Auf dem Fabrikhof Wir hatten wohl zwei bis drei Stunden gewartet, als wieder der Polizeikommissar im Kneifer vor uns erschien und unsere Namen aufrief. Wir hatten auf der Straße anzutreten, wurden neu in Gruppen eingeteilt und dann als Erste auf den Fabrikhof geführt. Zunächst glaubten wir, die Fabrik sei von deutschen Fliegern bombardiert worden; es stellte sich jedoch bald heraus, daß sie nur einfach seit Jahren außer Betrieb war. Der Hof war durch einen hohen Stacheldrahtzaun und streckenweise durch eine Mauer aus roten Ziegelsteinen von der Straße abgetrennt. Überdies standen überall Posten. Wir wurden an ein langgestrecktes, hohes Gebäude herangeführt, offenbar einen alten Zuckerspeicher, durften sein Inneres jedoch nicht betreten, sondern bekamen unseren Platz an einer der Längsseiten des Schuppens zugewiesen. Dort ließ man uns lagern. Den ganzen Tag über kümmerte sich kein Mensch um uns, wir bekamen auch kein Essen und kein Wasser. Da der Tag warm war, ließ es sich an sich aushalten; einzelne hatten auch noch letzte Reste von Lebensmitteln, die in unserer Gruppe so gerecht wie möglich verteilt wurden. Die Mittagshitze ließ aber unseren Durst immer quälender werden. Ich suchte mir einen Posten heraus, der mir ein menschliches Betragen zu haben schien, und fragte ihn, ob wir im Laufe des Tages Verpflegung erhalten würden. Der Mann antwortete mir, die Polen seien doch keine Barbaren, selbstverständlich würden wir zu essen bekommen. Aber bei dieser auch von anderen Polen abgegebenen Zusage blieb es. Am Nachmittag hieß es, in einer Ecke des Platzes werde Kaffee gekocht. Einigen von uns gelang es, sich einige Becher zu erkämpfen. Da sich Hunderte von Menschen um die Ausgabestelle, einen in einem Schuppen aufgestellten Eisenkessel, drängten, und da die Polen nicht daran dachten, für Ordnung zu sorgen, war nicht viel zu erreichen. Wer einen Becher an- [59] brachte, verteilte ihn schluckweise unter alle übrigen. Wir hatten in diesen Tagen gelernt, was Kameradschaft ist. Das Wort wurde unter uns kaum einmal ausgesprochen, aber jeder lernte vom anderen, keiner wollte sich beschämen lassen, das Beispiel von Udo Roth und Walter Lemke wirkte auf uns alle ein; ebenso wenig darf ich vergessen, den alten Herrn Stübner zu erwähnen, der sich oft - auch später auf dem Marsch - weigerte, Brot oder Wasser zu nehmen, da andere, wie er sagte, es noch nötiger brauchten. Der alte Heinecke wie der junge, tapfere Wilhelm Meister, der listige Julius Mutschler, der immer wieder irgendwo etwas erwischte, sei es ein paar Rüben, ein paar saure Gurken oder einen halben Liter Buttermilch und alles getreulich an Lemke ablieferte - sie alle taten, was sie konnten, und ich habe im Angesicht dieser wie selbstverständlich geübten Zähigkeit, dieser Hilfsbereitschaft und opferbereiten Treue oft und oft mein Herz vor Stolz schneller schlagen gefühlt. Als wir den Fabrikhof betreten hatten, befand sich kein einziger Deutscher darauf. Wenige Stunden später schon wimmelte es von Menschen, ein Zug müder, geängstigter Häftlinge nach dem anderen traf ein. Ihnen allen wurden Plätze im Freien angewiesen, und bald wieder hieß es, wir sollten enger zusammenrücken. Wir wußten schon, wie kalt die Septembernächte waren, wir rückten gern so dicht zusammen, wie es irgend ging, um uns in der Nacht aneinander zu wärmen. Im Laufe des Nachmittags meldete sich immer stärker der Hunger bei uns allen. Wir waren gewiß im Gefängnis verpflegt worden, und in unserer Zelle, in der wir keine Bewegung hatten, war uns das Essen fast ausreichend erschienen. Hier in der frischen Luft stellte es sich bald heraus, daß wir doch schon ziemlich von Kräften waren. Ich schlenderte möglichst unauffällig zwischen den ankommenden und sich lagernden Gruppen auf dem Platz herum, obwohl das von den Posten verboten war. Aber wir waren ständig auf einer unruhigen Suche nach Bekannten und Freunden. Es gab, wenn man jemand fand, immer viel zu erzählen; dabei verging die Zeit [60] und man dachte nicht an den Magen. Bald gesellte sich Wilhelm Meister zu mir. Der Platz, auf dem man uns untergebracht hatte, war, wie ich schon erwähnt habe, durch einen Stacheldrahtzaun begrenzt. Ich hatte gehört, daß sich auf dem gleichen Fabrikhof, aber von uns durch Stacheldraht getrennt, auch die Frauen befanden. Ich trieb mich langsam durch die lagernden und trübe umherstehenden Gruppen unserer Männer und sah nun auch die Frauen auf ihrem Platz. Wir näherten uns vorsichtig dem Drahtzaun, hinter dem die Frauen lagerten. Meister rief ein Mädchen an, das in der Nähe des Drahtes stand. Sie kam sofort auf uns zu, tat aber, als spaziere sie an dem Zaun auf und ab; dabei fragte sie uns, ohne uns anzusehen, vielmehr mit halb abgewandtem Gesicht, ob sie uns etwas zu essen besorgen solle. Ich entgegnete, sie solle nur ihre Vorräte behalten, niemand wisse, was uns noch bevorstehe. Da wagte sie einen Blick zu uns herüber, lächelte und sagte, sie wolle, wenn wir Geld hätten, versuchen, uns Brot und Obst zu kaufen. Sie würden nicht so scharf bewacht wie wir Männer. Wir hatten beide kein Geld, aber wir wußten, daß es einem unserer Kameraden gelungen war, eine größere Summe vor den Polen zu verstecken. Meister ging eilig zurück, während ich nun sah, daß der Platz der Frauen an der von mir abgewandten Seite an eine Straße grenzte und daß dort nur ein Bretterzaun war. Dahinter seien die Juden; sie hätten die Frauen erst beschimpfen wollen, aber als sie erkannt hätten, daß sie hier vielleicht ein Geschäft machen könnten, seien sie sofort sehr diensteifrig geworden. Wir sprachen nun ein wenig hin und her und verabredeten, daß ich, falls mich ein Posten von meinem Platz vertreiben wollte, das Mädchen für meine Tochter ausgeben sollte. Als Meister mit Geld zurückkam, hatten wir tatsächlich bald ein ganzes Brot, eine Tüte mit Äpfeln und sogar ein Stück Wurst in der Hand. Ein paar Frauen hatten sich zu einer Gruppe vereinigt und sich so gestellt, daß die Posten den Tauschhandel nicht beobachten konnten. Eine andere Frau besorgte uns sogar noch zwei [61] Flaschen Limonade. Sie wurden mit einem kräftigen Ruck unter dem Zaun hindurchgerollt. Auch an anderen Stellen des Drahtzaunes war ein ähnlicher Handel im Gang. Meister hatte sich mit dem Mädel bald ein wenig angefreundet - und wirklich war es eine Freude, sie nur anzusehen, die gänzlich ungebrochenen Mutes war und nun in ihrer Genugtuung darüber, uns helfen zu können, über das ganze, gesunde, frische Gesicht lachte. Als wir uns von ihr verabschiedeten, versprachen wir, bald wiederzukommen. Ich war an diesem Tage nicht mehr dazu fähig, denn als wir auf dem Wege zu unserem Lagerplatz an der Stirnseite des ersten Zuckerspeichers vorüber waren, sahen wir, wie in dem engen, langen Raum zwischen diesem und dem anderen Ziegelschuppen ein höchstens fünfzehnjähriger Junge, nur in ein blutiges Turnhemd und eine schwarze Dreiecksbadehose gekleidet, von einem halben Dutzend halb wahnsinniger Posten mit Bajonetten hin und her gejagt wurde. Der Junge gab keinen Laut von sich, und vielleicht war es gerade dies, was die Posten so aufregte. Der gehetzte junge Mensch versuchte immer wieder, an der einen oder anderen der beiden Schmalseiten des vielleicht vierzig Meter langen Raumes durchzubrechen, aber es mißlang ihm mehrmals. Die Polen hatten ihn offenbar zuerst festgehalten und dabei geschlagen, denn sein Gesicht war blutunterlaufen und geschwollen, und auch die nackten Beine waren von Bajonettstichen blutüberströmt. Aber der Junge war nicht gewillt nachzugeben, und schließlich gelang es ihm, die Rohlinge, die ihn immer mehr nach der Mitte zu gedrängt hatten, zu täuschen; er brach aus, lief mit aller Kraft den Platz hinunter, rannte sofort an dem von uns abgewandten Ende um den Zuckerspeicher herum, die Polen fluchend hinterher. Aber sie bekamen ihn nicht mehr, seine leichte Kleidung war jetzt seine Rettung vor den uniformierten Polen in ihren hohen Stiefeln, er verschwand in der Menge, die sich angesammelt hatte; irgendein geistesgewandter Kamerad mußte ihm eine Jacke geliehen haben, auch wohl Hut und Hose, so daß die Verfolger ihn im Gedränge nicht mehr fanden. [62] Wir beide standen eingekeilt in eine Gruppe fremder Kameraden, unter denen Totenstille herrschte. Sie wandten sich jetzt alle mit wie erstarrten Gesichtern ab. Ich sah erst jetzt, daß an der Mauer eines dieser Schuppen, also auf dem Platz, auf dem sich soeben die Menschenjagd abgespielt hatte, eine Reihe völlig teilnahmsloser Männer saß; sie alle hatten schwerste Mißhandlungen hinter sich, die meisten trugen blutige Hemden, wohl alle hatten blau geschlagene Gesichter und völlig von Blut verkrustete Köpfe. Gerade waren wir voll neuer Zuversicht auf dem Wege zu unserer eigenen Gruppe gewesen. Jetzt kamen wir still bei ihnen an, gaben die eingehandelten Vorräte an Walter Lemke ab, der sie unter uns alle verteilte. Ich aß, denn es gelang mir, mir klar zu machen, daß ich noch viel Kraft brauchen würde. Aber ich habe Brot und Obst, das mir kurz vorher noch als Inbegriff eines üppigen Mahles erschienen war, nur mühsam hinunterwürgen können. Dann stand ich auf, es hielt mich nicht an der Erde, und ich ging ruhelos auf dem Platz hin und her. Lemke gesellte sich zu mir, ich erzählte ihm, was wir soeben hatten mitansehen müssen, bebend vor Wut und zugleich vor Angst. "Wir müssen etwas dagegen tun, können uns nicht so wehrlos abschlachten lassen, wir müssen uns Waffen besorgen." Lemke, der blaß wie eine Wand war, blieb äußerlich ganz ruhig. Das würde gar nichts helfen, meinte er; sie warteten ja nur darauf, daß wir uns wehrten, sie würden dann uns alle abschießen - und wenn nicht das, so würden sie jeden zehnten Mann herausholen, und das Unglück würde nur größer, ohne daß wir denen, auf die sie es gerade abgesehen hätten, geholfen hätten. Wir sprachen hin und her, Udo Roth kam dazu und wir mußten uns schließlich trennen, denn wir fanden keinen Ausweg; es blieb nichts übrig, als geduldig alles hinzunehmen. "Eines können wir tun: niemals Angst zeigen! Niemals auch nur das geringste Zeichen von Furcht sehen lassen. Macht euch alle darauf bereit, daß sie euch erschießen oder zu Tode prügeln, aber dann sterbt ohne Furcht. Diese Hunde sollen mich nicht wimmern hören." [63] Udo Roths Lippen waren verzerrt, als er das sagte, aber ich wußte, daß er sein Wort wahr machen würde. Ich ging ziellos durch das Gewühl davon, aber ich wandte mich sofort um. Ich hatte Udo Roths Stimme gehört: "Um Gottes Willen, Herr Pastor!" Roth stand vor einem Menschen, den ich aus dieser Entfernung nicht erkannte. Ich schob mich langsam zu den beiden hin. Es wehrte sich alles in mir dagegen, noch mehr zu erfahren, aber der Wunsch, vor der Wahrheit die Augen nicht gewaltsam zu schließen, war doch stärker. Wir waren alle wie behext von dem Verlangen, mehr und immer noch mehr zu erfahren. Udo Roth sprach mit einem Mann in mittlerer Größe, dessen Gesicht so aussah, wie wir nun schon viele erblickt hatten. Es war schwarz von Schlägen, die Augen waren fast zugequollen, die Lippen waren gesprungen, auf der Schläfe stand Blut. Wir führten ihn zu unserer Gruppe, es lag dort eine dünne Lage Stroh, wir setzten ihn darauf. Jede Bewegung mußte ihn schmerzen, aber er sah unsere entsetzten Gesichter, er bemerkte unsere niedergedrückte Stimmung und er lächelte, um uns nicht noch mehr zu erschrecken. Er klagte nicht, als er von seinem Leidensweg erzählte, und es war ergreifend zu sehen, wie seine ungebrochene Haltung viele unserer Kameraden aufrichtete. Es war Pastor Mix aus Strelno; ihn wie alle seine Amtsbrüder hatten die Polen als einen besonderen Hort des Deutschtums angesehen. Und es ist ja auch Tatsache, daß die evangelische Kirche in Polen einer der besonders unerschütterlichen Stützen der deutschen Menschen in meiner Heimat gewesen ist. Die evangelischen Pastoren hatten demzufolge besonders stark zu leiden; Pfarrer Mix, der den ganzen Marsch der nächsten Tage mitgemacht hat, ist dann in Lodsch an den Folgen der unmenschlichen Mißhandlungen, denen gerade er immer wieder ausgesetzt war, doch noch gestorben, nachdem er die Stunde der Befreiung noch erlebt hatte. Im Laufe des Nachmittags wurde auch der über siebzig Jahre alte Senator Dr. Busse aus Tupadly eingeliefert, der im polnischen Senat immer wieder mit Mut und Besonnen- [64] heit für das Deutschtum und seine Rechte eingetreten war. Ihn hatten die Polen sich nun besonders vorgenommen. Der alte Herr wurde von Kameraden in das Lager hereingetragen, da er nicht mehr in der Lage war zu gehen. Er war fast noch bösartiger behandelt worden als Pastor Mix, und allgemein fürchteten wir, daß er die Nacht nicht mehr überleben würde. Aber wir bekamen durch unsere Frauen einige Erfrischungen für ihn, so daß er ein wenig gelabt werden konnte. Infolge der wundervollen Kameradschaft, die unter uns allen herrschte, ist er aber doch bis Lowitsch und später nach Lodsch durchgebracht worden, so daß zu hoffen ist, daß er noch viele Jahre in der befreiten Heimat wird leben und ihren Wiederaufbau wird mit ansehen dürfen.
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