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Die ersten Stunden

Reinhold Wittek aus Hohensalza im Wartheland erzählt:

Als es klar wurde, daß die Dinge zwischen dem Reich und Polen immer unausweichlicher auf einen Krieg zutrieben, war es immer wieder das Gespräch zwischen den Deutschen in meiner Heimat, ob man aushalten solle oder besser über die Grenze ginge. Es war uns allen klar, daß schwere Tage für die kämen, die von den Polen nach dem Beginn des Krieges noch in ihrem Lande gefunden würden. Aber der Bauer konnte sein Land, seinen Hof, sein Vieh nicht im Stich lassen. So waren es eigentlich nur die Städter, die ihre Wohnungen hätten zuschließen und für einige Wochen ins Reich hätten auswandern können. Auch die Besitzer der großen Güter hätten wohl fliehen können; sie hatten ja zuverlässige und treue deutsche Beamte, denen sie ihren Besitz in Ruhe anvertrauen konnten. Aber da war es schon klar - wenn überhaupt die Überlegungen bis zu diesem Punkte vorangegangen waren - daß es nicht möglich war, so zu handeln. Die in den Städten aber waren die Führer des Deutschtums, sei es in politischem oder geistigem oder wirtschaftlichem Betracht. Sie hatten es öffentlich und in kleinem Kreise oft ausgesprochen, daß es darauf ankam, im Lande zu bleiben und damit dem Reich den gerechten Anspruch auf diese großen, ihm in einer Zeit der Schwäche geraubten Gebiete zu erhalten. Und kam es im Gespräch oder in Gedanken bis zu diesem Punkt, so war auch für die Städter die Sache entschieden.

Wir erlebten die sich von Tag zu Tag mehr ins Maßlose verlierende Hetze in den Zeitungen, in den Versammlungen. Schon wurde es gefährlich, auf der Straße oder in Gaststätten die deutsche Sprache zu benutzen. Viele der führenden Deutschen hatten im Jahre 1919 noch die Monate in dem großen Internierungslager Szczypiorno erlebt; wir [6] wußten, daß wir sofort nach dem Ausbruch eines Krieges wieder interniert würden; wir ahnten alle, daß es diesmal schwerer Tage werden würden als damals, und sie waren uns doch schon im Jahre neunzehn wahrlich schwer genug vorgekommen. Der Haß dieses Volkes, das niemals in seiner ganzen Geschichte zu einer wirklich großen Leistung in den Dingen des Geistes, sei es der Kunst oder der Wissenschaft, der Kultur oder des Staates, fähig gewesen war, das im Gegenteil während seiner geschichtlichen Zeit ständig die Überlegenheit des Deutschen vor sich hatte sehen müssen - der Haß dieses Volkes wuchs aus dem Wissen um seine geringere Art und zugleich aus dem Wissen darum, daß nun ein Teil des überlegenen fremden Volkes in seine Macht gegeben war.

Wir Deutschen, soweit wir uns Gedanken über die Zukunft machten, wußten dies, oder wir ahnten es doch. Dazu aber, uns Gedanken zu machen, waren wir alle durch die Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre erzogen worden, auch wenn der eine oder der andere von Natur aus vielleicht zu jenen Menschen gehörte, die die Zeit und die Erfahrung an sich herankommen zu lassen pflegen. Die Zeit und die Erfahrung waren in diesen zwanzig Jahren an jeden herangekommen, und nun kam auch die letzte Probe an uns heran.

Und obgleich wir dies alles wußten, schlossen alle Gespräche in der Zeit vor dem polnischen Kriege mit der Erkenntnis, daß man bleiben müsse. Dennoch gab es natürlich einige wenige, die dann trotzdem, als die Gefahr immer drohender wurde, das Land verließen, denn welches Volk ist ganz frei von schwachen Menschen!

Bei den übrigen aber bestimmte die Gewißheit, daß sie als Soldaten ihres Volkes hier auf diesen Posten gestellt seien, ihre Haltung: der deutsche Soldat verläßt seinen Posten nur, wenn er abgerufen wird.

So machten wir uns bereit. Wir legten unsere Sachen zurecht. Wir versteckten, was wir an Wertvollem hatten, wir stellten uns derbe Schuhe in den Schrank, um sie herauszuholen, wenn es soweit kommen sollte. —

[7] Ich wurde in Hohensalza, das von den Polen Inowraclaw genannt wurde, am 1. September 1939 kurz vor zwölf Uhr mittags verhaftet. Von einigen Deutschen in der Stadt war die Rede des Führers im Reichstag mitangehört worden; die Nachricht, daß der Krieg begonnen habe, war mit der unbegreiflichen Schnelligkeit zu uns allen gedrungen, die solchen Ereignissen eigen ist. Uns war zumute wie Soldaten, in deren Nähe eine schwere Granate mit Zeitzünder eingeschlagen hat: wann kommt die Detonation? Wen werden die Splitter zerreißen?

Ich hatte nicht lange zu warten. Der Polizeibeamte betrat um die Mittagszeit ohne Gruß das bescheidene Arbeitszimmer der kleinen deutschen Bank, deren Direktor ich war, er hatte ein Gewehr am Riemen über die Schulter hängen und einen Revolver im Gürtel. Er war aufgeregt und schrie mich an, er war rot im Gesicht und schwitzte, und der Anblick des zornigen Polen ließ mich meine Ruhe schnell wieder gewinnen. Denn wenn ich auch mit meiner Verhaftung gerechnet hatte: jetzt, da der Augenblick gekommen war, hatte ich mich doch für einige Sekunden mit dem Körper leicht an die Kante meines Schreibtisches lehnen müssen, um irgendwo eine Stütze zu finden. Der Pole da vor mir aber tat gerade so, als solle es ihm an den Kragen gehen und nicht seinem Häftling. O ja, auch dieser Polizist wußte, was sie alle wußten und nur nicht vor sich selbst zugeben wollten; er wußte, was dieses ganze polnische Volk wußte, und was es mit seiner irrsinnigen Prahlerei vor sich selber zu verheimlichen gesucht hatte, daß nämlich gegen das Deutsche Reich jeder Widerstand aussichtslos war, wenn es erst einmal zum Kriege kam. Darum schrie der Mann so, darum war er so aufgeregt, darum kam er hier mit Gewehr und Revolver und mit drohender Miene herein, da er doch viel lieber, wie es in diesem Volk bei den einfachen Menschen Brauch ist, den Mantelsaum des deutschen Herrn ergriffen hätte, um ihn zu küssen.

Ich verhandelte also mit möglichst gleichmütiger Stimme, versuchte, mich nicht aus meiner Gelassenheit bringen zu lassen, [8] wurde im Gegenteil, obwohl sich das Herz wild genug gebärdete, äußerlich ruhiger mit jedem Augenblick, und so willigte der Pole schließlich ein, mich in meine Wohnung zu begleiten, damit ich dort meinen Koffer packe. Denn auf dem roten Schein, den er mir aushändigte, stand zu lesen, daß ich einen zweiten Anzug, ein zweites Paar Schuhe, Wäsche, allerlei persönliche Gebrauchsgegenstände und außerdem Lebensmittel für vier Tage mitzunehmen hätte. Das sah alles nach einer ordnungsmäßigen, von bürokratischer Hand vorbereiteten Internierung aus. Vielleicht waren alle Befürchtungen doch zu schwarz gewesen.

Es gab in meiner Wohnung einen bangen Abschied. Die Frau stand in der offenen Tür und sah mir tränenlos nach, der ich mit meinem schweren Koffer die Treppe hinunterging, an der Kehre noch einmal hinaufblickte, der ich mich tröstlich zu lächeln bemühte, mit der Linken winkte und "Auf Wiedersehen, Bertele!" rief.

Der Weg zum Gebäude der Polizei war nicht weit. In den nüchternen Amtszimmern traf ich schon einige Bekannte an. Man grüßte sich, man gab sich die Hand. Es war ein anderer Händedruck, als man ihn sich sonst gegeben hatte; wir stellten die Koffer auf den Boden und traten nahe zusammen, das Gesicht den polnischen Beamten, den Rücken aber der Wand oder einem Deutschen zugewandt, der hinter einem stand.

Im Laufe der Stunden füllten sich die Zimmer immer mehr. Wir standen stumm, kaum daß einmal einer seinem Nachbarn ein Wort zuflüsterte, kaum daß wir einmal von einem Fuß auf den anderen traten. Wir wußten alle, daß dieser Krieg nicht lange dauern würde; allzu gut kannten wir den polnischen Staat. Unser Vertrauen in die Macht des Reiches, in die Entschlossenheit des Führers war ohne Grenzen. Aber wir ahnten auch, was uns bevorstand. Jetzt waren wir wehrlos in die Hand eines Feindes gegeben, dessen Erbarmungslosigkeit wir zu kennen glaubten - ebenso wie seinen Haß. Und doch: was kam, ahnte niemand von uns. Jeder neue Häftling wurde ernst begrüßt; jeder [9] Händedruck, schweigend ausgetauscht, war eine Stärkung für ihn und für uns. Unsere Abwehrkräfte wuchsen.

Am späten Nachmittag führte man uns unter starker Bedeckung um die Außenränder der Stadt herum auf den Sportplatz eines polnischen Vereins. Hier hatten wir im Freien zu warten. Der Tag war sonnig, der Himmel wolkenlos. Das Laub der Bäume hatte gerade begonnen, sich herbstlich zu färben. Die Luft stand still, und es war heiß.

Quälend langsam vergingen die Stunden. In geringeren und größeren Zeitabständen trafen, einzeln und in Gruppen, weitere Häftlinge ein. Aus den benachbarten kleinen Orten wurden sie vielfach auf Wagen herbeigefahren, die am Tor der großen Sportanlage hielten. Von dort kamen die Neuen zu Fuß auf uns Wartende zu.

Einmal mußte ein Mann von vier anderen getragen werden, denn er war ohne Bewußtsein. Wir sahen, daß er an Kopf, Gesicht und Händen blutete; seine sonstigen Verletzungen waren unter den Kleidern nicht sichtbar. Es sprach sich später herum, daß er vor den Toren der Stadt von einer Rotte Halbwüchsiger mit Stöcken und Zaunlatten solange geprügelt worden war, bis er zusammenbrach. Der aufsichtführende Polizist sandte nach einem Sanitäter.

Eine Frau, die, wie deutlich zu sehen war, in wenigen Monaten ein Kind erwartete, kam mit starren Augen heran. An der Hand führte sie einen neunjährigen Knaben, der mit zaghaften Schritten und verstummtem Munde neben ihr ging und von unten her, ohne den Blick jemals nach einer anderen Richtung zu wenden, seine Mutter mit entsetzten Augen ansah. Die Frau ging steif aufgerichtet, blickte nicht nach rechts oder links, sie sah vor sich hin, ihre Bewegungen waren ohne Leben. Sie stellte sich zu den anderen Frauen, die schon auf dem Platze warteten. Die übrigen bemitleideten die Neue nicht mit lauten und gefühlvollen Worten, wie es sonst vielfach die Gewohnheit der Weiber ist; sie waren hier alle im gleichen Leid und in der gleichen Angst, da versagten die Worte, die man so leicht und so schnell hinsprechen kann.

[10] Als es schon dämmerte, erblickte ich einen Mann, der auf einer kleinen Holzkiste saß. Er hatte den Kopf in die Hände und die Ellenbogen auf die Knie gestützt; in seiner Haltung war etwas, was einem das Herz zusammenzog. Ihm hatten, wie ich hörte, die Polen vor seinen Augen einen Sohn erschossen, der sich der Verhaftung des Vaters widersetzt und sich selbst an seiner Stelle angeboten hatte. Die Tochter hatten sie, als sie dazwischenspringen wollte, um das Unheil abzuwenden, mit Bajonetten niedergestochen. Dann hatten sie den Vater fortgerissen; er hatte seine Tochter liegen lassen müssen, so wie sie schreiend niedergesunken war und wie wir nicht einmal ein Tier zurücklassen; der Vater wußte nicht, ob sie noch lebte oder an den Wunden gestorben war.

Es wurde dunkel. Aus der Stadt drang Lärm und Geschrei herüber, auf dem Platz war es still. Wir hatten uns so zusammengefunden, wie man sich kannte. Da war der zweiundsiebzigjährige Rittergutsbesitzer Stübner aus Grossendorf, der Bauer Mutschler aus Ost[wehr] und der junge, kraftvolle, blonde Gutsbesitzer Meister, da war der betagte Superintendent Diestelkamp aus Hohensalza, der Schriftleiter Kuß, der unsere deutsche Zeitung redigiert hatte, da waren die Rittergutsbesitzer Vollrath Eberlein und Otto Naue - man stellte sich zusammen, saß auf dem Gepäck, es wurde allmählich kälter. Kaum jemand sprach ein Wort. Wir wollten sehen, daß wir beieinander blieben.

Etwa eine Stunde vor Mitternacht begann der Marsch zum Bahnhof; rechts und links marschierten die Posten. Viele von uns hatten, da sie bei ihrer Verhaftung an eine geordnete Internierung glaubten, große Koffer mitgenommen; der Weg war mehrere Kilometer lang, und manch einer erlag den Anstrengungen schon fast auf diesem Marsch. Als wir in die Stadt hineinkamen, waren die Straßen verhältnismäßig leer, aber sie füllten sich in kurzer Zeit neu. Es stand sogleich ein lautes Rufen einzelner Stimmen in den Straßen auf, aber dann wuchs es in wenigen Minuten zu einem unmenschlichen Geheul aus den Fenstern und [11] Haustüren, aus den Seitenstraßen und Gäßchen. Die Posten stießen die ersten, die auf die Marschierenden einzuschlagen versuchten, zurück, aber sie hatten keine Macht und auch nicht den Willen, die Beschimpfungen zu verhindern, die unaufhörlich aus der Menge zu uns herüberklangen, die wie eine Meute hechelnder Hunde den Zug zu beiden Seiten begleitete. Trat zufällig eine Pause von wenigen Sekunden ein, so hörten wir ein entferntes Brausen, das sich aus den Nebenstraßen erhob und schnell näherkam, wir hörten dann das Trappeln vieler Füße und das Schreien und Rufen derer, die nach der Ursache des Lärmens fragten, und auch derer, die antworteten. Dann aber ging das alles wieder unter in dem Toben, das von denen kam, die den Zug schon erreicht hatten und ihn begleiteten. Die Stadt war schwarz verdunkelt, es schien kein Mond, und aus der Finsternis flogen die ersten Steine, denen sofort die ersten Schmerzensschreie folgten. Noch waren es einzelne, die Steine warfen oder auf die Verhafteten einschlugen; es war in der Dunkelheit ja auch nicht leicht, Steine oder Holzknüppel zu finden. Auch wehrten die Posten immer noch die Herandrängenden ab, aber es war schon klar, daß sie es nur widerwillig taten.

Wir hörten nun zum ersten Male die Worte, die uns auf unserem Weg durch Polen begleiten sollten; es waren immer dieselben Worte, und so stumpf wir auch bald geworden waren, so wehrte sich doch immer wieder unser Ehrgefühl gegen das, was uns da vorgeworfen wurde: wir waren diesem Staat stets treue, viel zu treue Bürger gewesen.

"Verräter! Spione!" heulte es da aus der Menge. "Sie wollen den Deutschen Signale geben. Was treibt ihr sie noch weiter? Erschießt sie, gebt sie uns, wir machen sie fertig, die Hurensöhne, die Hitlerschweine."

Die Schimpfworte steigerten sich sehr bald so, daß es nicht möglich ist, sie wiederzugeben, und vor allem war es ein Wort, das immer wiederkehrte, das viele von uns noch nicht kannten und daher auch nicht verstanden, bis dann ein Kenner der polnischen Sprache sagte, es bedeute soviel wie "verfaulte, verwesende Hundeleichen".

[12] Das war der erste Marsch durch eine Stadt. Wir waren, mit Ausnahme derjenigen, die verletzt waren, alle noch bei Kräften, wir wußten, wie weit das Ziel unseres Marsches, der Bahnhof, entfernt war. Als wir schließlich dort anlangten, mußte der Pöbel hinter der Sperre zurückbleiben, ja er durfte sogar die Vorhalle nicht betreten. Die Bahnsteige waren so gut wie leer; es standen Viehwagen bereit und wir stiegen hinein, ohne weiter belästigt zu werden.

An der einen Stirnwand des Waggons waren Sitzbretter hoch aufgestapelt. Die Wachen wiesen uns an, diese Bretter auf starke Balkenleisten zu legen, die an den Seitenwänden entlangliefen. So entstand eine Reihe von Bänken, auf die wir uns niederzulassen hatten. Die Polizisten nahmen die Plätze an der Wagenöffnung ein. Als ich mich setzte, wurde ich erfreut angerufen. Ich erkannte Rittergutsbesitzer Lehmann-Nitsche, einen Mann von über sechzig Jahren, der auf einem Bein lahmte. Auch er war den Polen staatsgefährlich erschienen, so daß man ihn verhaftete. Aber wir hatten ja gesehen, daß schwangere Frauen nicht verschont geblieben waren; ja, auf dem Sportplatz hatte ich ein altes, buckliges Weiblein gesehen, das an einer Seite halb gelähmt und übrigens geistig nicht normal war. Auch sie war eine Gefahr für Polen, und man hatte sie ebenfalls aus ihrer Wohnung geholt. Lehmann-Nitsche trug über dem Oberhemd nur eine helle Leinenjacke, man hatte ihm nicht Zeit gelassen, sich wärmer anzuziehen. Eine unserer Frauen hatte ihm, da sie zwei Mäntel mitgenommen hatte, einen hellen Damenmantel geliehen, der ihm natürlich viel zu kurz und zu eng war. Aber er wärmte doch ein wenig.

Ich war mit Otto Naue, Vollrath Eberlein, dem alten Herrn Stübner und anderen Bekannten in der ersten Abteilung gewesen, die von dem Sportplatz aufgebrochen war. Eine halbe Stunde später kam der zweite Schub heran; ihm war es viel schlimmer ergangen. Die Stadt war inzwischen aufgewacht, und das Gesindel fiel nun mit Knüppeln und Steinen über unsere Kameraden her, es drang hinter ihnen auf die Bahnsteige herauf, und hier, wo sich nun der [13] Zug, um in die Wagen einsteigen zu können, auflöste, gerieten die Verfolger in wahre Raserei. Sie prügelten mit allem, was sie hatten, auf die Deutschen ein. In der spärlichen Beleuchtung des Bahnhofs sah man schreiende, laufende, sich wehrende Gestalten, Kinder jammerten; polnische Männer und Weiber, vor Haß und tierischer Wut ohne alle Besinnung, schlugen und traten um sich, spien und kratzten, sie donnerten mit Stangen und Stöcken gegen die Wagen, in denen schon einige Deutsche saßen, und es war wohl gut, daß das fremde Volk so alle Selbstbeherrschung verloren hatte, daß sie irrsinnig waren in ihrer Leidenschaft, während die Deutschen sich sammelten, sich halfen, sich zusammenrotteten, sich gegenseitig in die Viehwagen hineinzogen. Ich sah, blaß und zitternd vor Empörung, hinter der offenen Tür unseres Wagens dem Toben zu; plötzlich erblickte ich die schwangere Bäuerin, die am Nachmittag mit ihrem Knaben zu den Verhafteten gestoßen war. Sie lief mühsam an der Wagenreihe entlang, von zwei polnischen Weibern keifend verfolgt. "Paß auf!" schrie ich Otto Naue an, "paß auf!" Ich sprang auf den Bahnsteig hinunter, zog die Frau heran, da war plötzlich auch ihr Mann mit dem Söhnchen da, wir schoben die Frau in den Wagen hinauf, oben packten zwei Männer zu, zogen sie hinein, wir reichten das Kind hinauf, der Bauer, der am Kopf und an den Lippen blutete, torkelte hinterher, dann zogen sie auch mich wieder in den Wagen hinein.

Drinnen aber stand plötzlich einer der Polizisten auf. "Das ist zuviel," sagte er, bebend und zitternd vor Aufregung, "das ist zuviel." Er gab ein paar Befehle, die anderen sprangen auf, es waren sieben Wachtposten in dem Wagen, sie griffen zu ihren Gewehren, stiegen auf den Bahnsteig hinaus, auf dem sich gerade eine starke Rotte von Polen dem Wagen näherte, offenbar von den zwei Weibern herangeholt, die die deutsche Bäuerin geschlagen hatten. Steine prasselten in die Türöffnung herein und donnerten gegen die Holzwände, aber da brüllte ein Polizist Befehle, die Türen wurden zugeschoben. Durch den schmalen, kaum handbreiten [14] Spalt, der offen blieb, hörten wir einen wilden Wortwechsel; wir hörten wieder die befehlende Stimme des Kommandoführers, aber die Menge tobte und schrie weiter. In geringer Entfernung brannte unter der Überdachung des Bahnsteiges eine matte Lampe. Wir konnten daher aus dem Dunkel des Wagens einiges von dem sehen, was sich draußen begab. Wie immer waren es einige Schreier, die sich besonders hervortaten und die der Beifall der anderen zu immer neuen Beschimpfungen aufstachelte. Keine war so irrsinnig und beleidigend, so niedrig, so obszön, daß sie nicht mit Jubelgeschrei aufgenommen und wiederholt worden wäre. Vor allem kam immer wieder die Aufforderung an die Wachleute: "Gebt sie uns heraus, die Hitlerschweine, wir werden ihnen die Bäuche aufschlitzen, wir werden ihnen die Augen auskratzen, wir werden ihnen die Nasen einschlagen." Es sind nur die mildesten Äußerungen, die ich hier wiedergebe, denn die anderen lassen sich nicht wiederholen. Aber wir hörten und verstanden sie alle. Jeder derartigen Drohung heulte die Menge in tierischen Lauten Beifall. Man schrieb mit weißer Kreide an die Außenwand der Waggons "Zwanzig Zentner Schweinefleisch für Warschau!" und ähnliche Sätze, Beschimpfungen des Führers und unseres Volkes, einer las dem anderen kreischend vor Freude die verschiedenen Inschriften vor, und dann folgte wieder johlendes Beifallsgeschrei. Dazu hörte man, wie überall Steine gegen die Wagenwände flogen oder Stöcke und Latten dagegen donnerten.

In dem Wagen war es still. Wir saßen wortlos da und suchten mit dem Alb fertig zu werden, der lastend auf uns lag. Es war alles wie ein gespensterhafter Traum.

War es vorüber, dauerte es noch an?

Da sagte die helle Stimme des Knaben in die drückende Stille hinein: "Mutti, warum sind die Menschen so böse auf uns? Gelt, Mutti, bloß weil wir Deutsche sind?" Wir hörten den Neunjährigen zum ersten Male sprechen, und wir erinnerten uns daran, daß wir noch andere Kinder auf dem Sportplatz gesehen hatten. Einigen stiegen Tränen der [15] Wut und der ohnmächtigen Erschütterung in die Augen. Die Mutter antwortete mit abwesender Stimme: "Ja, mein Junge, bloß weil wir Deutsche sind."

Es war, als werde die Stille in dem Wagen noch atemloser nach diesen Worten; plötzlich aber begann die Bäuerin zu weinen, alle hörten, wie sie schluchzte und wie es sie in entsetzlicher Angst stieß und schüttelte. Für die Männer war es wie eine Erlösung, die Frau weinen zu hören. Ihr Mann sagte mit heiserer Stimme: "Nu, Else, sei ruhig, es geht ja vorüber, sie werden uns schon nicht im Stich lassen, nun weine nicht, Else..."

Es war allen klar, wen der Bauer mit dem Wörtchen "sie" meinte. Die Polizisten standen draußen vor dem Wagen, wir waren hier unter uns, und der alte Stübner sagte mit klarer, fester Stimme, in der kein Schwanken war, aber ein unbeirrbarer Glaube: "Nein, das werden sie nicht, Else; nein, Jungchen, das werden sie nicht, sie werden uns herausholen hier aus diesem Dreck, die Unseren, und es wird nicht länger dauern als ein paar Tage."

Die Bauersfrau, die sich von einem fremden Manne aus der Dunkelheit mit ihrem Vornamen angesprochen hörte, ließ das Weinen sein. Ich glaubte zu fühlen, wie sie erstaunt den Kopf hob und den Worten nachdachte, die da soeben gesprochen worden waren. Plötzlich stand die Zuversicht mitten unter uns in diesem armen Viehwaggon auf dem Bahnhof zu Hohensalza in Polen. Niemand sprach den Namen aus, aber alle dachten nun an den, dessen Stimme sie so oft hoffend und vertrauend aus den Wellen des Äthers zu sich herangeholt hatten. Wie eine Mutter stand die Zuversicht unter uns und schlug ihren Mantel um uns alle. Plötzlich fühlten wir, wie sehr wir zusammengehörten... Von diesem Augenblicke an sagten wir alle du zueinander.

Aus der anderen Ecke kam eine andere Stimme, auch sie war klar und fest:

"Männer, wer zu essen hat, der muß jetzt essen. Eßt, soviel ihr könnt; wir wissen nicht, ob sie uns unsere Vorräte [16] fortnehmen. Wer nichts hat, sage es, damit wir ihm abgeben können. Wir werden Kräfte brauchen, also stärkt euch."

Wir verteilten unsere Vorräte, die noch reichlich waren, und begannen zu essen. Dann suchten wir uns Plätze für die Nacht aus. Fast alle hatten Decken und Mäntel, es ließ sich immer noch aushalten.

Schließlich stiegen die Polizisten wieder ein, und der Zug setzte sich in Bewegung. Das Toben, Heulen, Pfeifen auf dem Bahnsteig stieg noch einmal zu einem satanischen Gebrüll an, dann blieb es langsam zurück, der Zug rollte aus dem Bahnhof, wir waren auf freiem Felde. Einer der Beamten sagte, es gehe nach Thorn.

Der Zug fuhr langsam, das Rollen der Räder beruhigte, uns allen war die plötzliche Stille wie eine Gnade. Die überreizten Nerven entspannten sich, einer nach dem anderen schlief ein.

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Der Marsch nach Lowitsch
Erhard Wittek