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In Thorn und Lipno

Wir wachten auf, als der Zug hielt. Durch die Luken in den Seitenwänden schien das Tageslicht herein. Einer starrte den anderen an; langsam oder schnell kam in die grauen, übernächtigten Gesichter die Erinnerung. Einer stand auf und sah zum Türspalt hinaus; wir ständen auf dem Bahnhof in Thorn, sagte er, aber ziemlich weit außerhalb. Der Führer des Begleitkommandos erlaubte den Männern, neben dem Wagen auszutreten.

Sie waren alle wieder hereingeklettert, als ein kleiner Mann mit hagerem Gesicht und so gut wie haarlosem Schädel, den ich noch nicht kannte, plötzlich Ruhe befahl. Der Kamerad war mir schon einige Male durch sein sicheres Wesen aufgefallen. Nun hörten auch wir anderen ein Dröhnen in der Luft, es kam sehr schnell näher; da bellten schon Abwehrgeschütze, Maschinengewehre rasselten, von allen Seiten setzte ein wütendes Schießen ein, auch die Polizisten stürzten zum Wagen hinaus und feuerten ihre Gewehre ab, wir Deutschen waren plötzlich allein im Wagen. Da war das donnernde Dröhnen dicht über ihnen. "Ruhig!", schrie ich, "zeigt eure Freude nicht!"

[17] Da war ein sausendes Heulen über uns, immer wieder, dann krachte und barst es gar nicht weit entfernt, die Explosionen schmetterten, Splitter fegten durch die Luft, das brüllende Kochen wiederholte sich, man hörte Menschen entsetzlich kreischen, dazwischen ratterten die Maschinengewehre, die Polen schossen von allen Seiten, die Flakgeschütze heulten und blafften, doch da zogen die Bomber schon davon. Das Dröhnen verstummte, entfernte sich nach Norden.

Draußen standen die Polizisten und schrien durcheinander, doch da setzte sich der Zug wieder in Bewegung, die Wachleute kletterten in die Wagen herein, sie sprachen aufgeregt durcheinander, jeder erzählte, wie er geschossen und wie er getroffen habe. Plötzlich verstummten sie. Sie drängten sich an der Tür zusammen und starrten hinaus. Keiner sprach ein Wort. Langsam rollte der Zug dahin, draußen waren befehlende Stimmen zu hören, dazwischen Stöhnen und Wimmern. Über die Köpfe der Polen hinweg sah ich die Schmalseite einer einzeln ragenden Ziegelwand vorübergleiten, ein zersplitterter Fensterrahmen hing schief heraus; eine Wolke braunen Staubes lagerte um die rotbraunen Trümmer.

Der Zug hielt bald wieder an. Noch zweimal griffen deutsche Bomber an diesem Tage den Bahnhof von Thorn an, die Aufregung der Polen draußen stieg immer mehr, aber den Zug mit uns Verschleppten traf keine Bombe. Wir saßen in den Viehwagen und hörten die Fäuste des deutschen Heeres nach Polen hinein stoßen. "Gestern abend waren wir die Getriebenen und Geschlagenen," dachten wohl alle, "heute, heute ist es schon anders".

Nach einiger Zeit trat wieder Ruhe ein. Der polnische Transportführer sammelte die Kochgeschirre seiner Leute ein, rief Otto Naue und den Kameraden, der uns vorhin als Erster auf die nahenden Flieger aufmerksam gemacht hatte. Inzwischen hatte ich erfahren, daß es sich um den Bauern Walter Lemke aus Luisenfelde handelte. Naue und Lemke sprachen ein fließendes und akzentfreies Polnisch, und der Sergeant befahl ihnen, mit einem Hilfspolizisten vom Bahn- [18] hofswirt Tee zu holen; sie sollten sich aber nicht als Deutsche zu erkennen geben. Er gab dem Begleitmann noch besondere Anweisung, sich möglichst unauffällig zu verhalten und auch das Gewehr im Wagen zu lassen.

Sie kehrten nach einer halben Stunde mit heißem Tee, Zigaretten und einigen Schachteln Keks zurück; Naue sorgte für gerechte Verteilung, und jeder von uns bekam genügend zu trinken.

Später drängten sich fremde Polizisten in den Wagen. Sie waren von den Bombenangriffen maßlos erregt und schimpften wild auf uns ein. Besonders gehässig war ein kleiner schwarzhaariger Mensch mit großem Bart und lebhaften, flinken Augen. Er steigerte sich immer mehr in eine wilde Leidenschaft hinein. Schließlich sprang er auf und wollte sich auf Vollrath Eberlein stürzen, der untersetzt, breit und blond, seinen besonderen Haß erregte. "Das ist der richtige", schrie er. "Seht ihn euch an. An polnischer Wurst, an polnischer Butter hat er sich so voll gefressen, davon ist er so dick und stark geworden, mit polnischem Schweinefleisch ist er gefüttert worden, und jetzt will das Krieg führen, weil wir sie satt gemacht haben und nicht so hungern ließen wie sie drüben bei ihrem Adolek hungern, bei ihrem Adolfschen! Schau nicht beiseite, du dickes Hitlerschwein, sieh mich an, jetzt kriegst du Saures, jetzt sollst du eine polnische Faust schmecken und keine polnische Wurst!" Damit wollte er sich auf ihn stürzen, der ziemlich fassungslos und ein wenig bleich den Angriff erwartete, gegen den er sich nicht zur Wehr setzen durfte, wie er wußte. Aber da sagte der Führer des Transportes einige scharfe Worte; der Fremde solle sich um seine Sachen kümmern. Wenn er die Deutschen so sehr hasse, möge er sein Gewehr nehmen und an die Front gehen. Da dürfe er kämpfen, so viel er wolle. "Dies hier sind meine Gefangene, sie gehen dich nichts an."

Die fremden Polizisten schwiegen verblüfft, dem Schwarzen hatte es die Sprache vollständig verschlagen. Aber dann begannen sie zu tuscheln und leise aufeinander einzureden. Sie wurden lauter und lauter, sie führten irgend etwas im [19] Schilde; wir entnahmen ihren Worten, daß sie berieten, ob man nicht zum Bahnhofskommandanten schicken solle. Ganz offensichtlich war ihnen ein Polizist, der seine Häftlinge vor Mißhandlungen schützte, verdächtig.

Die Abfahrt des Zuges verhinderte ihre Absicht.

Unser Sergeant, der während aller dieser Beratungen völlige Ruhe gezeigt hatte, sagte uns nun - und die Fremden machten ein wütendes Gesicht dazu - daß er Befehl habe, uns nach Wloclawek zu bringen, daß aber die direkte Strecke nicht frei sei und daß wir daher über Lipno und Kutno fahren müßten.

Es war der zweite Tag des Krieges, und schon war eine der Hauptstrecken des Landes nicht mehr befahrbar. Uns war allen klar, daß der Ausdruck, die Strecke sei "nicht frei", nur eine schlechte Umschreibung dafür war, daß sie durch deutsche Bomber unterbrochen worden war. Wir blickten uns stumm an, unsere Zuversicht wuchs. Aber die fremden Polizisten schrieen uns an, wir hätten keinen Grund uns zu freuen. Zwar hätten die deutschen Bomber wirklich die Strecke zerstört - das hatte unser Sergeant nicht einmal angedeutet! Ich blickte gerade Walter Lemke an und sah, wie sein bartloses, hageres Gesicht sich belebte - ja, die Strecke sei zerstört, aber das sei gar nichts. Die englische Flotte habe Königsberg beschossen, und die Stadt sei ein einziger Trümmerhaufen. "Ahles kapuht, Haus, Menschen, Bahne kapuht", setzten sie in deutscher Sprache hinzu und grinsten wütend. In Danzig sei eine englisch-französische Armee gelandet und Danzig sei schon erobert. Polnische Flieger hätten Berlin bombardiert. "Gahnz Berlin kapuht, ahles ahles kapuht!"

Lemke kniff leicht das linke Auge ein und blinzelte uns an, der alte Stübner aber sagte, denn er wußte wohl, daß keiner der Polen das Wort verstehen würde, er sagte also mit völlig gelassener Stimme mitten in das zornige Schimpfen der aufgebrachten Menschen hinein:

"Denkste, Herzchen!"

[20] Das Wort war elegant und sicher wie ein Stoß mit dem Florett gewesen, der genau im richtigen Augenblick gekommen war und den Gegner mit einer Bewegung außer Gefecht gesetzt hatte. Julius Mutschler, der weit hinten in einer Ecke saß (er hatte sich, wie er auch später mit seiner gerissenen Bauernschlauheit immer tat, gleich aus der Gefechtslinie verzogen; er sorgte stets dafür, daß hinter seinem Rücken die Wagenwand war), Julius Mutschler, der zuerst fast auf die Redereien der Polen hereingefallen war, dann aber, als sie gar zu dick aufgetragen wurden, sein Gesicht wieder zu dem listigen Lachen verzogen hatte, das ihm eigentlich immer um Mund und Augen spielte, Julius Mutschler lachte laut auf, brach dann aber erschrocken ab.

Was er da eben gesagt habe, fuhr der kleine Schwarze, den die anderen Antek nannten, den alten Stübner an. Der sah gelassen zu dem Knirps hinüber und sah wieder fort, als verstehe er ihn gar nicht. Und tatsächlich wurde der Pole unsicher und schien nicht recht zu wissen, von wem die Bemerkung gekommen war.

Die Fremden fingen wieder an zu tuscheln und sich miteinander zu beraten.

Ich saß nicht weit von dem Transportführer und so beugte ich mich vor und begann ein Gespräch mit ihm. Ich hatte in der Zwischenzeit versucht, mir ein Bild von der Strecke zu machen, die wir nun nach der Zerstörung der direkten Bahnverbindung nach Wloclawek fahren mußten, und fand den Plan so unsinnig, daß ich doch versuchen wollte, ihn zu ändern. Die Fahrt über Kutno sei doch ein ungeheurer Umweg, meinte ich zu unserem Sergeanten.

Er war, wie sich ja schon gezeigt hatte, ein Mann, der sich bemühte, Ordnung zu halten. Aber dennoch hielt er es für besser, vorsichtig zu sein. Im Verlaufe einer längeren Unterredung, die ich sehr langsam und mit vielen Pausen führte, versuchte ich ihm zu suggerieren, daß es besser sei, in Lipno aus dem Zuge auszusteigen und mit einem Autobus oder mit Panjewagen direkt die etwa 25 Kilometer nach Wloclawek zu fahren statt den zweihundert Kilometer langen [21] Umweg über Kutno zu machen. Der Sergeant sagte nicht viel, er bewegte zweifelnd den Kopf, aber einmal nannte er mich "panie Direktorze", Herr Direktor. Er mußte mich also kennen; mir war der Mann unbekannt.

Wir kamen in der Dämmerung in Lipno an. Der Zug hielt, und der Transportführer befahl plötzlich, daß alle, die zu seinem Trupp gehörten, auszusteigen hätten. Da hatte also das Gespräch mit ihm doch einen Erfolg gehabt. Wir packten eiligst unser Gepäck zusammen und kletterten aus dem Wagen. Es stellte sich heraus, daß insgesamt vierzehn Mann zu diesem Sergeanten gehörten. Walter Lemke versuchte zu erreichen, daß das Bauernpaar mit dem Jungen auch aussteigen durfte, doch das lehnte der Sergeant ab. Er habe keine Papiere für sie. Er schickte aber einen der Hilfspolizisten mit dem Ehepaar und dem Kinde am Zuge entlang, bis sie ihre Kolonne gefunden hatten.

Uns befahl er, das Gepäck an der Mauer des Bahnhofsgebäudes niederzustellen und uns darauf zu setzen. Die Wachtleute stellte er in einer Reihe vor uns auf. Der Transportzug fuhr wieder an, aus den Türen winkten uns die Kameraden zu, die erstaunt auf das kleine Häuflein sahen, das dort allein auf dem Bahnsteig hockte. Der Zug hatte nur verhältnismäßig kurze Zeit in Lipno gehalten, aber es hatte genügt, um eine größere Volksmenge auf den Bahnhof zu locken, die bald in die Rufe auszubrechen begannen, die alle Kolonnen der verschleppten Deutschen in diesen Tagen zu hören bekamen.

Zwei halbwüchsige junge Bengels, die der seltsame Transport ebenfalls auf den Bahnsteig gelockt hatte, waren eine Strecke neben dem davonfahrenden Zuge hergelaufen, hielten dann aber an und schlenderten zum Bahnhofsgelände zurück. Sie schienen sehr befriedigt von der Leistung, die sie soeben vollbracht hatten, und als sie nun uns vierzehn Männer auf unseren Koffern an der Wand hocken sahen wie Hühner auf der Stange, da reizte der sicherlich klägliche Anblick ihre Lachlust. Es waren hübsche Bengels, dunkelhaarig und mit lebhaften, großen dunklen Augen, sie waren schlank und [22] hochgewachsen. Diese zartgliedrigen, behenden und leidenschaftlichen Menschen sind es, die in der Führerschicht der Polen die gefährlichsten sind, weil sie, die den minderen Wert ihres Volks täglich vor sich sehen und erkennen, in ihrem politischen Ehrgeiz und in der hitzigen Unreife ihrer hochfliegenden Träume dieses Volk dennoch zu großen Taten und Leidenschaften emporreißen wollen. Sie sind es, die dem an sich bescheidenen, ja demütigen und fleißigen Volk die Großmannssucht eingeredet, eingepeitscht, eingehetzt haben, die dann zu der furchtbaren Niederlage dieses Krieges führte.

Zwei junge Leute dieser Art also kamen mit schlaksigen Bewegungen herbei, sahen uns dort an der Wand, sahen die Polizisten vor uns, errieten sofort, wen sie vor sich hatten, und da sie noch zufrieden mit all dem waren, was sie soeben den "Hitlerowcys" im Zuge an boshaften, witzigen und niederträchtigen Schimpfworten zugerufen hatten, waren sie zu gutmütigem Spott aufgelegt. Und so kamen sie näher heran und fragten in deutscher Sprache:

"Nu, Adolf, bist du schon da?"

Die Frage kam so unerwartet, daß der Bauer Julius Mutschler, dessen lustiger Sinn immer zum Lachen aufgelegt war, halblaut herausplatzte und antwortete:

"Noch nicht, panie, noch nicht!"

Veränderten sich schon über diese Antwort die Mienen der beiden Jünglinge, so regte das Lachen Mutschlers einen großen und breiten Polen zu sinnloser Wut auf, der soeben fluchend und schimpfend herbeikam.

Auf dem Bahnhof zu Lipno war eine Station des polnischen Roten Kreuzes, und den diensttuenden Schwestern, die den einrollenden Transport für einen Zug polnischer Flüchtlinge aus Westpreußen gehalten hatten, war der Irrtum unterlaufen, daß sie in einige Wagen Zigarettenschachteln und Kekspackungen geworfen hatten, daß sie auch heißen Tee hineingereicht hatten, den unsere über die unerwartete Mildtätigkeit verblüfften Kameraden mit herzlichen Dankesworten, natürlich in polnischer Sprache, entgegenge- [23] nommen hatten. Als sich dann der Irrtum herausgestellt hatte, hatten die Polinnen alle Nächstenliebe sofort vergessen; sie waren in wilde Beschimpfungen ausgebrochen, sie fühlten sich betrogen, von den Deutschen ausgelacht und ausgenutzt; es mischten sich Männer und halbwüchsige Burschen hinein, und nur die Abfahrt des Zuges hatte verhindert, daß die beiden ersten Wagen, in die besonders viel Liebesgaben hineingereicht worden waren, gestürmt wurden.

Nun kam die Menge wütend und aufgeregt zurück, weit vor ihr ein einzelner, großer Pole in Arbeiterkleidung. Er hatte das Lachen Mutschlers noch gehört, nun hörten wir, wie ihm einer der beiden Jünglinge die Antwort übersetzte, die Julius Mutschler ihm gegeben hatte. Er brüllte los und ging wie ein Stier mit geducktem Kopf auf unseren erschrockenen Kameraden los, seine riesigen Pratzen ballten sich zu Fäusten. "Du Schwein willst lachen, du stinkendes Aas, du lachst!" tobte er, aber zwei der Wachtleute hielten ihre Gewehre quer vor sich hin und drängten ihn zurück. Inzwischen hatte sich offenbar in der Stadt die Nachricht von der Ankunft eines ganzen Eisenbahnzuges mit verhafteten Deutschen verbreitet, und es strömten nun auch von dort immer neue Scharen von Polen herbei, die zunächst nichts weiter wollten, als sich die Sensation zu besehen. In wenigen Minuten waren zwei- bis dreihundert Menschen auf dem kleinen Bahnhofsplatz versammelt. An sie wandte sich der wütende Pole. "Sie beschützen ihn noch, wir sollen ihnen nichts tun, den Cholerras, den Hitlersäuen, den Verrätern, Spionen, Hurensöhnen!" Seine Worte überstürzten sich, der schwere, große, ungeschlachte Kerl sprudelte, tobte, raste die Schimpfworte aus sich heraus, ohne auch nur einen Augenblick um immer neue verlegen zu sein. In die Umstehenden aber fuhr der Wahnsinn, der Haß, es fuhr der Teufel in sie. Männer brüllten und schrien, sie liefen wie tolle Hunde suchend umher, um irgendeinen Knüppel, einen Stein, eine Eisenstange zu finden. Weiber kreischten und keiften, die Gesichter verzerrten sich zu Fratzen, die nichts menschenähnliches mehr hatten, ja wir sahen mit [24] Grausen, daß viele dieser Kreaturen Schaum vor dem Mund hatten, so sehr hatte sie die blinde Wut, der Angsthaß, die Leidenschaft überwältigt. Es war uns nicht möglich, sitzen zu bleiben, wir standen auf und lehnten uns gegen die Wand, wir sahen uns nicht an, denn wir konnten den Blick nicht zur Seite wenden, wir mußten in das rasende Gebrüll vor uns starren, aber ich glaubte, wir fühlten es alle, daß unsere Gesichter kalkweiß waren.

Im letzten Augenblick erschien der Transportführer, der sich für einige Minuten fortbegeben hatte, da er hatte versuchen wollen, einen Autobus für die Fahrt nach Wloclawek zu mieten. Er drängte sich durch die Menge hindurch, die ihm nur unwillig Platz machte; die Polizisten, die sich selbst bedroht fühlen mochten, hatten das Gewehr unter den Arm genommen, und das allein hatte den irrsinnigen Haßausbruch des Pöbels noch ein wenig eingedämmt. Der Sergeant war blaß bis auf die Lippen, er schrie mit gellender Stimme ein polnisches Kommando und die Wachmannschaften rissen die Gewehre hoch und entsicherten.

Das gab eine plötzliche Stille. Mit aufgeregten Worten schrie der Sergeant - er stotterte manchmal dabei - er werden schießen lassen, wenn seinen Häftlingen etwas geschähe. Er befehle, sofort den Bahnsteig zu räumen.

Es war seltsam zu sehen, welch eine Verblüffung sich der wutverzerrten, zähnebleckenden Gesichter bemächtigte. Einige Juden, die im Hintergrund gehetzt und getobt hatten, schoben als erste ab. Ein paar Weiber, die das Wort Schießen gehört hatten, kreischten auf und rannten davon. Einige Gutmütige, die sich ihres Taumels schämen mochten, folgten; andere, die bisher mehr die neugierigen Zuschauer gemacht hatten - auch solche hatte es gegeben - gingen protestierend und schimpfend davon und plötzlich sah sich unser Sergeant einer Schar von dreißig, vierzig oder fünfzig Männern gegenüber, die unschlüssig und verlegen nach allen Seiten hinblickten, nur nicht auf den Beamten, und denen nun im Angesicht der Polizei sichtlich unangenehm einfiel, was sie alles auf dem Kerbholz haben mochten. Es war nicht [25] gerade die Sorte von Menschen, die gern mit einem Polizisten zu tun hatten. Als jetzt der Sergeant, der seine Ruhe völlig wiedergewonnen hatte, sie nun anbrüllte, was sie hier zu suchen hätten, ob sie denn noch nicht zum Militär eingerückt seien, es sei doch Krieg, da schoben auch sie brummend und leise vor sich hin scheltend ab.

Wir setzten uns wieder auf unsere Koffer; es war kein Wunder, daß uns die Knie bebten, denn wir waren gerade noch vor schwersten Mißhandlungen bewahrt geblieben, ja, ich glaube, daß wir damals am Tode vorbeigekommen waren. Wir mußten noch mehrere Stunden auf diesem Bahnhof warten, und wir wurden in dieser Zeit immer wieder beschimpft. "Hitlerschweine" war das geringste, was uns zugerufen wurde, doch zu einer wirklichen Bedrohung kam es nicht mehr.

Als es völlig dunkel geworden war, führte der Sergeant uns durch die Stadt zu einem großen Gebäude, vor dem wir wieder lange warten mußten. Dann fuhren einige Panjewagen heran, die der Transportführer irgendwie aufgetrieben hatte. Wir stiegen auf, die Polizisten folgten, und die Fahrt nach Süden begann.

Die Wagen schütterten und klapperten, die Räder mahlten knirschend im Sande der Straße, die Pferde schnaubten, ab und zu rief einer der Kutscher ein polnisches Wort, die Polizisten, von denen zwei Mann auf jedem Wagen saßen, unterhielten sich; wir schwiegen. Draußen war Krieg. Das weite, ebene Land lag ruhig da, es schwieg auf alle die unausgesprochenen Fragen, die uns bewegten. Von Osten kam der Wind wie immer über die Felder gestrichen, die Sterne glitzerten am wolkenlosen Himmel. Es wurde bitter kalt. Später ging schmal und rot der Mond auf. Von Zeit zu Zeit tauchte abseits der Straße ein Dorf aus dem ungewissen Dunkel. Einzeln schwammen die kleinen, strohgedeckten Hütten, wie Boote, die vor Anker liegen, in den Nebeln der Felder, von hohen Pappeln überschauert. Später kamen wir durch einen Wald, in dem uns vormarschierende Truppen begegneten. Von unseren Bewachungsmannschaften erfuhren [26] die Soldaten, um wen es sich bei uns handele. Sofort begann auch hier ein wüstes Geschimpfe, wir wurden bedroht und mit den üblichen Worten bedacht. Da unsere Wagen aber in Bewegung blieben und auch die Truppen nicht anhalten durften, geschah weiter nichts, bis plötzlich neben unserem Gefährt ein Offizier zu Pferde erschien und vom Sattel herab auf uns einbrüllte, wobei er mit dem Revolver fuchtelte, als wolle er schießen. Der alte Stübner, dessen weißes Haar in der Dunkelheit leuchtete, sagte mit seiner brüchigen, aber immer noch kraftvollen Stimme: "Ich bin deutscher Offizier gewesen. Schießen Sie, schießen Sie doch! Glauben Sie nicht, daß wir Furcht haben." Die klaren, festen Worte verblüfften den Polen, er senkte die Waffe, hielt seinen Gaul an, unser Wagen fuhr weiter. Bald war der Pole im Dunkel entschwunden.

Nach Stunden sahen wir breit und weiß die Weichsel. Die Wagen fuhren von den Randhöhen in das Tal hinein, alles Land ertrank im Nebel, die Wagen polterten über die Brücke, wer geschlafen hatte, erwachte. Sie rüttelten und schüttelten uns über die holprigen Straßen der Stadt und hielten vor einem massigen Gebäude.

Der Transportführer stieg ab und pochte an das eiserne Tor eines riesigen, dunkel lauernden Eingangs, er mußte wiederholt gegen das dröhnende Metall schlagen, und schließlich den Kolben seines Gewehrs nehmen. Die wuchtigen Hiebe hallten dumpf in dem Gemäuer wider. Schließlich näherten sich Schritte, eine kleine, viereckige Klappe wurde in Augenhöhe geöffnet, ein fahler Lichtschein fiel auf die Straße, dann schlug das Tor sein Maul auf.

Wir kletterten steif und übermüdet von den Wagen, schleppten die Koffer in den Eingang und stellten uns in zwei Gliedern auf, ohne daß jemand nötig hatte, uns die Anweisung dazu zu geben. Es war besser, so zu handeln, als dann den Befehlen der Polen gehorsam sein zu müssen. Der Sergeant verhandelte mit einem Gefängnisbeamten, übergab eine Anzahl Papiere, die Namen der Verhafteten wurden verlesen, es fehlte niemand. Schließlich wandte sich der [27] Transportführer wieder zu uns, wir sahen sein blasses, mageres Gesicht im Schein einer trüben elektrischen Birne, die von der Decke des Toreinganges herabbaumelte und sich im Winde leise bewegte. Das Gesicht des Polen war ernst und verschlossen. Er sagte, er habe uns den erhaltenen Befehlen gemäß in das Gefängnis in Wloclawek gebracht. Seine Aufgabe sei damit erfüllt. Er machte eine Pause; es schien, als wolle er noch eine Bemerkung anfügen, doch dann kehrte er sich mit einem kurzen "Dobra noc!" - Gute Nacht! - ab. Das schwere, eiserne Tor öffnete und schloß sich dann hinter ihm. Jeder von uns hätte dem Davongehenden gern die Hand gedrückt. Er hatte seine Pflicht getan, korrekt und wie es selbstverständlich hätte sein sollen. Aber wir kannten dieses Land und wußten, daß es in Polen nicht selbstverständlich war, so zu handeln, wie dieser Mensch sich benommen hatte.

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Der Marsch nach Lowitsch
Erhard Wittek