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Abmarsch zur Zuckerfabrik

In der Nacht donnerten plötzlich Fäuste an unsere Tür, wir hörten auf dem Gang Lärm und Geschrei, ein Wärter öffnete die Zelle und leuchtete mit einer offenen Kerze in unseren Raum, in dem wir alle erschrocken aufgefahren waren und ihn auf den Strohsäcken sitzend anstarrten. "Alles raus!" brüllte er. "Alarm! Sofort raus, unten auf dem Hof antreten, dalli, dalli!" Er kam in die Zelle, riß einzelne von uns hoch und wollte sie, wie sie waren, in den Gang hinausstoßen. Aber Udo Roth griff ein und sagte mit einer Stimme, die gerade durch ihren ruhigen Klang den Polen etwas zur Besinnung brachte, wir müßten doch wenigstens unsere Schuhe anziehen. Unter ständigem Drängen des Wärters, der uns ausdrücklich verbot, irgendetwas von unseren Kleinigkeiten mitzunehmen, traten wir schließlich auf den völlig finsteren Gang, tasteten uns an der Wand entlang und polterten die Treppen hinunter. Drei oder vier von uns waren so geistesgegenwärtig gewesen, eine Gefängnisdecke mitzunehmen, ich selbst hatte nichts anderes an mir als ein dünnes Gefängnishemd, Rock und Hose, Strümpfe und Schuhe, und ebenso waren die anderen Kameraden bekleidet. Hosenträger, Gürtel, Sockenhalter waren uns abgenommen worden. Auf dem Hof hielten wir uns nicht lange auf. Im Schein von Stallaternen ordnete man uns in Viererreihen, die polnischen Verbrecher, die das Gefängnis in der Hauptsache bevölkerten, kamen an den Schluß, so daß wir nun auch unseren Totschläger verloren, und der Marsch ging zu dem gleichen breiten Toreingang hinaus, durch den wir drei Nächte zuvor einmarschiert waren. An der Ecke stand ein Mann in polnischer Uniform, wir hielten ihn für einen Gefängniswärter, aber es war in der Dunkelheit nicht möglich, es wirklich genau festzustellen. Lemke, der, klein, zäh und unverdrossen neben mir ging, wollte etwas für unsere Stimmung tun. Außerdem hatten wir alle in diesem Augenblick etwas wie Dankbarkeit für die zwei Tage verhältnismäßiger Ruhe, die wir in diesem Gefängnis zugebracht hatten. Lemke also sagte zu dem Mann am Torausgang, als wir an ihm vorüber auf die Straße hinausmarschierten, leise in deutscher Sprache: [48] "Vielen Dank für die erwiesene Gastfreundschaft, mein Herr! Wir werden Ihr Haus weiterempfehlen."

Diese Worte riefen eine tolle Heiterkeit in uns hervor, die noch dadurch verstärkt wurde, daß wir wußten, wir könnten es nicht wagen, laut zu lachen. Es mochte auch die Erleichterung, daß wir nun dem Zuchthaus entrannen, dazu beitragen, daß unsere Stimmung für kurze Zeit heller wurde, kurz, immer wieder brach bei dem einen oder anderen von uns trotz aller Anstrengung ein unterdrücktes Gelächter aus. Der Nachbar schlug dem Lachenden erschrocken auf die Schulter, rief ihm wohl auch zu: "Halt's Maul, Mann!", aber er mußte dann selber alle Gewalt anwenden, sein eigenes Lachen zu unterdrücken. Die Posten merkten natürlich, was vorging, wußten nicht, warum wir so fröhlich waren und begannen sofort zu drohen. Ihre Worte brachten uns unsere wahre Lage in das Bewußtsein zurück. Wir würden schon sehen, schrien sie, das Lachen werde uns schon vergehen, dafür würden sie sorgen, wir sollten uns vorsehen. Einige teilten Fausthiebe und Schläge aus. Schnell wurde es bei uns still.

Wir wußten ja nun alle, wozu Polen fähig waren, aber dennoch waren wir im Grunde in zuversichtlicher Stimmung.

Wir waren wieder unter uns, nur Deutsche, fühlten uns nicht mehr bespitzelt - denn aus einem anderen Grunde als um uns zu überwachen, hatte man doch die drei Polen nicht zu uns getan - fühlten uns vor allem wieder unter ehrlichen Leuten und Kameraden. Das gab uns trotz der Ungewißheit, der wir nun wieder entgegenzogen, neuen Mut. Und Mut brauchten wir. Wir nahmen alle an, daß man uns deshalb so überstürzt aus der Stadt Wloclawek, die nun wieder ihren uralten deutschen Namen Leslau trägt, hinausführte, weil unsere Truppen im Anmarsch waren. Das richtete uns auf, aber es zeigte doch auch, daß wir noch böse Tage vor uns hatten. So wird man uns nun immer wieder vor unseren herandrängenden Truppen davonführen; immer, wenn wir nahe vor der Befreiung sind, werden sie mit uns ausrücken - so dachten wir wohl alle, und einige sprachen es auch aus. Ich hörte Walter Lemke, der neben mir ging, halblaut, da- [49] mit ihn die polnischen Posten nicht verständen, aber mit starker Betonung sagen, als einer wieder einmal mit etwas kläglicher Stimme diese Befürchtung aussprach: "Ja, bis sie dann eines Tages doch schneller sind als wir und die Polen."

Für alle, die schlechte Augen hatten, war der Marsch eine Qual. Wenn es auch wahr ist, daß selbst die Kameraden mit guten Augen in der Dunkelheit nichts sehen konnten, so weiß doch jeder, der ein Augenglas zu tragen gezwungen ist und einmal versucht hat, im Finstern ohne Brille zu gehen, welch ein Gefühl der Unsicherheit einen da überfällt.

Nach etwa einer Stunde hielten wir vor einem Walde an; auf der Straße warteten Panjewagen auf uns. Wir wurden gleichmäßig auf sie verteilt, mußten uns auf die Bretter niederhocken, und die etwa sechsstündige Fahrt begann. Zu diesem Zeitpunkt wären wir allen, auch unsere greisen Kameraden, lieber zu Fuß weitermarschiert, denn wir wurden auf der schlechten Straße ununterbrochen durcheinandergerüttelt. Man kann eigentlich nicht davon sprechen, daß wir auf den Wagen saßen; besser würde man es so ausdrücken, daß wir ununterbrochen bald höher, bald weniger hoch emporgeschleudert wurden und mit unserem wertvollsten Körperteil immer wieder auf die Bretter schlugen. Diese Bretter, die der Länge nach den Boden des Kastenwagens bildeten, klapperten und sprangen aber nach ihrem eigenen Rhythmus auch ständig auf und nieder. Nach etwa einer halben Stunde taten uns sämtliche Knochen im Leibe weh, der Körper war durcheinandergeschüttelt und der Magen befand sich auch nicht mehr an der richtigen Stelle.

Man wird es ohne weiteres verstehen, daß wir untereinander in unserem Männerverein kein Blatt vor den Mund nahmen; und besonders später, als uns allen klar war, daß wir ständig von einem qualvollen Tode bedroht waren, da wurde in unseren Reihen ein Frontdeutsch gesprochen, das seine stärkste Quelle ebenso in stoischem Gleichmut gegenüber der Umwelt wie in dem zähen Willen hatte, dem Haß der Polen Gelassenheit und Ruhe entgegenzusetzen. Aber zugleich wird es verständlich sein, daß ein rüttelnder Wagen [50] und ein schmerzender Allerwertester nicht leicht Ort und Veranlassung sind, Stolz und Haltung zu zeigen. Walter Lemke, der auf dem gleichen Wagen saß, rief mich plötzlich an:

"Du, Reinhold, sag mal, wie heißen diese Affen, die so einen nackten roten Hintern haben?"

Da mir eben dieser Hintern so sehr weh tat wie höchstens in meiner frühesten Schulzeit, wenn mir einmal vom Vater oder Lehrer das Leder für irgendeinen Jugendstreich ordentlich versohlt worden war, murrte ich ziemlich übelgelaunt zurück: "Warum, Mensch? Pavian, glaube ich, heißen sie. Oder nein, halt mal: Mandrill! Jawohl, Mandrill!"

"Na du," sagte er fröhlich knurrend, "wenn das noch eine Stunde so weitergeht, bin ich auch ein Mandrill."

Über unserem Wagen knatterte plötzlich wieder unterdrückte Heiterkeit. Sie hielt freilich nicht lange an, denn wir fuhren noch fünf weitere Stunden.

Die Septembernächte des Jahres 1939 waren kalt und sternenklar. Als die Morgendämmerung heraufzog, wurde die Kälte schneidend, und wir haben in unserer dünnen Kleidung bitter gefroren. Wir hockten zuletzt stumm und zitternd dicht nebeneinander; uns erwärmte, daß der Wagen rüttelte und schüttelte und uns ständig hin und her und gegeneinander warf.

Als die Sonne gerade eben im Osten, links von unserer Straße, hinter einigen von den hohen, zerzausten Pappeln aufgegangen war, wie sie für das frühere Russisch-Polen bezeichnend sind, sahen wir die Spitze unserer Wagenkolonne halten. Wir fuhren an das erste Fuhrwerk heran und hielten dann auch. Wir waren am Ziel. Einige rote, große Gebäude wuchsen unmittelbar aus der Landschaft heraus, von einer hohen Umfassungsmauer umgeben. Es war, wie sich später herausstellte, die Zuckerfabrik Chodsen.

Als wir abstiegen, mußten wir den herzkranken Heinecke vom Wagen heben. Er war steif vor Erschöpfung, er sprach nicht und bewegte sich nicht, und wir fürchteten, daß er uns unter den Händen wegsterben würde. Aber als er erst einmal eine halbe Minute den festen Boden unter sich fühlte, [51] schlug er die Augen auf und sah sich um. Mühsam kam ihm das Bewußtsein seiner und unserer Lage zurück. Er ächzte mit schwacher, knarrender Stimme und versuchte, sich vorwärts zu bewegen; es mußte ihm Schmerzen bereiten, er sah uns aus seinen alten Augen einen Augenblick wie verzweifelt an. Aber als er unsere besorgten Gesichter sah, da wandelte sich mit einem Schlag seine Stimme. Der alte Herr blitzte uns an und sagte plötzlich fast mit der alten Kraft in seinen Worten: "Na, denn man los!" Er bewegte die Beine, und es ging; es ging schwer und mühsam, aber es ging mit jedem Schritt besser. Es war dennoch vielleicht seine Rettung, daß wir im Graben der Landstraße erst etwa eine Viertelstunde warten mußten und uns dabei setzen durften. Als wir dann wieder aufbrachen, wurde er von beiden Seiten gestützt. Es schien uns, als wolle der Weg kein Ende nehmen. Der Körper, alle Glieder, Arme nicht weniger als Beine und Rücken, schmerzten, Gehirn ebenso wie Magen waren durcheinandergerüttelt, und als man uns vor einem kleinen Backsteinhaus halten ließ, da glaubten wir, wir hätten zwei bis drei Kilometer unter schwerstem Gepäck zurückgelegt.

(Ich habe einige Wochen später zusammen mit Walter Lemke den Ort besichtigt. Wir wollten nicht glauben, daß die Strecke in Wahrheit höchstens hundertfünfzig Meter lang war. Wir sind sie immer wieder abgelaufen, suchten die Örtlichkeit festzustellen und die Gebäude wiederzuerkennen, wir fragten polnische Bewohner des Dorfes, die damals Augenzeugen gewesen waren - aber es war richtig, die Wegstrecke war nicht länger. Da erst ging uns auf, wie erschöpft, verwirrt und zerschlagen wir damals gewesen waren.)

Hier hatten wir nun wiederum zu warten; man trieb uns auch hier in den Straßengraben. Vor uns war ein Gebäude, das wir für die Polizeistation hielten, dahinter und daneben lag das Gelände der Zuckerfabrik. Hinter uns standen in einigen herbstlich bunten Gärten mehrere niedrige Einfamilienhäuser in langer Reihe an dieser Nebenstraße.

Während wir so im Straßengraben hockten, trafen immer neue Transporte mit Volksdeutschen von der Landstraße her [52] bei uns ein. Unsere Wachtleute wollten, da wir zuerst vor dem Gebäude angelangt waren, auch als Erste abgefertigt werden, und so wiesen sie die Neuangekommenen an unseren linken Flügel. So kam es, daß jede neue Kolonne an uns vorübergeführt wurde.

Gleich der erste Zug, der an uns vorübergetrieben wurde, ließ uns erkennen, daß wir im Gefängnis von Wloclawek im Paradiese gelebt hatten. An seiner Spitze ging ein bäuerliches Ehepaar, das einen mit einem Tuch zugedeckten großen Waschkorb zwischen sich trug. Der Mann war mit der rechten Hand an die linke seines Nachbarn gefesselt. Es war ein starker, breiter Mensch, dessen Gesicht mit großen dunklen Flecken übersät war; das linke Ohr war von Blut verkrustet. Er ging mit schweren, schleppenden Schritten an uns vorüber, ohne den Blick vom Boden aufzuheben, und wir sahen, daß er ein Bein etwas nachschleppte. Seine Frau, die ein weißes, rundes Gesicht unter einer Fülle braunen Haares hatte - ich sehe sie jetzt noch deutlich vor mir - starrte mit großen Augen geradeaus, während ihr ununterbrochen Tränen über die Wangen liefen.

Mitten auf dem Wege stand gerade vor uns ein Polizeikommissar mit Kneifer und Spitzbart, dessen krähende Stimme mich noch lange verfolgt hat. Er sah den Ankommenden entgegen, deutete mit einer starken Weidenrute auf den Korb und fragte, als das Paar direkt vor ihm stand und im Gehen innehielt, da er ja nicht aus dem Wege trat, was der Korb enthalte. Die Frau sagte mit zitternder Stimme, es liege ihr Kind darin, ein Säugling, aber er schlafe. Der Kommissar stutzte und einen Augenblick lang glaubten wir, die wir mit atemloser Spannung zusahen, einen Zug von Verlegenheit und menschlichem Mitgefühl in seinem Gesicht zu erblicken. Aber er schwang die Weidengerte und bellte: "Nehmt das Tuch ab."

Die beiden stellten den Korb auf die Erde, und die Mutter nahm das Tuch fort. Wir waren aufgestanden, um hineinzublicken. Es lag wirklich ein vielleicht halbjähriges Kind auf einigen Kissen darin. Aber der Mutter mußte etwas an der [53] Haltung des schlafenden Kindes aufgefallen sein, sie beugte sich darüber und faßte mit einem leisen Schrei, der mir das Herz erzittern machte, nach seinem Ärmchen. Dann riß die Frau ihr Töchterchen hoch, sie fiel dabei auf die Knie. Das Kind schlief nicht mehr, es war tot. Während die Bäuerin den kleinen Leichnam wie versteinert an die Brust drückte und zunächst keinen Laut von sich gab, begann ihr Mann haltlos zu schluchzen. Und das Weinen des Mannes war noch schlimmer als die Starrheit der Frau. Die Posten schrien auf die beiden ein, sie sollten weitergehen, und die Frau gehorchte; sie ging wie eine Traumwandlerin an uns vorbei, immer noch die Leiche ihres Kindes an sich pressend. Ihr Mann, der ja an seinen Nachbarn gefesselt war, zog sie mit der Linken an sich heran, legte den freien Arm um sie und stolperte nun schwankend und vor sich hinweinend die Straße entlang. Jetzt erst, als sein Wille ganz gebrochen war, zeigte sich, daß er häßlich lahmte. Und wir erkannten auch, was die dunklen Flecken in seinem Gesicht bedeuteten; man hatte ihn mit Faustschlägen und wohl auch mit harten Gegenständen geschlagen, und die Blutergüsse unter der Haut hatten sein Gesicht so gezeichnet. Zwei Kameraden, die hinter dem Paar gingen, ergriffen den Korb und trugen ihn fort.

Zu dieser Kolonne gehörten wohl etwa fünfzig Deutsche. Mehr als die Hälfte wies Spuren von Mißhandlungen auf, mehrere hatten blutgetränkte Verbände um den Kopf oder um die Hände. Ein grauhaariger alter Mensch trug seinen rechten Arm in der Binde. Wir sahen, daß sie sich alle selbst verbunden hatten, denn man konnte erkennen, daß sie Hemden und andere Wäschestücke zerrissen hatten, um irgendein Mittel gegen das rinnende Blut zu haben.

Es kamen Männer und Frauen aus der Stadt Kruschwitz und ihrer Umgebung. Ich erkannte den Rentmeister Ortwich, einen ruhigen, sachlichen Mann, der wie ein Betrunkener hin- und herschwankte. Hinter ihm ging ein mir unbekannter Bauer, der von zwei anderen rechts und links gestützt wurde. Ich hörte eine heisere Stimme neben mir sagen: [54] "Mein Gott - das ist ja Witt... er hat einen Schuß in die Seite." Ich konnte keine Verletzung an ihm erkennen, aber Lemke behauptete, deutlich erkannt zu haben, daß der Kamerad angeschossen sei. Es hat sich später auch bestätigt, daß Lemke richtig gesehen hatte. Plötzlich fühlte ich, wie eine Hand sich um meinen Unterarm krallte. Ich hatte es auch gesehen. Hinter Adolf Witt ging ein junges Mädchen von etwa achtzehn bis zwanzig Jahren. Sie hatte einen völlig blutdurchtränkten Verband um den Kopf geschlungen, der offensichtlich das Kinn stützen sollte. "Reinhold, Reinhold, das ist seine Tochter," hörte ich Lemke ächzen. Wir wußten in diesem Augenblick noch bei weitem nicht alles. Der Familie Witt waren drei Angehörige erschossen worden; die Mutter lag schwerverletzt zu Hause. Vater und Tochter wurden hier verwundet an uns vorübergeschleppt.

Ein junger Bursche trug einen Greis an uns vorbei, der völlig weißes Haar hatte und steif wie eine Holzfigur war, als sei er eben von einem Kruzifix abgenommen worden. "Der alte Diesing. Er ist über fünfundsiebzig Jahre alt!" flüsterte es heiser an meinem Ohr. Ich sah sein Gesicht, es war erloschen, aus seinen Augen blickte uns die Gleichgültigkeit eines Menschen an, der seinen Tod vor sich sieht und sich damit abgefunden hat.

So zog es an uns vorbei, schwankend, stumm, den Blick geradeaus oder zur Erde gerichtet, kaum daß einer einmal zur Seite sah, wo wir, kahlgeschoren und mit großen Bärten, im Graben standen. Wer nicht weiterkonnte, den stießen die Posten mit Gewehrkolben oder Faustschlägen weiter. Wehe dem, der eine Bewegung machte, die als Widerstand gedeutet wurde! Ihm schlugen die Polizisten ohne weiteres den Gewehrkolben über den Schädel oder das Genick. Nicht weit von mir bekam ein junger Mensch einen solchen Hieb, so daß er in die Knie sank und langsam zusammensackte und nun nicht weiter konnte. Aber sein Nachbar zur Rechten riß ihn hoch, aus dem Gliede hinter ihm sprang ein Kamerad vor und lud ihn dem ersten auf den Rücken, der nun so mit ihm weiterlief, während der Polizist höhnend nebenherging.

[55] In diesem Augenblick erhob sich rechts von uns, vielleicht zwanzig Meter entfernt, plötzlich Lärm und Geschrei und Tumult, wir hörten die Posten brüllen und dazwischen eine flehende Stimme, wir verstanden die Worte in dem Wirrwarr nicht, wir konnten auch nicht sehen, was dort vorging, wir erkannten nur, daß dort ein paar Mann von den Begleitmannschaften abgedrängt wurden, auf einmal war ein gellender, von kreischender Angst gehetzter Schrei in der Luft, eine ganz hohe Stimme, die sich überschlug und versagend abbrach, dann hörten wir zwei Schüsse. In dem Zuge, der gerade an uns vorbeigeführt wurde, entstand eine Panik, alles stürzte vorwärts, lief an uns vorbei, die Posten schrien und hieben auf unsere gänzlich verstörten Kameraden ein, es krachten noch mehr Schüsse, und nun sahen wir in einem Toreingang zwei Männer auf der Erde liegen und etwa fünf oder sechs Uniformierte um sie herumstehen. Zwei faßten zu und zogen die Erschossenen in den Hof hinein, wir sahen nichts mehr von ihnen.

In unserer kleinen Schar herrschte eine fürchterliche Stille. Ich vermochte nicht, irgend jemand anzusehen, ich hatte beide Fäuste geballt und den Kopf darein gestützt, ich saß im Straßengraben und zitterte vor unbeschreiblicher Wut. Viel, viel später erst merkte ich, daß ich, obwohl es in dieser nebligen Septemberfrühe bitter kalt war, von Schweiß übergossen war. Später waren Körper und Seele so schlaff geworden, daß sie nur mit müdem Empfinden auf solche Erlebnisse antworteten.

Auf der Landstraße draußen hielt ein neuer Zug von Leidensgefährten, auch sie wurden auf den Nebenweg getrieben und an uns vorbeigeführt. An seiner Spitze gingen mehrere Frauen. Mir fiel eine ältere Bäuerin auf wegen ihrer ungebrochenen Haltung. Sie hatte nicht den verzweifelten oder ratlosen Ausdruck, den manche unserer Frauen zeigten. Um ihre Mundwinkel lag etwas wie Verachtung. Sie war auch eine von den Wenigen, die uns alle aufmerksam musterte. Sie hatte Holzpantoffel an den Füßen; man hatte [56] ihr also nicht einmal soviel Zeit gelassen, sich ordentliche Schuhe anzuziehen.

Wir sahen Knaben und Mädchen von sieben bis zehn Jahren, die an der Hand ihres Vaters oder ihrer Mutter gingen. Wir sahen eine Frau, die einen Säugling auf dem Arm trug. Wir sahen einen Trupp, in dem fast alle Männer völlig zerschundene und blutende Handrücken hatten. Sie hatten sich bäuchlings auf den Boden legen, die Arme nach vorn über den Kopf ausstrecken müssen, und die Polen waren - dies alles erfuhren wir später von den Mißhandelten - mit genagelten Stiefeln über die Handrücken der Liegenden hin- und hergegangen. Nicht wenigen waren davon die Finger oder die Knöchel der Hand gebrochen. Wir sahen mehrere Volksgenossen, deren Alter wir nicht abschätzen konnten, da ihr Gesicht von Schlägen so angeschwollen und von Blutergüssen unter der Haut so dunkel gefärbt war, daß kein weißer oder heller Fleck zu sehen war und diese Menschen den Eindruck von Negern machten. Wir sahen einen alten weißhaarigen Mann, der so zerschlagen war, daß er auf seinen Füßen nicht mehr gehen konnte. Zwei Nachbarn hatten ihn rechts und links untergehakt und schleppten ihn an uns vorbei, während er sich bemühte, ihnen ihre Mühe dadurch zu erleichtern, daß er auf den Knien über den Sand der Straße rutschte. Diese Gruppe, die am Schluß eins Zuges dahinwankte, wurde von zwei jungen Polen von höchstens siebzehn oder achtzehn Jahren unter Gejohle und Geschrei rücksichtslos angetrieben; die verrohten Gesellen schlugen mit daumendicken Stöcken auf die beiden Helfer ein. Doch sie ließen den alten Mann nicht im Stich, sie schleppten ihn weiter. Unsere Posten aber, die noch Spuren von Mitleid gezeigt hatten, als sie das tote Kind in dem Waschkorb erblickt hatten, waren von der allgemeinen Raserei der Polen längst angesteckt worden. Sie brüllten zusammen mit den übrigen Wachleuten auf die Vorüberwankenden ein, sie schrien Beifall, johlten und grölten, so sei es recht, gebt den Hitlerschweinen, den faulenden Hundeleichen, den Spionen, den Cholerras, den dreckigen Deutschen, gebt ihnen! Sie schrien [57] uns zu, seht ihr, so wird es euch Hitleristen allen gehen, so wird man es mit euch allen auch noch machen, ihr alle müßt krepieren, ihr werdet schon sehen! Aus den Häusern der Siedlung um die Zuckerfabrik hatten sich inzwischen Männer und Weiber, junge Burschen und Mädchen, auch Kinder eingefunden, und es war grauenhaft zu sehen, wie selbst Zehn- und Zwölfjährige in das allgemeine Johlen und Schimpfen und das haßerfüllte Freudengeschrei einstimmten, so wenig ich verschweigen will, daß ich auch die entsetzten Augen eines etwa zehnjährigen Mädchens sah, das mit blassem Gesicht plötzlich am jenseitigen Rande der Straße stand und dann jämmerlich weinend davonlief, als eine Frau, die sich in ihrer Angst in einem Fliedergebüsch halbrechts vor uns zu verstecken versucht hatte, von den Polizisten mit Faustschlägen, Fußtritten und Kolbenstößen an uns vorbeigejagt wurde.

Der Anblick der an uns vorbeiziehenden armen Kameraden, der Männer und Frauen und Kinder, die Deutsche waren wie wir, ließ in uns ein heißes Gefühl der Zusammengehörigkeit wachsen; noch der Letzte, und mochte er noch so träge im Denken und Empfinden sein, wußte nun, was es heißt, ein Vaterland zu haben - jetzt, da es uns so fern war. Die Schändung unserer Ehre, gegen die wir wehrlos waren, erfüllte uns mit Müdigkeit und Entsetzen. Viele, viele unter uns hätten die Kraft gehabt vorzutreten und zu erklären: Erschießt uns, aber haltet ein! Doch man hätte sie nicht erschossen, man hätte sie zusammengeprügelt, mit Faustschlägen und Fußtritten bearbeitet, bespuckt und beschimpft - und dazu, dies auf uns zu nehmen, vermochte sich niemand aufzuraffen, denn das ging über unsere seelische Kraft. Die Schändung der Würde, die Schändung alles Menschlichen, die das fremde Volk vor unseren Augen betrieb, da es sich so unsagbar selbst erniedrigte und besudelte, nahm uns den Rest unserer Stärke. Wir sahen mit stumpfen Augen dem zu, was sich vor uns begab. Ich kam zu keinem klaren Überlegen, und meinen Kameraden ging es wie mir. Trauer, Beschämung, Entsetzen, Furcht, Mitleid und Grauen lasteten auf uns, und niemand vermochte diese Last mit erhobener Seele [58] zu ertragen. Jetzt wußten wir alle, was uns bevorstand, aber auch das konnte uns nicht mehr als einen dumpfen Schrecken einjagen.

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Der Marsch nach Lowitsch
Erhard Wittek