|
[Bd. 2 S. 82]
12. Kapitel: Deutschland und Rußland, Verträge und Aufruhr.
Bolschewismus
und Weltrevolution |
|
Der Bolschewismus hatte in Rußland ein Reich des Schreckens errichtet. Unter unerhörten Grausamkeiten waren Ströme von Blut vergossen worden, und sie wurden weiterhin vergossen, Paläste wurden in rauchende Trümmerhaufen verwandelt, die Eisenbahnen standen still, und die Fabriken verfielen. Während planmäßig in Moskau, in Petersburg, rings in den Städten des weiten Landes Menschenleiber auf großen eisernen Ambossen zerstampft wurden, verkündeten Dogmatiker das Heil und das Glück der Weltrevolution. Während die Frauen und Töchter der Bourgeoisie den niedrigsten Lüsten der Proletarier dienen mußten, priesen Lenin, Trotzki, Sinowjew, Radek, und wie sie alle hießen, das Recht des Menschen auf Freiheit. Die Generale und hohen Staatsbeamten des Zarenreiches fieberten krank und gebrochen, wenn sie gnädig davongekommen waren, als Bettler in den Straßen Petersburgs und Moskaus umher. Manche dienten in der Roten Armee, viele waren ins Ausland geflohen. Fürstentöchter dienten als Näherinnen und Küchenmädchen, die Herren der Aristokratie verdienten ihr Brot als Chauffeure. Doch während die Rote Armee mit stolz erhobenem Haupte und kühnem Wagemute gegen Europa anstürmte, seufzte das städtische Proletariat in Hunger und Kälte, und der Bauer ergab sich dumpf und stumpf in sein Schicksal. Unvereinbare Gegensätze wurden gemeistert durch die eiserne Faust des dämonischen Lenin. Er hatte die besitzende Bourgeoisie hinweggefegt, daß ihre Häupter fielen wie die Schloßen eines Unwetters, er drückte das Proletariat an der Gurgel, daß es keinen Ton des Unwillens zu äußern wagte.
Lenin und seine wenigen Helfer leisteten übermenschliche Arbeit. Sie hatten nicht nur im eigenen Lande den neuen Staat zu errichten, sie mußten auch in den anderen Ländern der Welt die Weltrevolution propagandistisch und organisatorisch vorbereiten. Durch ganz Europa ging ein Beben, [83] vernahm man das unterirdische Grollen des Vulkans, dem es auch hier und da gelang, sein Feuer auszuspeien. Wie zitterten die Siegervölker vor der Möglichkeit, daß eines Tages auch bei ihnen die furchtbare Naturgewalt des Bolschewismus entfesselt sein könnte, besonders England, der
Industrie- und Handelsstaat. Auch in Deutschland zitterte man stellenweise, aber leiser und schwächer. Die Sozialdemokraten trauten sich die Macht zu, mit den feindlichen Brüdern besser fertig zu werden als ihre russischen Leidensgenossen, und in nationalen Kreisen liebäugelte man zeitweise sogar sehr stark mit dem Gedanken, sich den Bolschewisten zu verbinden. Die
national-bolschewistische Strömung hatte sich unter dem ersten Eindruck der feindlichen Friedensbedingungen besonders in der deutschen Jugend entwickelt.
Seine erste Probe legte der Bolschewismus im Jahre 1919 in Bayern ab. Nun war allerdings Sowjetrußland damals noch allzusehr mit Kämpfen an seiner Grenze und mit dem Aufbau im Inneren beschäftigt, als daß es unmittelbar in Bayern hätte mitwirken können; es mußte sich auf die Entsendung eines Fachmannes beschränken, der keinen von langer Hand für die deutschen Verhältnisse ausgearbeiteten Plan mitbrachte, sondern nur von Fall zu Fall nach seinen praktischen Erfahrungen Rat erteilen konnte. Leviné wurde später standrechtlich erschossen. Die Bolschewisten kamen nachträglich zu der Überzeugung, daß das bayrische Unternehmen verfrüht, überstürzt gewesen sei, besonders, da noch keine reinliche Scheidung zwischen Sozialisten und Kommunisten durchgeführt war. Der Frühjahrsaufstand im Jahre 1920 war zwar auch nach den Anweisungen und Vorschlägen der im Sommer 1919 zu Moskau gegründeten Kommunistischen (III.) Internationale (Komintern) geführt worden, aber ihm fehlte die tatkräftige, diktatorische Leitung der an praktischen Erfahrungen reichen russischen Zentralstelle.
Nun bequemte sich Rußland, das bisher alle völkerrechtlichen Verbindungen mit kapitalistischen Staaten abgelehnt hatte, nach seinen kriegerischen Mißerfolgen Ende 1919 dazu, Verträge mit den westeuropäischen Ländern abzuschließen, die Hungersnot im Innern zwang es dazu, und es war [84] natürlich, daß die ersten Verbindungen mit dem am meisten ausgesprochen kapitalistischen Staate, mit England angeknüpft wurden zum Zwecke von
Lebensmittel-, Arznei- und anderen Rohstofflieferungen. Zwar zog das kluge England die Verhandlungen sehr in die Länge, um die Bolschewisten noch gefügiger zu machen. Auch wußte man nicht, ob die Sowjetherrschaft inzwischen nicht doch noch zusammenbrach. Da aber schließlich Rußland bezüglich der Anerkennung der Randstaaten Zugeständnisse machte, und auch versprach, in den englischen Staaten keinerlei Propaganda zu treiben, ließ sich das mächtige Albion allmählich bewegen, die erbetenen Lieferungen in formloser Weise zuzusagen. Am 12. Februar 1920 kam lediglich ein Abkommen über den gegenseitigen Gefangenenaustausch zwischen England und Rußland zustande.
Deutsch-russischer Vertrag
über Kriegsgefangenenaustausch |
|
Da der Verhandlungsweg nun einmal betreten war, konnte Rußland auch mit anderen Staaten in nähere Beziehungen treten. Es wurden Verträge geschlossen, die sich, wie das englische Abkommen, zunächst nur auf die Heimbeförderung der Kriegsgefangenen erstreckten. So verständigte sich die Sowjetregierung am 19. April 1920 mit dem Deutschen Reich über die Heimschaffung der beiderseitigen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten. Es war dies überhaupt der erste Vertrag, den die deutsche Republik mit einem fremden Staate unter der Voraussetzung vollkommener Gleichberechtigung schloß, und insofern verdient er, hier wiedergegeben zu werden:
"Abkommen zwischen dem Deutschen Reiche und der R.S.F.S.R. über die Heimschaffung der beiderseitigen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten.
Die deutsche Reichsregierung, vertreten durch den Reichskommissar für
Kriegs- und Zivilgefangene, Mitglied der Deutschen Nationalversammlung, Herrn Daniel Stücklen, und die Regierung der Russischen
Sowjet-Republik, vertreten durch Herrn Victor Kopp, sind nach gegenseitiger Mitteilung ihrer in guter und gehöriger Form befundenen Vollmachten über nachstehende Bedingungen übereingekommen:
Artikel I. Die beiderseitigen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten sind, soweit sie dies wünschen, heimzubefördern. Die Heimschaffung hat ohne Verzug zu beginnen und ist mit [85] größter Beschleunigung
durchzuführen. – Beide Teile verpflichten sich, die Heimbeförderung auf allen zur Verfügung stehenden Wegen beschleunigt vorzunehmen und die dafür erforderlichen Beförderungsmittel zu
stellen. – Der Austausch erfolgt Transport um Transport. Jeder der beiden vertragschließenden Teile verpflichtet sich, sobald der andere ihm Nachricht von dem Abzug eines Transportes gibt, seinerseits bis zur Durchführung der von ihm zu bewirkenden Heimschaffung einen Transport bereitzustellen.
Artikel II. Jeder der beiden Teile verpflichtet sich: 1. allen in seiner Gewalt befindlichen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten des andern Teiles sowie den Staatsangehörigen des anderen Teiles, die aus der
Kriegs- oder Zivilgefangenschaft beurlaubt oder entlassen sind, bis zur Übergabe an den Heimatstaat oder dessen Beauftragten ausreichenden Unterhalt oder die Möglichkeit entsprechenden Verdienstes zu gewähren; 2. die Personen, denen nach Artikel I das Recht auf Heimbeförderung zusteht, hiervon unverzüglich durch amtliche Bekanntmachungen in Kenntnis zu setzen.
Artikel III. Als russische Kriegsgefangene im Sinne dieses Abkommens gelten alle Russen oder ehemals russische Reichsangehörige, die im Kampfe für das ehemalige russische Reich oder für die Russische
Sowjet-Republik oder im Kampfe gegen die Russische
Sowjet-Republik in deutsche Gewalt gekommen sind.
Artikel IV. Als deutsche Kriegsgefangene im Sinne dieses Abkommens gelten alle Deutschen oder ehemals deutsche Reichsangehörige, die im Kampfe für das Deutsche Reich oder im Kampfe gegen die Russische
Sowjet-Republik in russische Gewalt gekommen sind.
Anmerkung zu Artikel III und IV. Die beiderseitigen Geiseln gelten als Kriegsgefangene im Sinne dieses Abkommens und sind sofort in die Heimat zu entlassen.
Artikel V. Die Heimbeförderung darf nicht dadurch verzögert werden, daß der dazu Berechtigte sich in einem Dienstverhältnis befindet oder sonstige privatrechtliche Verbindlichkeiten auf dem Gebiete des andern vertragschließenden Teiles [86] noch zu erfüllen hat. Ersatzforderungen aus derartigen Verpflichtungen können von keiner Seite festgestellt werden.
Artikel VI. Eine Zurückhaltung auf Grund von Untersuchungen oder Verurteilungen wegen Verstößen gegen die Disziplin und wegen politischer Verbrechen und Vergehen, insbesondere auch wegen Spionage, findet nicht statt. Dagegen dürfen Personen, bei denen die Voraussetzung für die Heimbeförderung vorliegt, auf Grund von Untersuchungen und Verurteilungen wegen gemeiner Verbrechen bis zur vollendeten Strafverbüßung oder bis zu einer anderweitigen Verständigung zwischen den beiden Teilen zurückgehalten werden.
Artikel VII. Jeder der beiden Teile gewährt volle Straffreiheit denjenigen Heimgeschafften, die durch politische Tätigkeit oder mit der Waffe die Verfassung ihres Heimatstaates bekämpft haben.
Artikel VIII. Bis zur Durchführung dieses Abkommens ist jeder der beiden Teile berechtigt, auf dem Gebiete des andern Teiles eine Fürsorgestelle zur Vorbereitung der Heimbeförderung und zur Gewährung materieller Hilfe an die nach seinem Gebiete Heimkehrenden zu unterhalten. Der Umfang und die Befugnisse solcher Fürsorgestellen werden durch besondere Vereinbarungen geregelt.
Artikel IX. Beide Teile übertragen die Führung der Verhandlungen mit den Staaten, die für den Durchtransport in Frage kommen, dem Internationalen Roten Kreuz in Genf, das gleichzeitig die Leitung und die Sicherung der Transporte durch diese Gebiete übernimmt. Über die Art der Verrechnung der daraus entstehenden Kosten wird von jedem der vertragschließenden Teile ein besonderes Abkommen mit dem Internationalen Roten Kreuz getroffen.
Artikel X. Die Verrechnung aller durch die Ausführung dieses Abkommens entstehenden Kosten sowie die Erledigung aller Fragen, die das Eigentum der Heimkehrenden, die Nachlässe von Verstorbenen, den Austausch der Totenlisten, die Mitteilung über Grabstätten und ähnliches betreffen, sind durch eine besondere Vereinbarung zu regeln.
Artikel XI. Dieses Abkommen tritt in Kraft, sobald es von den beiden Regierungen genehmigt
ist. – Zu Urkund dessen [87] haben die beiderseitigen Bevollmächtigten das Abkommen unterzeichnet und ihre Siegel beigedrückt.
Ausgefertigt in doppelter Urschrift in Berlin am 19. April 1920.
Stücklen. V. Kopp."
Russisch-polnischer
Krieg 1920 |
|
Obwohl dieses Abkommen bereits am 31. Mai in Kraft getreten war, kehrten erst im Oktober die ersten deutschen Kriegsgefangenen aus Sibirien heim. Rußland war durch den polnischen Krieg stark in Anspruch genommen, und dies mag der hauptsächlichste Grund für die Verzögerung gewesen sein. Da der
russisch-polnische Krieg im Jahre 1920 auch auf Deutschland seine Rückwirkungen ausübte, müssen wir auch ihm einige Beachtung schenken.
Als Rußland im Innern schwere Bürgerkriege durchzumachen hatte, die Angriffe der Weißen Generale abwehren mußte und sich im Baltikum herumschlug, im Sommer 1919, schloß es gezwungenermaßen mit dem Marschall Pilsudski von Polen einen Geheimvertrag, auf Grund dessen die Bolschewisten ihre Truppen von polnischem Gebiete zurückzogen. Am 22. Dezember desselben Jahres, nach den Mißerfolgen im Baltikum, machte die Moskauer Regierung der polnischen den Vorschlag, den Krieg zu beenden. Ganz Weißrußland, Wolhynien und Podolien sollte den Polen überlassen werden. Doch Polen, abhängig von der Entente, die nichts sehnlicher als die Vernichtung der Sowjets wünschte, antwortete nicht. Am 28. Januar 1920 wiederholte die Sowjetregierung ihren Vorschlag:
"Unter völliger Aufrechterhaltung des Friedensvorschlages vom 22. Dezember 1919 verspricht der Rat der Volkskommissare, dem alle Angriffsabsichten fernliegen, daß die roten Truppen die jetzige Linie der weißrussischen Front, die sich über die Städte Drissa, Polozk, Borisow und die Ortschaften Paritsch, Ptitsch und Bar erstreckt, nicht überschreiten wollen."
Polen war aber nur zu Friedensverhandlungen bereit auf Grund seiner Ostgrenze von 1772, d. h. Einverleibung Weißrußlands und der Westukraine. Das aber lehnte Rußland ab.
Jetzt wandte sich Rußland am 8. April mit einem Vermittlungsgesuch an die englische Regierung, worin sie London als [88] Verhandlungsort vorschlug. Doch die englische Regierung war weise und antwortete nicht. Sie überließ die Entscheidung der Zukunft. Am 7. Juni eröffnete Polen den Krieg, und seine Heere befanden sich in Nord und Süd auf siegreichem Vormarsch. Die klugen Engländer nutzten den auf den Bolschewisten lastenden Druck aus und schlossen mit ihnen am 6. Juli ein vorläufiges Abkommen über die Freiheit der Handelsbeziehungen unter der Bedingung gegenseitigen Verzichts auf feindliche Agitationen und Aktionen.
Rückwirkungen
auf Deutschland |
|
Aber schon wandte sich das Blättchen. Die Rote Armee hatte den polnischen Stoß aufgefangen und befand sich seit Anfang Juli auf dem siegreichen Vormarsch nach dem westpreußischen Korridor und nach Warschau. Durch diese Wendung wurde auch Deutschland unmittelbar berührt. Im Überschwange ihres Siegesgefühls überschritten rote Soldaten die Grenze Ostpreußen und richteten mit Hilfe deutscher Kommunisten in den Grenzstädten Soldau und Straßburg die Räteherrschaft auf. Die Sieger mußten jedoch auf energischen Protest Ostpreußens und der deutschen Regierung schleunigst den Rückzug antreten. Doch die russische Hoffnung, die Weltrevolution in das nächst dazu erkorene Land, Deutschland, hineinzutragen, wuchs von Tag zu Tag. Die rote Armee war großzügig. Sie versprach den Deutschen den Wiedergewinn Westpreußens und aller im Osten verlorenen Gebiete und lud die deutschen Truppen ein, brüderlich mit ihnen den Korridor zu besetzen. Sie glaubte, daß die Reichswehr mit ihr sympathisieren und dank meisterhafter Überredungskunst sich auch bald zum Bolschewismus bekehren würde. Dann hätte Rußland gesiegt, Deutschland würde bolschewistisch werden, und die Weltrevolution hätte einen unschätzbaren Sieg errungen. Rußland wäre aus seiner fatalen Isolierung, die es doch als drückend empfand, befreit worden. Der deutsche Osten war aufs schwerste bedroht.
Doch Deutschland zeigte begreiflicherweise kein Verständnis für die russischen Pläne. Es gab zwar, wie ich schon oben sagte, auch nationale Kreise, denen solche Pläne sympathisch waren. Geradezu begeistert aber waren die deutschen Kommunisten. Sie sahen in ihrer beweglichen Freude die Rote [89] Armee schon vor Berlin, sie, die Westpreußen früher kaltblütig geopfert hatten, fragten plötzlich, warum man die günstige Gelegenheit der Wiedererlangung nicht benutze. Manch einer der klassenbewußten Proletarier holte sein heimliches, verstecktes Gewehr hervor, putzte es kriegsmäßig und freute sich an seinem blanken Stahl. Aber man wollte aus Gründen der eigenen Sicherheit doch erst abwarten, bis die bolschewistischen Heere die deutsche Grenze erreicht hatten. Jawohl! Dann aber wollte man sehen, ob nicht in Deutschland doch die schon oft verratene Rätediktatur noch Wirklichkeit würde! Man wartete also, man sprach sich gegenseitig Mut zu und stieß schreckliche Drohungen gegen alles aus, was sich den edlen, menschenbefreienden Bestrebungen Rußlands in den Weg stellen würde.
Besonders gefährlich war der Einfluß der russischen Siege auf die Ereignisse in der vorwiegend landwirtschaftlichen Provinz Pommern. Es war zur Zeit der beginnenden Ernte, da sich die Kommunisten jenes Gebietes zu Banden zusammenrotteten und organisierte
Raub- und Plünderungszüge durch das Land unternahmen. In Haufen erschienen sie, führten das Korn von den Feldern weg und bedrohten jeden, der sie daran hindern wollte, aufs schwerste. Die Besitzer wagten nicht mehr, ihre Dörfer zu verlassen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, angegriffen und niedergeschlagen zu werden. Die Behörden standen diesem Treiben machtlos gegenüber, die Polizei war außerstande, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Damals wurde die Organisation Roßbach, jene Truppe von Baltikumkämpfern, welche unter Ehrhardt am
Kapp-Putsch teilgenommen und dann an der Niederwerfung des Aufstandes im Ruhrgebiet mitgewirkt hatte, nach Pommern gerufen, um die kommunistischen Umtriebe zu unterdrücken. Die Roßbachsoldaten wurden als Beamte und Arbeiter auf die Güter verteilt, wo sie den Flurschutz ausübten und in der Tat in kürzester Zeit wieder geordnete Verhältnisse herstellten. Das entschiedene und rücksichtslose Draufgängertum der Roßbachleute, die keine Furcht kannten und selbst den Verlust des eigenen Lebens nicht fürchteten, zog ihnen den tödlichen Haß der Kommunisten zu, während die Bauern und Gutsbesitzer [90] in ihnen ihre Retter erblickten und sie nicht wieder fortziehen lassen wollten.
In England war man durch die russischen Erfolge bedenklich geworden. Lloyd George holte sein Memorandum vom März 1919 hervor und verspürte neben großer Sorge eine gewisse Genugtuung, daß er alles vorausgesehen hatte, wie es nun wirklich kommen würde. Lord Curzon, der ehemalige Vizekönig von Indien, sah schon mit sorgenvoller Miene die einträgliche britische Kolonie in Südasien von roten Truppen überschwemmt. Praktische Vorschläge machte Winston Churchill, um den sich, wie Radek sagte, die "militärische Clique" gruppierte. "Diese fürchten die Weltrevolution und die Vereinigung des bolschewistischen Sowjetrußland mit einem bolschewistischen Rätedeutschland. Sie sind zu Zugeständnissen an Deutschland bereit." Dieser Lord Churchill trat mit dem Plane hervor, man möge Deutschland einen Teil seiner Versailler Schulden erlassen und es dafür als Sturmbock gegen die Rote Armee benutzen, ein Plan, der von dem deutschen General Hoffmann unterstützt und begreiflicherweise von Frankreich, insbesondere vom Temps, aufs heftigste bekämpft wurde.
Schlacht bei Warschau
und ihre Folgen |
|
Die Rote Armee stand vor Warschau. Die Polen hatten alle ihre Truppen hier konzentriert; in einer furchtbaren dreitägigen Schlacht,
14.–17. August 1920, wurden die bolschewistischen Truppen vernichtend geschlagen. Die Europa bedrohende Gefahr war beseitigt, ähnlich wie nach der Zurückeroberung Rigas im Mai 1919. Am 12. Oktober schlossen Polen und Rußland einen Waffenstillstand, dem dann am 18. März 1921 der endgültige Frieden zuungunsten Rußlands
folgte. –
Hiermit war der kriegerische Bolschewismus erledigt, und die Sowjetherrscher wußten, daß sie mit der Roten Armee die Welt nie und nimmer erobern würden. Um dies zu erreichen, mußten sich die Bolschewisten von nun an ganz auf die kommunistische Wühlpropaganda konzentrieren. Deutschland aber spielte im Kampfe zwischen Bolschewismus und westeuropäischen Kapitalismus eine so wichtige Rolle, daß die Russen nach wie vor fest entschlossen waren, Deutschland als [91] ihre nächste Beute mit der Segnung der Weltrevolution, dem bolschewistischen Kommunismus, zu beglücken. England fürchtete zwar, daß Deutschland infolge der durch Frankreichs Vernichtungswillen hervorgerufenen Verzweiflungsstimmung dem Bolschewismus in die Arme getrieben werden könne, deshalb müsse der trennende Riegel der baltischen Staaten und Polens zwischen Deutschland und Rußland so stark sein, daß er nicht gesprengt werden könne. In Rußland dagegen fürchtete man nach den militärischen Mißerfolgen in Polen mehr denn je, die Entente könne Deutschland zum militärischen Aufmarschgebiet gegen das Sowjetreich machen. Radek, einer der bolschewistischen Außenpolitiker, schrieb im November 1920:
"Die ententistischen Militäroperationen müßten Deutschland zur Basis haben, wenn sie nicht zu spät kommen sollen, wenn die Zufuhren an Lebensmitteln und Munition gesichert sein sollen. Deutschland kann als Aufmarschgebiet der Entente entweder entgegen seinen Willen oder mit ihm gebraucht werden. Im ersten Falle müßte die Entente die für den Krieg gegen Rußland gebildeten Heere zu einem großen Teile zur Niederhaltung des deutschen Proletariats, zur Besetzung Deutschlands verwenden. Nur im Falle der Hilfe der deutschen Regierung und der deutschen Bourgeoisie würde diese die Niederwerfung des deutschen Proletariats von der Entente auf sich nehmen."
Nach Deutschland ging das Dichten und Trachten der Russen mit unverminderter Sehnsucht. Die Bolschewisten hatten, das muß hier eingeschaltet werden, höchst eigenartige Methoden, um ihre Ziele zu erreichen. Sie waren sich wohl darüber klar, daß sie eine völkerrechtliche Bindung, ja vielleicht ein Bündnis nie mit einer Regierung wie der des Reichskanzlers Fehrenbach erreichen würden. Wo aber die russische Staatsleitung, die Volkskommissariate des Auswärtigen, des Außenhandels und des Militärwesens versagten, hatte man ja in Moskau noch eine wesentlich höhere, mächtigere Instanz: die Komintern, die kommunistische Internationale, die im Juli 1919 als III. Internationale errichtet worden war. Diese höchste, allgewaltige Befehlsstelle der Weltrevolution faßte die kommunistischen Organisationen sämtlicher Länder, nach [92] Ländern sektionsweise geordnet, in sich zusammen. Sie gab den ihr angeschlossenen kommunistischen Parteien nicht nur Ratschläge und Weisungen, sondern sie erteilte ihnen mit diktatorischer Gewalt unwiderruflich auszuführende Befehle. Eine dieser Sektionen, die bereits mehrjährige Praxis hatte und dadurch die Komintern beherrschte, war die Kommunistische Partei Rußlands. Die ihr untergebenen Ausführungsorgane waren die Volkskommissariate des Sowjetstaates, welche etwa den Ministerien in nichtbolschewistischen Staaten entsprechen. Diese gewissermaßen untersten Organe traten erst an die Oberfläche des Völkerrechts.
Die Komintern, deren Werkzeug im Sowjetstaate die Kommunistische Partei Rußlands mit ihren Volkskommissariaten war, glaubte nun, dies erprobte System auch auf Deutschland anwenden zu können, das heißt, sie ging unverzüglich dazu über, nach den Mißerfolgen in Polen eine
Kommunistische Partei Deutschlands zu gründen, die ihr als Sektion unterstellt wurde und ihre Befehle auszuführen hatte. Um die Mitte des Oktober 1920 erschien Sinowjew, einer der führenden Männer der Komintern, in Halle, um diese Pläne zu verwirklichen. Schon im Herbste 1919 hatte sich in Heidelberg eine kleine "Kommunistische Arbeiterpartei" gebildet, die aber einmal zu schwach, sodann aber auch ohne engere Fühlung mit Moskau war. Sie wurde der Grundstein zu dem neuen Gebilde der "Kommunistischen Partei Deutschlands". Die bei den Reichstagswahlen im Juni abgegebene halbe Million Stimmen berechtigte die Russen zu den größten Hoffnungen. Daß sie den Sitz ihrer deutschen Parteibewegung nicht sogleich nach Berlin verlegten, leuchtete ein, denn es war mit so mancherlei Schwierigkeiten verknüpft, unmittelbar unter den Augen der deutschen Regierung zu arbeiten. Auch war wegen der Nähe der besetzten Rheinlande das Ruhrgebiet als Zentrum ungeeignet. Hier, mitten in Deutschland, in Halle, das schon zweimal eine starke kommunistische Energie bewiesen hatte, war ein von der deutschen Regierung ungestörter und von den Besatzungstruppen unbehelligter Aufbau möglich.
Sinowjew begann in Halle damit, den deutschen Unabhängigen zu sagen, daß sie vollkommen unfähig wären, praktische [93] kommunistische Politik zu treiben. Welch glänzende Gelegenheiten seien im März 1920 verpaßt worden! Der von der Regierung Ebert proklamierte Generalstreik sei der größte Generalstreik gewesen, den Deutschland je gesehen habe! Aber die deutschen Kommunisten haben ihn nicht auszunutzen verstanden, weil ihnen der Mut und die fachmännische Leitung fehlte! Man sehe nach Rußland und höre auf die Ratschläge der Russen, die schon jahrelange Erfolge verzeichnen könnten! Man sei in Moskau ganz unzufrieden mit der Leitung des Spartakusbundes in Deutschland; sie sei schwach und willenlos, sie habe in einer "einfach unwürdigen Passivität verharrt, vor den Ereignissen kapituliert, während sich die Kommunisten in der Provinz glänzend schlugen". Die große Masse der "passiven Elemente" habe der Leitung die Entschlossenheit geraubt, darum sei sie so säumig, so wenig schlagfertig gewesen. Und nun zeigte der gewandte Agitator, wie man in Rußland Revolution gemacht habe. Mit einem Schlage sei die gesamte Bourgeoisie durch Terror ungefährlich gemacht worden, man habe nicht vor grausamen Rücksichtslosigkeiten zurückgeschreckt. Wenn der Bourgeois nicht freiwillig Geld und Waffen hergab, so sei man nicht vor den letzten Mitteln, vor Blut und Feuer, zurückgescheut. Nur so dürfe das Proletariat auf den Sieg hoffen, alle Zugeständnisse, wie sie bei den Unabhängigen beliebt seien, müßten zur Niederlage führen. Keinerlei Zugeständnisse machen, tatkräftig und rücksichtslos vorgehen, nur das verbürge Erfolg! Aber nie werde man mit den Unabhängigen der Weltrevolution den Sieg erfechten, die entschlossenen Kämpfer müssen aus dieser lauen Partei heraus und sich in einer Kommunistischen Partei zusammenschließen. Unter der Leitung der Komintern werde diese eine wohlorganisierte, siegreiche Truppe zur Diktatur des Proletariats sein.
Bolschewistische Umtriebe |
|
Die Aussprache über Sinowjews Rede war sehr stürmisch. Es nutzte den Unabhängigen wenig, darauf hinzuweisen, daß die deutschen Verhältnisse nicht mit den russischen verglichen werden könnten, daß die deutsche Bourgeoisie und der deutsche Kapitalismus viel zu fest organisiert seien, als daß man so einfach und leicht wie in Rußland vorgehen könne. [94] Auch sei die deutsche Bourgeoisie zahlenmäßig wesentlich stärker als die russische. Doch Sinowjews Überredungskunst war stärker als nüchterne Erwägungen. Der linke Flügel löste sich von den Unabhängigen ab und konstituierte sich als "Kommunistische Partei Deutschlands". Diese wurde als Sektion der Komintern angeschlossen und entsandte nun zur direkten Übermittlung der Befehle ihre ständigen Delegierten nach Moskau. Die deutschen Kommunisten hatten sich, unbeschwert von moralischen und nationalen Hemmungen, freie Bahn geschaffen und den innigen Zusammenhang mit den Russen gefunden. Im Dezember wurde der erste Kongreß der Partei, die sich mit der in Heidelberg 1919 gegründeten "Kommunistischen Arbeiterpartei" vereinigt hatte und von Däumig geführt wurde, abgehalten und war das Sprachrohr einer halben Million Mitglieder, deren größter Teil im industriellen Gebiete der preußischen Provinz Sachsen ansässig war. Daß sich der Kongreß auf das in Moskau entworfene Programm festlegte, verstand sich von selbst.
Anfang 1921 erließ Lenin, der Vorsitzende der Komintern und gleichzeitig Vorsitzender der Kommunistischen Partei Rußlands, außerdem Vorsitzender der Volkskommissariate, also auch Staatsoberhaupt des Sowjetlandes, einen Geheimbefehl an die deutschen Kommunisten, worin er eifrige, ja skrupellose Agitation bis in die raffiniertesten Einzelheiten entwickelte und strengste Disziplin und Überwachung der Mitglieder forderte. Dieser Geheimbefehl wurde zufällig bekannt. Wie viele andere Botschaften mögen die Moskauer Kuriere überbracht haben, die nicht zur Kenntnis der Öffentlichkeit gelangten!
Mehr denn je brauchten die Lenker des Sowjetstaates in jener Zeit einen großen außenpolitischen Erfolg. In Kronstadt war ein Matrosenaufstand ausgebrochen, der auf Petersburg überzugreifen drohte. Im Kaukasus gärte es. Eine entsetzliche Hungersnot trieb das russische Volk an den Rand des Wahnsinns. Seuchen und Massensterben wüteten. Die Einwohner setzten sich über alle Schranken hinweg und wurden zu Kannibalen, Kinder und Menschen wurden geschlachtet und verzehrt. Der Reichsaußenminister Dr. Simons erklärte noch [95] Ende Januar im Reichstage, es sei noch nicht an der Zeit, mit Sowjetrußland in nähere Beziehungen zu treten, denn erstens seien die politischen Verhältnisse dort noch vollkommen ungeklärt und zweitens sei der Sowjetstaat vollkommen wirtschaftlich ruiniert, so daß sich Deutschland aus einer Verbindung mit ihm nichts versprechen könne, zudem trieben die Russen eine "unerwünschte Propaganda" in Deutschland.
In Deutschland wurde aufs heftigste geschürt, von hier erwartete man die Rettung Rußlands durch den Ausbruch der bolschewistischen Revolution. Die deutschen Behörden ergriffen zahlreiche Wühler, unter anderen den berüchtigten
Reuter-Friesland, einen desertierten deutschen Soldaten, den Henker der deutschen Wolgakommunisten, der als Agitator von Moskau gekommen war. Rußland erzwang durch Verhaftung deutscher Geiseln die Herausgabe dieses Menschen. Die Moskauer Regierung betonte zweideutigerweise, daß man zwischen ihr und der Komintern unterscheiden müsse. Die Regierung treibe grundsätzlich keine kommunistische Auslandspropaganda und für die Handlungen der III. Internationale könne sie nicht verantwortlich gemacht
werden. –
So war das Frühjahr 1921 herangekommen.
Die Besitzenden Deutschlands blickten nach Westen, wo sich das Schicksal der Wiedergutmachungen entscheiden sollte. In Oberschlesien wartete man auf die Abstimmung und verwirrten die Polen die Lage; mitten in dieser Zeit der Spannungen bereiteten die Kommunisten den Sturz der Regierung, die Errichtung des Bolschewismus vor.
Sie sahen in einer russischen Bundesgenossenschaft die Befreiung von den Wiedergutmachungsverpflichtungen gegenüber der Entente. Die rote Presse wurde täglich ausfallender und erging sich in blutrünstigen Drohungen gegen die Bourgeoisie. In Dortmund und Düsseldorf bildeten sich Stäbe der Roten Armee, welche Kompanien, Bataillone und Regimenter zusammenstellten. Der Sanitätsdienst und der Kurierdienst wurde gefechtsmäßig organisiert, in den russischen Gefangenenlagern, besonders in Kottbus, entfalteten Sowjetrussen eine eifrige Propaganda, und in Berlin wurden planmäßig kommunistische Kampforganisationen geschaffen. Es waren [96] weniger Arbeiter, die sich hieran beteiligten, als vielmehr Arbeitslose und lichtscheues Gesindel, das sich vielfach aus Verbrechern und gescheiterten Existenzen zusammensetzte. Man hatte unmittelbare Verbindungen mit dem Sowjetvertreter Viktor Kopp; bei ihm fanden zahlreiche Geheimsitzungen statt, an denen sich auch zwei Dutzend hervorragende russische Agitatoren beteiligten.
Der Kommandeur der deutschen "Roten Armee" war ein früherer Unteroffizier Kunze, der einen Gehilfen namens Henke hatte. Täglich wurden in Berlin Übungen abgehalten, und man rechnete für die Reichshauptstadt mit einer Truppenstärke von etwa zehntausend Mann. Im ganzen zählte die bolschewistische Streitmacht rund 160 000 Mitglieder, die in 214 Ortsgruppen verteilt waren. In Rheinland und Westfalen allein standen an die 30 000 Mann, die mit Handgranaten, Gewehren, Maschinengewehren, ja sogar mit Geschützen, Haubitzen und Minenwerfern bewaffnet waren. Unter der Reichswehr und Polizei wurde, getreu den Weisungen aus Moskau, eine umfangreiche Werbetätigkeit entfaltet. Die Kommunisten beurteilten ihre Aussichten äußerst günstig, war doch die Reichswehr verringert und die Polizei ihres staatlichen Charakters entkleidet worden, die Einwohnerwehren wurden, trotz ihrem Widerstreben, entwaffnet, jedoch die deutschen Bolschewisten betrachteten die Entwaffnungsgesetze als für sich nicht bindend.
Die deutschen Sicherheitsorgane aber waren wachsam. Bereits Ende Januar wurden in Berlin und Westfalen Führer der roten Bewegung verhaftet, neue Verhaftungen erfolgten Anfang Februar in Magdeburg, Essen, Königsberg, Mannheim und im mitteldeutschen Leunawerke. Die Schwurgerichtsverhandlungen zeigten, daß die Lage ernst war, und es wurden über eine Reihe der Verhafteten Zuchthausstrafen verhängt.
Am 15. März wurde bei Halle ein Güterzug zur Entgleisung gebracht. Das Verbrechen forderte drei Tote und sechs Schwerverletzte. Die Regierungsstellen sahen die Lage in Mitteldeutschland auf Grund der Ergebnisse aus den Prozessen als gefährdet an und begannen nach dem
Eisenbahn- [97] attentat Polizeikräfte in den Industrierevieren um Halle zu konzentrieren. Die Mansfelder Bergarbeiterschaft, die im Rufe stand, besonders radikal zu sein, protestierte gegen die Polizeiverstärkungen und eröffnete am 20. März den Generalstreik. Am gleichen Tage sollte ein Anschlag auf die Berliner Siegessäule gemacht werden, der das Zeichen für einen allgemeinen Aufstand in ganz Deutschland war. Er wurde vereitelt und Friedland, der Führer der kommunistischen Organisation in Berlin, verhaftet. Der Hallesche Klassenkampf gab der im Entstehen begriffenen mitteldeutschen Aktion die große politische Linie, indem er schrieb: "Den alleinigen Rettungsweg, ein
Schutz- und Trutzbündnis mit Rußland, will die Regierung nicht betreten. Sie wird sich als Vertreter der herrschenden Gesellschaft mit dem
Entente-Imperialismus zur Unterjochung und Aushungerung der Arbeiterklasse verständigen." Die kommunistische Aktion sollte die große Ostrichtung gegen die im Westen gepflogenen Wiedergutmachungsverhandlungen darstellen und durchsetzen und letzten Endes die bolschewistische Diktatur des Proletariats verwirklichen.
Die Mehrzahl der Arbeiterschaft, besonders die Verheirateten, hatten keinen Sinn für Streik und Revolution. Sie dachten an ihre Familien, die durch den Ausfall des Arbeitsverdienstes vom Hunger bedroht wurden, und die wirtschaftlichen Sorgen überwogen alle politischen Utopien. Nichtsdestoweniger gelang es den Führern, durch Terror die revolutionäre Bewegung in Gang zu bringen. Am 22. März trat im mitteldeutschen Leunawerke, das über 20 000 Arbeiter beschäftigte, ein Zustand passiver Resistenz ein. Die Arbeiter forderten Zurückziehung sämtlicher bewaffneten
Polizei- und sonstiger Organisationen aus Mitteldeutschland, Entwaffnung dieser Organisationen, Bewaffnung der Arbeiterschaft und drohten mit dem Streike, falls Polizei in die Betriebe
einrücke. – Im Mansfeldischen hatte der Streik unter kommunistischem Terror auch auf die Landarbeiterschaft übergegriffen, und in Eisleben und Hettstedt kam es zu ersten
Zusammenstößen. –
Ein bedenkliches Abflauen der Bewegung ließ sich trotzdem überall erkennen, der Elan von 1919 und 1920 war nicht [98] mehr vorhanden, und es bedurfte eines gewaltsamen Anstoßes, um den offenen Aufruhr ausbrechen zu lassen. Nach echt russischem Vorbild ging man mit Bomben, Dynamit und rohen Gewaltakten zu Werke. Am 22. März abends gegen elf Uhr wurde ein Attentat auf den von Halle nach Leipzig fahrenden Schnellzug verübt. Er entgleiste zwischen Dieskau und Gröbers, und sieben Verletzte waren zu beklagen. In Plauen und Auerbach, zwei Städten des Vogtlandes, explodierten Bomben in den Rathäusern und verheerten diese. In Rodewisch im Vogtlande flog morgens um 3 Uhr ein Teil des Rathauses in die Luft, und gegen das Gerichtsgebäude in Freiberg in Sachsen ging man mit Dynamit vor. In den Landgerichtsgebäuden Leipzigs und Dresdens erfolgten Dynamitexplosionen.
[Bd. 2 S. 224a]
1921: Reichswehr vor dem Rathaus in Klingenthal (Vogtland) im Kampf gegen den roten Terror. Photo Scherl.
|
|
[Bd. 2 S. 224a]
Kommunisten-Umzug
in Berlin. Photo Scherl. |
Am 23. März standen die mitteldeutschen Industriebezirke in hellem Aufruhr, der besonders intensiv und gewalttätig im Mansfeldischen tobte. Die Aktion wurde auf das denkbar einfachste finanziert: am Vormittage fuhr vor der Kreissparkasse in Mansfeld ein Kraftwagen vor, der, wie so viele andere, seinem Besitzer einfach weggenommen worden war, und die Insassen erzwangen mit vorgehaltenen Revolvern die Herausgabe des gesamten Barbestandes in Höhe von 200 000 Mark. Gleich darauf wurde in Helbra die Volksbank und das Kreissparamt ausgeraubt, und in Mansfeld teilten die Kleinbahn und das Postamt das gleiche Schicksal. Zwei Tage später versuchte man hier das Amtsgericht zu sprengen und drohte mit der Sprengung des Finanzamts, des Landratsamtes und des
Schlosses. –
[Bd. 2 S. 192b]
Von Kommunisten gesprengtes
Haus in Hettstedt. [Photo Scherl?]
|
|
[Bd. 2 S. 192b]
1921: Von Kommunisten
gesprengte Hettstedter Bank. Atlantic-Photo. |
An den Straßenecken wurden Plakate auf flammend rotem Papier angeklebt, welche die gesamte männliche Bevölkerung zwischen sechzehn und sechzig Jahren aufforderte, Waffendienst in der Roten Armee zu tun. Das Bürgertum entzog sich zwar der Ausführung dieses Befehls, mußte aber doch stellenweise unter dem Zwange der Gewalt nachgeben. Bergwerke und Schächte wurden von bewaffneten Banden besetzt, welche Polizei und Arbeitswillige beschossen.
Telegraphen- und Telephondrähte wurden zerschnitten, Bahnschienen aufgerissen, bei Hettstedt wurde die Brücke der Kleinbahn gesprengt. Auf den Landstraßen entstanden Drahtverhaue und [99] Barrikaden. Gutshöfe wurden ausgeplündert, Pferde und Kraftwagen weggenommen, Vieh geschlachtet, die Wohnungseinrichtungen zertrümmert und die Scheunen in Brand gesteckt. Vor den Dörfern wurden Schützengräben ausgeworfen.
In ganz Mansfeld loderten die Flammen des Aufruhrs. Am schlimmsten aber ging es in Eisleben her, dem Stützpunkt der Polizei. Es kam zu Plünderungen, es gab Tote und Verwundete. Ein Bericht vom Nachmittag des 23. März besagte folgendes:
"Zur Stunde ist kein Sicherheitsbeamter mehr in den Straßen zu sehen, und die Aufrührer haben die Oberhand. Das offenbart sich denn auch an den Plünderungen, die am späten Nachmittag am Marktplatz und in den Nebenstraßen einsetzten und besonders
Konfektions- und Schuhwarengeschäfte betrafen. Vereinzelt fallen noch immer Schüsse. Die Schutzpolizei hat sich in ihre Quartiere zurückgezogen. Der in der Mädchenvolksschule liegenden Abteilung wurde ein Ultimatum gestellt. Falls sie sich bis zum Abend nicht ergeben habe, werde man die Stadt an allen Ecken anzünden."
Die Rote Fahne in Berlin frohlockte: "Wir schließen ein
Schutz- und Trutzbündnis mit Sowjetrußland, und keine Macht der Welt kann uns niedertreten. Verbündet Euch in allen Orten. Nehmt den Euch aufgezwungenen Kampf auf der ganzen Linie auf. Es lebe die einheitliche Kampffront aller Arbeiter! Auf zum Generalstreik!"
Der Oberpräsident der Provinz Sachsen, Hörsing, verhängte am 24. März mittags den Belagerungszustand über die Aufruhrgebiete. Durch die weiter durchgeführte Konzentration der Polizeikräfte gelang es schließlich, Eisleben von der kommunistischen Herrschaft zu befreien (25. März). Die Kommunisten wollten sogar, als sie ihre Niederlage vor Augen sahen, Verhandlungen mit dem Kommandeur der Polizei anknüpfen! Der aber lehnte sie ab und stellte ihnen folgende Forderungen: Die aufrührerischen Banden haben sofort den Kampf einzustellen, dann werde die Polizei nicht mehr schießen, alle Waffen und Munition seien sofort abzugeben; diejenigen, die solche freiwillig ablieferten, wolle man nicht nach Namen fragen und auch nicht verfolgen. Sämtliche Kraftwagen und sonst geraubte Sachen seien sofort [100] zurückzugeben. Gestattet werde, daß die Ortsbehörden die Waffen einsammeln. In allen Betrieben sei die Arbeit sofort wieder aufzunehmen.
Jedoch die Kommunisten waren weit entfernt, auf diese Forderungen einzugehen. Trotzdem der Kommandeur jeden Verkehr auf der Straße nach sieben Uhr abends untersagte und den Gebrauch von Fahrrädern gänzlich verboten hatte, rotteten sich die Banditen in der Nacht zusammen und versuchten das Eisleber Rathaus zu stürmen. Sie wurden unter schweren Verlusten zurückgeschlagen. Mehrere Maschinengewehre, drei Kisten Dynamit, die man für die Sprengung des Rathauses bestimmt hatte, und dreißig Gewehre erbeutete die Polizei, die ihrerseits zwei Tote und drei Verwundete verlor. Nun aber ergriffen die Unruhen die östlich von Mansfeld gelegenen Teile der Provinz, und in Berlin kam es zu Zusammenrottungen. Das sehr ausgedehnte Leunawerk wurde von bewaffneten Arbeiterregimentern besetzt, die aus allen Teilen der Provinz, besonders aus dem Bergbaugebiet des Geiseltales zusammengeströmt waren. In Halle gab es kein Gas und Wasser mehr, Delitzsch wurde unruhig. In der Gegend zwischen Halle und Leipzig formierten sich neue rote Truppen. Es war ein unheilschwangeres, blutiges Osterfest, welches für Mitteldeutschland anbrach. Rastlos eilten die Kuriere und Radfahrpatrouillen der Kommunisten von Truppe zu Truppe und überbrachten Nachrichten und Befehle. Auf der Bevölkerung lastete der Alp der Proletarierdiktatur, und die Besitzenden mußten wohl oder übel die Geldtribute zahlen, die ihnen abgepreßt wurden.
Während der Osterfeiertage wurde Eisleben gesäubert. Man fing in dieser Stadt allein 60 Russen, die in russischer Uniform am Aufstand teilgenommen hatten. Das Mansfelder Revier jedoch, das die Verwüstungen eines Schlachtfeldes aufwies, wurde noch von den Kommunisten behauptet, deren Oberbefehl Max Hölz, der erfolgreiche Kommunistenführer des Vogtlandes, übernommen hatte. Sein Hauptquartier war Klostermannsfeld, und ein Stab von 20 Köpfen befand sich bei ihm.
Am Ostersonntag fiel seine Horde in die Kreisstadt Sangerhausen ein, wo auf das in der Nähe des Bahnhofs liegende [101] Hauptpostamt ein Dynamitanschlag verübt wurde, um es zu berauben. Nach schwerem, vierstündigem Straßenkampfe gelang es württembergischer Reichswehr, die Räuber zu vertreiben. Gleichzeitig flog die Eisenbahnbrücke bei Artern in die Luft.
[Bd. 2 S. 208a]
1921: Von Kommunisten gesprengtes Stellwerk bei Ammendorf.
[Photo Scherl?]
|
|
[Bd. 2 S. 208a]
1921: Eisenbahnattentat
bei Halle. [Photo Scherl?] |
Am Dienstag nach Ostern, dem 29. März, begann der Vormarsch der Polizeitruppen. An diesem Tage wurde das bereits im Vorjahre heftig umkämpfte Ammendorf im Süden Halles den roten Truppen entrissen. Hier war in der Morgenfrühe des zweiten Osterfeiertages die große über die Saale führende Eisenbahnbrücke gesprengt worden, um weitere Antransporte von Reichswehr aus dem südlichen Deutschland unmöglich zu machen. Die Ordnungstruppe, die, allein zu schwach, genügende Unterstützung durch Reichswehr erhalten hatte, rückte gegen das Leunawerk vor; die hier stehenden Arbeitertruppen, die im übrigen die unbedingt erforderlichen Notstandsarbeiten verrichten ließen und Zucht bewahrten, waren entschlossen, sich zur Wehr zu setzen. Dieser Entschluß kam aber nicht aus tiefstem Herzen. Auf die jungen, militärisch ungeübten Burschen war kein Verlaß, denn sehr viele von ihnen waren schon vor Ostern desertiert, um die Feiertage bei ihren Bräuten und Geliebten verleben zu können, da diese dem kriegerischen Handwerk der Männer wenig Verständnis entgegenbrachten. Die Familienväter andererseits, welche die Feiertage fern von ihrer Familie verbracht hatten, waren verdrossen, daß die jungen Leute die Last des Kampfes auf sie abwälzen wollten, und viele von ihnen waren Rotgardisten wider Willen. Zwar war ein Haufen von Leipzig aus zur Verstärkung im Anmarsch gewesen, jedoch bei Mölkau hatte er sich nach kurzem Gefecht mit der Polizei fluchtartig aufgelöst, und nur wenigen gelang es, sich nach Leuna durchzuschlagen. Der proletarische Widerstand im Leunawerk war aus diesen Gründen sehr schwach, und nach kurzen Kämpfen in den Vormittagsstunden des 29. März ging der riesige Industriekomplex in die Gewalt der Polizei über. Rund 1200 Gefangene wurden gemacht.
[Bd. 2 S. 208b]
1921: Eisleben,
Gefangene Kommunisten und ihr Führer.
Photo Scherl.
|
|
[Bd. 2 S. 208b]
1921: Von Kommunisten
gesprengter Bahnhof in Hettstedt.
Atlantic-Photo. |
Hartnäckigen Widerstand aber leistete immer noch das Mansfelder Revier. Man war doch gezwungen, gegen die kommunistischen Stützpunkte bei Helbra Artillerie einzusetzen. Es [102] stand außer jedem Zweifel, daß der Herd der Aufruhrbewegung unter der Mansfelder Bergarbeiterschaft zu suchen war. Der Bandenführer Hölz erließ am 29. März folgenden Aufruf, der für den Geist der Insurgenten bezeichnend ist:
"Seit Montag, dem 21. März, stehen wir in Mitteldeutschland, in Eisleben, Mansfeld, Hettstedt usw. im schärfsten Kampf mit der Sipo. Wir erwarten von Euch, daß Ihr uns unterstützt in diesem Kampfe. Wir verlangen, daß Ihr zu uns kommt, einzeln oder geschlossen, mit oder ohne Waffen, ganz gleich. Die Hauptsache, daß Ihr kommt. Wenn Ihr aus irgendwelchen Gründen nicht zu uns kommen könnt, dann erwarten und verlangen wir von Euch, daß Ihr dort, wo Ihr seid, den Kampf aufnehmt mit den bezahlten Henkersknechten Eurer Ausbeuter. Entwaffnet die Bürger, die Polizei, die Gendarmerie, die Sipo, die Reichswehr, beschlagnahmt alle erreichbaren Gelder, sprengt die Schienen, die Gerichte, die Gefängnisse, befreit alle Gefangenen. Der 'Sozialist' Hörsing mit seinen Banden hat den Belagerungszustand über Mitteldeutschland verhängt. Der 'Sozialist' Hörsing läßt in Mitteldeutschland Arbeiter, Kinder und Frauen erschießen, nur deshalb, weil sie Arbeiter sind und um ihr Brot und ihre Freiheit kämpfen. Wir haben sofort als Gegenmaßnahme das proletarische Standrecht verhängt, das heißt wir kämpfen mit allen Mitteln gegen die Henker des Proletariats. Wir schlachten die Bourgeoisie ab ohne Unterschied des Alters und des Geschlechts, wir sprengen ihre Schlösser und Paläste, ihre Villen in die Luft, wir nehmen ihnen das geraubte Gut, das Geld, das Gold, was sie den Arbeitern durch Ausbeutung und Wucher zuerst geraubt haben. Wenn die Sipo nicht sofort abzieht und uns die Waffen abgibt, werden wir ein furchtbares Blutbad unter der Bourgeoisie anrichten, denn diese Ausbeuter haben diese Henkersknechte gerufen, sie sollen sie auch wieder dorthin schicken, wohin sie gehören, oder sie werden mit ihnen zusammen abgeschlachtet. Genossen, die Stunde ist ernst, die Gelegenheit ist günstig, handelt wie auch wir handeln, nur die Tat kann uns retten. Geht zur Tat über!
Max Hölz,
Hauptquartier Klostermannsfeld."
[103] Roh im Ausdruck der Sprache, roh im Aufbau der Gedanken, war dieser Aufruf nicht weniger roh in der Bekundung der Gefühle und in der Aufforderung zu gemeinen, verbrecherischen Taten. Aber vom starken Arme dieses Helden hoffte der deutsche Kommunismus und Sowjetrußland zuversichtlich das beste Gelingen ihrer Aktion, und um die kommende Räteherrschaft gebührend vorzubereiten, erließ der "politische Kommissar" der noch nicht bestehenden Sowjetregierung im Mansfelder Gebiete am gleichen Tage folgende Bekanntmachung:
"An die Bevölkerung der Mansfelder Kreise!
Das werktätige Volk der Mansfelder Kreise hat die politische Macht selbst übernommen und mich zum politischen Kommissar bestellt. Kraft dieser Bestellung verordne ich:
Alle Amts- und Gemeindevorsteher unterstehen nur noch meinen Anordnungen und haben Anordnungen von irgendwelcher andern Seite, den Landräten und sonstigen Behörden, keine Folge zu leisten.
Alle Amts- und Gemeindevorsteher erhalten bis zur Wahl von Arbeiterräten einen politischen Beirat, der für die Durchführung meiner Anordnungen verantwortlich ist.
Die Landräte der Mansfelder Kreise sind außer Dienst gestellt und haben sich jeder Amtshandlung zu enthalten.
Die politischen Beiräte tragen mit Sorge für die sofortige Besetzung der
Post- und Telegraphenanstalten mit zuverlässigen Arbeitern. Der Telegraphenbetrieb wird vorläufig unterbunden. Der Postbetrieb bleibt, jedoch nur für die Mansfelder Kreise, bestehen.
Beschlagnahmungen irgendwelcher Art geschehen nur auf meine Anweisungen. Plünderungen werden mit dem Tode bestraft.
Die Versorgung der Bevölkerung wird sichergestellt. Alle Vorräte an Lebensmitteln sind durch mich beschlagnahmt und hat jeder derzeitige Inhaber dieselben zu meiner Verfügung zu halten. Es wird von jedermann über die Verwendung Rechenschaft gefordert.
Die Arbeiterschaft trägt die volle Verantwortung für die Durchführung meiner Anweisungen. Jeder Widerstand gegen [104] die Macht der Arbeiterklasse wird mit allen Mitteln gebrochen.
Arbeiter, handelt nach dem Vorbild, welches Euch von der Reaktion bei den früheren Kämpfen gegeben wurde.
Der politische Kommissar für die Mansfelder Kreise
Paul Bowitzky."
So unbeholfen in der Sprache dieses Manifest auch wirkte, so war doch die ganze Zuversicht des Erfolges in ihm niedergelegt, und in den beiden Dörfern Hedersleben und Dederstedt wurde die Räteherrschaft ausgerufen.
Auch in Halle machten die Kommunisten verzweifelte, aber vergebliche Anstrengungen, die Macht in die Hände zu bekommen. Am Ostersonnabend (dem 26. März) versuchte man ein Roboritattentat auf das Polizeipräsidium, aber es wurde entdeckt und kam nicht zur Ausführung. Desgleichen wurden Bombenanschläge gegen die Hallesche Zeitung, die Saalezeitung und die mehrheitssozialistische Volksstimme in der Nacht zum Ostersonntag vereitelt. Es gelang nach vielen Mühen, an diesem Tage sechs Rädelsführer im Klassenkampfgebäude zu verhaften. Der Kommunist Lemck hatte an die Hallesche Arbeiterschaft einen Kampfaufruf erlassen, die Mansfelder Genossen zu unterstützen. In der Industrie wurde gestreikt, doch die städtischen Arbeiter und Angestellten schlossen sich aus. Auch der Eisenbahnverkehr wurde durchgeführt, wenn auch auf den Strecken nach Sangerhausen, Thüringen und Leipzig der Betrieb wegen der Gefahr der Beschießung und Zerstörung des Bahnkörpers vorläufig unterbrochen werden mußte. Die Lage in Halle war zum mindesten gespannt. Erst am 30., als die Rebellion durch Hölz' Tätigkeit neu angefacht worden war, legten auch die städtischen Arbeiter im
Gas- und Elektrizitätswerk die Arbeit nieder, so daß die Technische Nothilfe die Weiterführung dieser Betriebe übernehmen mußte. Aber nur für einen Tag. In der Nacht wurde das kommunistische Hauptquartier in der Reilstraße Nr. 84 ausgehoben, wobei die Kommunisten Schneidewindt und Hartfeld getötet wurden. Damit war die Bewegung der geistigen Leitung beraubt, und ihr endgültiger Zusammenbruch stand bevor.
[105] Während die Reichswehr Delitzsch besetzte, ging die Polizei in Richtung auf Leipzig vor, da von dort der Anmarsch neuer Proletarierhaufen gemeldet wurde. Bei Gröbers kam es zum Kampfe, der, wie überall, so auch hier, für die Ordnungstruppen sehr schwer war, da die Aufrührer hinterrücks aus Häusern, Höfen und Hecken schossen. Es gab auf beiden Seiten Tote und Verwundete. In geradezu entsetzlicher Weise wurden die toten Polizeibeamten ihrer Uniformen beraubt. Die Augen wurden ihnen ausgestochen, und in schändlichster Weise wurden sie zugerichtet. Hyänenhafte, entmenschte Weiber taten sich besonders hervor.
Zusammenbruch
der Erhebung |
|
Das letzte Aufflackern des Aufruhrs zeigte sich im mittleren Saalekreis, nördlich von Halle. Hölz mußte vor der heranrückenden Reichswehr aus Mansfeld weichen, hatte mit seinen Banden bei Wettin die Saale überschritten und brandschatzte die Dörfer am Petersberge. Stationskassen wurden ausgeraubt, Fleischerläden und Güter geplündert, junge Leute zum Waffendienst gepreßt. Jedoch den Kommunisten in Könnern warf man vor, daß sie "schlapp" seien. In diesem Gebiet, das keineswegs so industriereich war wie das Mansfeldische, war es ein leichtes, den Aufstand zu ersticken.
Anfang April war der schöne Traum von Weltrevolution und Rätediktatur ausgeträumt. Die roten Soldaten, die vor kurzem noch das Gewehr trugen, fuhren wieder in die Schächte der Kupferschieferbauenden Gewerkschaft, der Riebeckschen Montanwerke und der Kalibergwerke, und die kommunistischen Führer, soweit man ihrer habhaft geworden war, sahen auf der Anklagebank der Sühne ihrer Taten entgegen. Mansfeld, das im Jahre 1525 vom Bauernkrieg heimgesucht worden war, hatte 400 Jahre später seinen blutigen Arbeiterkrieg erlebt.
Unruhen in Hamburg
und im Ruhrgebiet |
|
Auch an anderen Stellen Deutschlands war die Flamme des Aufruhrs emporgelodert, aber nicht so gewaltig, wie im mittleren Deutschland. In Hamburg verlangten am 23. März die Arbeiter der Vulkanwerft sofortige Einstellung aller Arbeitslosen. Die Werft Blohm & Voß wurde besetzt, das Direktionsgebäude gestürmt. Es kam zu blutigen Zusammenstößen, Tote und Verwundete blieben zurück. Doch dank dem tatkräftigen [106] Eingreifen der Polizei wurde eine weitere Ausbreitung des Aufstandes verhindert.
Ein kommunistischer Aufstand, an dem sich nicht das Ruhrgebiet beteiligt hätte, wäre nur eine halbe Angelegenheit gewesen. Aber schon beizeiten war Polizei und Reichswehr dorthin dirigiert worden, und der Belagerungszustand war verkündet. Nichtsdestoweniger wurde am 26. März im gesamten Gelsenkirchener Revier der Generalstreik verkündet, dem sich auch einige Zechen des Essener Reviers anschlossen. Eifrig hetzten die Kommunisten, und am Ostermontag, dem 28. März, kam es zu einer großen Demonstration in Essen, bei der man unter dem anfeuernden Rufe "Nieder mit den Bluthunden!" Entfernung der Polizei und der Reichswehr forderte. Die mehrfache Aufforderung, sich zu zerstreuen, wurde von der Menge mit Hohngelächter beantwortet, und es kam zum Kampfe: Elf Kommunisten wurden erschossen, vierzig verwundet, auf seiten der Polizei gab es drei Tote und zehn Verwundete. Die Folge war, daß am nächsten Tage auch in Essen der Generalstreik ausgerufen wurde.
In Mettmann und Gevelsberg wurden die Reichsbankstellen überfallen und ausgeplündert, Wülfrath bei Münster wurde von roten Truppen besetzt, und in Velbert proklamierte man die Räterepublik, nachdem man auch hier die Reichsbankstelle ausgeraubt hatte. Aber schon nach wenigen Tagen rückte, zum Teil nach schweren Kämpfen, die Polizei ein und schaffte wieder Ordnung. Auch in Remscheid hatte man versucht, sich die nötigen Finanzen durch einen Bombenanschlag auf die Kämmereikasse zu verschaffen. Bei dieser Stadt kam es am letzten Tage des März zu einem größeren Gefecht, das mit der Gefangennahme von 400 Kommunisten endete. Ein Teil der Aufrührer trat auf das neubesetzte Gebiet über und wurde dort von den Engländern entwaffnet. Das rechtzeitig hierher geschickte starke
Polizei- und Militäraufgebot und die Nähe der englischen und französischen Truppen hatten verhindert, daß der Aufstand im Ruhrgebiet solche Wucht wie in Mitteldeutschland bekam.
Dunkle Umtriebe machten sich auch in Bremen bemerkbar. In der Nacht zum 31. März waren
70 Fernsprech- und [107] Telegraphenleitungen nach Hamburg, Hannover, Bremerhaven und Berlin zerschnitten worden. Jedoch zu weiteren Ausschreitungen kam es
nicht. –
Bis weit in die Reihen der Unabhängigen hinein verurteilte das deutsche Volk einstimmig die Verwegenheit der Kommunisten, mit der sie ein blutiges Verbrechen auf das andere häuften. Abgesehen von den kommunistischen Provinzblättern war es lediglich die Rote Fahne, die täglich aufs neue Öl ins Feuer goß. Die russische Bundesgenossenschaft und die proletarische Rätediktatur in Deutschland waren die letzten und höchsten Ziele, die erstrebt wurden.
Es hätte nicht der Fingerzeige in der deutschen und ausländischen Presse bedurft, um die direkte russische Mitwirkung bei dem Aufruhr zu erkennen. Nicht allein, daß man viele fragwürdige Gestalten mit russischen Uniformen, russischen Gesichtern und russischem Gelde gefangengenommen hatte, die zwar zum Teil aus russischen Gefangenenlagern entwichen, zum Teil aber auch frisch aus dem Sowjetlande importiert worden
waren, – es war gewiß kein Zufall, daß die geistigen Urheber des Unternehmens gerade zu jener Zeit in Scharen nach Rußland strömten. Da befand sich Dr. Kurt Geyer in Moskau, die Genossen Otto Braß und Koenen, von dem gespottet wurde, er sei unauffindbar, wenn irgendeine große Aktion im Gange sei, saßen im Schnellzug und reisten ostwärts, begleitet von Fritz Heckert, dem Führer des Chemnitzer Proletariats.
In Moskau aber rieb man sich die Hände und frohlockte. Der redselige Sinowjew, eine der Hauptgrößen der Komintern, sagte einige Monate später wörtlich:
"Als wir die ersten Informationen über sie (= die Märzaktion 1921) erhielten, waren die Genossen Braß, Geyer und Koenen hier. Wir hatten nach den ersten Informationen alle das Gefühl: endlich ist der Stein ins Rollen gekommen, endlich hat eine Bewegung in Deutschland angefangen, endlich frische Luft."
Nach der Niederlage waren natürlich Sinowjew und seine Genossen enttäuscht. Und nun setzte die Kritik ein: Die deutschen Kommunisten seien zu voreilig gewesen, deshalb hätten sie sich verzettelt, genau so wie sie sich im Vorjahre durch die [108] Langsamkeit ihrer Leitung verzettelt hätten.
"Als wir unsere ersten Aufrufe nach der Niederlage schrieben, haben die Genossen Braß und Geyer die Sache ebenso beurteilt wie wir alle. Wir haben den Aufruf dem Genossen Kurt Geyer in die Feder diktiert. Er fungierte als Stenograph. Es ist dabei kein einziges Amendement durch die deutschen Genossen abgelehnt worden."
Es habe sich nicht um einen Putsch, sondern um einen aufgezwungenen Abwehrkampf gehandelt, es sei ein Schritt vorwärts gewesen, ein Kampf, dessen sich die Arbeiterklasse nicht zu schämen brauche. Deshalb erklärte Sinowjew im Namen der Komintern: "Wir stehen zur Aktion."
Die russischen Umtriebe waren an der Festigkeit des deutschen Charakters, an der deutschen Gründlichkeit und Beharrlichkeit gescheitert. Rußlands letzter Trumpf gegen Deutschland und für die Weltrevolution war verloren. Die Bolschewisten erkannten, daß sie sich verrechnet hatten im Tempo ihres Vorwärtsstürmens, sie erkannten, daß sie die Weltrevolution nicht erzwingen konnten, da sie mit starken Widerständen kämpfen mußten, und
beschlossen – zu warten. Das war das Resultat des Kongresses der Komintern im Juli 1921: Das Bündnis mit Deutschland, welches auf gesetzmäßigem Wege nicht erreicht werden konnte, war auch auf revolutionärem Wege nicht erreicht
worden. –
Es mag mit Rücksicht auf den bevorstehenden Vertragsabschluß gewesen sein, daß der Außenminister Dr. Simons im April im Reichstag erklärte, er könne sich nicht von der Meinung freimachen, daß sich für eine Agitation der Sowjetregierung in Deutschland keine Anhaltspunkte erbringen ließen. Es vollziehe sich sogar allmählich ein Wechsel in der Haltung der Sowjetregierung, die sich allmählich wieder den Forderungen der Weltwirtschaft anzupassen versuche. Das war formal richtig, aber derselbe Lenin, der an der Spitze der Sowjetregierung stand, hatte als Vorsitzender der Komintern jene dunkle Agitation in Deutschland betreiben lassen, die zu dem blutigen Märzaufruhr führte.
Die zweite Instanz Rußlands, die Sowjetregierung, war nämlich inzwischen auch nicht müßig gewesen. Am 6. Mai wurde ein Ergänzungsabkommen zum Abkommen vom [109] 19. April 1920 abgeschlossen, worin die unverzügliche Heimbeförderung der beiderseitigen Kriegsgefangenen vereinbart wurde. Nach den Vorgängen im März hatte Deutschland ganz besonderes Interesse, mit größter Beschleunigung die Heimbeförderung der Russen durchzuführen, denn diese hatten sich durch Teilnahme am kommunistischen Aufstand einwandfrei als lästige Ausländer erwiesen.
Neuer
deutsch-russischer Vertrag |
|
Rußland aber, das zwar lieber den Sieg der Weltrevolution in Deutschland gesehen hätte und auf ein bolschewistisches Deutschland große außenpolitische Hoffnungen, besonders gegen England, setzte, verspürte aber doch das unabweisliche Verlangen, engere Handelsbeziehungen zum bürgerlichen Deutschland aufzunehmen, wenn auch dieses sich noch etwas spröde zeigte. Die Frucht dieser russischen Bemühungen war schließlich ein Vorläufiges Abkommen zwischen dem Deutschen Reiche und der Russischen Sozialistischen Föderalistischen
Sowjet-Republik (R.S.F.S.R.) über die Erweiterung des Tätigkeitsgebietes der beiderseitigen Delegationen für Kriegsgefangenenfürsorge, ebenfalls vom 6. Mai 1921: "Von dem Wunsche beseelt, dem Frieden zwischen Deutschland und Rußland zu dienen und in gegenseitigem Wohlwollen das Gedeihen beider Völker zu fördern", wurde das Abkommen getroffen, das die beiderseitigen Delegationen für Kriegsgefangenenfürsorge auch mit der Wahrnehmung der Interessen ihrer Staatsangehörigen betraute. Ihnen sollten zur Pflege der Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern Handelsvertretungen angegliedert werden. "Bis zur vollständigen Wiederaufnahme der normalen Beziehungen" führten die Delegationen die Bezeichnung: "Deutsche Vertretung in Rußland" und "Vertretung der R.S.F.S.R. in Deutschland". Um allen Mißverständnissen vorzubeugen, mußte Rußland erklären, daß diese Instanz als einzige Vertretung des russischen Staates in Deutschland zu betrachten sei. Die Leiter der Vertretungen wurden mit den Vorrechten und Freiheiten der Chefs beglaubigter Missionen ausgestattet.
Diese neuen Vertretungen erhielten konsularische Befugnisse und hatten die Interessen ihrer Staatsangehörigen "nach Maßgabe völkerrechtlichen Herkommens" wahrzunehmen, [110] Pässe, Personalausweise und Sichtvermerke auszustellen, Urkunden aufzunehmen, zu legalisieren und zu beglaubigen. Außerdem hatte die deutsche Handelsvertretung in Moskau die wirtschaftlichen Interessen des Deutschen Reiches und seiner Angehörigen zu schützen, während die russische Handelsvertretung in Berlin für den Rechtsverkehr auf deutschem Gebiet als legitimierte Vertreterin der russischen Regierung auftrat.
Für Rußland kam es aber bei diesem Vertrage vor allem darauf an, wirtschaftliche Vorteile zu erringen, um dem tief darniederliegenden Volke neue Hoffnungen zu erwecken und die Dauer der kommunistischen Regierung zu verlängern. Aus diesem Grunde war Sowjetrußland zu Zugeständnissen bereit. Ein solches war es, daß sie den Deutschen, die sich zu Handelszwecken in Rußland aufhielten, die Unverletzlichkeit ihres gesamten mitgeführten und in Rußland erworbenen Eigentums gewährleistete. Außerdem verpflichtete sich Rußland, mit deutschen Privatpersonen, Firmen und juristischen Personen Rechtsgeschäfte auf russischem Gebiet nur mit Schiedsgerichtsklauseln abzuschließen, die auf deutschem Boden abgeschlossenen Handelsgeschäfte sollten den deutschen Gesetzen unterworfen sein, jedoch sollte Rußland das Recht haben, auch hier die Schiedsgerichtsklausel einzufügen.
Wichtig für Deutschland war Artikel XV:
"Die beiderseitigen Vertretungen und die bei ihnen beschäftigten Personen haben sich bei ihrer Tätigkeit streng auf die ihnen nach diesem Abkommen zufallenden Aufgaben zu beschränken. Insbesondere sind sie verpflichtet, sich jeder Agitation oder Propaganda gegen die Regierung oder die staatlichen Einrichtungen des Aufenthaltsstaates zu enthalten."
Diese Bestimmung war sehr wichtig, denn man hatte ja während des Hölzaufstandes erlebt, in welch gefährlicher Weise die russische Delegation in Berlin am Aufruhr beteiligt gewesen war.
Für Rußlands kommunistische Politik bedeutete dieser Vertrag einen Rückzug. Im Kampf zwischen Bolschewismus und bürgerlicher
Staats- und Wirtschaftsform, welcher gewissermaßen ein Kampf zwischen Rußland und Deutschland war, war das bürgerliche Deutschland Sieger geblieben. Rußland hatte die Folgen gezogen und gleichsam mit weitgehenden [111] Zugeständnissen an das privatkapitalistische System seinen Frieden mit Deutschland gemacht. Der Vertrag war ein Baustein in der Neuen Ökonomischen Politik, jenem wirtschaftlichen Kompromiß, den das radikale Sowjetreich nun mit Europa zu schließen gezwungen war.
Deutsche
Wirtschaftsentwicklung
nach Osten |
|
Das Deutsche Reich, zwar von sich aus nicht gewillt, engere Beziehungen mit Rußland anzuknüpfen, war dennoch dazu bereit, nachdem Sowjetrußland die notwendigen vertraglichen Sicherheiten gegeben hatte. Es war dieser Vertrag für Deutschland die erste Tür, die es seinem Außenhandel eröffnete mit der Wahrscheinlichkeit, wirtschaftliche Vorteile zu erringen. Ja, Deutschland mußte diese Gelegenheit ergreifen. War doch Rußland das einzige Land von Bedeutung, mit dem Deutschland nach freiem Ermessen Handel treiben konnte, ohne durch die einseitige Meistbegünstigung des Versailler Vertrages gefesselt zu sein. Von Westen bedrängt und bedrückt, war dem deutschen Volke und seiner Wirtschaft jetzt eine Möglichkeit gegeben, selbst aktiv, bestimmend und aussichtsreich sich nach Osten entfalten zu können, und diese Aussicht, diese Hoffnung eröffnete sich genau in dem Augenblick, als die Westmächte ihr vernichtendes Londoner Reparationsultimatum an Deutschland richteten.
Es zeigte sich in der folgenden Zeit, daß die russische Handelsvertretung in Berlin keineswegs dem Artikel XV. die Beachtung schenkte, die ihm zukam. Aber die bisher unterbrochenen Wirtschaftsbeziehungen Deutschlands zum russischen Staate belebten sich. Deutsche Großindustrielle und deutsche Ingenieure kamen in die Lage, große, vielfach noch jungfräuliche Wirtschaftsgebiete Osteuropas zu erschließen. Besonders die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft fand ein reiches Betätigungsfeld durch den Ausbau des Elektrizitätswesens in der Industrie und auf den Eisenbahnen. Eines der bedeutendsten Werke moderner Technik, die Elektrifizierung der 5 000 Kilometer langen sibrischen Bahn von Moskau nach Wladiwostock, war nur durch die Arbeit und den Geist deutscher Ingenieure durchführbar. Auch die Landwirtschaft im russischen Süden wurde durch deutsche Kräfte gefördert. Jedoch hatte man mehr erhofft, als man erreichte.
|
|