[Bd. 2 S. 112] 13. Kapitel: Oberschlesiens Leidensweg. In jenen Tagen, da die deutschen Staatsmänner mit dem europäischen Westen um vernünftige Wiedergutmachungsbedingungen verhandelten und der russische Osten mit Tücke und Gewalt nach dem Besitze des Herzens Europas drängte, vereinigte eine andere Angelegenheit die Augen nicht nur Deutschlands, sondern der ganzen Welt auf sich: die Entscheidung über das Schicksal Oberschlesiens. Oberschlesien, dieser goldene Zipfel der fruchtbaren Oderprovinz, welche Friedrich der Große im Jahre 1742 seinem Staate einverleibte, war im Laufe des 19. Jahrhunderts neben dem Saar- und dem Ruhrgebiet zu einem der wichtigsten Mittelpunkte des deutschen Wirtschaftslebens geworden. Neben seinen Steinkohlenbergwerken besaß es eine Reihe von Blei- und Zinkgruben, und von der wirtschaftlichen Ergiebigkeit dieses Gebietes legt die Tatsache Zeugnis ab, daß im Jahre 1919 auf rund 11 000 Quadratkilometern etwa zwei Millionen Menschen beieinander wohnten. Die also hierdurch gegebene Bevölkerungsdichte von 182 Seelen entspricht ungefähr derjenigen Großbritanniens und würde unter den europäischen Ländern nächst Belgien und den Niederlanden an dritter Stelle noch vor dem britischen Königreiche stehen. Es gehörte für Polen nicht viel dazu, um zu erkennen, daß der Besitz Oberschlesiens seiner wirtschaftlichen Stellung in Europa ein achtunggebietendes Gewicht verleihen würde. Frankreich, der Freund und Verbündete Polens, hatte seinerseits in Versailles kein Bedenken, auf Deutschlands Kosten großzügig und selbstlos seinem polnischen Freunde das oberschlesische Gebiet zuzusprechen. Doch hier erhob sich plötzlich und unerwartet der Widerspruch Englands und Amerikas, der aber nicht stark genug war, um die bedingungslose Abtretung Oberschlesiens aus dem dem Grafen Brockdorff überreichten Vertragsentwurfe zu verdrängen. Erst als sich auch [113] die deutsche Regierung entschieden
Nach der Friedensratifikation im Januar 1920 hielt die Interalliierte Abstimmungskommission ihren Einzug in Oppeln, und die deutschen Truppen wurden sofort durch englische, italienische und französische ersetzt. Die Kommission hatte die Aufgabe, das Gebiet bis nach erfolgter Abstimmung zu verwalten und "alle Maßnahmen zu ergreifen, die sie zur Sicherung einer freien, unbeeinflußten und geheimen Stimmenabgabe für erforderlich erachtet. Sie darf insbesondere die Ausweisung jeder Person verfügen, die irgendwie das Ergebnis der Volksabstimmung durch Bestechungs- oder Einschüchterungsmachenschaften zu fälschen versucht". Jedoch ergab es sich bald, daß zwar die Engländer und Italiener loyal und unparteiisch zu sein versuchten, während die Franzosen mit allen zulässigen und unzulässigen Mitteln die Polen begünstigten und ihre Annexionsbestrebungen unterstützten. Der Führer der polnischen Agitation war der fanatische Korfanty, ein Mann im besten Lebensalter, Mitte vierzig, ein gewissenloser Landsknecht der Feder und des Schwertes im Dienste eines überspannten Nationalismus. Die öffentliche Meinung Deutschlands wollte nichts von einem Verlust Oberschlesiens wissen. Seit 600 Jahren rund (1335) gehöre die Provinz nicht mehr zu Polen, und deswegen könne man für Oberschlesien keine Analogie zu Posen und Westpreußen konstruieren. Geographisch gehöre ganz Schlesien zu Deutschland, denn es liege im Stromgebiet der Oder, und das sei deutsch. Industriell, wirtschaftlich und kulturell sei Oberschlesien aufs innigste mit Deutschland verknüpft, und eine Losreißung bedeute Vergewaltigung. Die oberschlesischen Polen seien ja doch nur sogenannte Wasser- [114] polacken, welche von den Polen verachtet würden. Schließlich aber verlange es der deutsche Selbsterhaltungstrieb, daß Oberschlesien nicht vom Reiche getrennt würde. Wie sollte das deutsche Volk, das schon das Saargebiet verloren habe, seinen Reparationsverpflichtungen nachkommen können, wenn es auch noch sein wichtigstes Kohlenlager verliere? Die Polen dagegen argumentierten anders. Fast zwei Drittel der oberschlesischen Bevölkerung seien Polen, die unter der brutalen deutschen Fremdherrschaft schmachteten. Im Mittelalter habe die Provinz ursprünglich überhaupt zu Polen gehört, preußisch geworden sei sie erst durch Friedrich den Großen. Und im übrigen habe Polen die Kohle, das Blei und das Zink dringender nötig als Deutschland. –
Infolge der sowjetrussischen Angriffe war Polen nicht in der Lage, sich mit besonderer Kraftentfaltung in Oberschlesien zu betätigen. Erst im Anschluß an die siegreiche Schlacht von Warschau im August 1920 fühlte sich Korfanty stark genug, im Einverständnis mit der Warschauer Regierung einen Aufstand zu entfesseln, dessen Ziel Annexion ganz Oberschlesiens vor der Abstimmung sein sollte. Polen wollte die alliierten Mächte vor eine vollendete Tatsache stellen und die im Friedensvertrag geforderte Volksabstimmung umgehen. Es gab furchtbare Mißhandlungen, Bedrückungen und Bedrohungen der Deutschen, die in hellen Haufen ins unbesetzte Schlesien flüchteten und deren Wut sich schließlich in der Zertrümmerung des französischen und polnischen Konsulates in Breslau äußerte.
Starke polnische Truppenmassen zogen sich an der deutschen Grenze zusammen. Sie bestanden aus polnischer Volkswehr und regulärem Militär. Um die Jahreswende befanden sich an der oberschlesischen Grenze zehn bis elf polnische Divisionen, etwa 140 000 Mann, wozu noch etwa 50 000 Mann Irreguläre kamen.
Um die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen, scheuten die Polen nicht davor zurück, Schriftstücke zu fälschen, die durch ihre unglaubliche Stilistik den Stempel der Lüge schon an der Stirn trugen. So hieß es in einem dieser Machwerke, das man den Deutschen unterschob, Deutschland müsse Oberschlesien und seine Industrie zerstören und verwüsten, ehe es an Polen falle. Als Charakteristikum sei folgender Satz daraus wiedergegeben: "Betreffend Vernichtung der Kohlengruben verbunden mit Menschenopfern, ist unbarmherzig, jedoch aber nicht zu vermeiden, denn in dem jetzigen gesunden Zustande darf unser Oberschlesien niemals an Polen fallen."
Inzwischen strömten aus allen Teilen Deutschlands die abstimmungsberechtigten Oberschlesier in ihre Heimat. In der Zeit all dieses Niederganges, dieser Not und Entbehrungen und Demütigungen ging wieder ein Zug echt deutschen Heldentums durch das Volk. Greise, von einem Leben voller Sorgen gebeugt, scheuten nicht die lange, beschwerliche Eisenbahnreise, junge Frauen, die ein Kind unter dem Herzen trugen, waren voll doppelter Freude und Hoffnung und begaben sich in das gefürchtete Gebiet der Untaten und Gemeinheiten. Selbstlos und unermüdlich verpflegten die Frauen des Deutschen Roten Kreuzes die Durchreisenden. Wieder einmal brachten Deutsche unter Qual und Tränen dem Geist des Vaterlandes und der Heimat Opfer aus aufrechtem und aufrichtigem Herzen.
"Ehe Sie nach Oberschlesien fahren, möchte ich es nicht unterlassen, Ihnen zugleich namens der Reichsregierung einen herzlichsten Abschiedsgruß zuzurufen. Sie reisen in Ihr Heimatland, um freudigen Herzens einer vaterländischen Pflicht zu genügen. Sie wollen durch die Abgabe Ihres Stimmzettels bekunden, daß Oberschlesien deutsch und mit dem größeren Vaterlande, dem es seine Kultur und seine blühende Entwicklung verdankt, auf immer verbunden bleiben soll. Sie legen darüber hinaus auch Zeugnis ab dafür, daß wir Deutschen zusammengehören, nicht allein in guten Tagen, sondern auch in Zeiten schwerster Not. Nichts soll uns in den großen Lebensfragen unseres Vaterlandes voneinander trennen. Einig und gemeinsam müssen wir sein, um uns aus den Nöten der Zeit herauszuarbeiten und eine bessere Zukunft zu erkämpfen. Und diese Zuversicht bitte ich Sie, auch denen zu bringen, die in Oberschlesien auf diesen Tag der Entscheidung gewartet haben. Setzen Sie auch dort Ihr Bestes ein. Es geht um die Heimat, es geht um Deutschland. So danke ich Ihnen allen, daß Sie den Anstrengungen dieser Fahrt sich unterzogen haben für dieses Bekenntnis, das gerade in diesen schicksalsschweren Tagen uns besonders erhebt. Von Herzen wünsche ich Ihnen gute Reise und einen schönen Abstimmungssieg!" Sechs Tage später ließ sich die Interalliierte Abstimmungskommission aus Oppeln vernehmen:
"Einwohner Oberschlesiens! Sonntag, den 20. März 1921, werdet Ihr in Ausführung des Vertrages von Versailles berufen werden, Eure nationalen Bestrebungen zu bekennen. Ihr werdet in Ruhe und Ordnung zur Abstimmung schreiten. Eure Abstimmung ist eine vollkommen freie. Sie ist frei von jedem [119] Zwang, jedem Druck, jeder Beeinflussung, jeder Verpflichtung. Sie hängt lediglich von Euch selbst ab. Als Menschen, die selbst frei sind, werdet Ihr auch die Freiheit der andern unbedingt achten. Dadurch werdet Ihr beweisen, daß Ihr des Vertrauens würdig seid, das die alliierten Mächte in Euch gesetzt haben, als sie es Euch überließen, über die politische Zugehörigkeit Oberschlesiens zu entscheiden. Die Welt richtet ihre Augen auf Euch; vergeßt es nicht, handelt als Menschen, die der Freiheit würdig sind." Unterzeichnet war der Aufruf von dem Vertreter Frankreichs, Le Rond, zugleich Präsident der Kommission, dem Vertreter Italiens, de Marini, und dem Engländer H. F. P. Percival.
"Oberschlesier! Die Stunde der Entscheidung ist gekommen. Von Euch wird es abhängen, ob Oberschlesien, durch Jahrhunderte mit Deutschland vereint, in Jahrhunderten mit Deutschland groß geworden, sich auch in Zukunft in Blüte und Wohlstand weiterentwickeln kann. Der Reichspräsident Ebert und der Reichskanzler Fehrenbach hatten den Aufruf unterzeichnet.
[121] 691 Gemeinden, das sind 45 Prozent, hatten eine polnische Mehrheit, 845 dagegen eine deutsche. In den Kreisen Kreuzburg, Leobschütz und Oberglogau gab es überhaupt keine polnische Mehrheit, dagegen traf man in jedem andern Kreise Gemeinden mit deutscher Mehrheit an. Als einzige Stadt mit polnischer Mehrheit wurde Alt-Berun im Kreise Pleß befunden, wo 1172 polnischen Stimmen nur 255 deutsche gegenüberstanden, dagegen wurde in 89 Gemeinden nicht eine polnische Stimme abgegeben. Anderseits war keine Gemeinde festzustellen, wo nur polnische Stimmen abgegeben worden wären. Deutschland und Österreich hallten wider vom Jubel über den deutschen Sieg. Der Reichspräsident drückte dem deutschen Abstimmungsbevollmächtigten in Oppeln, Fürsten Hatzfeldt, am folgenden Tage telegraphisch seine freudige Genugtuung aus, der Reichskanzler Fehrenbach begrüßte am gleichen Abend die zurückkehrenden Oberschlesier auf dem Görlitzer Bahnhof, tags darauf tat Reichsaußenminister Dr. Simons auf dem Schlesischen Bahnhof dasselbe. Eine seltene Einmütigkeit spiegelte sich in der deutschen Presse wider, wie man sie seit langem nicht mehr erlebt hatte.
Das deutsche Plebiszitkommissariat in Oberschlesien veröffentlichte am 22. März einen Aufruf, worin die Unteilbarkeit Oberschlesiens innerhalb der seit Jahrhunderten unveränderten Grenzen gefordert wurde. Dies sei auch durch den Versailler Vertrag garantiert. Vollkommene Gleichberechtigung zwischen Polen und Deutschen wurde proklamiert. Das Manifest schloß: "Gott schütze das einige, unteilbare Oberschlesien!" [122] Die deutsche Regierung machte sich ebenfalls diesen Standpunkt zu eigen. In ihrer Note vom 6. April an die Regierungen in London, Paris und Rom betonte sie, die Abstimmung sei stark durch polnischen Terror beeinflußt worden und dennoch zu Deutschlands Gunsten ausgefallen. Die deutsche Regierung gestatte sich nun also, "den Antrag zu stellen, das gesamte oberschlesische Abstimmungsgebiet ungeteilt dem Deutschen Reiche zuzusprechen". Man wies auf die untrennbare Verbindung der oberschlesischen Industrie mit dem deutschen Wirtschaftsleben hin, auf die kulturelle Zusammengehörigkeit, und spielte schließlich den Trumpf aus: zur Erfüllung der Reparationsverpflichtungen sei Deutschland auf den unteilbaren Besitz Oberschlesiens angewiesen. Aber man hatte sich in Berlin gründlich verrechnet. Die Alliierten dachten ja gar nicht daran, den Deutschen das unversehrte Oberschlesien zu belassen, am allerwenigsten Frankreich. Die französische Presse war gehässig genug, den deutschen Sieg zu verkleinern; er wäre erkauft worden, er wäre nicht ehrlich zustande gekommen, und ganz abgesehen davon: die allgemeine wirtschaftliche Lage Europas verlange eine Aufteilung Oberschlesiens zwischen Deutschland und Polen. Ziemlich unbekümmert entwickelte Briand dem Ausschuß der Deputiertenkammer am 15. April seine Gedanken über die Teilung des strittigen Gebietes: man werde Polen die Gruben- und Industriebezirke zuteilen, Deutschland werde die landwirtschaftliche Zone erhalten! Etwas zurückhaltender war Lloyd George. Er schlug am 12. Mai dem Unterhause vor, daß die überwiegend polnischen Gebiete den Polen, der Rest den Deutschen zugewiesen werde. Die Alliierten seien auch verpflichtet, den Versailler Vertrag zu respektieren. Diese Ausführungen hatten zur Folge, daß Briand und die französische Presse den englischen Premierminister mit Gift und Galle bespritzten.
Korfanty goß noch Öl ins Feuer. In einem Aufruf vom 23. März forderte er ein polnisches Oberschlesien und wandte sich an seine Polen, dies bis zum letzten Atemzuge und bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Die Folge waren neue Gewalttaten, Mißhandlungen, Bedrohungen und Vertreibungen von Deutschen. Die deutschen Industriebeamten mußten fliehen wie die Bettler, nichts durften sie mitnehmen, alles mußten sie im Stiche lassen. Mit Stöcken und Gummiknüppeln wurden sie halbtot geschlagen, und schon am nächsten Tage lagen im Krankenhaus von Nikolai im Kreise Pleß zwanzig verwundete Deutsche. In Beuthen und Kattowitz herrschte der Terror.
Die Aufständischen beherrschten am 4. Mai im allgemeinen das Gebiet zwischen der Oder (im Westen) und der Linie Rosenberg – Wossowska – Gr.-Strehlitz – Kandrzin (im Süden und Osten). Sie entwickelten schlimmen Terror, nahmen unter der Bevölkerung Zwangsaushebungen vor, requirierten Vieh, Pferde, Gespanne, Futtermittel und scheuten auch vor Bluttaten nicht zurück. Militärische Stellen leiteten das Unternehmen, und es hätte keines weiteren Beweises für die Teilnahme des polnischen Staates daran bedurft. Korfanty selbst rief sich zum Zivil- und Militärgouverneur Oberschlesiens aus und erklärte sich zum Führer der Aufstandsbewegung. Er setzte Feldgerichte ein, welche Todesurteile vollstrecken durften.
Die Deutschen riefen in aller Welt um Hilfe und beteuerten ihre Unschuld. Aber Briand wußte es besser. Er erklärte der deutschen Regierung am 7. Mai, nur Deutschland sei schuld an dem Aufstand, denn es habe die falsche Meldung verbreitet, der größere Teil des Industriegebietes solle an Deutschland fallen! Es war ja leicht und einfach, dem machtlosen Deutschland alle Schuld aufzuladen, auch wenn kein Wort davon der Wahrheit entsprach! So wie die Franzosen die Sachlage beurteilten, war es für sie völlig in der Ordnung, [125] daß sie den polnischen Übergriffen nicht entgegentraten. Dadurch wurde die Lage immer bedrohlicher, und die Insurgenten konnten am Vormittag des 10. Mai den Oderhafen Kosel besetzen, wo sie etwa 40 000 Zentner Lebensmittel erbeuteten. Allerdings wurden sie am Nachmittage durch den deutschen Selbstschutz wieder hinausgeworfen. Die Zeit verstrich, man überhäufte sich gegenseitig mit Schmähungen, Drohungen und Lügen, die Alliierten waren zu schwach die Deutschen zu schützen, und die Franzosen begünstigten offensichtlich die Polen. Die Deutschen waren vogelfrei und man konnte sie quälen und töten nach Herzenslust. So hielten in der Nacht zum 14. Mai die Insurgenten einen Rybniker Transportzug an, in dem sich 700 Flüchtlinge befanden. Trotzdem der polnische Befehlshaber schriftlich freies Geleit zugesichert hatte und trotzdem sich eine Bedeckung von drei alliierten Offizieren und 50 französischen Soldaten dabei befand, wurden alle männlichen Flüchtlinge verschleppt und vier von ihnen unterwegs im Walde bei Tarnowitz nach schweren, schändlichen Mißhandlungen ohne jeden Anlaß erschossen, unter ihnen ein vierzehnjähriger Gymnasiast aus Rybnik. Auch in Kattowitz versuchten die Polen einen Handstreich. Hier verlangte am 19. Mai eine polnische Abordnung vom Magistrat die Übergabe der Stadt, doch wurde das Begehren abgelehnt.
Korfanty wurde allmählich selbst bange vor den Geistern, die er gerufen hatte und nicht wieder loswurde, als er sie bannen wollte. Es ging ihm wie dem Hexenmeister bei Goethe. Warschau wandte sich von ihm ab, da es den ungünstigen Eindruck bemerkte, den die Vorgänge namentlich in London und Rom hervorriefen. Korfantys Aufruf vom 28. Mai, den Kampf einzustellen, wurde nicht befolgt. Als die Insurgenten, die sich durch Aushebungen in den Kreisen Kosel und Lublinitz erheblich verstärkt hatten, in der Nacht zum 30. Mai versuchten, den Übergang über die Oder zu erzwingen, wurden sie mehrmals von den Deutschen unter schweren Verlusten zurückgeschlagen. Jetzt setzten auf der ganzen Front von Norden bis Süden starke Angriffe gegen den deutschen Selbstschutz ein, sogar schwere Artillerie wurde von den Polen verwandt. Ein besonders starker Angriff bei Groß-Strehlitz wurde von den Deutschen abgewiesen; darauf begannen hier die Insurgenten, sich zurückzuziehen und das geräumte Gebiet planmäßig zu zerstören. Wie schon in Westpreußen und im Baltikum, fielen auch in Oberschlesien die Alliierten den Deutschen gerade in dem Augenblick in den Arm, als diese begannen, Erfolge zu haben, und von nun an wurde General Hoefer stark durch die Interalliierte Kommission in seiner Bewegungsfreiheit behindert. Frankreich hatte nur das eine Bestreben, unter keinen Umständen die Deutschen in Oberschlesien stark werden zu lassen. Es wurde hin und her disputiert über die Notwendigkeit eines Vorgehens gegen die Insurgenten. Ein englisches Bataillon selbst rückte am 1. Juni in Groß-Strehlitz ein, ohne Widerstand zu finden, aber am nächsten Tage wurden 60 Mann deutscher Abstimmungspolizei von den Polen aus Pleß [127] verschleppt, ohne daß sich die Franzosen weiter darum gekümmert hätten; erst der italienische Oberst Caricati erzwang am 3. Juni die Räumung der Stadt durch die Polen, die sich schadlos hielten durch die tags darauf ausgeführte Besetzung des Bahnhofs Kattowitz. Im allgemeinen zeigten die Kämpfe des Juni infolge der diplomatischen Verhandlungen zwischen Paris und London über die Teilung des Gebietes bereits starke Symptome der Ermattung, und im Vordergrunde standen die Notenwechsel zwischen General Hoefer und der Interalliierten Kommission und zwischen der deutschen und den alliierten Regierungen. Es kam, wie es kommen mußte. Die Alliierten schikanierten unter Führung der Franzosen die Deutschen aufs ärgste, und aus jeder Handlung, jedem Worte wurde eine Verletzung des Versailler Friedens konstruiert. Schließlich wurde General Hoefer kurz und bündig befohlen, sich zurückzuziehen.
Es trat jetzt, wenn auch nur nach außen hin, eine scheinbare Beruhigung ein, doch unter der Oberfläche blieb die Spannung unvermindert weiterbestehen. Als am 4. Juli die Engländer in Beuthen einrückten, wurden sie von den Deutschen aufs herzlichste begrüßt. Man sah in ihnen die Retter, die Befreier. Dies war natürlich den Franzosen ein Dorn im Auge, und mit Reitpeitsche und Gewehrkolben gingen die französischen Soldaten den Einwohnern zuleibe, die sich beim Einzug der Engländer in den Straßen versammelt hatten. Ja, die Franzosen hatten kein Bedenken, auf die wehrlosen Deutschen scharf zu schießen, und als nun gar eine verirrte französische Kugel den französischen Major Montalègre getötet hatte, hielten die Franzosen die Zeit für neue, unerhörte Grausamkeiten gegen die deutsche Bevölkerung für [128] gekommen. Jedoch gelang es den Engländern, in kürzester Zeit musterhafte Ruhe im Kreise Beuthen herzustellen, und die Sympathien, die ihnen von den Deutschen entgegengebracht wurden, waren vollkommen gerechtfertigt.
"Streng geheimzuhalten! Rundschreiben an alle Kommandostellen. Dies Schriftstück gab gewissermaßen den Schlüssel für das Verhalten der Franzosen während des Aufstandes.
Die Interalliierte Kommission hatte am 19. Juli einen Bericht über die Lage in Oberschlesien verfaßt, der in folgenden Sätzen gipfelte: 1. Die Lage in Oberschlesien ist ernst. Die alliierten Regierungen müssen ihr unverzüglich ihre volle Aufmerksamkeit zuwenden. 2. Eine Lösung scheint solange unmöglich zu sein, als nicht eine Entscheidung erfolgt, die von beiden Parteien verlangt wird. 3. Die der Kommission zur Verfügung stehenden Streitkräfte sind ungenügend nicht nur zur Verhinderung eines weiteren Aufstandes, sondern auch selbst für eine wirksame Aufrechterhaltung der Ordnung im ganzen Gebiet. Truppenverstärkungen sind aber um so notwendiger und dringender, je länger die Entscheidung hinausgeschoben wird.
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