SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor


 
Im Zuchthaus zu Wloclawek

Ein Mensch in graugrüner Uniform mit einem zerdrückten Gesicht, das eine viel zu große, windschiefe Nase hatte, führte uns in das Haus, während zwei uniformierte Wärter uns folgten. Wir mußten uns in einem kahlen, schmutzigen Gange aufstellen, und immer zwei und zwei wurden in ein Zimmer gerufen, in dem hinter einer hölzernen Schranke zwei Männer saßen, denen wir unsere Personalien anzugeben hatten. Wir mußten alle Wertsachen, alles Gepäck abgeben, ebenso wurden jedem von uns Weste, Hosenträger, Strumpfhalter, Gürtel und Messer abgenommen. Ich mußte auch meine Brille hergeben, so daß ich zunächst, da ich sehr kurzsichtig bin, von diesem Augenblick an nur noch mit den Händen vor mich hintastend gehen konnte. Dann nahm uns der kleine Mensch mit dem schiefen Gesicht wieder in Empfang, er ging mit schleifenden Schritten krummbeinig und plattfüßig vor uns her. Der Kerl war ein Jude, wie sie in Karikaturen immer wieder zu sehen sind, wenn auch das Gesicht nicht ganz so minderwertig aussah wie die Gestalt selbst. Er brachte uns in den zweiten Stock in eine große leere Zelle, die in der Länge sechs und in der Breite vielleicht vier Doppelschritte maß. Wir hatten später [28] oft genug Gelegenheit, die Zelle der Länge und der Breite nach abzuschreiten. Der Raum hatte einen Zementfußboden; an einer Wand lehnte eine lange Holzplatte, zwei Böcke, die als Tischfüße dienen mochten und eine Bank. Außerdem war etwa in Kopfhöhe an einer Seitenwand ein Wandbrett angebracht, unter dem eine runde Holzstange entlanglief.

Ich war einer der ersten, der diese Zelle betrat; allmählich kamen die anderen nach. Sie sahen sich dumm in dem großen, von einer elektrischen Birne erhellten Raum um. Die Fahrt auf dem stuckernden, klappernden, alle Löcher und Steine in der Straße in harten Stößen zurückgebenden Wagen war zuletzt eine Qual gewesen; sie hatte besonders die älteren Herren sehr angestrengt. Der über fünfundsechzig Jahre alte Herr Heinecke aus Wybranowo, der schwer herzleidend war und bisher alle Leiden und Härten fast mit Humor ertragen hatte, ließ sich auf die Bank fallen und faßte mit geistesabwesender, müder Gebärde nach seinem Herzen. Wir rückten die Bank in die Nähe der Wand, so daß er sich an ihr stützen konnte. Der Jude - es hatte sich inzwischen herausgestellt, daß er der Aufseher über diesen Teil des Zuchthauses war - hatte den alten Herrn als Letzten abfertigen lassen. Das endlose Stehen und Warten in dem kahlen Gange hatte seine letzten Kräfte erschöpft; der Aufseher aber hatte ihm verboten, sich zu setzen, obwohl er sah, daß er vor Schwäche taumelte.

Die Müdigkeit überwältigte uns alle. Für einige Stunden wenigstens hofften wir, sicher zu sein. Wir streckten uns auf dem nackten Fußboden aus und versuchten zu schlafen. Aber es verging keine halbe Stunde, da polterte es an die Tür, es waren grobe Stimmen zu hören, ein Schlüssel klirrte im Schloß und herein trat der Aufseher. Hinter ihm waren zwei Mann in Uniform zu sehen. Der Aufseher sah prüfend in dem Raum umher, auf dessen Fußboden sich, teils verschlafen, teils vor Schmerzen ächzend, denn der Zementfußboden drückte auf alle Knochen, teils auch erschrocken, die Häftlinge mühsam aufsetzten. Er winkte Julius Mutschler, schrie noch zwei anderen zu, sie sollten aufstehen und ihm [29] folgen, und die Tür flog krachend wieder ins Schloß, nachdem er sich mit den drei Kameraden wieder aus der Zelle begeben hatte.

Das war ein seltsames Benehmen gewesen, und der Jude hatte so böse gegrinst. Wir Zurückbleibenden sahen uns stumm an, keiner sprach aus, was jeder dachte, aber alle erkannten, daß jeder die gleiche, böse, niederträchtige Vermutung hatte. Ein dicker Mann, Geschäftsführer einer größeren Genossenschaft, der vor dem Kriege - wie lange war das her, wie endlos lange, daß es Frieden gewesen war! und doch war heute erst der 3. September! - der also vor dem Ausbruch des Krieges immer sehr großspurig aufgetreten und auch sonst nicht immer ein angenehmer Mensch gewesen war, flüsterte entsetzt: "Sie werden sie doch nicht erschießen?" Er kreischte plötzlich los, er hatte sich schon bisher von sehr schwachen Nerven gezeigt, er meinte: "Um Gotteswillen, sie werden uns doch nicht erschießen."

Wütend sagte Walter Lemke: "Halt's Maul, Rehse. So schnell erschießen die Polen niemand." Aber seine Stimme war heiser und auch sein Gesicht war blaß. "Ich habe schon mal vier Monate in Wronke gesessen, ich kenne das. Wahrscheinlich gibt es ein Verhör oder sonst etwas."

Was blieb übrig, als zu glauben, was Lemke sagte. Aber ein anderer Kleinmütiger begann zu jammern: "Ach hätte ich mich doch anders zu den Polen gestellt, hätte ich polnisch sprechen gelernt. Was haben wir jetzt davon, daß wir Deutsche sind..."

Da sprang Lemke, der bisher auf dem Boden mit dem Rücken gegen die Wand gesessen hatte, mit erstaunlicher Schnelligkeit auf die Beine. Der sonst so ruhige, schmächtige Mann war wie verwandelt; er trat vor den Klagenden hin und sagte mit eiskalter Stimme, er solle schweigen, denn er, Lemke aus Luisenfelde, werde kein Wort der Feigheit dulden. Er hatte dabei die Fäuste geballt, und es war ihm anzusehen, daß er bereit war, eher zuzuschlagen als sich solche schwächliche Klagen anzuhören. Wir streckten uns mit schmerzenden Gliedern wieder auf dem Steinfußboden [30] aus und versuchten zu schlafen. Aber keinem gelang es. Was sie wohl mit Mutschler taten? Und warum sie gerade ihn geholt hatten? Und Stübner und Kepler? Warum gerade die drei? Wir erinnerten uns dessen, was wir in Hohensalza auf dem Sportplatz gesehen und gehört hatten, wir dachten an den rasenden Pöbel in Lipno - war das wirklich erst zwölf Stunden her?

Da polterte wieder die Tür, wieder erschien der Jude. Diesmal brachte er gar ein Frauenzimmer mit, das mit verquollenen Augen über seine Schulter blickte. Der Aufseher schrie wieder Zweien zu, sie sollten aufstehen, er winkte sie grob heran, "hinaus mit euch!" sagte er. Das Weib stieß ihn an - jetzt sahen wir, daß sie auch eine Art Uniform trug - sie stieß den Aufseher an und wies auf Rehse, der bleich und schwer atmend dasaß und mit entsetzten Augen die beiden Menschen anstarrte, die hier solch eine Macht über andere hatten. Der Jude lachte. "Du auch!" schrie er, "los, mitkommen, schnell!" Rehse schauerte zurück, dann aber riß er sich zusammen, stand auf und folgte still.

"Lemke, was hat das zu bedeuten?" fragte der alte Heinecke.

"Was weiß ich?" gab der zähe, kleine Bauer zur Antwort. "Ich glaube, sie wollen uns mürbe machen. Seid still und laßt euch nichts anmerken."

Beim nächsten Mal holte der Tschekist, wie wir den Aufseher jetzt schon nannten, Lemke, den alten Heinecke und mich heraus. Draußen standen zwei Uniformierte, aber wir sahen mit einem Blick, daß es weder Polizisten noch Soldaten waren, sondern daß sie die gleichen Abzeichen trugen wie der Aufseher. Also Gefangenenwärter. Auch hatten sie keine Gewehre.

Es ging zwei Stockwerke tiefer in das Erdgeschoß, über lange Gänge und hallende Steintreppen. Draußen schien die Morgensonne, Licht- und Schattenflecke tanzten auf dem Boden unter einem Fenster, vor dem gelbleuchtend ein großer Baum stand. Man schloß uns eine Zelle auf. Wir traten hinein und stan- [31] den vor Stübner, Mutschler und Kepler. "Was ist?" fragte Julius Mutschler, "was ist? Was machen sie mit uns?"

"Da seid ihr ja!" sagten wir drei aufatmend.

"Sie haben uns hierhergeführt, dann ließen sie uns hier stehen. Seht mal auf den Boden - da!" sagte Julius Mutschler mit dunkler Stimme. Sein listiges Lachen war gänzlich aus seinem Gesicht gewichen.

In der Mitte des Fußbodens war ein kleiner eiserner Ring eingelassen. Sonst war die Zelle, die viel kleiner war als die im zweiten Stock, völlig leer. Wir sechs Männer starrten auf den kleinen, so harmlos aussehenden Reifen. Was hatte er zu bedeuten? Binden sie einen da an, damit er sich nicht wehren kann, wenn sie... Es dachte wohl keiner zu Ende, denn noch wehrte sich unsere Phantasie gegen die Vorstellung von dem, was drohend vor uns, vor jedem stand. Solch ein Ring - er konnte nur dazu da sein, etwas daran zu befestigen, etwas daran anzubinden. Was bindet man in einer Zelle an, in der nichts, aber auch gar nichts ist als sechs Gefangene?

Durch das kleine Fenster schien die Morgensonne. Die Gitterstäbe warfen ihr Muster auf den Boden.

Nach einer halben Stunde brachten sie Rehse herein. Er trat mit flackernden Augen in den Raum, er sah uns auf dem Boden sitzen oder in der Zelle auf- und abwandern und wollte dem Anblick nicht trauen. "Was ist denn, was ist denn..." stammelte er.

Ihn hatten sie allein in eine Zelle gesperrt und darin sitzen lassen.

"Ich sagte es ja. Sie wollen uns mürbe machen. Es ist gut, jetzt wissen wir es," rief Walter Lemke. Seine Stimme war nicht mehr heiser wie vorhin, sie hatte ihren alten, hellen Klang. "Hier, raucht, ich hab noch Zigaretten." Er nahm eine Streichholzschachtel. "Seht her, hier könnt ihr was lernen." Er nahm sein Messer und teilte das dünne Zündholz der Länge nach in vier Teile. "Das habe ich in Wronke gelernt. Ich habe ja schon einmal gesessen, wegen politischer Vergehen. Ich denke, das hier, das dauert keine vier Mo- [32] nate wie damals." Er rauchte eine Zigarette an, sie wanderte im Kreise, jeder nahm einen Zug, keiner fand es verwunderlich, an einer Zigarette zu rauchen, die schon ein anderer im Munde gehabt hatte. Wir setzten uns nun alle auf den Boden, lehnten uns an die Wände, versuchten zu schlafen und begrüßten mit gedämpften Stimmen, aber mit starken Augen jeden, der neu hereingebracht wurde. Nach knapp zwei Stunden waren wir alle wieder beisammen.

Aber kaum hatten wir uns dicht nebeneinander hingehockt, da öffnete sich schon wieder die Tür und ein Wärter erschien. Diesmal war es nicht der Jude. Aber was hatten diese Menschen hier für Gesichter! Der Kerl, der den Kopf weit vorgebeugt hielt, grinste blöde und boshaft, er sah einen nach dem anderen an, als suche er ein Opfer, er weidete sich an dem Fragen der vielen Augenpaare, in die nun doch wieder der Zweifel trat, dann winkte er mir zu. "Du da, komm!" Aber ich hatte meine Brille nicht auf, ich konnte nicht erkennen, daß ich gemeint war, auch saßen wir so dicht beisammen, daß Walter Lemke, der neben mir saß, sich getroffen fühlte und sich erheben wollte. "Nein, verflucht, der andere, der neben dir!" schrie der Wärter. "Los, willst wohl nicht, Freundchen?"

Ich stand auf, die Tür knallte hinter mir ins Schloß, der Schlüssel rasselte. Da sah ich vor mir mitten im Gange einen Stuhl und neben dem Stuhl einen Menschen in Sträflingskleidung, der irgendeinen blinkenden Gegenstand in der Hand hielt. Ich konnte, obwohl es nur ein paar Meter waren, alles nur ungenau erkennen, ich sah nur das Blinken des Sonnenlichtes auf glänzendem Stahl oder Nickel, aber ich dachte: na, hier im Gange werden sie mir ja nicht gerade die Gurgel abschneiden. Ich mußte mich auf den Stuhl setzen, der Mann im Sträflingsanzug setzte eine Maschine an und - schor mir den Schädel kahl. Ich fühlte mich schon halb als Zuchthäusler; was mochten wohl die Kameraden nun wieder vermuten, da man mich jetzt so einzeln herausgeholt hatte! Als der Mann fertig war, brachte mich ein anderer Sträfling zur Gefängniskammer, wo ich nun ein gestreiftes [33] Hemd, eine Decke, ein Handtuch, einen Löffel und einen Eßnapf erhielt, über deren Empfang ich in einem dicken Buch zu quittieren hatte. Dann brachte man mich in die große Zelle im zweiten Stock zurück, in der wir alle schon einmal gewesen waren. In einer Ecke des Raumes lagen übereinandergeschichtet Strohsäcke. Ich zählte sie. Es waren mehr als dreißig Stück, es würde also jeder einen erhalten. Allmählich schien man uns mehr Komfort zuzubilligen.

Im Laufe der nächsten beiden Stunden kam einer nach dem anderen der Kameraden in diese Zelle nach, bis wir alle ohne Ausnahme wieder beieinander waren. Dann brachten die Wärter sogar die Lebensmittel wieder, die uns bei der Einlieferung abgenommen worden waren, zugleich erhielten wir einen neuen Insassen, einen Polen, der mit einem Eimer Trinkwasser hereinkam. Der Neue, ein kleiner, lebhafter, energischer Mensch mit listigen Augen, wurde uns als unser Aufseher vorgestellt, der für Ordnung zu sorgen habe und dem wir alle zu gehorchen hätten. "Aha, der Herr Stubenälteste!" sagte Walter Lemke, der die Gebräuche in den polnischen Gefängnissen bereits kannte.

Während wir aßen und tranken, erkundigte sich der Pole nach den einzelnen Insassen der Zelle. Er hatte sich neben mich auf die Bank gesetzt und zeigte bald auf den, bald auf jenen, verlangte die Namen zu wissen und was sie von Zivilberuf seien. "Der? Der ist ein Rittergutsbesitzer." "So, ein Rittergutsbesitzer?" Der Pole machte große Augen. "Nu, wieviel hat er denn? Ich meine wieviel Morgen?" "Na, so fünftausend oder sechstausend wird er haben." "Und der junge da, ist das der Sohn?" "Nein, das ist ein Besitzer, der hat 960 Morgen." Und so fragte er rundherum, und sein Erstaunen wurde immer größer.

"So, so; das sind ja alles vornehme Herren, große Herren. Na, wenn ich mal hier herauskommen, und ich komme dann zu euch, da werdet ihr einem doch helfen, wie?"

"Das muß man sehen," meinte ich vorsichtig und in der unbeholfenen Sprache, in der der Pole selber redete. "Wenn [34] du uns, du weißt schon, wenn du nicht gemein zu uns bist... Aber was hast du denn, warum sitzt du denn hier?"

"Ach ich, ich hab nichts. Mein Vater hat vier Morgen Land, ich arbeite bei ihm."

"Und warum bist du hier im Gefängnis?"

"Nu, war ein Tanzvergnügen im Dorfe, waren auch andere Burschen da, haben wir ein bißchen mit Messerchen gemacht, einer war tot; na, einer mußte ja ins Gefängnis, hat es eben mich getroffen."

Plötzlich hob er den Kopf und rief wütend.

"Was machst du da? Kannst du nicht richtig trinken, mußt du vergießen? Nimm einen Lappen, gleich, wisch auf! Das gibt sonst Flecke, und dann schimpft der pan przodownik!"1

Es war der alte Herr Heinecke gewesen; er hatte ein paar Tropfen Wasser verschüttet, als er mit einem Becher aus dem Eimer geschöpft hatte. Der junge Meister nahm einen Lappen. "Lassen Sie, das mach ich schon!" und rieb den Boden, bis nichts mehr zu sehen war. Panje Totschläger, der so "bißchen mit Messerchen gemacht hatte", überzeugte sich, daß der Boden wieder trocken war.

Dann stellte er sich an die Tür und sagte, es komme darauf an, das Wohlwollen des Pan przodownik zu erzielen. Es müsse alles ordentlich sein, gut gefegt, kein Schmutz auf dem Boden, kein Fleck, nichts. Wenn der Herr Aufseher komme, dann müßten wir alle antreten, in zwei Gliedern und ihn begrüßen, und wenn er hinausgehe, müßten wir ebenfalls grüßen. Und das wollte er jetzt einmal üben. Dann brüllte er: "Antreten!"

Er stellte uns der Größe nach auf und sagte, so müßten wir also immer stehen, sobald wir merkten, daß die Tür aufgeschlossen werde. Und die Begrüßung laute: "Dzien dobry, panie przodowniku!"2 Das wolle er jetzt mit uns üben. "Achtung!" schrie er. Und alle riefen: "Dzien dobry, panie przodowniku." Das sei ja Kindergekacke, aber keine Ansprache [35] von Männern, rief der Herr Messerstecher, lauter! "Dzien dobry, panie przodowniku!" schrien wir. Ja, das sei schon besser, aber der eine spreche langsam, der andere schnell. Wir sollten auf seine Hand sehen, er werde den Takt angeben. Los! "Dzien dobry, panie przodowniku!" brüllten wir im Takt. Gut sei es, aber es müsse geübt werden. Noch einmal!

"Dzien dobry, panie przodowniku!"

Noch einmal! Und noch einmal! Und nicht leiser werden, also noch einmal!

Ja, jetzt lachten wir alle. Ihm sei das gleich, sagte unser braver Totschläger, aber wenn dann der Herr Przodownik komme, dann dürfe niemand lachen oder auch nur den Mund verziehen. Der Herr Przodownik verstehe keinen Spaß. Also noch einmal, alle zusammen:

"Dzien dobry, panie przodowniku!"

Und so schmetterten wir die Begrüßung immer wieder, bis plötzlich der Schlüssel im Türschloß zu hören war. Der Pole hob den Zeigefinger, wir richteten uns aus, wir waren ja alle oder doch fast alle einmal deutsche Soldaten gewesen, die Tür öffnete sich und herein kam ein Wärter mit einem Gefangenen, der einen dampfenden Eimer Essen hereinbrachte. Die Begrüßung war unnötig. "Acht Portionen", sagte der Wärter, "für die mit den roten Scheinen. Die andern haben Verpflegung mit!" Die acht traten vor und hielten ihre Eßnäpfe hin, der Gefangene gab eine Kelle in jedes Gefäß. Aber der Wärter, der einzige Mensch mit einem für unsere Begriffe anständigen Gesicht, der uns bisher unter dem ganzen Personal vorgekommen war, sagte, er solle die Näpfe ganz füllen. So bekam doch jeder von uns eine warme Suppe, denn so wie am Morgen die Vorräte verteilt worden waren, so gab jetzt jeder von seiner Suppe ab.

"Aha!", sagte Walter Lemke, "es ist heute der erste Sonntag im Monat, da gibt's Eintopf." Die Stimmung wurde ganz friedlich, obwohl die Brühe sehr verdächtig aussah. Jeder versuchte, nicht daran zu denken, wie es wohl mit der Sauberkeit in der Küche des Gefängnisses bestellt [36] sein mochte. Aber es war ein warmes Essen, für uns alle das erste warme Essen seit dem 1. September. Und heute war schon der dritte Tag unserer Haft, für einige schon der vierte oder fünfte.

"Eßt!", sagte Lemke, "laßt nichts übrig. Wir werden Kräfte brauchen."

Einige Zeit nach dem Essen wurde wieder die Tür geöffnet. "Zwölf Mann!" rief der Wärter. "Wer es eilig hat, zuerst hinaus!" rief unser Messerstecher. (Er drückte es deutlicher aus.) In der Ecke, hinter dem Stapel Strohsäcke, stand ein mit einem festen Deckel verschlossener Kübel, aber der dürfe nur im Notfall benützt werden, hatte uns der Stubenälteste erklärt.

Wir mußten auch unsere Handtücher und Eßnäpfe mitnehmen. Der Waschraum hatte zwölf Wasserhähne, wir wuschen uns alle mit Hingabe und wahrer Wollust; es war das erste Mal seit unserer Verhaftung. Auch die Eßnäpfe mußten gesäubert werden. Aber man ließ jeder Gruppe immer nur geradezu zehn Minuten Zeit.

"Psia krew!"3 sagte Walter Lemke anerkennend, als er zurückkam, "hier herrscht aber porządek.4 Das ist ja ein Luxushotel." Es zeigte sich schon hier, daß der schmächtige kleine Mensch, der ein Bauer aus der Gegend von Hohensalza war, aber zarte und kleine Hände wie eine Frau hatte, von gelassener Unerschrockenheit war und von einem Gleichmut, der ihn jeder Lage gewachsen machte.

So verging die Zeit. Einige begannen zu erzählen; bald knatterte die Luft von guten und schlechten Witzen. Vom Kriege und wie es dabei wohl zugehen mochte, wagte keiner zu reden, denn wir trauten doch dem Polen nicht. Wer konnte wissen, ob er nicht doch deutsch sprach.

Der begann aber plötzlich laut zu schimpfen: so eine Unordnung, sagte er. Ob wir bei Mutter nicht Ordnung gelernt hätten. "Wie die Handtücher an der Stange hängen! Gerade, [37] wie einem einfällt. So geht das nicht." Dann zeigte er, wie man es zu machen habe. Er schlug eine Längskante des Handtuches ein, nahm es dann der Länge nach zwischen beide Hände und zog das Tuch ein paarmal über die Tischkante hin und her, so daß es einen scharfen, wie gebügelten Bruch gab. Dann schlug er auch die andere Längskante nach innen ein, so daß das ganze Tuch jetzt nur noch ein Drittel seiner eigentlichen Breite hatte, und zog es jetzt noch einmal über die Tischkante. Dann faltete er es in der Mitte einmal und legte es über die Holzstange, die an der Wand unter dem Wandbrett angebracht war. Und jeder solle sich seinen Platz merken! (Natürlich hatte er den ersten Platz belegt.)

Wir hatten unserem Lehrer genau zugesehen, jetzt standen wir alle um den Tisch herum und bügelten eifrig unsere Handtücher. Dann richtete Walter Lemke sie auf der Holzstange schnurgerade aus, keines durfte tiefer herabhängen als das andere. Wir waren von unserem Werk sehr befriedigt. Wieder war eine Viertelstunde vergangen, und wir mußten unserem totschlägerischen Stubenältesten zugeben, daß es jetzt doch ein ganz anderer Anblick sei.

Am Nachmittag stand ich gerade an der Tür und schöpfte mit der Kelle Wasser aus dem Eimer, der direkt neben dem Eingang stand, als sich die Tür öffnete und ein neuer Häftling den Saal betrat. Allgemeines Ah! der Begrüßung.

"Da, nimm!" sagte ich auf deutsch und hielt ihm die Schöpfkelle entgegen, denn ich wußte ja, daß sie alle Durst hatten, und natürlich glaubte ich, der Neue sei auch ein Deutscher.

"Od niemcza wodę nie bierę!" sagte der aber stolz.

"Von einem Deutschen nehme ich kein Wasser!"

Oha, dachte ich, das ist ein besserer Herr. Und so war es auch. Er stellte sich später unserem Messerstecher als Vizestarost vor, also als stellvertretender Landrat.

"Nu, was wird er gemacht haben", sagte unser Stubenältester, als ich ihn später fragte. "Haben sie ihn eben erwischt. Du weißt doch, es gibt in Polen zwei Sorten von Beamten, die, welche man hat erwischt und die, welche man [38] noch wird erwischen. Nu, er gehört zu der ersten Sorte. Wird er haben bißchen geklaut aus der Kasse, bißchen viel, denn bei wenig sagt man ja nichts bei uns."

Wir hatten hier im Gefängnis noch mehr derartige Existenzen. Der Sträfling z. B., der an unserem Einlieferungstage unsere Personalien aufgenommen hatte, war Obersekretär am Amtsgericht Wloclawek gewesen!

Der Nachmittag verging, es wurde dunkel. Der Aufseher kam auf seinem abendlichen Rundgang in unsere Zelle, wir hörten rechtzeitig den Schlüssel im Türschloß, stellten uns auf und schmetterten unsere Begrüßung:

"Dzien dobry, panie przodowniku!"

Er grinste boshaft, fragte den Totschläger, ob etwas neues vorgefallen sei; der Vizestarost mußte sich melden: "Aha, ein Vizestarost!" sagte der Przodownik. "Ein feiner Herr. Wir haben noch mehr feine Herren hier. Bißchen geklaut, was?" fragte der Aufseher. Der Gefragte zuckte unschlüssig mit der Schulter, als hätte er unseretwegen gern abgeleugnet, das sahen wir, aber er wagte es nicht so recht, denn der Aufseher kannte ja den Grund der Strafe. Wir riefen ihm donnernd nach:

"Dobra noc, panie przodowniku!"5

Solange wir im Gefängnis waren, hat der Kerl uns eigentlich nichts besonderes getan. Aber sein schleichender Gang, der hämische Zug auf seinem Gesicht, die Augen, die einen nicht gerade ansahen - das alles hatte den Menschen bei uns unbeliebt gemacht.

Wir legten die Strohsäcke auf den Boden, einen neben den anderen, und legten uns schlafen. Unser Stubenältester aber rief zwei von uns heran, sie mußten ihm helfen, den Tisch in einer Ecke des Raumes neu aufzubauen, so daß er mit der Längsseite an der Wand stand, dann suchte er sich unbekümmert den am besten gestopften Strohsack heraus und schob den Kameraden, der bereits darauf saß - ich glaube, es war Rehse - von dem Sack herunter. Rehse mußte sich [39] einen neuen von dem Stapel in der Ecke holen, unser Totschläger aber legte den seinen oben auf die Tischplatte. Da ruhte er dann einen Meter über dem Fußboden und über dem gewöhnlichen Volk. Bevor er aber sein Himmelbett bestieg, trieb er noch fünf Minuten Gymnastik. Er stellte sich mit dem Rücken gegen die Wand, sammelte sich einen Augenblick und begann dann einen Geschwindmarsch durch die Zelle. Er sah starr vor sich auf den Boden und ging mit kleinen, schnellen und festen Schritten bis zur gegenüberliegenden Wand, kehrte kurz um, ging zurück, kehrte wieder um und so wohl zwanzigmal auf und ab. Wir sahen ihm einigermaßen erstaunt zu. Als er genug getan zu haben glaubte, ging er vor sein Bett, zog die Schuhe aus, legte sich auf seinen Strohsack, deckte sich mit der vom Gefängnis gelieferten Wolldecke zu und schlief schon nach wenigen Minuten.

Wir hatten verblüfft zugesehen. Lemke, der seinen Strohsack neben mir auf dem Fußboden hatte, sagte jetzt leise: "Na, der hat's ja auch nötig. Der hat noch sechs Jahre. Bei uns wird es wohl nicht länger als sechs Tage dauern." Damit streckte er sich auch aus. "Ich sag's ja, das reinste Luxushotel", meinte er dann noch mit geradezu wohligem Knurren. "Sogar eine Decke zum Zudecken gibt es! Ein Haus erster Klasse!"

Wir hatten nun alle das Gefühl, daß uns in diesem Gefängnis, wenn uns auch die seltsame Mischung von kalter, hämischer Drohung und bürokratischer Ordnung bedrückte, doch keine unmittelbaren Gefahren bedrohten. Die Erzählungen Lemkes, der schon einmal vier Monate in einem solchen Hause hinter sich gebracht und im ganzen doch wohl überstanden hatte, hatten das Ihre dazu beigetragen, unseren nach den Ereignissen auf dem Bahnhof in Lipno gesunkenen Mut wieder aufzurichten. Die Morde und Mißhandlungen, die uns berichtet worden waren, waren eben doch wohl Einzelfälle gewesen. Später hörten wir dann, daß an diesem Sonntag, dem 3. September, Bromberg seinen blutigen Tag erlebt hatte. Es war gut, daß wir nichts davon wußten, denn unsere Heimatstadt lag nur wenige Stunden von Brom- [40] berg entfernt. Wir glaubten damals wenigstens unsere Angehörigen in Sicherheit; wenn wir aber von den Morden gerade bei den Zurückgebliebenen gewußt hätten, so wäre das Gewicht dieser Tage der Verschleppung für uns kaum noch erträglich gewesen.

Wir hatten die erste Nacht auf dem Boden des Viehwaggons liegend oder auf unseren Koffern hockend zugebracht, die zweite auf den klappernden Brettern des Panjefuhrwerkes, jetzt hofften wir, einmal durchschlafen zu können. Der Strohsack erschien uns köstlicher als das Bett zu Hause, und unsere steifen Knochen fühlten die Wohltat einer weicheren Unterlage. Es ist ja zu bedenken, daß wohl nur Meister unter vierzig Jahre alt war, wohl die Hälfte von uns war fünfzig Jahre alt und älter.

Das Licht erlosch um neun Uhr abends. Nun war es dunkel in der Zelle, und wir schliefen bald ein. Wir wurden in dieser Nacht noch einige Male geweckt, wenn neue Häftlinge zu uns hereingeschickt wurden. Es waren fast alles Männer, die uns bekannt waren, so der Pfarrer Duebal aus Graudenz, der Gutsbesitzer Rust aus Woiczin und andere. Es setzte dann immer eine lebhafte Begrüßung ein. Wir sahen, wie die Neuhereingekommenen aufatmeten, wenn sie uns erblickten, und wie ihre Zuversicht wuchs. Sie hatten alle mehr oder weniger bange Tage hinter sich, und wir glaubten ihnen versichern zu können, daß sie hier im Gefängnis nun nicht mehr allzuviel auszustehen hätten. Unser Totschläger, der schon einige Monate Gast dieses Hauses war, hatte uns bereits mancherlei erzählt, was uns beruhigte.

Gegen Mitternacht, als wir wieder etwa eine halbe Stunde geschlafen haben mochten, wurde wieder von draußen das Licht angedreht; wir wachten auf und hörten den Schlüssel im Schloß. Unser Stubenältester sprang von seinem Bett und brüllte ein Kommando, wir erhoben uns und stellten uns schlaftrunken in zwei Gliedern auf, der Aufseher kam herein, wir schmetterten unseren Gruß: "Dobra noc, panie przodowniku!" Hinter dem Polen kam ein einzelner Mann [41] herein, groß, sehnig, schlank, ein Mann, der weiter nichts Auffallendes hatte. Er kam ruhig und mit verlegener Neugierde herein, unser polnischer Gruß verblüffte ihn ein wenig. Die Luft, die ihm aus dem geheizten, mit Menschen überfüllten Raum entgegenschlug, war zudem nicht gerade die beste. Er öffnete daher die etwas schlaftrunkenen Augen zu einem verwunderten Rundblick und seine Nase krauste sich mißbilligend. Ich vergaß, wo ich mich befand, ich rief laut: "Mensch, Udo Roth!"

Er blickte erschrocken zu mir hin, dann grinste er und erkannte mich trotz meines Dreitagebartes, und obwohl ich keine Brille trug. Wir schüttelten uns erfreut die Hände, unser Totschläger wollte uns entsetzt ob dieser Disziplinlosigkeit trennen, der Przodownik aber grinste nur mißachtend und großzügig, er war wohl selber müde und schlürfte plattfüßig zur Tür hinaus. Udo Roth schüttelte uns allen nun die Hand, dann holte er sich, der die Lage sofort überblickt hatte und rechtschaffen müde war, einen Strohsack von dem inzwischen immer niedriger gewordenen Stapel und wollte sich zu uns legen. Ich werde nie in meinem Leben den Augenblick vergessen, wie er so vor uns stand, in der Linken noch eine Ecke des Strohsackes haltend, der hinter ihm zum Fußboden niederhing, und wie er nun plötzlich die rechte Hand leicht erhob und sagte: "Herrschaften, sie sind schon an der Weichsel, von Pommern her!" Mir war in diesem Augenblick, als ob wir alle taumelten. Ich fühlte, daß meine Knie zitterten und mußte mich setzen. Es war plötzlich eine starre Stille in unserem Raum, aber in uns selbst war ein Rauschen und Brausen. Es war gut, daß in diesem Augenblick unser Totschläger ein paar Worte zu dem Vizestarosten sagte, sonst hätten wir uns wohl vergessen. Aber dennoch konnte ich nicht anders, ich mußte fragen: "Udo, wo denn?" Es war leise gefragt und er, der sofort begriffen hatte, antwortete ebenso leise: "Bei Kulm."

Das waren, am Lauf der Weichsel gemessen, etwa 120 Kilometer, in der Luftlinie aber nur etwa achtzig. Wenn wir auch die Zahlen nicht kannten, so hatten wir alle doch [42] die Lage aller größeren Orte der Heimat im Kopf. Jetzt wachten die Gedanken und Wünsche auf, wohl jeder von uns versuchte zu berechnen, wie lange es wohl dauern könne, bis "sie" in Hohensalza und dann in Wloclawek sein könnten. Daß der erste Stoß durch den Korridor kommen würde, um die Verbindung mit Ostpreußen herzustellen, das hatten wir wohl alle angenommen. Ich weiß nicht, auf welche Weise Udo Roth jene Nachricht erhalten hatte. Sie war während der ganzen Dauer unserer Verschleppung die einzige, die uns erreichte. Sie hat unsere Kräfte gestärkt.

Schließlich verlangte der übermüdete Körper sein Recht. Wir schliefen alle traumlos und tief.

Die Belegschaft in unserem Raum wuchs bis zum Montag auf etwa zweiunddreißig Mann. Wir hörten von unserem Totschläger, daß in einem zweiten Raum, im gleichen Stockwerk noch weitere vierzig Deutsche untergebracht seien. Morgens und mittags wurden wir - auch in den folgenden Tagen - immer zu je zwölf Mann in den Waschraum geführt. Am Montag vormittag brachte man uns in einen großen Duschraum; wir mußten uns vollkommen entkleiden, den ganzen Körper nach Kommando teils allein, teils gegenseitig einseifen und wurden dann lauwarm abgeduscht. In der Zwischenzeit hatte man unsere Kleidungs- und Wäschestücke zur Entlausung, wie man uns sagte, in einen Dampfkessel getan, den offenbar die deutsche Verwaltung während des Weltkrieges in unser Gefängnis eingebaut hatte, denn er trug eine eiserne Plakette mit einer deutschen Aufschrift, die nach meiner Erinnerung nach dem Wort "Hauptentlausungsanstalt" noch den Namen einer Stadt im Osten trug. Die Nacht von Montag zu Dienstag konnten wir ungestört durchschlafen. In diesen Tagen erholten wir uns ein wenig, weil wir noch Lebensmittel hatten und genügend Wasser bekamen. Dafür sorgte unser Totschläger, der als alter Insasse schon seine guten Beziehungen zu einem unserer Wärter hatte und gegen gute Bezahlung auch einige Schachteln Zigaretten in unsere Zelle schmuggelte.

[43] Übrigens war der Sträfling, der uns allen den Schädel kahl geschoren hatte, ein Schwager dieses unseres Stubenältesten, und in der Frauenabteilung des Gefängnisses saß, wie er uns ganz stolz erzählte, auch eine Verwandte von ihm. Man sieht, er gehörte einer sehr aktiven Familie an.

Am Montag wurde wiederholt Fliegeralarm gegeben, von draußen drang dann der verworrene Lärm des polnischen Abwehrfeuers durch die beiden kleinen Fenster herein, das uns in unserem Raum sehr stark vorkam. Bomben scheinen aber an diesem Tage nicht gefallen zu sein; wir vermuteten, daß es sich um Aufklärungsflüge unserer Luftwaffe handelte. Auch am Dienstag um die Mittagszeit heulten wieder die Sirenen. Wir wußten, daß die deutschen Flieger keine Gasbomben abwerfen würden, und weigerten uns, ständig die beiden Fenster unserer Zelle zu schließen, da zu diesem Zwecke immer einer von uns auf die Schultern eines kräftigen Kameraden steigen mußte. Unsere drei Polen - es hatte sich inzwischen noch ein polnischer Kaufmann bei uns eingefunden - aber brüllten und schrien vor Angst, und so entschloß sich unser Kamerad Harmel aus Strelno, die beiden Luken dicht zu machen. Kaum war er von Udo Roths Schultern herabgestiegen, als wir ein ohrenbetäubendes Heulen hörten, das wie ein Hammerschlag vom Himmel auf uns herabfiel, gleich darauf brüllte eine Explosion auf; die soeben geschlossenen Fenster platzten, ein Hagel kleiner Splitter ergoß sich über uns, der ganze alte Kasten wankte und bebte, von der Decke krachte der Verputz ab, ebenso brachen große Teile des Wandverputzes heraus und fielen über uns, zugleich war der Raum von einem zuckenden roten Feuerschein erfüllt, der die Wolken von Staub und Dreck, die unsere Zelle erfüllten, rosarot überglänzte. Kaum war der Schein verglüht, so sahen wir durch die Fenster, daß sich draußen auf dem Hof einige dicke, giftig-schwarze Rauchschwaden erhoben. Wohl jeder hatte in diesem Augenblick das Gefühl, daß das Gefängnis brenne. Ich war, als die Bombe fiel, gerade damit beschäftigt gewesen, meine Strümpfe auszubessern. Dabei hatte ich in der Nähe der Tür gesessen. Meine [44] erste Reaktion war: fort von der Außenwand, hin zu dem Stapel von Strohsäcken. Ich machte einen Riesensatz in die andere Ecke des großen Raumes, dabei stolperte ich und schürfte mir halb im Fallen oben von den Zehen des rechten Fußes die Haut ab. Die Bewegung war so schnell erfolgt wie etwa ein Soldat auf den Einschlag einer Granate sich zur Erde wirft. Andere warfen sich unwillkürlich zu Boden, wieder andere sprangen gleich mir von der Außenmauer fort oder mindestens in die Zimmerecken, weil dort die Einsturzgefahr der Wände geringer war. Es war ein tolles Durcheinander, und wir haben wohl alle in dem ersten Schreck laut aufgeschrieen. Jedenfalls kann ich versichern, daß es ein grausiges Gefühl ist, bei einem Luftbombardement in der Zelle eines steinernen Zuchthauses eingeschlossen zu sein.

Als die erste Erregung abflaute, sahen wir, daß Walter Milbradt unter drei anderen Kameraden lag und blutete. Wir wollten ihm helfen, aber wir wurden durch ein quäkendes, gellendes, anhaltendes Geschrei abgelenkt. Unser Totschläger hing wie ein Klammeraffe an einem der beiden Fenster, er hatte sich mit beiden Händen in das eiserne Gitter verkrallt und brüllte und schrie ununterbrochen polnische Gebetsformeln und halbe Sätze; wir hörten immer nur die Worte: Matka boska, matka boska! und Jaschka kochana, Jaschka kochana! Ich habe schon erzählt, daß unser Stubenältester ein kleiner Kerl war. Es war uns allen völlig rätselhaft, wie er so plötzlich zu dem Fenster hinaufgelangt war, denn wir mußten, wie ich schon sagte, immer auf die Schultern eines anderen steigen, wenn wir sie öffnen oder schließen wollten. Der Anblick des in sich zusammengekrümmten Körpers, das quäkende Geschrei des Polaken erleichterte mir seltsamerweise das Herz. Nein, so unsinnig wollte ich mich nicht benehmen. Udo Roth beugte sich vor und rief: "Los, Harmel, steig hinauf, sieh nach, was draußen los ist." Der kleine, zähe Harmel begriff sofort, was Udo Roth wollte. Er stieg ihm auf den Rücken und blickte zu dem zweiten Fenster hinaus.

Nun hing an jedem Fenster ein Mann. Aber während [45] der eine brüllte und jammerte, winkte der andere, nachdem er, soviel es möglich war, die Lage auf dem Hof draußen überblickt hatte, beruhigend ab. Er kam wieder herunter. Ein kleiner Holzstall in der Nähe brenne, das sei alles. Auch Walter Lemke hatte nach dem ersten Schreck als einer der ersten die Fassung wiedergewonnen; er sagte, aber er sprach doch etwas heftiger also sonst, das Haus stehe noch, und die Risse in der Mauer sähen nicht danach aus, daß es noch einstürzen könne. Also Ruhe!

Doch soweit waren wir noch nicht. Die beiden anderen Polen nämlich, auf die wir weiter nicht geachtet hatten, gebärdeten sich wie irrsinnig. Aus den Nachbarzellen war ein tobendes Geschrei zu hören, wir hörten überall die Sträflinge an die Türen donnern und überdies vernahmen wir dumpfe Stöße aus allen Teilen des Gebäudes. Offenbar versuchten die geängstigten Sträflinge, mit Pritschen oder Holzblöcken die Türen aufzusprengen. In einem Falle mußten sie Erfolg gehabt haben, denn plötzlich hörten wir auf dem Flur Lärm und Angstgekreisch und das Laufen vieler Füße. Davon wurden nun unsere Polen angesteckt, sie ergriffen die Tischplatte und wollten zu dritt mit ihr die Tür berennen, denn der Totschläger war inzwischen wie ein reifgewordener Apfel vom Fenster abgefallen, hatte sich dabei an der Wand die Hände und die Knie abgeschunden und war dadurch nicht ruhiger geworden. Da brüllte Udo Roth mit seiner schneidenden Befehlsstimme die drei Kerle an, wie ich selten einen Mann, nicht einmal meinen Spieß vor zwanzig Jahren, habe brüllen hören, wir packten die Polacken und drängten sie in eine Ecke. Wir hatten kein Verlangen danach, auszubrechen und uns nachher von den Wachmannschaften abknallen zu lassen.

Schließlich beruhigten sich die drei Polen, aber unser Totschläger war seit dieser Zeit sehr still, und der Vizestarost verlor das Flackern in den Augen erst nach Stunden. Wir fegten den abgefallenen Decken- und Wandputz und die Glassplitter zusammen und warteten, was nun wohl kommen würde. Unser Kamerad Milbradt aus Altreden [46] hatte eine tiefe Schnittwunde, die von einem Glassplitter herrührte; andere waren leicht verletzt. Nach einiger Zeit erschien ein Wärter, um den etwa eingetretenen Schaden festzustellen; er nahm die verwundeten Kameraden mit, und sie kamen nach einer halben Stunde mit ordentlichen Verbänden wieder zu uns zurück. Sie erzählten, daß bei den polnischen Wärtern und in der Revierstube eine unbeschreibliche Angst herrsche und daß den Sanitätern beim Verbinden die Hände vor Erregung gezittert hätten.

Unsere Zelle war noch nach Stunden von einer Staubwolke erfüllt, die sich nur langsam niedersetzte, so daß wir Taschentücher vor Augen, Mund und Nase halten mußten. Dennoch husteten und niesten wir bis in die Dunkelheit hinein.

Abends hörten wir von einem Wärter, daß die Bombe etwa zwei Meter von der Mauer unseres Gebäudes in den Hof gefallen sei und dort die Wand der Gefängnisküche eingedrückt habe. Unser "Przodownik" sei dabei ums Leben gekommen. Wir mußten an uns halten, um unsere Befriedigung darüber nicht laut zu äußern. Der Mensch hatte uns, abgesehen von der ersten Nacht, in der er versucht hatte, uns seelisch zu zermürben, nichts getan. Das bürokratisch geregelte Einerlei des Gefängnislebens hatte ihm dazu noch keine Gelegenheit gegeben. Aber wir alle hatten ein Grauen davor, diesem Menschen in den Händen zu bleiben, wenn etwa durch das Näherkommen der Kampfzone der Haß der Bevölkerung noch stärker erregt wäre und die Vorschriften, die für unser Gefängnis bestanden, erst einmal durchbrochen waren. Bis jetzt hatten wir trotz mancher kleinlichen Schikane keinen Grund zu ernsthafter Klage, denn Wloclawek war ja keine der berüchtigten Quälanstalten wie etwa Bereza Kartuska oder Sieradz.

Wir hofften auf eine ruhige Nacht. Da die Bombe die elektrische Leitung beschädigt hatte, mußten wir uns in völliger Dunkelheit zum Schlaf niederlegen; unser Messerstecher hatte auch in diesem Abend nicht darauf verzichtet, sein erhöhtes Lager auf der Tischplatte zu beziehen.


1Herr Aufseher. ...zurück...

2"Guten Tag, Herr Aufseher!" ...zurück...

3Polnischer Fluch; wörtlich: Hundeblut. ...zurück...

4Ordnung. ...zurück...

5"Gute Nacht, Herr Aufseher!" ...zurück...

Seite zurückInhaltsübersichtSeite vor

Der Marsch nach Lowitsch
Erhard Wittek