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Der 30. Juni 1934

Die Vorgänge des 30. Juni 1934 waren keine politische Justiz, obwohl Hitler im Reichstag erklärte, daß er damals als "oberster Richter" gehandelt habe. Es war überhaupt keine Justiz mehr, sondern reine Gewalt, ein revolutionärer Akt. Eine nähere Schilderung des 30. Juni 1934 würde daher aus dem Rahmen der gegenwärtigen Schrift herausfallen. Und doch kann man am 30. Juni 1934 nicht vorübergehen, wenn man die politische Justiz der Hitlerzeit beschreiben will.

Es kam über uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Es schien doch von Ende 1933 ab sich alles günstig zu entwickeln. Wir glaubten, auf dem Wege von der Revolution zur Evolution zu sein. Besonders Göring hatte Erklärungen abgegeben, die beruhigend wirkten. Dieser Mann, der im Reichstagsbrandprozeß so unbeherrscht aufgetreten war, wurde trotz allem von vielen als der vernünftigste Mann in der Reichsleitung betrachtet, der für Wiedereinführung von Ordnung und Ruhe sorgen würde. Daß er es war, der die erste Gestapo einrichtete, wurde von den wenigsten bemerkt.

Ich hatte Ende Juni an einer Norwegenfahrt des Clubs von Bremen teilgenommen. Wir kehrten am Morgen des 1. Juli nach Bremerhaven zurück. Führende Persönlichkeiten aus allen Kreisen befanden sich an Bord, auch Nationalsozialisten wie Feder, Schwerin-Krosigk u. a. Am Abend des 30. Juni erreichten uns die ersten Nachrichten. Alle waren entsetzt: Gregor Strasser ermordet, Schleicher ermordet, Dr. Edgar Jung, Klausener ermordet. Das alles waren Männer, die ich persönlich gekannt hatte. Den Führer der Katholischen Aktion, Klausener, hatte ich im Ruhrkampf vor dem französischen Kriegsgericht in Recklinghausen verteidigt und hoch geachtet.30 Den Abend wagte auf dem Schiff kaum jemand zu Bett zu gehen. Einer gesellte sich zum anderen. Jeder wollte Trost und Aufrichtung oder Aufschluß haben. Alle waren um die Rundfunkapparate versammelt. Aber niemand konnte sich aus den Ereignissen einen Vers machen. War das das Ende des Nationalsozialismus? Das Ende Deutschlands? Kam jetzt eine neue Revolution? Oder würde die Wehrmacht eingreifen, Ordnung schaffen und die Militärdiktatur ausrufen? Schwerin-Krosigk und Feder wußten von nichts. Man wartete nur und hörte Radio, die ganze Nacht. Am Morgen gingen wir in Bremerhaven an Land, in niedergeschlagener Stimmung. Wie würden wir Deutschland antreffen? Würden wir überhaupt noch nach Hause kommen? Ich hatte dieses beklemmende Gefühl eines drohenden Zusammenbruchs nun schon mehrmals erlebt: Am 9. November 1918, im Spartakusaufstand März 1920, als Essen von den Rotgardisten erobert wurde und bei der Ruhrbesetzung durch die Franzosen am 11. Januar 1923. Wir hatten doch gehofft, daß das endlich vorbei sei. Und nun war das beklemmende Gefühl wieder da: "Was wird mit uns? Was wird aus Deutschland?"

Die Stadt Bremerhaven lag wie ausgestorben da. Es schien, als ob sich die Menschen in den Häusern verkrochen hätten. Wir wunderten uns, daß die Züge fuhren. Ich war in Essen kaum zur Ruhe gekommen, als mir am frühen Morgen ein Eilbotenbrief überbracht wurde. Er sah so merkwürdig aus. Er war beschmutzt und beschädigt. Aber ich erkannte die Schriftzüge von Paul Schulz. Als ich den Brief öffnete, war ich entsetzt. Der Brief war mit Bleistift geschrieben und hatte die Überschrift: "In einem Kornfeld." Er trug Blutspuren. Es war ein Hilferuf. Schulz war in das Haus des Admirals Lübbert geflüchtet, der irgendwo in der Umgebung von Berlin wohnte. Er bat um mein sofortiges Eingreifen. Durch Admiral Lübbert würde ich alles Nähere erfahren. Ich setzte mich auf den nächsten FD-Zug. Ich war noch denselben Tag in Berlin und erfuhr, daß Schulz in die Universitätsklinik Berlin gebracht worden sei, wo er unter dem besonderen Schutz des Professors Dr. Brand, des Leibarztes des Führers, stehe. Ich meldete mich telefonisch bei Heydrich. Ich verlangte, zu Hitler geführt zu werden. Ich wisse, daß Schulz unschuldig sei und stelle mich vor ihn. Heydrich versprach, dies Hitler zu melden. Ich eilte in die Universitätsklinik und drang sofort zu Professor Brand und zu Schulz durch. Ich lernte da Professor Brand als einen verständigen wohlmeinenden Arzt kennen, der mir in jeder Weise behilflich war. Durch seine Vermittlung konnte ich auch Schulz, der von der Gestapo streng bewacht wurde, sofort sprechen.

Was war geschehen? Gregor Strasser, von Beruf Apotheker, war, nachdem er seine Ämter zur Verfügung gestellt hatte, in ein pharmazeutisches Unternehmen eingetreten und hatte sich ganz aus dem politischen Leben zurückgezogen, ebenso Schulz, der in der Firma des Generaldirektors Lübbert, eines Bruders des Admirals Lübbert, untergekommen war. Man warf Schulz vor, daß er Strasser in seinem Beschluß, die Ämter niederzulegen, bestärkt, ihn jedenfalls nicht davon abgehalten habe. So sollten beide durch die Aktion liquidiert werden, die Göring in Berlin eingeleitet hatte. Man hatte Strasser verhaftet und ins Gefängnis gebracht, wo er kurzerhand erschossen wurde. Schulz wurde von einem SS-Kommando in seiner Wohnung abgeholt und in einem Auto über Potsdam hinaus gebracht, wo er irgendwo im Wald erschossen werden sollte. Es war inzwischen dunkel geworden. Als man an einer einsamen Stelle des Waldes angekommen war, machte der Wagen Halt. Alle stiegen aus. Schulz mußte sich an den Rand der Straße an einem Gebüsch aufstellen. Dann schossen die SS-Leute auf ihn. Schulz wurde getroffen und brach zusammen. Aber er war nicht tot. Eine Kugel hatte zwar, wie später festgestellt wurde, den ganzen Körper durchschlagen und viel Blutverlust verursacht, aber keine lebenswichtigen Organe verletzt. Als nun die SS-Leute hinzutraten, um den Körper des vermeintlichen Toten in einen Sack zu stecken, raffte sich Schulz plötzlich auf, sprang ins Gebüsch und entkam bei der Verwirrung in der Dunkelheit. Er irrte die Nacht umher, und schleppte sich dann bis zu dem Hause des Admirals Lübbert, wo er Aufnahme fand. Inzwischen war der Befehl ergangen, daß die Erschießungen einzustellen seien.

Professor Dr. Brand, der Hitler täglich besuchte, trug ihm mein Anliegen vor. Er sagte dabei, daß Schulz 14 Tage zur Ausheilung seiner Wunde nötig habe. Hitler entschied, daß er noch 14 Tage in der Klinik bleiben dürfe. Er könne den Fall jetzt nicht genügend klären. Während der 14 Tage stehe Schulz unter seinem Schutz. Dann müsse er ins Ausland gehen. Ich riet Schulz, nichts weiteres zu unternehmen, sondern sich dieser Entscheidung zu beugen. Er reiste nach 14 Tagen mit seiner Frau und seinen Kindern in die Schweiz, wo er durch seine Firma eine angemessene Beschäftigung fand. Er verhielt sich dort loyal. Als er zum Gegenstand von Pressenotizen gemacht wurde, ging er auf meinen Rat weiter, zunächst nach Budapest, dann nach Athen. Er wurde erst im Kriege wieder in Gnaden aufgenommen, hat aber immer Deutschland die Treue gehalten.

Das Schicksal von Paul Schulz war tragisch. Er war in der Weimarer Zeit wegen Fememordes zum Tode verurteilt worden. Er war m. E. unschuldig, ein Opfer der politischen Justiz der damaligen Zeit. Er hatte sich tapfer benommen und so die Achtung auch der Gegner erworben. Nun wäre er beinahe das Opfer seiner politischen Freunde geworden, die vor wenigen Jahren noch für seine Unschuld gekämpft hatten. Ich war erschüttert. Wir hatten auf Wiederherstellung des Rechts gehofft. Das aber waren Verbrechen, das war Mord! Die Reichstagsrede, die Hitler dann hielt, um den 30. Juni 1934 zu rechtfertigen, war die schwächste, die er je gehalten hat. Sie wurde von allen abgelehnt, wenn das auch nicht offen gesagt werden konnte. Am bedenklichsten war die Erklärung, daß er selbst der höchste Richter in Deutschland sei. Das war das Gegenteil von dem, was wir erhofft hatten. Wenn das den Weg anzeigte, den die Entwicklung nehmen würde, war das Schlimmste zu befürchten. Aber durfte man Hitlers Worte auf die Goldwaage legen, zumal Worte, die in so erregten Augenblicken gesprochen waren? War nicht die Hoffnung gerechtfertigt, daß die Entwicklung zum Guten dennoch kommen würde, wenn sie vom Willen aller Gutgesinnten im Volke getragen war? So schmerzlich das Erlebnis des 30. Juni war, man mußte in die Zukunft schauen und hoffen, daß es gelingen werde, die schlimmen Dinge, die da in Erscheinung getreten waren, doch noch zu überwinden. Hat nicht Henderson recht, wenn er in seinem Buch über den Fehlschlag einer Mission schreibt, daß damals Optimismus Pflicht war?

Die Entwicklung der Jahre 1935 bis 1939 schien jedenfalls den Optimisten recht zu geben. Außenpolitische Probleme traten mehr und mehr in den Vordergrund. Das spiegelte sich auch in den politischen Prozessen wider. Man muß daher unter den politischen Prozessen der Hitlerzeit drei Perioden unterscheiden: zunächst die Zeit von 1933 bis 1935, in der in Deutschland eine Politisierung der Justiz zur Bekämpfung der politischen Gegner stattfand, sodann die Jahre von 1935 bis 1939, wo die politischen Prozesse in Deutschland an Bedeutung verloren, endlich die Zeit des Krieges von 1939 bis 1945, in der die Politisierung der Justiz eine weitere Steigerung erfuhr. In den Jahren 1935 bis 1939 aber wurden die politischen Prozesse hauptsächlich im Ausland geführt, wobei die Gegner des Nationalsozialismus jeweils in der Offensive waren.


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Anmerkungen

30Vom Ruhrkrieg zur Rheinlandräumung, S. 72. ...zurück...


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Politische Justiz: die Krankheit unserer Zeit