet. Sozialdemokratische Zeitungen, wie die Schleswig-Holsteinische Volkszeitung in Neumünster, scheuten nicht davor zurück, Namen von Beamten öffentlich abzudrucken, die sich in die Volksbegehrensliste eingezeichnet hatten.

Mit rücksichtslosem Terror wurde versucht, die nationale Bewegung im Keime zu ersticken. Der Reichsausschuß für das Volksbegehren fragte deshalb beim Reichsinnenminister Severing an, wie sich die Beamten zum Volksbegehren zu verhalten hätten. Darauf antwortete dieser am 16. Oktober:

      "Die Reichsregierung ist bereit, die verfassungsmäßigen Rechte der Beamtenschaft vor jeder unzulässigen Beeinträchtigung zu bewahren. Nach der Rechtsprechung des Reichsdisziplinarhofes muß sich jedoch auch der Beamte bei der Ausübung seiner staatsbürgerlichen Rechte innerhalb des gebotenen Anstandes und insbesondere der Strafgesetze halten. § 4 des Volksbegehrens überschreitet diese Grenze. Indem er die Tätigkeit von Reichspräsident und Reichsregierung als Landesverrat zu brandmarken sucht, einhält er eine Beschimpfung der höchsten Organe des Reiches. Die erdrückende Mehrheit der deutschen Beamtenschaft teilt übrigens die Rechtsüberzeugung der Reichsregierung, wie sich aus den dankenswerten Aufrufen der Beamtenorganisation ergibt. Die Reichsregierung ist nicht in der Lage und nicht gewillt, Beamte, die durch Eintreten für diesen § 4 des Volksbegehrens die verfassungsmäßige Grenze überschreiten, vor disziplinarischem Einschreiten der zuständigen Behörden zu schützen."

Daraufhin klagte Hugenberg beim Staatsgerichtshof des Deutschen Reiches, und endlich nach zwei Monaten, am 19. Dezember, fällte der Staatsgerichtshof folgenden Spruch:

      "Die im Artikel 130, Absatz 2, der Reichsverfassung den Beamten gewährleistete Freiheit ihrer politischen Gesinnung umfaßt das Recht, sich bei einem zugelassenen Volksbegehren ohne Rücksicht auf den Inhalt einzutragen und beim Volksentscheid abzustimmen. Die weitergehenden Anträge werden abgewiesen."

Damit hatte die nationale Opposition einen, wenn auch bescheidenen Erfolg gegen die herrschende Regierung errungen.

Besonders der vierte Paragraph, der "Zuchthausparagraph", [116] wurde heftig bekämpft. Selbst in den Reihen der eigenen Anhänger stieß er auf Widerspruch, so bei der Christlich-nationalen Bauern- und Landvolkbewegung, und der Kampf gegen § 4 war überhaupt der Hauptkampf für alle Gegner des Volksbegehrens. Es gelang, auch ein Urteil des Reichspräsidenten von Hindenburg über diesen Paragraphen zu erwirken. Am 18. Oktober ersuchte Hindenburg den Reichskanzler, dem Reichskabinett mitzuteilen, daß er den Paragraphen 4, welcher Reichskanzler und Reichsminister, die den Youngplan oder ähnliche Verträge abschließen, unter Anklage des Landesverrates stellt, als unsachlichen und persönlichen politischen Angriff bedauere und verurteile. –

Auch die hessische Landesregierung wandte sich in einem Aufruf gegen das Volksbegehren. Hessen sei durch die feindliche Besetzung besonders hart getroffen. Durch die Annahme des Youngplans sei die Möglichkeit gegeben, daß die fremden Truppen bis zur Mitte des nächsten Jahres das Land verlassen. Man solle diese Aussicht nicht durch Beteiligung am Volksbegehren zerstören.

Mit derartigen Schwierigkeiten hatte die nationale Opposition zu kämpfen. In der Zeit vom 16. bis 29. Oktober wurden die Listen ausgelegt, und es gelang mit dem nötigen Nachdruck durch Flugblätter und Versammlungen mehr als 4,1 Millionen gültige Einzeichnungen zusammenzubringen. Das waren mehr als 10 Prozent der Stimmberechtigten, und nun mußte nach der Verfassung der Volksentscheid folgen.

Die Reichsregierung war aber zugleich verpflichtet, nun das zum Volksentscheid stehende Gesetz vor der Ansetzung des Volksentscheids im Reichstage einzubringen. Das geschah am 25. November. Gleichzeitig aber formulierte die Regierung ihre Stellung zum Freiheitsgesetz, daß sie "mit aller Entschiedenheit gegen die Annahme des Gesetzentwurfs" sei. Sie begründete das insbesondere mit dem verfassungsändernden Charakter des Gesetzentwurfs und damit, daß er Eingriffe der Gesetzgebung in die auswärtige Politik enthalte (Vgl. Band IV, S. 319).

Am 29. und 30. November wurde das Freiheitsgesetz im Reichstag verhandelt. Unter den 491 Mitgliedern des Reichstages waren nur 98, die den Gruppen und Parteien des Volks- [117] begehrens angehörten. Es war vorauszusehen, daß der Entwurf durchfallen würde. Es waren bei der Abstimmung am 29. November 405 Abgeordnete anwesend, unter ihnen nur 82, die für das Gesetz eintraten. Zunächst hielt Curtius eine lange Rede, die eine matte und schwächliche Polemik darstellte. Den § 4 bezeichnete er als den Gipfel der Demagogie. In den übrigen Rednern gegen das Gesetz sprach allzuoft unverhohlener Haß. Besonders der Abgeordnete von Kardorff von der Deutschen Volkspartei sprach Worte, die eine tiefe Kluft zwischen rechts und links aufrissen. Das Volksbegehren richte sich in erster Linie gegen den verstorbenen Außenminister Stresemann, deswegen sei die Deutsche Volkspartei grundsätzlich dagegen. Es sei durchaus berechtigt, daß auch spätere Generationen einen Teil mittragen von den unerhörten Kriegslasten, die die heutige Generation übernehmen mußte. Durch den vierten Paragraphen fühlte sich Kardorff aufs tiefste gekränkt und verletzt. Hugenberg habe es durch seine Aktion unmöglich gemacht, daß sich in den nächsten Jahren eine bürgerliche Einheitsfront gegen den Marxismus bilden könne. Der Deutschnationale Dr. Oberfohren bezeichnete es als eine Infamie, diejenigen als Verbrecher zu bezeichnen, die sich als Träger des nationalen Befreiungswillens bekannt hätten. Der Kampf müsse gegen den Youngplan geführt werden, weil er die deutsche Wirtschaft zerschlage, weil er Deutschland zur unselbständigen Arbeitsprovinz herabdrücke. Der Nationalsozialist Feder wetterte, diejenigen, die den Youngplan annähmen, müßten aufgehängt werden. – Das Gesetz wurde bereits nach der zweiten Lesung am 30. November endgültig abgelehnt, so daß eine dritte Lesung nicht mehr vorgenommen wurde.

Länderwahlen
  in Sachsen und Baden  

Unabhängig von der Aktion des Volksbegehrens hatte bereits der Kampf gegen den Youngplan dem nationalen Flügel erhebliche Erfolge gebracht. Dabei zeigte sich ohne Zweifel, daß die Seele der nationalen Volksteile mehr zu den fortschrittlichen Nationalsozialisten als zu den rückschrittlichen Deutschnationalen hinneigte. Es offenbarte sich, mit anderen Worten, großen Teilen des Volkes, daß die Freiheit und Zukunft Deutschlands nicht in der Linie des Klassenkampfes der Besit- [118] zenden gegen den Klassenkampf der Marxisten lag, sondern in der Überwindung aller bourgeoisen und proletarischen Ideologien. So kam es, daß bei den Wahlen zum sächsischen Landtag am 12. Mai und zum badischen Landtag am 27. Oktober die Nationalsozialisten ganz unerwartete Erfolge erzielten, die Deutschnationalen weiter erhebliche Verluste in Kauf nehmen mußten.

Das Ergebnis der Landtagswahlen in Sachsen und Baden war folgendes:

Sachsen
1929         1926         Mandate
N.S.D.A.P. 133 787 37 725     5 2  
Deutschnationale Volkspartei         218 363 343 153 8 13  
Landvolk 140 522 –     5 –  
Christlich-soziale Reichspartei –     –     –  
Evangelischer Volksdienst –     –     –  
Volksrechtspartei 70 092 98 479 3 4  
Wirtschafts-Partei 304 353 237 626 11 10  
Deutsche Volkspartei 363 417 292 085 13 12  
Zentrum 25 440 24 089
Demokraten 115 097 111 467 4 5  
Sozialdemokratische Partei 922 118 768 005 33 31  
Alte Sozialdemokraten 39 625 97 885 2 4  
Kommunisten 345 817 342 382 12 14  
Linke Kommunisten 22 594 –     0 –  
 
Baden
1929         1926         Mandate
N.S.D.A.P. 65 106 8 917 6 0  
Deutschnationale Volkspartei 34 081 93 750 3 9  
Landvolk 28 141 –     3 –  
Christlich-soziale Reichspartei 5 105 –     0 –  
Evangelischer Volksdienst 35 328 –     3 –  
Volksrechtspartei 6 803 4 176 0 0  
Wirtschafts-Partei 35 613 22 856 3 2  
Deutsche Volkspartei 74 318 72 887 7 7  
Zentrum 341 860 283 413 34 28  
Demokraten 62 335 66 652 6 6  
[119] Sozialdemokratische Partei 187 290 160 498 18 16  
Alte Sozialdemokraten –     –     –  
Kommunisten 55 169 47 343 5 4  
Linke Kommunisten 1 530 –     0 –  

Diese Wahlen waren in mehrfacher Beziehung bemerkenswert. Zunächst ließen sie einen Rückgang der marxistischen Parteien erkennen, in Sachsen von 51,35 auf 49,21 Prozent, in Baden von 27,33 auf 26,16 Prozent. Die Sozialdemokratie hatte in folgender Weise an diesem Rückgang teil: in Sachsen ging sie von 36,8 auf 35,6, in Baden von 21,1 auf 20,1 Prozent zurück. Dagegen konnten die Parteien, die sich zum Volksbegehren vereinigt hatten, eine Zunahme verzeichnen, in Sachsen von 16,2 auf 18,24, in Baden von 13,5 auf 13,65 Prozent. Aber das wichtigste war doch die überraschende Zunahme der Nationalsozialisten. Sie vermehrten sich in Sachsen von 1,6 auf 4,95, in Baden gar von 1,18 auf 6,98 Prozent.

Das Entscheidende war nun das folgende. In Sachsen war das Erstarken der Nationalsozialisten nicht so sehr auf Kosten der Deutschnationalen Volkspartei erfolgt. Die Schwächung dieser Partei wurde lediglich durch die Absplitterung des Landvolkes bedingt. Aber in Baden, wo 1925 die Deutschnationalen und Landbund noch über 12,32 Prozent verfügten, waren beide 1929 auf 6,67 Prozent gesunken! Der Verlust betrug 5,65 Prozent, dem ein nationalsozialistischer Gewinn von 5,80 Prozent gegenüberstand. Es war also erwiesen, daß fast die Hälfte der Deutschnationalen ins Lager der Nationalsozialisten abgewandert war. Hugenberg hatte also mit seinem Klassenkampf für den Besitz die beste Werbung für Hitler gemacht; er hatte einen großen Teil der deutschnationalen Arbeitnehmer ins Lager der Nationalsozialisten gedrängt.

Darüber erhob sich ein großer Schrecken bei den deutschnationalen Gegnern Hugenbergs, die mit den alldeutschen Bestrebungen ihres Führers nicht einverstanden waren, anderseits aber aus einer gewissen inneren bürgerlichen Gebundenheit heraus im Nationalsozialismus marxistische Triebkräfte fürchteten und ihn daher ablehnten. Unter dem erschütternden Eindruck dieser Wahlen und den daraus abgeleiteten Erwägungen schrieb der deutschnationale Reichstagsabgeordnete Treviranus [120] am 1. November an einen Parteifreund in Bremen einen Brief, der etwa folgendes enthielt:

"...Der Zusammenhang zwischen dem badischen Wahlausgang und dem Scheitern der Volksbegehrenshoffnungen hat unter der Oberfläche eine wahre Revolution hervorgerufen. Aus den Kreisen der Beamten, der Industrie, der gesamten Angestellten (D.H.V.) wird eine Loslösung von der Partei verlangt, weil die alte Firma nicht mehr erneuerungsfähig sei. Die Konkordatsabstimmungen im Preußischen Landtag haben zweifellos den katholischen Volksteil abgeschreckt. Die psychologische Einstellung Hugenbergs nach der Seite der Nationalsozialisten ist vielen Gutmeinenden eine unerträgliche Belastung. Es erscheinen hier in den letzten Tagen Freunde aus dem Lande in Scharen, die zu einem sofortigen Schritt drängen."

Treviranus kündigt dann für Ende November die Gründung einer neuen Partei an für fortschrittliche konservative Politik, wofür er Deutschnationale, einen Teil der Deutschen Volkspartei, der durch den Tod Stresemanns von parteipolitischen Bindungen freigemacht worden sei, gewinnen will.

      "Das Zentrum wartet – dafür kann ich mich verbürgen, nur auf die Klärung in der Rechten, um den Bruch mit den Sozialdemokraten aufzunehmen und eine durchgreifende Reichs- und Finanzreform mit uns im Bunde durchzuführen."

Die Person Hugenbergs und die Tendenz der Alldeutschen gelte jetzt noch, wie beim Reichspräsidenten, als unübersteigliches Hindernis.

Absplitterungen von
  den Deutschnationalen  

So begann die innere Zersetzung in der Deutschnationalen Volkspartei, die nun nicht mehr, wie zur Zeit des Dawesplanes 1924, aufzuhalten war. Hugenberg beantragte zwar das Ausschlußverfahren gegen Treviranus, aber schon am 3. Dezember erklärten die Abgeordneten Hülser, Hartwig, Dr. Klönne, Lejeune-Jung und Treviranus ihren Austritt. Es waren in der Hauptsache Arbeitnehmervertreter, die dem schon vorher gemaßregelten Lambach folgten. Die ausscheidenden Deutschnationalen begründeten ihren Schritt in öffentlichen Erklärungen, die etwa folgendes enthielten: Hugenberg regiere mit den halbmarxistischen Nationalsozialisten gegen alle übrigen bürgerlichen Kreise des Volkes, gegen den Reichspräsidenten, gegen die Vernunft. Hugenberg habe das ganze Regime der Partei [121] auf die Diktatur gestellt. Lambach insbesondere warf Hugenberg vor, er habe die Gewerkschaften vor den Kopf gestoßen mit seinem Kampfe gegen die Sozialpolitik, vor allem mit seinem Brief nach Amerika; bei der Konkordatsabstimmung habe er einen Gewissenszwang ausgeübt; seine Presse- und Filmpolitik habe die evangelischen Volkskreise abgestoßen, und schließlich habe der Zuchthausparagraph des Volksbegehrens große Ärgernis erregt.

Schon am folgenden Tage traten sechs weitere Abgeordnete aus der deutschnationalen Reichstagsfraktion aus: von Lindeiner-Wildau, Schlange-Schöningen, von Keudell, Mumm, Hoetzsch und Behrens. Darauf legte Graf Westarp den Vorsitz der Fraktion nieder, sein Nachfolger wurde am 12. Dezember Dr. Oberfohren. Auch aus der preußischen Landtagsfraktion traten Kliesch und Meyer-Herford aus.

Als nun, mit dem Ziele, eine fraktionelle deutschnationale Arbeitsgemeinschaft mit den andern ausgeschiedenen Abgeordneten einzugehen, Hülser, Hartwig, Behrens, Mumm und Lambach am 5. Dezember zur Christlich-sozialen Gruppe sich zusammenschlossen, erhielten sie vier Tage später weiteren Zuzug. Die deutschnationalen Vertreter der christlich-nationalen Gewerkschafts- und evangelischen Arbeitervereinsbewegung, Baltrusch, Rudolph, Thränert, Blum und Adolf hatten der Partei den Rücken gekehrt. Diese zehn Abgeordneten der "Christlich-Sozialen Reichsvereinigung" schlossen sich am 28. Dezember mit dem Christlichen Volksdienst in Berlin zum "Christlich-Sozialen Volksdienst" zusammen, dessen Vorstand von Bausch, Hartwig, Hülser, Kliesch, Kling und Sinzendörffer gebildet wurde. An der Spitze der "Deutschnationalen Arbeitsgemeinschaft" aber, zu der auch die am 4. Dezember ausgeschiedenen Abgeordneten traten, stand Treviranus.

Die Betonung des christlich-sozialen Momentes in der neuen oppositionellen Parteibewegung bewies, wie sehr unzufrieden große Teile der Partei mit den plutokratisch-kapitalistischen Bestrebungen Hugenbergs waren.

Dr. Schacht
  gegen die Regierung  

Als nun dergestalt diese inneren Vorgänge die Front des Volksbegehrens merklich erschütterten, wurde auch der Reichsregierung ein Stoß versetzt von einer Seite, von der man es nicht [122] erwartet hatte. Der Reichsbankpräsident Schacht erhob seine Stimme gegen die Youngplanpolitik der Regierung Müller. Am 5. Dezember reichte er den Ministerien ein Memorandum ein, das etwa folgenden Inhalt hatte:

Es sei unmöglich, weiter zuzusehen, wie die Absichten des Youngplanes verschoben und seine Erfolgsaussichten gefährdet würden. Der Versuch der auswärtigen Regierungen, daß jede einzelne über den Youngplan hinaus weitere wirtschaftliche und finanzielle Leistungen aus Deutschland herauspressen wolle, verstoße gegen die im Youngplan ausdrücklich zur Pflicht gemachte Zusammenarbeit. Die finanzielle Entlastung werde durch die zusätzliche Belastung, die man Deutschland außerhalb des Planes zumute, illusorisch gemacht. Es liege keinerlei Veranlassung vor, ohne gleichartige Gegenleistung freiwillig in irgendeinem Punkte auf die Geltendmachung der Klausel zu verzichten, daß Deutschlands frühere Verpflichtungen durch den Youngplan ersetzt werden sollen, oder Zahlungen zu leisten oder Verzichte auszusprechen. Wenn Deutschland sich bereiterkläre, einseitige Empfehlungen der Gläubigersachverständigen zu befolgen, so müsse dagegen verlangt werden, daß die Empfehlungen der deutschen Sachverständigen ebenfalls befolgt oder andere Gegenleistungen geboten werden. – Deutschland solle unter anderem auf den Überschuß von 400 Millionen Mark verzichten, der sich aus der Überschneidung des Dawesplanes und des Youngplanes ergebe. Deutschland solle weiter für die ersten Jahre des Youngplans die ungeschützte Annuität erhöhen. Deutschland solle auf rund 300 Millionen aus liquidiertem deutschen Eigentum verzichten. Deutschland solle laut Vertrag mit Polen (vom 31. Oktober 1929) auf außerordentlich hohe Eigentumsansprüche an Polen verzichten. Für alle diese Verpflichtungen, die zusammen in die Milliarden gingen, werde keinerlei Gegenleistung geboten. Die deutsche Regierung gehe im Zugeständnis dieser Verpflichtung weit über die Zugeständnisse der deutschen Sachverständigen hinaus, welche schon an sich den Youngplan für untragbar erklärten.

Voraussetzung für die Haltung der deutschen Sachverständigen in Paris sei die Entschlossenheit der Reichsregierung [123] gewesen, in den Finanzen von Reich, Ländern und Gemeinden dauernde Ordnung zu schaffen und die Erfüllung des schweren Youngplans durch innerwirtschaftliche Erleichterung der Produktion zu ermöglichen. Nicht das Geringste sei geschehen! Das materielle Gleichgewicht der Haushalte sei nicht hergestellt worden. Die deutsche Wirtschaft stehe nicht vor einer Lastensenkung, sondern vor einer Lastenerhöhung.

      "Gerade diejenigen", fährt Schacht fort, "die mit mir der Meinung sind, daß der Youngplan ein endgültiges Friedensinstrument ist, ein Plan, der die internationale Zusammenarbeit und das Gedeihen der deutschen Wirtschaft voraussetzt und ohne diese beiden Voraussetzungen nicht durchführbar ist, müssen verlangen, daß alles getan wird, um diese Voraussetzungen zu erfüllen. Ich habe mit allem Nachdruck die Agitation gegen den Youngplan bekämpft, ich halte das eingeleitete Volksbegehren, das dieser Agitation dient, für einen schweren Fehler, weil es eine sinn- und kraftvolle Verteidigung unserer Interessen unter dem Youngplan untergräbt. Aber gerade weil ich mich für die Annahme des Youngplanes einsetze, wünsche ich nicht, teilzuhaben an seiner Verfälschung. Es wäre eine Selbsttäuschung der Welt, zu glauben, wir könnten über die Youngzahlungen hinaus noch weitere beliebige Millionen oder Milliarden zahlen oder auf Eigentumsrechte verzichten. Es wäre eine Selbsttäuschung des eigenen Volkes, zu glauben, daß es bei der heutigen oder womöglich noch gesteigerten Wirtschaftsbelastung die Youngzahlungen und womöglich noch zusätzliche Beträge aufzubringen in der Lage ist."

Die Reichsregierung war nicht sonderlich erbaut von dem Vorgehen Schachts, das sie als heimtückischen Überfall empfand. Sie drückte ihr "Befremden" aus über die "Voreiligkeit", welche die "einheitliche Staatsführung gefährde". Sie lehne es ab, sich im gegenwärtigen Augenblicke der schwebenden Verhandlungen in Erörterungen einzulassen und verweise auf das kommende Finanzprogramm.

  Finanzpolitik  

Das Finanzprogramm der Regierung erblickte am 9. Dezember das Licht der Öffentlichkeit. Es enthielt zunächst Senkungsvorschläge für verschiedene Steuern, Einkommensteuer, Vermögenssteuer, Gewerbesteuer; es sah Abbau der Industrie- [124] belastung (aus den Dawesgesetzen) vor, sie sollten von 330 Millionen (1929) auf 250 Millionen (1930) herabgesetzt werden und dann jährlich um 50 Millionen sinken, bis sie 1935 ganz in Wegfall käme; die Rentenbankzinsen sollten aufgehoben werden, desgleichen die Zuckersteuer. Dagegen sollten Bier- und Tabaksteuer erhöht werden. Auch die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung sollten vom 1. Januar um ein halbes Prozent erhöht werden. Es waren Palliativmittel, von denen man Heilung erwartete. An die Grundschäden, z. B. eine übermäßige Verschwendungssucht der Gemeinden, die wachsende Verschuldung zur Folge hatte, wagte niemand heranzugehen.

  Industrie für Schacht  

Dagegen fanden Schachts Gedanken lebhaften Beifall in den Kreisen der Industrie. Am 12. Dezember tagte in Berlin unter Vorsitz von Geheimrat Duisberg der Reichsverband der Deutschen Industrie. Auch Schacht erschien zu dieser Tagung und wurde mit stürmischer Begeisterung begrüßt. Dr. Paul Silverberg hielt dann eine Rede über Steuer- und Finanzpolitik. Die Privatwirtschaft, die individualistische, kapitalistische Wirtschaft könne nicht mit Erfolg betrieben werden, wenn der Staat eine kollektivistische Wirtschaft und insbesondere eine sozialistisch-kollektivistische Steuer- und Finanzwirtschaft treibe. Solange dieser innere Widerspruch bestehe, würden vor allem auch die ausländischen Verpflichtungen des Reiches nicht durch Überschüsse der Zahlungsbilanz abgedeckt werden können. Der Youngplan werde der Ausgangspunkt zur Selbsttäuschung sein, wenn auf ihn gestützte Etatskunststücke (Finanzprogramm) diese Lage verschleierten. Die überhöhten Löhne und Gehälter ständen in keinem Verhältnis zur Produktion. Die Folge sei, daß nicht nur die Privatwirtschaft des Betriebs- und meist auch des Anlagekapitals ermangele, sondern daß auch die öffentliche Hand, obwohl sie im Übermaß mobiles Kapital an sich gezogen habe, in bedenklicher Weise lang- und kurzfristig verschuldet sei. Darum: Förderung der privaten Kapitalbildung durch sparsamste Ausgabenwirtschaft der öffentlichen Hand, Steuerumlegung nach volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten, Reform oder Errichtung einer Finanzwirtschaft. Zur Kontrolle der öffentlichen Finanzwirtschaft sei eine besondere Abteilung beim Reichsfinanzministerium zu schaffen, der auch die [125] öffentliche Anleihepolitik, die Finanzgebarung der sozialen Versicherungen und die öffentlich-rechtlichen Finanzinstitute des Reiches, der Länder und der Gemeinden zu unterstellen seien. Diese sehr großen Aufgaben könne die Abteilung nur zusammen mit der Reichsbank erfüllen. Bei energischem Willen, aus den Irrtümern zu lernen und sofort zu handeln, könne in der Wirtschaft und den Finanzen Deutschlands aus eigener Kraft Ordnung geschafft werden.

Die Selbstherrlichkeit des sozialdemokratischen Finanzministers Hilferding, der mit großer Geste dem Auslande Milliarden verschenkte, hatte es nun dahin gebracht, daß auch die Industrie der öffentlichen Wirtschaft entschlossen Kampf ansagte. Bereits im Juni war Hilferdings Versuch, eine Reichsanleihe von einer halben Milliarde aufzulegen, kläglich gescheitert. Kaum der dritte Teil wurde gezeichnet! Ende Juli erklärte Parker Gilbert, er halte Hilferding nicht für geeignet, den Youngplan durchzuführen, und in einer sozialistischen Betriebsversammlung zu Spandau erklärte ein Redner unter größtem Beifall, Hilferding sei ein ausgesprochener Dilletant und Versager. So urteilte der eigene Parteigenosse über den Minister! In der Tat berechtigte das unaufhaltsam wachsende Elend zu jeder Kritik am System. Das Reich hatte am Ende des Jahres in seinem Etat einen Fehlbetrag von mehreren Millionen. Reich, Länder und Gemeinden hatten zu jedem Zahltag ihre Not, Löhne und Gehälter zusammenzubringen. Doch riesige Summen wurden durch weitverzweigte Korruption verschenkt, wie die Bestechungs- und Betrugsaffäre der Gebrüder Sklarek bewies. Die Spitzen der Berliner Stadtverwaltung, allem voran der Oberbürgermeister Böß, waren in diese höchst unsaubere Sache verstrickt. Der deutsche Außenhandel schloß mit einem Passivsaldo von ¾ Milliarde ab. Die Ausfuhr betrug 13,5 Milliarden, die Einfuhr 13,4 Milliarden, aber in der Ausfuhr waren 800 Millionen Reparationen enthalten! Die Zahl der Arbeitslosen hatte 2 Millionen erreicht, und die Wohlfahrtserwerbslosen, die von den Gemeinden mit über 50 000 Einwohnern (ohne Hansestädte) unterstützt werden mußten und Ende 1928 etwa 118 000 betrugen, hatten sich nach einer Verminderung auf 103 000 im Juni Ende 1929 auf [126] 190 000 vermehrt! Die wirtschaftliche Not wurde immer unerträglicher. Anfang Januar ereigneten sich in Berlin an einem Tage 16 Selbstmorde aus Existenzsorgen.

An der Tagung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie hatten die beiden volksparteilichen Minister Curtius und Moldenhauer, der seit 11. November Wirtschaftsminister war, teilgenommen. Die Ausführungen hatten insofern Erfolg, als Hilferding, der die mächtige Gegnerschaft der mit Schacht verbündeten deutschen Industrie fürchtete, am 21. Dezember von seinem Amt als Finanzminister des Reiches zurücktrat und nach einigen Tagen durch Moldenhauer ersetzt wurde.

Wiewohl die Taktik Schachts und der Industrie gegen die Youngplanpolitik der Reichsregierung gerichtet war, stimmte sie grundsätzlich für die Annahme des Paktes. Sie kam daher zur Unterstützung des Volksbegehrens nicht in Frage. Inzwischen hatte Severing den Tag des Volksbegehrens auf den 22. Dezember festgesetzt. Hugenberg wendete ein, dies sei ein ungünstiger Tag, der Goldene Sonntag vor Weihnachten, an dem die Läden geöffnet seien und die Leute Weihnachseinkäufe besorgten. Die Deutschnationalen und die Nationalsozialisten beantragten im Reichstag einen andern Termin, aber dieser Antrag wurde mit überwältigender Mehrheit abgelehnt. Auch meinte die Regierung, aus innen- und außenpolitischen Gründen müsse der Volksentscheid beschleunigt, noch vor Weihnachten, durchgeführt werden. So wurde denn am 22. Dezember abgestimmt. Es wurden 5,8 Millionen Jastimmen abgegeben, d. h. 13,8 Prozent aller Stimmberechtigten, eine Viertelmillion Stimmen weniger als die hinter dem Volksentscheid stehenden Parteien am 20. Mai 1928 aufgebracht hatten. Ein niederschmetterndes Ergebnis! Nicht zum wenigsten durch Hugenberg herbeigeführt, der die Partei mit inneren Spannungen überladen hatte. Dann muß auch auf die Einschüchterung der Beamten und die allgemeine Abneigung gegen § 4 hingewiesen werden, schließlich auch der ungünstige Abstimmungstag. Als dann am 7. Januar 1930 der Reichsausschuß für das deutsche Volksbegehren dennoch beim Reichskanzler Hermann Müller die Verkündigung des Freiheitsgesetzes beantragte, lehnte dieser rundweg ab.

  Wahlen in Thüringen  

[127] Jedoch einen Erfolg hatte der Aufruhr der Gemüter noch zu verzeichnen: am 8. Dezember hatten in Thüringen Landtagswahlen stattgefunden, die ebenso wie in Sachsen und Baden ein beträchtliches Erstarken der Nationalsozialisten mit sich brachten. Während sich die Sozialdemokraten auf ihrer Höhe hielten, hatten die bürgerlichen Rechtsparteien und die Kommunisten ansehnliche Verluste zu verzeichnen. Das Ergebnis war folgendes:

1929      1927         Mandate
N.S.D.A.P. 90 236 27 061     6 2  
Deutschnationale Volkspartei       31 618 270 568 2 4  
Landbund 131 688 9 9  
Deutsche Volkspartei 70 413 5 6  
Zentrum 9 632 0 0  
Wirtschaftspartei 76 217 75 690 6 6  
Volksrechtspartei 9 622 22 077 0 1  
Demokraten 23 528 26 832 1 2  
Sozialdemokratische Partei 257 352 254 042 18 18  
Kommunistische Partei 85 190 117 027 6 8  
Kommunistische Opposition 12 156 0 –  

Waren bei den Maiwahlen in Sachsen 4,95 Prozent Stimmen für die Nationalsozialisten abgegeben worden, bei den Oktoberwahlen in Baden 6,98 Prozent, so waren in Thüringen 11,31 Prozent erreicht, gegen 3,41 im Jahre 1927. Die vier vereinigten Parteien dagegen sanken von 34,10 auf 30,50 Prozent. Erwähnt sei außerdem noch, daß bei den Bürgerschaftswahlen in Lübeck am 10. November 1929 für die Nationalsozialisten 6338 Stimmen abgegeben wurden, während sie hier 1926 keine Stimme erhielten. Auch hier errangen die Nationalsozialisten etwa 8,1 Prozent aller abgegebenen Stimmen.

Auch in Preußen ergab sich bei den Wahlen in den Provinziallandtagen Mitte November eine Stärkung der Nationalsozialisten. Von den abgegebenen Stimmen entfielen auf sie 5,36 Prozent, während sie im Mai 1928 kaum 2 Prozent erhielten. Doch konnten die Anhänger des Volksbegehrens nur ein Viertel aller Stimmen für sich geltend machen, während die bürgerliche Mitte 29,2 und die Sozialdemokratie 28,3 Pro- [128] zent erhielten, zusammen also mehr als die absolute Hälfte. –

  Kommunistische Umtriebe  

Während so die beiden großen Prinzipien der nationalen Selbstbestimmung und der Unterwerfung unter die Gläubigermächte miteinander rangen, war auch die dritte Macht im deutschen Volke, die des bolschewistischen Umsturzes, nicht müßig. Die Kommunisten hatten versucht, den Weltfeiertag des Proletariats, den 1. Mai, dadurch festlich zu begehen, daß sie in Berlin einen kleinen Bürgerkrieg entfesselten. So hallten denn in den ersten Maitagen verschiedene Stadtteile Berlins, der Wedding und Neukölln, von Barrikadenkämpfen wider, die zuungunsten der Aufständischen ausliefert und 24 Menschen das Leben kosteten.

Verbot des
  Rotfront-Kämpferbundes  

Diese Ereignisse veranlaßten den Reichsinnenminister Severing, den Innenministern der einzelnen Länder das Verbot des Rotfrontkämpferbundes, der militärisch eingerichteten kommunistischen Kampforganisation und aller hiervon abhängigen Bünde nahezulegen. Grzezinski, der sozialdemokratische Innenminister Preußens, verfügte bereits am 6. Mai die Auflösung des Rotfrontkämpferbundes, verbot alle Umzüge und die Rote Fahne, das Hauptblatt der Kommunistischen Partei. Die Kommunisten waren empört. Ihre Abgeordneten überschütteten den Preußischen Landtag mit Anträgen, sie verlangten, daß die Verbote der Roten Fahne, des Rotfrontkämpferbundes und der Umzüge aufgehoben würden. Sie forderten, daß der Berliner Polizeipräsident seines Amtes enthoben, die Polizeibeamten, die an der Unterdrückung der Maiunruhen beteiligt waren, entlassen würden. Aber alle diese Anträge wurden abgelehnt.

Statt dessen wurde der Rotfrontkämpferbund auf Betreiben Severings auch in den andern deutschen Staaten verboten: in Sachsen und Thüringen, in Bayern, Württemberg, Baden, Hessen, Hamburg, Bremen, Lübeck, Mecklenburg. Auch die Rote Jungfront und die Rote Marine fielen unter das Verbot, das sich auf das Gesetz zum Schutze der Republik stützte. Die Vermögen wurden zugunsten des Reiches beschlagnahmt. So war, ehe das zweite Drittel des Mai vorüber war, die Kampforganisation der Kommunisten geschlagen. Bei den Führern hatte man Haussuchungen vorgenommen, verdächtige [129] Schriften beschlagnahmt und die Leute selbst zum Teil in Untersuchungshaft abgeführt.

Doch die Kommunisten dachten nicht daran, zu kapitulieren. Kaum hatte die preußische Regierung am 1. Juni das Umzugsverbot aufgehoben, als auch schon nach zwei Tagen die Kommunisten in Berlin sieben große Erwerbslosenumzüge veranstalteten, die in den Uniformen des verbotenen Rotfrontkämpferbundes abgehalten wurden. Überhaupt entfalteten die Kommunisten von nun an eine rege Agitation unter den Erwerbslosen, deren Unzufriedenheit sie schürten, um sie für ihre Zwecke auszunutzen. Gleichzeitig versammelten sich in Brandenburg 2000 Berliner Kommunisten zu einem Roten Treffen. Dabei kam es bereits zu einem Handgemenge mit der Polizei, welche auf dem Markte einem mit dem Dampfer angekommenen Trupp eine Rotfrontfahne entreißen wollte.

Auf dem Parteitag der Kommunisten, der Mitte Juni in Berlin stattfand, versicherten sich die Radikalen ihrer ungebrochenen Stärke. Die zaghaften "Versöhnler" wurden gemaßregelt, daß sie sich bedingungslos der Parteidisziplin unterwarfen. Dann beschloß man, weiterhin das verrottete bourgeoise System anzugreifen. Es sollten besondere kommunistische Gewerkschaften gebildet werden überall da, wo wenigstens 40 Prozent der Arbeiterschaft der Kommunistischen Partei angehörten. Der Abgeordnete Remmele forderte militärische Schulung der Parteimitglieder:

      "Für uns ist der Krieg nichts anderes als die Fortsetzung des Klassenkampfes mit anderen Mitteln. Wir lehnen die Armeen der kapitalistischen Länder ab, wir bejahen aber die Wehrfrage durchaus, wenn es sich um die Wehrhaftigkeit des Proletariats handelt. In diesem Sinne kann man die Maiaufstände als erste Etappe der großen Revolution betrachten."

Bei ihren Bemühungen, sich für den verbotenen Rotfrontkämpferbund Ersatzorganisationen zu schaffen, gerieten die Kommunisten in scharfen Gegensatz zu der Polizeibehörde. Dennoch konnten neue Gebilde entstehen. In Leipzig bildete sich eine "Sächsische Arbeiterwehr", die bereits Mitte Juli tausend Mann umfaßte und ein doppeltes Ziel verfolgte, Kampf gegen den Faschismus, worunter man die nationale [130] Bewegung verstand, und Verteidigung der Sowjetunion. Auch der "Republikanische Frontkämpferbund" verfolgte diese Tendenzen. Der Kampf gegen den Faschismus rückte immer deutlicher in den Vordergrund; es entstand das System eines geheimen, aber blutigen und grausamen Bürgerkrieges, das mit vollem Recht als "organisierter Mord" bezeichnet wurde.

Die Kommunisten, die in diesen Verbänden gesammelt wurden, hielten wieder Sonntags und nachts regelrechte militärische Übungsabende ab, die von ehemaligen Rotfrontführern geleitet wurden. In den Ansprachen wurde immer wieder darauf hingewiesen, daß die Weltrevolution vorbereitet werden müsse. Den ganzen Sommer und Herbst über wurden in der Umgegend Berlins diese Militärdienstübungen abgehalten. Daß auch Waffen und Sprengstoff im Besitz der Kommunisten waren, ließ sich an gelegentlichen Explosionen und Bombenfunden erkennen.

Meuchelmord
  und Aufstände  

Das Jahr 1929 gab den Kommunisten verschiedentlich die Möglichkeit, ihre Kräfte zu entfalten. Am 28. Juni veranstalteten nationale Organisationen in allen Teilen des Reiches Protestkundgebungen gegen den Frieden von Versailles, der sich zum zehnten Male jährte. Auch die Kommunisten waren tätig. In Berlin riefen sie allein zwölf große Versammlungen unter freiem Himmel ein, in denen sie gegen Faschisten und Kriegstreiber hetzten, worunter sie die nationalen Verbände meinten. Besonders der linksradikale Beamtenbund tat sich hierin hervor. So kam es denn, daß im Dunkel der Nacht Angehörige des Stahlhelms und des Jungdeutschen Ordens hinterrücks überfallen und zu Boden geschlagen wurden. In Breslau kam es zu wüsten Ausschreitungen gegen die Polizei, als die Kommunisten ihren Heerbann zur Protestkundgebung gegen die Versailler Demonstration der Vereinigten Vaterländischen Verbände führten.

Es zeigte sich, daß das Verbot des Rotfrontkämpferbundes gar nichts genützt hatte. Im Juli waren die Kommunisten rühriger denn je. Ihre Vorbereitungen zu einem machtvollen Auftreten gegen den imperialistischen Krieg, das für den 1. August geplant war, nahmen deutlichen Kampfcharakter an. Zwar hatten die Behörden ein internationales Antikriegs- [131] treffen der Kommunisten, das am 21. Juli in Aachen stattfinden sollte, untersagt. Um so mehr wollten die Gegner des Staates ihre imposante Macht in Berlin konzentrieren. In den Nord- und Ostvierteln der Reichshauptstadt wurden bei Gesinnungsgenossen für auswärtige Kämpfer Quartiere gemacht. Seit Mitte Juli wurde es in den Straßen immer unruhiger. Täglich wälzten sich kommunistische Umzüge und gedungene Erwerbslose mit roten Fahnen durch die Straßen, belästigten die Passanten. Wie hungrige Wölfe streiften die Erwerbslosen umher und beunruhigten die Geschäftsinhaber. Die Russische Botschaft glich einem Taubenschlag, die roten Führer gingen ein und aus und hielten unter dem Schutze der Exterritorialität geheime Sitzungen ab. Allmählich erfüllte Lärm und Geschrei und Todesröcheln die von den großen Lampen fast taghell erleuchteten Straßen. Rote Horden fielen mit Messern und Knüppeln und Schlagringen über ihre Gegner her, Reichsbanner, Stahlhelm und andre. In einer Nacht Ende Juli fielen 90 Kommunisten über das Stahlhelmlokal im Treptower Park her und zerstörten es bis in den Grund. Ein zufällig des Wegs kommender Mann blieb mit schweren Wunden an der Stätte der Verwüstung liegen.

Übrigens herrschten ähnliche Zustände auch in andern Großstädten. In Düsseldorf gingen tausend Kommunisten drohend gegen die Polizei vor, als diese Mitglieder des ehemaligen Rotfrontkämpferbundes verhaften wollte. Auf dem Stuttgarter Markt schoß ein Kommunist auf einen Polizisten, der einen Mann in Rotfrontuniform verhaften wollte. Zur Feier des l. August wurde von der kommunistischen Leitung im ganzen Reiche ein vierundzwanzigstündiger Generalstreik proklamiert.

Mit großer Besorgnis sahen alle nichtkommunistischen Teile des Volkes dem 1. August entgegen, dem so terroristische Vorbereitungen voraufgingen. Die bayrische Regierung traf Vorsorge. In München fanden ausgedehnte Haussuchungen statt, man machte Jagd auf die Führer und verhaftete sie. Dann verbot man auch alle kommunistischen Umzüge zum 1. August. Doch in Preußen ließ man die Kommunisten gewähren. Thälmann durfte sich drohend der kommunistischen Fortschritte rühmen, er verkündete, daß am 1. August eine Weltaktion für die [132] Weltrevolution geplant sei. Die bürgerliche Presse übte scharfe Kritik an der Haltung der preußischen Regierung. In allen andern Ländern Europas seien kommunistische Kundgebungen verboten, nur Deutschland sehe ruhig zu, wie sich die Kräfte des Umsturzes entwickeln.

So nahte denn der gefürchtete Tag. Und da offenbarte sich denn, daß der Ausspruch des Horaz auch auf die Kommunisten zutraf: "Partirunt montes et nascitur ridiculus mus": Die Berge fangen an zu kreißen und ein lächerliches Mäuschen kommt zur Welt! Es war nicht viel vom Geiste der Weltrevolution zu spüren. Durch die Straßen Berlins wälzten sich etwa 10 000 Menschen mit Fanfarengebläse und roten Fahnen. Alle Betriebe arbeiteten, und der Streikaufruf war völlig ergebnislos geblieben. Einige kleine Zwischenfälle kamen vor, auch wurde ein Reichsbannermann überfallen. In München blieb es ganz ruhig, nur in Nürnberg stieß die Antikriegskundgebung mit Nationalsozialisten zusammen.

Die Kommunisten waren erbittert über ihren Mißerfolg, der um so krasser deutlich wurde, als drei Tage später in Nürnberg der Nationalsozialistische Parteitag 200 000 Anhänger vereinigte.

Nationalsozialistischer Parteitag 1.–5. August 1929 in Nürnberg.
[Bd. 5 S. 192b]      Nationalsozialistischer Parteitag 1.–5. August 1929 in Nürnberg.
Vorbeimarsch vor Hitler auf dem Marktplatz.
      [Photo Scherl?]

Dieses erste machtvolle Auftreten der jungen Partei forderte den maßlosen Zorn der Kommunisten heraus. Diese betrachteten es als einen unerlaubten Einbruch in ihre Machtsphäre, daß die Nationalsozialisten die deutsche Arbeiterschaft zu gewinnen begannen. Hier auf dem Felde des Arbeitertums trafen von nun an die beiden heterogenen Gewalten zum Kampf auf Tod und Leben zusammen, und von nun an setzte der zielbewußte, unbarmherzig-grausame und blutige Kampf der Kommunisten gegen den nationalsozialistischen Nebenbuhler ein, der machtvoll sein Haupt erhob. Dieser Kampf wurde ausgetragen außerhalb aller herkömmlich-bourgeoisen Begriffe und Gepflogenheiten nach den Gesetzen des rücksichtslosesten Faustrechtes.

Aber es stand der zehnjährige Verfassungstag am 11. August bevor, der besonders festlich begangen werden sollte. Diesem Umstand schenkten die Kommunisten ihre Aufmerksamkeit und bewiesen dies dadurch, daß sie nachts Reichsbannerleute niedermetzelten. Die Berliner Betriebsräte hatten schon vorher be- [133] schlossen, ihre Kinder nicht an den Schulfeiern am 11. August teilnehmen zu lassen. Die Sozialdemokraten fürchteten die kommunistischen Gegendemonstrationen, die für den Verfassungstag angesagt waren, doch konnten sie ihren Parteigenossen, den Berliner Polizeipräsidenten Zörgiebel, nicht bewegen, diese geplanten Kundgebungen zu verbieten. Auch das sei nur Bluff, meinte er.

Da aber kam es am Abend des 9. August im Berliner Osten zu Zusammenstößen, Tausend Kommunisten hatten sich zusammengerottet und zogen Lieder singend durch die Straßen. Als die Polizeibeamten den Zug auflösen wollten, wurde aus der Menge auf drei Beamte geschossen, von denen zwei leicht verletzt wurden. Nun schossen die Beamten in Notwehr und töteten einen Kommunisten. Dieser Vorfall veranlaßte Zörgiebel nun doch, die kommunistischen Demonstrationen zum Verfassungstage zu verbieten. Die Kommunisten halfen sich, indem sie am Abend des 10. August demonstrierten. Aber es war eine lächerlich spärliche Beteiligung, so daß die Gegner des Staates in kurzer Zeit eine zweite, sehr fühlbare Niederlage erlitten hatten. –

Doch von nun an setzte jener geheime, grausame Krieg ein, dem in der folgenden Zeit Hunderte von Nationalsozialisten in allen Teilen Deutschlands zum Opfer fielen. In Berlin und Stettin, in Görlitz und Hamburg, in Stuttgart, Marburg, Neumünster, Chemnitz, Dresden, Hannover, Charlottenburg, Lübeck und Düsseldorf und Koblenz, selbst in kleinen Städten wie Wittenberg und Dudweiler im Saargebiet griffen die Kommunisten ihre nationalsozialistischen Gegner an. Mit Knüppeln, Messern, Totschlägern und Revolvern überfielen sie in Rotten einzelne Menschen oder sprengten ganze Versammlungen, richteten ihre Wut gegen die Polizeibeamten, die nur ihre Pflicht taten, wenn sie dazwischentraten. Es verging kein Tag, an dem nicht irgend eine kommunistische Bluttat vorgekommen wäre. In Hamburg wurden im September und Oktober 45 Polizeibeamte in kommunistischen Zusammenstößen verletzt. In Düsseldorf führte der geheime Bürgerkrieg Ende Oktober dazu, daß die Kommunisten Barrikaden errichteten, [134] die von den Polizeibeamten mit dem Seitengewehr erstürmt werden mußten!

Im Oktober kam das Kieler Stationskommando der Reichsmarine zu der Erkenntnis, daß es den Kommunisten in einem Falle gelungen sei, in der Reichsmarine Fuß zu fassen. Man beobachtete, daß die Kommunisten eifrige Bemühungen machten, mit Angehörigen der Reichsmarine in Verbindung zu treten. So nahmen bereits Ende 1928 an einer kommunistischen Silvesterfeier Marinesoldaten teil. Die Berührung war so eng, daß sich bereits mehrere kommunistische Vertrauensleute innerhalb der Reichsmarine befanden. Nicht gerade zufällig lag der russische Dampfer "Krasni Profintern" in dem kalten Winter-Frühjahr 1929 im Eise vor Holtenau fest. Täglich fanden hier Versammlungen statt, an denen auch zahlreiche Zivilseeleute von anderen vor Holtenau liegenden Schiffen teilnahmen. Auf diese Weise war es den Kommunisten gelungen, in die Reichsmarine einzudringen, allerdings verhinderten die wachsamen Führer, daß sich der Geist der Zerstörung in die Marine einfressen konnte.

Auf allen Gebieten des Volkslebens suchten die Kommunisten ihren zersetzenden Einfluß geltend zu machen. Sie agitierten unter Polizei und Reichswehr, sie spionierten in Fabriken und Kasernen, so z. B. in Hannover. Gegen die Hamburger Volkszeitung wurde das Strafverfahren wegen Verrates militärischer Geheimnisse eröffnet, da sie einen nicht zutreffenden Bericht gebracht hatte, wonach in Lübeck Gasmasken für die Reichswehr hergestellt werden sollten. Schon seit dem 1. Juni war im Berliner Weddingviertel ein Mieterstreik im Gange: in Hunderten von Häusern zahlten die Kommunisten monatelang keine Miete, sie bedrohten die Hauseigentümer, so daß diese sich scheuten, Gewalt anzuwenden. Um die christlich-deutsche Kultur zu untergraben, wurde Mitte September in Düsseldorf ein "proletarischer Kulturtag" abgehalten, wobei allerdings Dutzende von Kommunisten verhaftet wurden, weil sie Abzeichen des Rotfrontkämpferbundes trugen. Zielbewußt wurde in den Kindern das Gefühl der Autorität von Schule und Lehrer zerstört. Mitte Oktober kam es in einer Berliner weltlichen Gemeindeschule zu kommunistischen Ausschreitungen: Rektor und Lehrer wurden tätlich mißhandelt. Im folgenden [135] Monat ereigneten sich in Berlin wahre Schulrevolten. Aus Protest gegen den Geschichtsunterricht sangen in einer Neuköllner Schule elfjährige Jungen kommunistische Lieder, der Lehrer mußte das Schulzimmer verlassen. In Reinickendorf warfen zwölfjährige Mädchen mit Büchern und Tintenfässern nach dem Katheder der Lehrerin, weil ihnen deren Unterricht nicht paßte!

Auch die Freundschaft der bedrängten Bauern suchten die Kommunisten zu erwerben. Im Oktober 1929 berührten sich die Aufstandsbewegungen der Bauern und der Kommunisten aufs engste. Das wurde an einem Ereignis klar. Als am 11. Oktober in Kiel der Prozeß einer schleswig-holsteinischen Bank gegen zinsverweigernde Bauern verhandelt wurde, stürmte ein Trupp Kommunisten, mit denen sich die Bauern angefreundet hatten, plötzlich mit einer roten Fahne in den Saal und störte die Verhandlung. Es mußte das Überfallkommando herbeigerufen werden, das Saal und Gebäude räumte.

Besonders die Erwerbslosen suchten die Kommunisten für sich zu gewinnen, indem sie wirtschaftliche Not für zugkräftiger als politische Programme hielten. Die Zahl der Erwerbslosen, die am 1. Juli 723 000 betrug, stieg bis Mitte August auf 870 000, bis Ende September auf eine Million. Und diese Zunahme der deutschen Not sollte von den Kommunisten in bolschewistische Energie umgesetzt werden. Schon Anfang September war vor dem Rathaus zu Dresden ein großer Erwerbslosenkrawall angezettelt worden, in dessen Verlauf die Polizisten mit Zaunlatten und Stöcken angegriffen wurden. Aber erst seit Ende November nahmen die kommunistischen Erwerbslosendemonstrationen größeren Umfang an. Im Straßenbild Berlins gehörten sie zu den täglichen Erscheinungen, und die Hochrufe auf Sowjetdeutschland wurden in allen Stadtteilen gehört. Aus den Insassen des Asyls der Obdachlosen, vor dem die Demonstrationen gewöhnlich begannen, bestand der größte Teil der Demonstranten. Im Laufe der Zeit nahmen diese Aktionen immer größeren Umfang an, und im Dezember 1929 wiederholten sich Szenen in Berlin, wie sie sonst nur im Dezember 1918 vorgekommen waren. So wurde am 13. Dezember ein regelrechter Sturm auf das Berliner Stadtparlament unternommen, [136] 200 Polizisten waren nötig, um die Stadtverordneten vor Ausschreitungen zu schützen. Das sei die Probe für ein Unternehmen auf ein größeres Parlament, erklärten die Demonstranten, die bis in die Nacht hinein vor dem Rathaus gegen neue Belastungen des Proletariats protestierten.

Wenige Tage später, am 19. Dezember, ereignete sich wieder eine bedenkliche Aktion der Kommunisten in Berlin. Die Rote Fahne hatte ihre Anhänger für eine große Demonstration am Nachmittag aufgerufen. Nicht bloß die Erwerbslosen, sondern auch die Werktätigen sollten auf den Straßen erscheinen und für eine Winterbeihilfe, eine höhere Unterstützung und den Siebenstundentag demonstrieren. Da der Polizeipräsident eine Bannmeile um das Rathaus geschaffen hatte, hatte die Rote Fahne Gelegenheit, ganz besonders Zörgiebel, die Schutzpolizei und die Sozialdemokratie zu beschimpfen. Aber Zörgiebel verbot die Kundgebung, die um 6 Uhr auf dem Neuen Markt stattfinden sollte, da dieser innerhalb der Bannmeile lag. Trotzdem sammelten sich hier viel Erwerbslose an und führten Zwischenfälle herbei. Aber auf dem Bülowplatz im Norden Berlins sammelten sich mehr als 10 000 Teilnehmer der aufgelösten Züge und versuchten gewaltsam, zum Neuen Markt vorzudringen. Die Kommunisten stürmten mehrere Autobusse und griffen die Polizei an, die sich mit dem Gummiknüppel wehrte. Am Bahnhof Alexanderplatz wurden von den Kommunisten Barrikaden errichtet, von denen aus die Polizei beschossen und mit Steinen beworfen wurde. Erst in der Nacht wurde wieder Ruhe geschaffen. – Auch am Heiligen Abend war der Wittenbergplatz in Berlin Zeuge großer kommunistischer Demonstrationen. Redner suchten zu Gewaltakten aufzuputschen, der Verkehr von Straßenbahn und Omnibus war zeitweise unterbrochen, aber die Rebellen waren nicht imstande, die Sperrlinien der Polizei zu durchbrechen.

In der ganzen Politik der Kommunisten lag System. Ein geheimes kommunistisches Rundschreiben vom 10. Dezember gab Richtlinien, daß Erwerbslose, Reichswehr und Polizei gewonnen werden müßten. Die Vorbereitungen seien zu beschleunigen, daß die Partei im Anfang des neuen Jahres schlagfertig sei. Dies geheime Rundschreiben wurde gefunden bei den vielen [137] Haussuchungen, welche die wachsame Polizei vornahm. Zudem gelang es Mitte Dezember, in Wanne-Eickel 24 kommunistische Führer zu verhaften, die zu einer Geheimsitzung zusammengekommen waren, um Kampf- und Streikpläne zu besprechen. Auch der geheime Führer des Rotfrontkämpferbundes im Ruhrgebiet, Jakob Göbel aus Dortmund, wurde bei dieser Gelegenheit verhaftet.

Das Planmäßige in der kommunistischen Aktion in der Woche vor Weihnachten zeigte sich auch darin, daß in anderen Großstädten ähnliche Vorfälle wie in Berlin sich ereigneten. So waren in Frankfurt am Main viele Tausende auf den Beinen, führten Straßengefechte mit der Polizei, in Köln putschten die Erwerbslosen, in Plauen und Kiel warfen sie Stinkbomben in die Stadtverordnetensitzungen, in Dresden drängten etwa 4000 Demonstranten unter Rufen wie "Bluthunde" gegen das Rathaus an, das aber von drei Polizeihundertschaften geschützt wurde.

Auch nach Weihnachten ebbte der Kampf der Kommunisten gegen Staat und Ordnung keineswegs ab. In den letzten Nächten des Jahres kam es zu schweren Straßenschlachten mit den Nationalsozialisten in Berlin, Köln und Kiel wurden von Straßenunruhen erschüttert. Kommunistische Mörder drangen sogar in die Wohnungen ihrer Gegner ein, um diese zu töten. So wurde der nationalsozialistische Student Horst Wessel in Berlin am 14. Januar von drei Kommunisten erschossen. Regelrechte Straßenschlachten spielten sich in Worms ab. Die kommunistischen Erwerbslosen lieferten der Polizei ein Feuergefecht. Als es endlich der vereinigten Wormser und Darmstädter Polizei gelungen war, nach mehrfachem Handgemenge die Kommunisten im Laufe der Nacht in der Judengasse einzukesseln, eröffnete diese von den Dächern herab ein regelrechtes Schützenfeuer, das die ganze Nacht hindurch anhielt.

Eine neue Spartakuswelle ging Mitte Januar 1930 über Deutschland: der Mord an Wessel, die Vorfälle in Worms, Zusammenstöße in Berlin, Revolten in Hartmannsdorf, die fünf Tote forderten. Alle diese Ereignisse veranlaßten endlich den preußischen Innenminister Grzesinski, am 17. Januar in ganz Preußen öffentliche Umzüge und Versammlungen zu ver- [138] bieten. Das Aufzüngeln der Flammen war unterdrückt, aber die revolutionäre Glut war nicht erstickt. Das ließ sich an den schweren Straßenkämpfen, die in Hamburg Ende Januar stattfanden, und an den Überfällen in Bremen erkennen. Dem rücksichtslosen Vorgehen der Polizei war es zuzuschreiben, daß die besonderen Anstrengungen der Kommunisten, den "Roten 1. Februar" zum Beginn des Aufstandes zu machen, scheiterten.

Bei all diesen kommunistischen Ereignissen stand Moskau im Hintergrunde. Der Bolschewismus hatte seine Hand im Spiele, der asiatische Kulturkreis, der seit einem Jahrzehnt mit dem deutschen und dem westlerisch-demokratischen Kulturkreis um die Macht über Deutschland rang und jetzt unter dem Eindruck des Youngplanes eine besonders scharfe Energie und Kampftätigkeit entfaltete. Durch die Sowjetbotschaft in Berlin, Unter den Linden, war die direkte Beziehung zwischen deutschen und russischen Bolschewisten hergestellt. In der Sowjetbotschaft gingen die kommunistischen Abgeordneten und Parteifunktionäre ein und aus, von hier gingen sie ins Land hinaus, hetzten die Erwerbslosen zu Mord und Gewalttat. Die Polizei hat Dutzende von Abgeordneten und Funktionären in jenem Wintermonat verhaftet. Die Moskauer Prawda war mit der Arbeit der deutschen Bolschewisten zufrieden. Zu den Vorgängen in Worms Mitte Januar schrieb sie, sie seien ein Beweis dafür, daß die Kommunistische Partei die Leitung des Kampfes gegen die Herrschaft der Bourgeoisie in der Hand habe. Die Deutsche Kommunistische Partei besitze große Sympathie beim deutschen Proletariat und wisse, was sie wolle. Die letzten Zusammenstöße zwischen der Polizei und den Erwerbslosen könnten nicht nur als Zwischenfall, sondern als eine neue Periode in dem Freiheitskampf des deutschen Proletariats gegen das Bürgertum und die deutsche Sozialdemokratie angesehen werden. Die letzten Ereignisse hätten die Erweiterung des revolutionären Einflusses der Kommunistischen Partei Deutschlands auf das deutsche Proletariat gezeigt. – So setzte Rußland, wie schon einmal im Herbst 1923, große Hoffnungen auf das Wachsen der deutschen Not und hetzte deutsche Menschen für russische Ziele in den Untergang. –

Aber es war doch ein verhängnisvoller Irrtum, daß die Kom- [139] munisten nicht erkannten, sie allein seien viel zu schwach, um den Staat zu stürzen. Sie waren, zu ihrem eigenen Unglück, viel zu verblendet, um zu erkennen, daß, wohin sie blickten, von rechts bis links, sie keinen Freund für sich, sondern nur Feinde wider sich hatten. Das, was sie wollten, war zu kulturlos und nicht geeignet, sich Freunde zu erwerben, es sei denn, unter den dunklen Massen der Gescheiterten.

Deutschland schüttelte sich zu der Zeit, da es vom Dawesplan zum Youngplan übergehen sollte, in schweren inneren Fiebern. Bauern und Erwerbslose, Nationalsozialisten und Kommunisten und Deutschnationale liefen Sturm gegen das herrschende System der Mitte. Zwei Fünftel des ganzen Volkes waren in Bewegung geraten! Aber sie zerfleischten und bekämpften sich auch untereinander, und in diesem Umstande beruhte die Stärke des demokratischen Systems. Und dann stand auch die deutsche Wirtschaft, von Schacht geführt, in feindlicher Haltung der Regierung und ihren Bestrebungen gegenüber. In der Tat hatte die Reichsregierung und mit ihr im Bunde die Regierung Preußens außerordentlich heftige Kämpfe um ihre Selbsterhaltung zu führen, kämpfte nach rechts und links, nach allen Seiten, wobei sie auch nicht immer die Linie des Rechtes innehielt. Die Unterhändler, die Anfang Januar 1930 nach dem Haag gingen, hatten ein derart brausendes und gärendes, innerlich zerklüftetes Volk im Rücken, von dem sie keine Stärkung ihrer Position, keine Resonanz für ihre Wünsche erhoffen durften.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra