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[Bd. 2 S. 112]
13. Kapitel: Oberschlesiens Leidensweg.

In jenen Tagen, da die deutschen Staatsmänner mit dem europäischen Westen um vernünftige Wiedergutmachungsbedingungen verhandelten und der russische Osten mit Tücke und Gewalt nach dem Besitze des Herzens Europas drängte, vereinigte eine andere Angelegenheit die Augen nicht nur Deutschlands, sondern der ganzen Welt auf sich: die Entscheidung über das Schicksal Oberschlesiens.

Oberschlesien, dieser goldene Zipfel der fruchtbaren Oderprovinz, welche Friedrich der Große im Jahre 1742 seinem Staate einverleibte, war im Laufe des 19. Jahrhunderts neben dem Saar- und dem Ruhrgebiet zu einem der wichtigsten Mittelpunkte des deutschen Wirtschaftslebens geworden. Neben seinen Steinkohlenbergwerken besaß es eine Reihe von Blei- und Zinkgruben, und von der wirtschaftlichen Ergiebigkeit dieses Gebietes legt die Tatsache Zeugnis ab, daß im Jahre 1919 auf rund 11 000 Quadratkilometern etwa zwei Millionen Menschen beieinander wohnten. Die also hierdurch gegebene Bevölkerungsdichte von 182 Seelen entspricht ungefähr derjenigen Großbritanniens und würde unter den europäischen Ländern nächst Belgien und den Niederlanden an dritter Stelle noch vor dem britischen Königreiche stehen.

Es gehörte für Polen nicht viel dazu, um zu erkennen, daß der Besitz Oberschlesiens seiner wirtschaftlichen Stellung in Europa ein achtunggebietendes Gewicht verleihen würde. Frankreich, der Freund und Verbündete Polens, hatte seinerseits in Versailles kein Bedenken, auf Deutschlands Kosten großzügig und selbstlos seinem polnischen Freunde das oberschlesische Gebiet zuzusprechen. Doch hier erhob sich plötzlich und unerwartet der Widerspruch Englands und Amerikas, der aber nicht stark genug war, um die bedingungslose Abtretung Oberschlesiens aus dem dem Grafen Brockdorff überreichten Vertragsentwurfe zu verdrängen. Erst als sich auch [113] die deutsche Regierung entschieden

  Die oberschlesische Frage  

gegen die einfache Abtretung des wichtigen Industriebezirkes wehrte, gelang es Lloyd George, Clemenceau gegenüber seinen Willen durchzusetzen und das Schicksal Oberschlesiens von einer Volksabstimmung abhängig zu machen. So einigte man sich denn dahin, das strittige Gebiet demjenigen Staate zuzusprechen, der bei einer binnen achtzehn Monaten nach Ratifikation des Friedensvertrages abzuhaltenden Volksabstimmung die einfache Majorität erhalten würde.

Nach der Friedensratifikation im Januar 1920 hielt die Interalliierte Abstimmungskommission ihren Einzug in Oppeln, und die deutschen Truppen wurden sofort durch englische, italienische und französische ersetzt. Die Kommission hatte die Aufgabe, das Gebiet bis nach erfolgter Abstimmung zu verwalten und "alle Maßnahmen zu ergreifen, die sie zur Sicherung einer freien, unbeeinflußten und geheimen Stimmenabgabe für erforderlich erachtet. Sie darf insbesondere die Ausweisung jeder Person verfügen, die irgendwie das Ergebnis der Volksabstimmung durch Bestechungs- oder Einschüchterungsmachenschaften zu fälschen versucht". Jedoch ergab es sich bald, daß zwar die Engländer und Italiener loyal und unparteiisch zu sein versuchten, während die Franzosen mit allen zulässigen und unzulässigen Mitteln die Polen begünstigten und ihre Annexionsbestrebungen unterstützten. Der Führer der polnischen Agitation war der fanatische Korfanty, ein Mann im besten Lebensalter, Mitte vierzig, ein gewissenloser Landsknecht der Feder und des Schwertes im Dienste eines überspannten Nationalismus.

Die öffentliche Meinung Deutschlands wollte nichts von einem Verlust Oberschlesiens wissen. Seit 600 Jahren rund (1335) gehöre die Provinz nicht mehr zu Polen, und deswegen könne man für Oberschlesien keine Analogie zu Posen und Westpreußen konstruieren. Geographisch gehöre ganz Schlesien zu Deutschland, denn es liege im Stromgebiet der Oder, und das sei deutsch. Industriell, wirtschaftlich und kulturell sei Oberschlesien aufs innigste mit Deutschland verknüpft, und eine Losreißung bedeute Vergewaltigung. Die oberschlesischen Polen seien ja doch nur sogenannte Wasser- [114] polacken, welche von den Polen verachtet würden. Schließlich aber verlange es der deutsche Selbsterhaltungstrieb, daß Oberschlesien nicht vom Reiche getrennt würde. Wie sollte das deutsche Volk, das schon das Saargebiet verloren habe, seinen Reparationsverpflichtungen nachkommen können, wenn es auch noch sein wichtigstes Kohlenlager verliere?

Die Polen dagegen argumentierten anders. Fast zwei Drittel der oberschlesischen Bevölkerung seien Polen, die unter der brutalen deutschen Fremdherrschaft schmachteten. Im Mittelalter habe die Provinz ursprünglich überhaupt zu Polen gehört, preußisch geworden sei sie erst durch Friedrich den Großen. Und im übrigen habe Polen die Kohle, das Blei und das Zink dringender nötig als Deutschland. –

  Verzögerte Abstimmung  

Die Volksabstimmung fand nicht wie in den anderen Abstimmungsgebieten innerhalb der ersten sechs Monate nach Inkrafttreten des Vertrages statt, sondern wurde hinausgezögert. So wurde den Polen, die ihrerseits des Erfolges gar nicht sicher waren, Zeit und Gelegenheit zu einer wilden Propaganda und zu wüstem Terror gegeben. Denn es ließ sich schon bald feststellen, daß die sogenannten oberschlesischen Polen zu einem großen Teile mehr Sympathien der deutschen Ordnung, als der polnischen Unordnung entgegenbrachten.

Infolge der sowjetrussischen Angriffe war Polen nicht in der Lage, sich mit besonderer Kraftentfaltung in Oberschlesien zu betätigen. Erst im Anschluß an die siegreiche Schlacht von Warschau im August 1920 fühlte sich Korfanty stark genug, im Einverständnis mit der Warschauer Regierung einen Aufstand zu entfesseln, dessen Ziel Annexion ganz Oberschlesiens vor der Abstimmung sein sollte. Polen wollte die alliierten Mächte vor eine vollendete Tatsache stellen und die im Friedensvertrag geforderte Volksabstimmung umgehen. Es gab furchtbare Mißhandlungen, Bedrückungen und Bedrohungen der Deutschen, die in hellen Haufen ins unbesetzte Schlesien flüchteten und deren Wut sich schließlich in der Zertrümmerung des französischen und polnischen Konsulates in Breslau äußerte.

Deutsche Abstimmungspolizei und englische Soldaten in Oppeln.
[Bd. 3 S. 96b]      Oberschlesien 1921: Deutsche Abstimmungspolizei und englische Soldaten
in Oppeln.
      Photo Scherl.

Insurgentenstellung vor Boroschau bei Rosenberg.
[Bd. 3 S. 128a]      Oberschlesien 1921:
Insurgentenstellung vor Boroschau
bei Rosenberg.
      Atlantic-Photo.

Der von Polen gesprengte und verbrannte Bahnhof Rosenberg.
[Bd. 3 S. 128a]      Oberschlesien 1921:
Der von Polen gesprengte und verbrannte
Bahnhof Rosenberg.
      Atlantic-Photo.

Stellung der Insurgenten bei Rosenberg.
[Bd. 3 S. 128b]      Oberschlesien 1921:
Stellung der Insurgenten bei Rosenberg.

Atlantic-Photo.
Die Ereignisse hatten deutlich genug gezeigt, wohin die [115] Dinge steuerten. Die Interalliierte Abstimmungskommission war, was die Engländer und Italiener anbetrifft, nicht in der Lage, und was die Franzosen anbelangte, nicht willens, die Deutschen zu schützen. Die deutsche Abstimmungspolizei war viel zu schwach, um den Übergriffen entgegenzutreten, die polnische Abstimmungspolizei machte mit den Insurgenten gemeinsame Sache. Es bildeten sich allmählich in dem von jedem deutschen Schutz entblößten Oberschlesien Zustände heraus, die jeder Kultur spotteten.

Polnische
  Insurgentenbanden  

Besonders schwer und gefährlich war es, daß die Bedrückung des deutschen Volkes nicht nur durch das reguläre polnische Militär erfolgte, sondern auch noch durch irreguläre Insurgentenbanden, die militärisch gut organisiert und bewaffnet waren und unter militärischer Leitung standen. Der polnische Staat glaubte sich dieses Mittels bedienen zu können, um ungestört und ungehindert durch Schranken der Kultur, der Sittlichkeit und des Völkerrechtes seine Zerstörungsaktion gegen das oberschlesische Deutschtum durchzuführen.

  Konzentration  
polnischer
Truppen

Diese Insurgentenbanden waren in der Hauptsache zusammengefaßt in der Tajna Bojowka. Diese war einquartiert in der staatlich polnischen Traugutt-Kaserne zu Sosnowice, und es bedarf eigentlich keines weiteren Beweises für den Zusammenhang der Organisation mit dem polnischen Staate. Die Tajna Bojowka war das Sammelbecken zweifelhafter Elemente, denen sie eine Zuflucht vor dem Staatsanwalt gewährte. Häufig traten diese Banden in einer Stärke bis zu vierzig Köpfen auf, sie begingen Raubüberfälle und Morde, wobei sie tatkräftig von den polnischen Grenzposten unterstützt wurden. Den Banditen wurde geradezu die Beseitigung unbequemer deutscher Persönlichkeiten aufgetragen, und wenn diese gelungen, wurden ihnen hohe Prämien gezahlt; außerdem erhielten sie eine feste Monatszulage von mehreren tausend Mark. In der Zeit vom 1. September 1920 bis zum 15. Januar 1921 wurden auf diese Weise 55 Morde im oberschlesischen Abstimmungsgebiet verübt, die Überfälle auf Güter und Dörfer nicht mitgerechnet. Man stellte fest, daß seit Mitte Dezember 1920 bewaffnete Trupps [116] dieser Verbrecherbande fast in allen Städten des Abstimmungsgebietes ihr Unwesen trieben.

Starke polnische Truppenmassen zogen sich an der deutschen Grenze zusammen. Sie bestanden aus polnischer Volkswehr und regulärem Militär. Um die Jahreswende befanden sich an der oberschlesischen Grenze zehn bis elf polnische Divisionen, etwa 140 000 Mann, wozu noch etwa 50 000 Mann Irreguläre kamen.

Kampf am Bahnhof Myslowitz.
[Bd. 3 S. 112b]      Oberschlesien 1921:
Kampf am Bahnhof Myslowitz.
   Photo Scherl.
Einen Monat später war die Ziffer von 200 000 überschritten. Es war der Plan der Polen, Oberschlesien ganz von Deutschland abzureißen, die Post-, Telegraphen-, Fernsprech- und Eisenbahnverbindungen zu zerstören und durch überwältigende Truppenmacht jede deutsche Regung zu ersticken.

Um die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen, scheuten die Polen nicht davor zurück, Schriftstücke zu fälschen, die durch ihre unglaubliche Stilistik den Stempel der Lüge schon an der Stirn trugen. So hieß es in einem dieser Machwerke, das man den Deutschen unterschob, Deutschland müsse Oberschlesien und seine Industrie zerstören und verwüsten, ehe es an Polen falle. Als Charakteristikum sei folgender Satz daraus wiedergegeben: "Betreffend Vernichtung der Kohlengruben verbunden mit Menschenopfern, ist unbarmherzig, jedoch aber nicht zu vermeiden, denn in dem jetzigen gesunden Zustande darf unser Oberschlesien niemals an Polen fallen."

Die von der Menge verbrannten interalliierten Fahnen werden unter erzwungener Anwesenheit des Magistrates auf dem Hause der Abstimmungskommission in Kattowitz wieder gehißt.
[Bd. 3 S. 96b]   Oberschlesien 1921: Die von der Menge verbrannten interalliierten Fahnen werden unter erzwungener Anwesenheit des Magistrates auf dem Hause der Abstimmungskommission in Kattowitz wieder gehißt.      Photo Scherl.

Französische Wache in Kattowitz vor der Kleistschule.
[Bd. 3 S. 128b]      Oberschlesien 1921:
Französische Wache in Kattowitz
vor der Kleistschule.
      Photo Sennecke.

Not der
  Deutschen  

Die Bevölkerung Oberschlesiens, besonders die deutsche, verlangte immer lauter und dringender nach Abstimmung, damit diesen heillosen Zuständen endlich ein Ende bereitet würde, und die Interalliierte Abstimmungskommission begann zögernd, besonders sehr gegen den Willen des französischen Kommissars Le Rond, die Vorbereitungen zu treffen. Am 5. Januar 1921 gab die Kommission das Abstimmungsreglement heraus, wonach man vier Kategorien der Stimmberechtigten unterschied: erstens die in Oberschlesien Geborenen und noch dort Wohnenden, zweitens die in Oberschlesien Geborenen, aber nicht dort Wohnenden, drittens die außerhalb Oberschlesiens Geborenen, aber seit spätestens 1904 dort Wohnenden, und schließlich die außerhalb Oberschlesiens [117] Wohnenden, die am 1. Januar 1904 ihren Wohnsitz im Abstimmungsgebiet hatten, diesen aber infolge Ausweisung durch die deutsche Behörde nicht beibehalten konnten. Stimmberechtigt war jeder Mann und jede Frau, die am l. Januar 1921 das zwanzigste Lebensjahr vollendet hatten, und auf diese Weise wurden 1 220 000 Namen in die Abstimmungslisten eingetragen.

Vorbereitung
  der Abstimmung  

Seit Mitte Januar wartete man in Oberschlesien und Europa auf den Abstimmungstermin. Aber der Januar und der Februar verstrichen, ohne daß sich etwas ereignete. Endlich wurde der 20. März festgesetzt. Es waren lange, qualvolle Wochen für die oberschlesischen Deutschen. Das polnische Bandenwesen wucherte üppiger denn je, auf die Industriewerke der Deutschen wurden Raubüberfälle verübt, viele Hunderttausende von Mark fielen den Räubern in die Hände, die deutschen Beamten und Angestellten wurden vertrieben und durch blutrünstige Drohbriefe verängstigt. Versammlungen der Deutschen wurden mit Handgranaten und Revolvern gesprengt. Die schlechtbewaffnete Abstimmungspolizei war machtlos gegen die vertierten Haufen, die Grenzkontrolle war vollkommen ungenügend. Über die Grenzflüsse schlugen die Polen hölzerne Brücken, eigens zu dem Zwecke, um ihre Banditen in Oberschlesien einfallen zu lassen.

Inzwischen strömten aus allen Teilen Deutschlands die abstimmungsberechtigten Oberschlesier in ihre Heimat. In der Zeit all dieses Niederganges, dieser Not und Entbehrungen und Demütigungen ging wieder ein Zug echt deutschen Heldentums durch das Volk. Greise, von einem Leben voller Sorgen gebeugt, scheuten nicht die lange, beschwerliche Eisenbahnreise, junge Frauen, die ein Kind unter dem Herzen trugen, waren voll doppelter Freude und Hoffnung und begaben sich in das gefürchtete Gebiet der Untaten und Gemeinheiten. Selbstlos und unermüdlich verpflegten die Frauen des Deutschen Roten Kreuzes die Durchreisenden. Wieder einmal brachten Deutsche unter Qual und Tränen dem Geist des Vaterlandes und der Heimat Opfer aus aufrechtem und aufrichtigem Herzen.

Speisung der zur Abstimmung Fahrenden durch Deutsches Rotes Kreuz.
[Bd. 3 S. 48a]      Oberschlesien 1921:
Speisung der zur Abstimmung Fahrenden durch Deutsches Rotes Kreuz.
      Atlantic-Photo.
Oberschlesien 1921: Reichswehr in Myslowitzer Grube.
[Bd. 3 S. 48a]      Oberschlesien 1921:
Reichswehr in Myslowitzer Grube.

Photo Scherl.

Abstimmungsnotgeld 1920.
[Bd. 3 S. 112b]      Abstimmungsnotgeld 1920.
[Photo Scherl?]
Auch die Stellen der deutschen Reichsregierung taten alles, [118] um die Hoffnung, die Zuversicht auf den Sieg zu heben, zu mehren. Hatte man ja doch schon im November 1920 den Oberschlesiern die Aussicht auf Autonomie eröffnet, um ähnliche polnische Bestrebungen, die sich an die oberschlesischen Separatisten richteten, zu entkräften. Am Nachmittage des 10. März war der Reichspräsident Ebert in eigener Person auf dem Görlitzer Bahnhof erschienen, um Tausende von Oberschlesiern, die zur Abstimmung fuhren, folgendermaßen zu begrüßen:

      "Ehe Sie nach Oberschlesien fahren, möchte ich es nicht unterlassen, Ihnen zugleich namens der Reichsregierung einen herzlichsten Abschiedsgruß zuzurufen. Sie reisen in Ihr Heimatland, um freudigen Herzens einer vaterländischen Pflicht zu genügen. Sie wollen durch die Abgabe Ihres Stimmzettels bekunden, daß Oberschlesien deutsch und mit dem größeren Vaterlande, dem es seine Kultur und seine blühende Entwicklung verdankt, auf immer verbunden bleiben soll. Sie legen darüber hinaus auch Zeugnis ab dafür, daß wir Deutschen zusammengehören, nicht allein in guten Tagen, sondern auch in Zeiten schwerster Not. Nichts soll uns in den großen Lebensfragen unseres Vaterlandes voneinander trennen. Einig und gemeinsam müssen wir sein, um uns aus den Nöten der Zeit herauszuarbeiten und eine bessere Zukunft zu erkämpfen. Und diese Zuversicht bitte ich Sie, auch denen zu bringen, die in Oberschlesien auf diesen Tag der Entscheidung gewartet haben. Setzen Sie auch dort Ihr Bestes ein. Es geht um die Heimat, es geht um Deutschland. So danke ich Ihnen allen, daß Sie den Anstrengungen dieser Fahrt sich unterzogen haben für dieses Bekenntnis, das gerade in diesen schicksalsschweren Tagen uns besonders erhebt. Von Herzen wünsche ich Ihnen gute Reise und einen schönen Abstimmungssieg!"

Sechs Tage später ließ sich die Interalliierte Abstimmungskommission aus Oppeln vernehmen:

      "Einwohner Oberschlesiens! Sonntag, den 20. März 1921, werdet Ihr in Ausführung des Vertrages von Versailles berufen werden, Eure nationalen Bestrebungen zu bekennen. Ihr werdet in Ruhe und Ordnung zur Abstimmung schreiten. Eure Abstimmung ist eine vollkommen freie. Sie ist frei von jedem [119] Zwang, jedem Druck, jeder Beeinflussung, jeder Verpflichtung. Sie hängt lediglich von Euch selbst ab. Als Menschen, die selbst frei sind, werdet Ihr auch die Freiheit der andern unbedingt achten. Dadurch werdet Ihr beweisen, daß Ihr des Vertrauens würdig seid, das die alliierten Mächte in Euch gesetzt haben, als sie es Euch überließen, über die politische Zugehörigkeit Oberschlesiens zu entscheiden. Die Welt richtet ihre Augen auf Euch; vergeßt es nicht, handelt als Menschen, die der Freiheit würdig sind."

Unterzeichnet war der Aufruf von dem Vertreter Frankreichs, Le Rond, zugleich Präsident der Kommission, dem Vertreter Italiens, de Marini, und dem Engländer H. F. P. Percival.

Aufruf der
  Reichsregierung  

Am 19. März richtete die deutsche Reichsregierung noch folgenden Aufruf an Oberschlesien:

      "Oberschlesier! Die Stunde der Entscheidung ist gekommen. Von Euch wird es abhängen, ob Oberschlesien, durch Jahrhunderte mit Deutschland vereint, in Jahrhunderten mit Deutschland groß geworden, sich auch in Zukunft in Blüte und Wohlstand weiterentwickeln kann.
      Oberschlesien und Deutschland sind unlöslich miteinander verbunden durch Bande des Blutes, durch die gemeinsame Kultur, durch den gleichzeitigen sozialen Aufstieg und durch die gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung. Würden diese Bande zerrissen werden, so ist die fruchtbare Arbeit des letzten Jahrhunderts zunichte gemacht, und Hunger, Not und Elend sind die unausbleiblichen Folgen.
      Oberschlesier! Voll Stolz und voller Zuversicht blickt das ganze deutsche Volk an Eurem Schicksalstage auf Euch. Aus allen Teilen des Reiches, aus dem Auslande sind Eure Brüder und Schwestern zu Euch gekommen, um aller Welt die Einmütigkeit aller Deutschen und die Zusammengehörigkeit Oberschlesiens mit dem Deutschen Reiche zu beweisen. Weder Drohungen noch Lockungen, weder Mühen noch Entbehrungen haben vermocht, sie von der Erfüllung ihrer vaterländischen Pflicht abzuhalten. Wir vertrauen darauf, daß die Abstimmung in Ruhe und Ordnung vor sich gehen wird. Der Reichsregierung ist es ein Bedürfnis, in dieser feierlichen Stunde erneut zu erklären, daß sie das oberschlesische Volk in der [120] Neugestaltung seiner Zukunft nach Kräften unterstützen wird. Die erste gemeinsame Aufgabe der Zukunft wird es sein, Gegensätze auszugleichen, die der Abstimmungskampf geschaffen hat, um sich zu gemeinsamer Friedensarbeit zusammenzufinden.
      Oberschlesier! Die Stunde der Entscheidung ist da! Das deutsche Volk und die deutsche Regierung hoffen und vertrauen auf Euch. Denkt an Eure Zukunft, denkt an Euch und Eure Kinder und stimmt für ein deutsches Oberschlesien!"

Der Reichspräsident Ebert und der Reichskanzler Fehrenbach hatten den Aufruf unterzeichnet.

Ankunft polnischer Abstimmungsberechtigter auf dem Bahnhof Kattowitz.
[Bd. 3 S. 32b]      1921 in Oberschlesien: Ankunft polnischer Abstimmungsberechtigter auf dem Bahnhof Kattowitz. Jeder Pole hat ein Brot mitbekommen!      Atlantic-Photo.
Französische Tanks in Kattowitz am Abstimmungstage.
[Bd. 3 S. 32b]      Oberschlesien 1921:
Französische Tanks in Kattowitz
am Abstimmungstage.
      Photo Scherl.

  Abstimmungsergebnis  

Trotz polnischer Schikanen, Drohungen und Belästigungen, trotz französischer Mißgunst war der 20. März ein deutscher Sieg. 98 Prozent der in den Listen Verzeichneten gingen zur Abstimmungsurne, und einen halben Tag lang verharrte Europa in atemloser Spannung. Das Ergebnis war: 709 348 Stimmen für Deutschland und 479 747 für Polen. Die Stimmenzahl der Deutschen verhielt sich zu jener der Polen wie 3 : 2. Im einzelnen sah die Abstimmung folgendermaßen aus:

      deutsch       polnisch
Kreis Beuthen 74 565 73 122
    "    Kosel 36 274 12 218
    "    Gleiwitz 52 353 36 196
    "    Groß-Strehlitz 22 415 23 036
Hindenburg 45 192 43 261
Kattowitz 75 666 70 019
Königshütte 31 864 10 764
Kreuzburg 43 484 1 783
Leobschütz 65 176 257
Lublinitz 15 473 13 679
Ober-Glogau 33 030 4 423
Oppeln 76 986 25 833
Pleß 18 675 53 371
Ratibor 49 343 20 755
Rosenberg 23 857 11 150
Rybnik 27 919 52 376
Tarnowitz 17 076 27 513

[121] 691 Gemeinden, das sind 45 Prozent, hatten eine polnische Mehrheit, 845 dagegen eine deutsche. In den Kreisen Kreuzburg, Leobschütz und Oberglogau gab es überhaupt keine polnische Mehrheit, dagegen traf man in jedem andern Kreise Gemeinden mit deutscher Mehrheit an. Als einzige Stadt mit polnischer Mehrheit wurde Alt-Berun im Kreise Pleß befunden, wo 1172 polnischen Stimmen nur 255 deutsche gegenüberstanden, dagegen wurde in 89 Gemeinden nicht eine polnische Stimme abgegeben. Anderseits war keine Gemeinde festzustellen, wo nur polnische Stimmen abgegeben worden wären.

Deutschland und Österreich hallten wider vom Jubel über den deutschen Sieg. Der Reichspräsident drückte dem deutschen Abstimmungsbevollmächtigten in Oppeln, Fürsten Hatzfeldt, am folgenden Tage telegraphisch seine freudige Genugtuung aus, der Reichskanzler Fehrenbach begrüßte am gleichen Abend die zurückkehrenden Oberschlesier auf dem Görlitzer Bahnhof, tags darauf tat Reichsaußenminister Dr. Simons auf dem Schlesischen Bahnhof dasselbe. Eine seltene Einmütigkeit spiegelte sich in der deutschen Presse wider, wie man sie seit langem nicht mehr erlebt hatte.

Einzug deutscher Truppen in das befreite Kreuzburg.
[Bd. 3 S. 144a]      Oberschlesien 1921:
Einzug deutscher Truppen in das
befreite Kreuzburg.
      Photo Sennecke.
Einzug deutscher Truppen nach der Befreiung.
[Bd. 3 S. 144a]      Oberschlesien 1921:
Einzug deutscher Truppen
nach der Befreiung.
      Photo Sennecke.

  Urteil des Auslandes  

Auch in Holland und in der Schweiz waren die Stimmen der Genugtuung in der Mehrzahl. Der italienische Popolo Romano trat rückhaltlos für Deutschland ein. In England teilten sich die Ansichten. Der Star stand auf Deutschlands Seite. Die deutschfeindlichen Times sahen den letzten Ausweg in einer Teilung Oberschlesiens und die franzosenfreundliche Morning Post brach für Polen eine Lanze. Auch die Westminster Gazette neigte zu Polen, während die Daily News Deutschlands Partei ergriffen.

Das deutsche Plebiszitkommissariat in Oberschlesien veröffentlichte am 22. März einen Aufruf, worin die Unteilbarkeit Oberschlesiens innerhalb der seit Jahrhunderten unveränderten Grenzen gefordert wurde. Dies sei auch durch den Versailler Vertrag garantiert. Vollkommene Gleichberechtigung zwischen Polen und Deutschen wurde proklamiert. Das Manifest schloß: "Gott schütze das einige, unteilbare Oberschlesien!"

[122] Die deutsche Regierung machte sich ebenfalls diesen Standpunkt zu eigen. In ihrer Note vom 6. April an die Regierungen in London, Paris und Rom betonte sie, die Abstimmung sei stark durch polnischen Terror beeinflußt worden und dennoch zu Deutschlands Gunsten ausgefallen. Die deutsche Regierung gestatte sich nun also, "den Antrag zu stellen, das gesamte oberschlesische Abstimmungsgebiet ungeteilt dem Deutschen Reiche zuzusprechen". Man wies auf die untrennbare Verbindung der oberschlesischen Industrie mit dem deutschen Wirtschaftsleben hin, auf die kulturelle Zusammengehörigkeit, und spielte schließlich den Trumpf aus: zur Erfüllung der Reparationsverpflichtungen sei Deutschland auf den unteilbaren Besitz Oberschlesiens angewiesen.

Aber man hatte sich in Berlin gründlich verrechnet. Die Alliierten dachten ja gar nicht daran, den Deutschen das unversehrte Oberschlesien zu belassen, am allerwenigsten Frankreich. Die französische Presse war gehässig genug, den deutschen Sieg zu verkleinern; er wäre erkauft worden, er wäre nicht ehrlich zustande gekommen, und ganz abgesehen davon: die allgemeine wirtschaftliche Lage Europas verlange eine Aufteilung Oberschlesiens zwischen Deutschland und Polen. Ziemlich unbekümmert entwickelte Briand dem Ausschuß der Deputiertenkammer am 15. April seine Gedanken über die Teilung des strittigen Gebietes: man werde Polen die Gruben- und Industriebezirke zuteilen, Deutschland werde die landwirtschaftliche Zone erhalten! Etwas zurückhaltender war Lloyd George. Er schlug am 12. Mai dem Unterhause vor, daß die überwiegend polnischen Gebiete den Polen, der Rest den Deutschen zugewiesen werde. Die Alliierten seien auch verpflichtet, den Versailler Vertrag zu respektieren. Diese Ausführungen hatten zur Folge, daß Briand und die französische Presse den englischen Premierminister mit Gift und Galle bespritzten.

Vor dem Angriff auf Nikischacht.
[Bd. 3 S. 112a]      Oberschlesien 1921:
Vor dem Angriff auf Nikischacht.
   Photo Scherl.

  Polnischer Aufstand  
Korfanty

Am meisten erbittert jedoch waren die Polen. Sie empfanden den deutschen Sieg förmlich als eine persönliche Beleidigung. Um so mehr waren sie entschlossen, sich mit Gewalt in den Besitz des Gebietes zu setzen. Schon am 22. März überschritten nachmittags völlig ausgerüstete und bewaffnete [123] militärische Abteilungen die Grenze östlich von Kattowitz und besetzten die Ortschaften. Plötzlich erschienen überall Hallersoldaten. Niemand wußte, woher sie kamen, als seien sie aus der Erde emporgestiegen oder vom Himmel gefallen. Sie waren als abstimmungsberechtigte Zivilisten nach Deutschland hineingekommen und fanden hier Uniformen und Waffen vor. In verschiedenen Orten wurde die polnische Republik ausgerufen.

Ausgehobene polnische Schützengräben.
[Bd. 3 S. 64a]      Oberschlesien 1921:
Ausgehobene polnische Schützengräben.

Photo Scherl.
Bernertbrücke in Ratibor unter italienischem Schutz.
[Bd. 3 S. 64a]      Oberschlesien 1921:
Bernertbrücke in Ratibor unter italienischem Schutz.
      Photo Scherl.

Korfanty goß noch Öl ins Feuer. In einem Aufruf vom 23. März forderte er ein polnisches Oberschlesien und wandte sich an seine Polen, dies bis zum letzten Atemzuge und bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Die Folge waren neue Gewalttaten, Mißhandlungen, Bedrohungen und Vertreibungen von Deutschen. Die deutschen Industriebeamten mußten fliehen wie die Bettler, nichts durften sie mitnehmen, alles mußten sie im Stiche lassen. Mit Stöcken und Gummiknüppeln wurden sie halbtot geschlagen, und schon am nächsten Tage lagen im Krankenhaus von Nikolai im Kreise Pleß zwanzig verwundete Deutsche. In Beuthen und Kattowitz herrschte der Terror.

Gefangene polnische Spartakisten in Myslowitz.
[Bd. 3 S. 64b]      Oberschlesien 1921:
Gefangene polnische Spartakisten
in Myslowitz.
      Photo Scherl.
Polnische Stellung am Goroschauer Walde bei Rosenberg.
[Bd. 3 S. 64b]      Oberschlesien 1921:
Polnische Stellung am Goroschauer Walde
bei Rosenberg.
      Atlantic-Photo.

Korfanty.
[Bd. 2 S. 48b]      Korfanty.
Photo Scherl.

  Haltung der Alliierten  

So ging es den ganzen April hindurch, ohne daß die Alliierten sich veranlaßt gesehen hätten, wirksam einzuschreiten. Der Präsident Le Rond hatte ja auch kein Interesse, die Deutschen zu schützen. Der 3. Mai war der polnische Verfassungstag, der nicht würdiger begangen werden konnte als durch die Eroberung Oberschlesiens. Korfanty, welcher der polnische Abstimmungskommissar war, leitete den Feldzug ein. Er veröffentlichte tags zuvor aufreizende Nachrichten und Lügen über die Deutschen, sie hätten beschlossen, ganz Oberschlesien zu zerstören, wenn es an Polen fallen sollte. Demzufolge traten von 240 000 Arbeitern sofort 190 000 in den Ausstand, 80 Prozent der oberschlesischen Gruben streikten. In der darauffolgenden Nacht besetzten Hallertruppen, bewaffnete Zivilisten und französische Soldaten Beuthen und die umliegenden Orte, und in Kattowitz kam es zu wilden Schießereien polnischer Insurgenten. Mehrere Eisenbahnbrücken, bei Ober-Glogau, Kreuzburg, Schusowitz und anderwärts, wurden [124] gesprengt. Auch in Pleß rückten Hallersoldaten und Insurgenten ein. Dies war das Signal zur Entwaffnung der Deutschen durch die polnische Abstimmungspolizei. Zwar drängten die Italiener die Eindringlinge wieder hinaus, aber Rybnik mußte die italienische Besatzung nach erfolglosem Kampfe den Polen überlassen.

Von Insurgenten gesprengte Eisenbahnbrücke.
[Bd. 3 S. 80a]      Oberschlesien 1921:
von Insurgenten gesprengte Eisenbahnbrücke
bei Sczepanowitz–Oppeln.
      Atlantic-Photo.
Italiener im Schützengraben gegen Insurgenten.
[Bd. 3 S. 80a]      Oberschlesien 1921:
Italiener im Schützengraben
gegen Insurgenten.
      Atlantic-Photo.

Oberschlesien: Französische Truppen vor dem Theater in Kattowitz, 24. September 1920.
[Bd. 3 S. 32a]      Oberschlesien: Französische Truppen vor dem Theater in Kattowitz,
24. September 1920.
      Photo Scherl.
Oberschlesien: Italienische Truppen in Kattowitz, 1. Oktober 1920.
[Bd. 3 S. 32a]      Oberschlesien: Italienische Truppen in Kattowitz, 1. Oktober 1920.
Photo Scherl.

Die Aufständischen beherrschten am 4. Mai im allgemeinen das Gebiet zwischen der Oder (im Westen) und der Linie Rosenberg – Wossowska – Gr.-Strehlitz – Kandrzin (im Süden und Osten). Sie entwickelten schlimmen Terror, nahmen unter der Bevölkerung Zwangsaushebungen vor, requirierten Vieh, Pferde, Gespanne, Futtermittel und scheuten auch vor Bluttaten nicht zurück. Militärische Stellen leiteten das Unternehmen, und es hätte keines weiteren Beweises für die Teilnahme des polnischen Staates daran bedurft. Korfanty selbst rief sich zum Zivil- und Militärgouverneur Oberschlesiens aus und erklärte sich zum Führer der Aufstandsbewegung. Er setzte Feldgerichte ein, welche Todesurteile vollstrecken durften.

Italiener verteidigen Eisenbahnbrücke gegen Insurgenten.
[Bd. 3 S. 96a]      Oberschlesien 1921:
Italiener verteidigen Eisenbahnbrücke
gegen Insurgenten.
      Atlantic-Photo.
Feldgottesdienst italienischer Truppen.
[Bd. 3 S. 96a]      Oberschlesien 1921:
Feldgottesdienst italienischer Truppen.

Atlantic-Photo.

Italienische Truppen bei 
Kandrzin-Ratibor.
[Bd. 3 S. 112a]      Oberschlesien 1921:
Italienische Truppen bei Kandrzin–Ratibor.

Atlantic-Photo.
Die Polen versuchten in den folgenden Tagen vergeblich, in Groß-Strehlitz einzudringen, dagegen gelang es ihnen, im Süden die schwachen Italiener nach erfolgreichen Kämpfen zurückzudrängen. Am 6. Mai hatten die Polen die sogenannte Korfanty-Linie, d. h. die Grenze des von Polen beanspruchten Oberschlesien, erreicht. Sie verlief von der Reichsgrenze bei Balzanowitz zwischen Schierokau und Guttentag hindurch über den Malapane-Fluß, westlich an Groß-Strehlitz vorbei über Kandrzin und Birawa an die Oder, am rechten Ufer aufwärts über Ratibor wieder zur Reichsgrenze.

Die Deutschen riefen in aller Welt um Hilfe und beteuerten ihre Unschuld. Aber Briand wußte es besser. Er erklärte der deutschen Regierung am 7. Mai, nur Deutschland sei schuld an dem Aufstand, denn es habe die falsche Meldung verbreitet, der größere Teil des Industriegebietes solle an Deutschland fallen! Es war ja leicht und einfach, dem machtlosen Deutschland alle Schuld aufzuladen, auch wenn kein Wort davon der Wahrheit entsprach! So wie die Franzosen die Sachlage beurteilten, war es für sie völlig in der Ordnung, [125] daß sie den polnischen Übergriffen nicht entgegentraten. Dadurch wurde die Lage immer bedrohlicher, und die Insurgenten konnten am Vormittag des 10. Mai den Oderhafen Kosel besetzen, wo sie etwa 40 000 Zentner Lebensmittel erbeuteten. Allerdings wurden sie am Nachmittage durch den deutschen Selbstschutz wieder hinausgeworfen.

Die Zeit verstrich, man überhäufte sich gegenseitig mit Schmähungen, Drohungen und Lügen, die Alliierten waren zu schwach die Deutschen zu schützen, und die Franzosen begünstigten offensichtlich die Polen. Die Deutschen waren vogelfrei und man konnte sie quälen und töten nach Herzenslust. So hielten in der Nacht zum 14. Mai die Insurgenten einen Rybniker Transportzug an, in dem sich 700 Flüchtlinge befanden. Trotzdem der polnische Befehlshaber schriftlich freies Geleit zugesichert hatte und trotzdem sich eine Bedeckung von drei alliierten Offizieren und 50 französischen Soldaten dabei befand, wurden alle männlichen Flüchtlinge verschleppt und vier von ihnen unterwegs im Walde bei Tarnowitz nach schweren, schändlichen Mißhandlungen ohne jeden Anlaß erschossen, unter ihnen ein vierzehnjähriger Gymnasiast aus Rybnik.

Auch in Kattowitz versuchten die Polen einen Handstreich. Hier verlangte am 19. Mai eine polnische Abordnung vom Magistrat die Übergabe der Stadt, doch wurde das Begehren abgelehnt.

General Karl Höfer.
[Bd. 2 S. 48b]      Oberschlesien 1921:
General Höfer.
      Photo Scherl.

  Deutscher Selbstschutz  

Die Deutschen, verlassen, bis aufs Blut gereizt, griffen zur Selbsthilfe. Die kampfgeübte Organisation Roßbach erschien wieder auf dem Plan, Freikorps und Selbstschutzorganisationen formierten sich, die sich dem General Hoefer unterstellten, und die Engländer erklärten sich damit einverstanden, daß der deutsche General gegen die Korfantybanden kämpfte. Diese jedoch erhielten immer mehr Verstärkungen durch polnische Freikorps und Waffennachschub über die offene deutsche Grenze, und am 23. Mai kam es bei Rosenberg zu schweren Kämpfen. Am folgenden Tage besetzten die Deutschen die Stadt Landsberg im Kreise Rosenberg und wiesen polnische Angriffe auf Groß-Stein und Schedlitz im Kreise Groß-Strehlitz ab. Die geschlagenen Polen [126] plünderten, brandschatzten, vergewaltigten, mißhandelten und verschleppten deutsche Zivilbevölkerung. Drei Tage später drangen 50 Insurgenten in Hindenburg ein, wo im Lyzeum 200 deutsche Flüchtlinge untergebracht waren. 134 dieser Unglücklichen holten sie heraus, mißhandelten sie fürchterlich und verschleppten sie ins polnische Hauptquartier nach Bielschowitz. Die Franzosen ließen alles ruhig geschehen und rührten sich nicht.

Korfanty wurde allmählich selbst bange vor den Geistern, die er gerufen hatte und nicht wieder loswurde, als er sie bannen wollte. Es ging ihm wie dem Hexenmeister bei Goethe. Warschau wandte sich von ihm ab, da es den ungünstigen Eindruck bemerkte, den die Vorgänge namentlich in London und Rom hervorriefen. Korfantys Aufruf vom 28. Mai, den Kampf einzustellen, wurde nicht befolgt. Als die Insurgenten, die sich durch Aushebungen in den Kreisen Kosel und Lublinitz erheblich verstärkt hatten, in der Nacht zum 30. Mai versuchten, den Übergang über die Oder zu erzwingen, wurden sie mehrmals von den Deutschen unter schweren Verlusten zurückgeschlagen. Jetzt setzten auf der ganzen Front von Norden bis Süden starke Angriffe gegen den deutschen Selbstschutz ein, sogar schwere Artillerie wurde von den Polen verwandt. Ein besonders starker Angriff bei Groß-Strehlitz wurde von den Deutschen abgewiesen; darauf begannen hier die Insurgenten, sich zurückzuziehen und das geräumte Gebiet planmäßig zu zerstören.

Wie schon in Westpreußen und im Baltikum, fielen auch in Oberschlesien die Alliierten den Deutschen gerade in dem Augenblick in den Arm, als diese begannen, Erfolge zu haben, und von nun an wurde General Hoefer stark durch die Interalliierte Kommission in seiner Bewegungsfreiheit behindert. Frankreich hatte nur das eine Bestreben, unter keinen Umständen die Deutschen in Oberschlesien stark werden zu lassen. Es wurde hin und her disputiert über die Notwendigkeit eines Vorgehens gegen die Insurgenten. Ein englisches Bataillon selbst rückte am 1. Juni in Groß-Strehlitz ein, ohne Widerstand zu finden, aber am nächsten Tage wurden 60 Mann deutscher Abstimmungspolizei von den Polen aus Pleß [127] verschleppt, ohne daß sich die Franzosen weiter darum gekümmert hätten; erst der italienische Oberst Caricati erzwang am 3. Juni die Räumung der Stadt durch die Polen, die sich schadlos hielten durch die tags darauf ausgeführte Besetzung des Bahnhofs Kattowitz.

Im allgemeinen zeigten die Kämpfe des Juni infolge der diplomatischen Verhandlungen zwischen Paris und London über die Teilung des Gebietes bereits starke Symptome der Ermattung, und im Vordergrunde standen die Notenwechsel zwischen General Hoefer und der Interalliierten Kommission und zwischen der deutschen und den alliierten Regierungen. Es kam, wie es kommen mußte. Die Alliierten schikanierten unter Führung der Franzosen die Deutschen aufs ärgste, und aus jeder Handlung, jedem Worte wurde eine Verletzung des Versailler Friedens konstruiert. Schließlich wurde General Hoefer kurz und bündig befohlen, sich zurückzuziehen.

Friedensstiftung
  durch die Alliierten  

Am 27. Juni ordnete die Interalliierte Kommission den Vormarsch der alliierten Truppen und die etappenweise Räumung der Stellungen der polnischen Insurgenten und des deutschen Selbstschutzes an, und in ihrem Aufruf, den sie vier Tage später von Oppeln aus erließ, forderte sie bis zum 5. Juli vollständige Auflösung der Insurgentenverbände und der Selbstschutzorganisationen, wobei sie eine allgemeine Amnestie für politische Vergehen in Aussicht stellte.

Es trat jetzt, wenn auch nur nach außen hin, eine scheinbare Beruhigung ein, doch unter der Oberfläche blieb die Spannung unvermindert weiterbestehen. Als am 4. Juli die Engländer in Beuthen einrückten, wurden sie von den Deutschen aufs herzlichste begrüßt. Man sah in ihnen die Retter, die Befreier. Dies war natürlich den Franzosen ein Dorn im Auge, und mit Reitpeitsche und Gewehrkolben gingen die französischen Soldaten den Einwohnern zuleibe, die sich beim Einzug der Engländer in den Straßen versammelt hatten. Ja, die Franzosen hatten kein Bedenken, auf die wehrlosen Deutschen scharf zu schießen, und als nun gar eine verirrte französische Kugel den französischen Major Montalègre getötet hatte, hielten die Franzosen die Zeit für neue, unerhörte Grausamkeiten gegen die deutsche Bevölkerung für [128] gekommen. Jedoch gelang es den Engländern, in kürzester Zeit musterhafte Ruhe im Kreise Beuthen herzustellen, und die Sympathien, die ihnen von den Deutschen entgegengebracht wurden, waren vollkommen gerechtfertigt.

  Schriftstücke  

Ein Schriftstück, das man in diesen Julitagen im Lomnitzhotel zu Beuthen vorfand, war weniger geeignet, Aufsehen zu erregen, als vielmehr Aufschluß zu geben über die Ereignisse, wie sie sich abgespielt hatten. Es war ein polnisches Rundschreiben an alle Kommandostellen, welches folgenden Wortlaut hatte:

      "Streng geheimzuhalten! Rundschreiben an alle Kommandostellen.
      Wenn es bisher den militärischen Abteilungen nicht gelungen ist, zu erreichen, was sie sich vorgenommen haben, vor allen Dingen, wenn sie durch die Franzosen an manchen Orten daran gehindert wurden, sollen sie sich deshalb nicht verleiten lassen, deshalb etwa gegen die Franzosen feindlich vorzugehen. Diese sind und bleiben unsere Freunde und Verbündeten, die ihre eigene Taktik und ihre eigenen Ziele verfolgen. Wenn es auch manchmal so aussieht, als ob deren Handlungen gegen uns gerichtet wären, so ist dies nicht der Fall, denn die Franzosen müssen auf die Verbündeten Rücksicht nehmen und vorsichtig arbeiten.
      Wenn Sie die Taktik der Franzosen genau verfolgen, werden Sie wahrnehmen, daß es ihnen nur darauf ankommt, das Deutschtum zu unterdrücken und auszurotten. Auf dem Lande geben sie uns Polen selbst die Deutschen in die Hand, damit die Absicht schneller ausgeführt wird. Es wäre ihnen sehr leicht gewesen, unsere Handlungen zu unterbinden. Sie werden auch dafür sorgen, daß wir durch eine andere Macht in unserem Vorhaben nicht gestört werden. In den Städten bemerken wir freudigst, daß die Unterdrückung der Deutschen durch sie selbst besorgt wird. Andernfalls werden sie es dazu bringen, daß auch die Städte in unsere Hand kommen. Vor allen Dingen ist es erforderlich, daß sie durch die Polentruppen nicht gestört werden, damit andere Mächte von diesem Vorhaben nichts erfahren.
[129]     Dies Rundschreiben darf nicht in unrechte Hände kommen. Große Vorsicht ist geboten."

Dies Schriftstück gab gewissermaßen den Schlüssel für das Verhalten der Franzosen während des Aufstandes.

  Ende des Aufstandes  

Gegen Ende des Juli flackerte der Aufruhr stellenweise wieder kurz auf. Den Bahnhof Kattowitz hatten die Engländer am 6. Juli den Polen wieder abgenommen und den Deutschen übergeben. Zwei Wochen später, in der Nacht zum 22. Juli, trieben sich wieder polnische Banden, die über die Grenze gekommen waren, in der Kattowitzer Umgebung herum, überfielen Dörfer und Gutshöfe, und heftige Schießereien ließen sich an vielen Stellen vernehmen. Zwei Tage später sogar machten reguläre und irreguläre polnische Truppen einen heftigen Angriff auf Kostellitz bei Oppeln, der aber von den alliierten Truppen zurückgewiesen wurde.

Schottische Truppen in Oppeln.
[Bd. 3 S. 80b]      Oberschlesien 1921: Schottische Truppen in Oppeln.      Atlantic-Photo.

Die Interalliierte Kommission hatte am 19. Juli einen Bericht über die Lage in Oberschlesien verfaßt, der in folgenden Sätzen gipfelte: 1. Die Lage in Oberschlesien ist ernst. Die alliierten Regierungen müssen ihr unverzüglich ihre volle Aufmerksamkeit zuwenden. 2. Eine Lösung scheint solange unmöglich zu sein, als nicht eine Entscheidung erfolgt, die von beiden Parteien verlangt wird. 3. Die der Kommission zur Verfügung stehenden Streitkräfte sind ungenügend nicht nur zur Verhinderung eines weiteren Aufstandes, sondern auch selbst für eine wirksame Aufrechterhaltung der Ordnung im ganzen Gebiet. Truppenverstärkungen sind aber um so notwendiger und dringender, je länger die Entscheidung hinausgeschoben wird.

  Wirkungen des Aufstandes  
für Deutschland

So drohte noch weiterhin ein schweres und hartes Geschick über dem deutschen Oberschlesien, und der stumme Schmerz eines bitteren Leides breitete sich von hier aus auf das ganze deutsche Volk aus. Auch materiell hatte Deutschland schwer unter dem polnischen Aufstande zu leiden. Die Eisenbahnverbindungen mit dem Kohlenrevier waren vollkommen unterbrochen, und die Zufuhr der oberschlesischen Steinkohle war unterbunden. Dieser Zustand lähmte den Eisenbahnverkehr und drohte für die deutsche Industrie zur Katastrophe zu werden. Viele Werke mußten aus Kohlenmangel [130] ihren Betrieb teilweise oder ganz einstellen, Gaswerke konnten nicht mehr die nötigen Mengen Gas liefern. Arbeitslosigkeit und anderes Ungemach war die Folge der oberschlesischen Wirren. Deutschland mußte auf die Verkündung des lange hinausgezögerten Urteils über das fernere Schicksal Oberschlesiens warten, und doch hatte Deutschland nach Recht und Gesetz und Volkswillen den alleinigen Anspruch auf dieses Gebiet!



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra